Physikalische und chemische Grundlagen der Keramik Teil II

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Physikalische
y
und
chemische Grundlagen
der Keramik
Spannun
ng
Teil II: Eigenschaften keramischer Werkstoffe
2. Auflage, 2005
Jürgen G. Heinrich
Dehnung
INHALTSVERZEICHNIS
SEITE
1. EINFÜHRUNG
3
2. MECHANISCHES VERHALTEN
5
2.1. Elastizität [1; 4; 5; 6; 7; 8, 23]
5
2.2. Anelastizität [1; 8]
34
2.3. Bruchverhalten [8; 9; 10]
42
2.4. Weibull-Statistik [8;10]
80
2.5. Hochtemperatur-Plastizität [8; 11]
86
3. THERMISCHE EIGENSCHAFTEN
115
3.1. Spezifische Wärme [8; 12]
115
3.2. Thermische Ausdehnung [8; 12]
126
3.3. Thermische Leitfähigkeit [8; 12; 13]
136
3.4. Thermoschockverhalten [8; 12; 14]
150
4. CHEMISCHE EIGENSCHAFTEN
160
4.1. Korrosion [1; 8; 13; 15]
160
5. ELEKTRISCHE EIGENSCHAFTEN
180
5.1. Elektrische Leitfähigkeit [8; 12; 17; 18]
180
5.2. Dielektrizität [8; 17; 18; 19]
196
5.3. Spezielle Keramiken für elektrische
und elektronische Anwendungen [8; 19]
211
6. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN
225
6.1. Magnetismus [8; 12; 17; 19]
225
6.2. Keramische Magnetwerkstoffe
232
7. LITERATUR
236
1. Einführung
-3-
1. Einführung
Keramischer Werkstoffe zeigen eine völlig anderes Eigenschaftsprofil als Metalle und
Polymere. Die Ursachen hierfür sind auf atomistische Gegebenheiten zurückzuführen, die in
Teil 1 dieser Vorlesung: „Struktureller Aufbau keramischer Werkstoffe“ diskutiert werden.
Die für das Verständnis der Eigenschaften keramischer Materialien notwendigen Grundlagen
werden in dieser Vorlesungsreihe kurz wiederholt.
Beim Kauf von Porzellan wird im wesentlichen das Design, die Dekoration und natürlich der
Preis als Kriterium herangezogen. Aber schon bei Ziegeln und Steinzeugrohren, Gleitringen
oder Tuborladerrotoren aus Keramik spielt die mechanische Belastbarkeit für den
erfolgreichen Einsatz eine wesentliche Rolle. Die mechanischen Eigenschaften bei Raumund Hochtemperatur, wo Keramik deutliche Vorteile gegenüber Metallen aufweist, werden
daher gleich zu Beginn dieser Vorlesung besprochen.
Der Einsatz bei hohen Temperaturen, wo Metalle häufig bereits schmelzen, erfordert u. a. die
Kenntnis der Temperaturabhänigkeit der thermischen Eigenschaften, die in Kapitel 3
diskutiert werden. Die chemische Beständigkeit keramischer Werkstoffe gegenüber
metallischen Schmelzen in Hochöfen macht die feuerfeste Werkstoffgruppe zu einem
unerläßlichen Bestandteil z.B. bei der Stahlerzeugung. Das Korrosionsverhalten oxidischer
und das Oxidationsverhalten nichtoxidischer keramischer Werkstoffe wird daher in Kapitel 4
besprochen.
Dass die elektrische Leitfähigkeit von Keramik in der Regel mit steigender Temperatur zu,
bei Metallen dagegen abnimmt, hat mit dem Bindungscharakter zu tun. Diese
Zusammenhänge sind u.a. Inhalt von Kapitel 5, in dem auch die meisten supraleitenden
Keramiken vorgestellt werden.
Ohne keramische Magnetwerkstoffe würde sich heute kein Auto über unsere Straßen
bewegen. Die Besprechung magnetischer Eigenschaften bildet daher den Abschluss dieser
Vorlesungsreihe.
Die wesentlichen Kapitel sind der zitierten Literatur entnommen. Textauszüge sind zum Teil
wörtlich übernommen.
-4-
1. Einführung
Ich danke Frau Dipl.-Ing. Sabine Meier für die kritische Durchsicht des Manuskripts und
Herrn Dipl.-Ing. Jung-Wook Kim für die Überarbeitung des Entwurfs und die Erstellung der
CD-ROMs sowie Herrn Daniel Raschke für die kritische Durchsicht des Manuskripts und die
Überarbeitung der ersten Auflage.
Jürgen G. Heinrich
Clausthal, 2005
2. Mechanisches Verhalten
-5-
2. Mechanisches Verhalten
2.1. Elastizität
2.1.1 Bindungsarten
Um den Elastizitätsmodul als Materialeigenschaft verstehen zu können, soll zunächst das
Verständnis auf atomarem Niveau geschaffen werden. Dafür sind zwei Punkte von
Bedeutung:
1. Die atomaren Bindekräfte, d.h. die Kräfte, die zwischen benachbarten Atomen wie kleine
Federn wirken (Abbildung 2.1.1).
Schematische Darstellung der Bindekräfte zwischen Atomen [4]
Abb. 2.1.1
2. Die Atompackung, d.h. die Art und Weise, wie Atomschichten aufeinander liegen. Mit der
Atompackung wird angegeben, wieviele Federchen pro Einheitsvolumen vorkommen und
unter welchem Winkel sie beansprucht werden (Abbildung 2.1.2).
Schematische Darstellung verschiedener Atompackungen [4]
Abb. 2.1.2
-6-
2.1. Elastizität
Atomare Bindungen kann man unterteilen in:
1. Primärbindungen: Die ionische, kovalente und metallische Bindung, die als relativ stark anzusehen sind.
2. Sekundärbindungen: Die Van-der-Waals- und Wasserstoffbrückenbindung, die beide als
relativ schwach gelten.
Diese Bindungen treten selten in reiner Form auf, es handelt sich in realen Werkstoffen meist
um Mischtypen.
Primärbindungen
Keramische
Werkstoffe
und
Metalle
werden
vollkommen
von
Primärbindungen
zusammengehalten und zwar von Ionenbindung und kovalenter Bindung bei Keramik, von
Metallbindung und kovalenter Bindung bei Metallen. Diese starken Bindungsarten bewirken
große Elastizitätsmoduln.
Ein typisches Beispiel für die Ionenbindung ist das Natriumchlorid. Alkalihalogenide, Oxide
sowie bestimmte Zementbestandteile (Carbonate und Oxide) haben ganz oder teilweise
Ionenbindungscharakter.
Der Kern des Natriumatoms besteht aus 11 Protonen (und 11 Neutronen), die von 11
Elektronen umgeben sind (Abb. 2.1.3).
Die Ionenbindung am Beispiel von NaCl [4]
Abb. 2.1.3
-7-
2. Mechanisches Verhalten
Die Elektronen werden durch elektrostatische Kräfte vom Kern angezogen, haben also
negative Energien. Aber nicht alle Elektronen haben die gleiche Energie. Die entfernteren
haben die geringste negative (höchste) Energie. Das Elektron, das am leichtesten vom
Natriumatom entfernt werden kann, ist demnach das am weitesten außen gelegene. Zu seiner
Entfernung benötigt man eine Arbeit von 5,14 eV. Wenn wir dieses Elektron einem
Chloratom zuführen, gewinnen wir 4,02 eV zurück. Wir können also Na+- bzw. Cl--Ionen
isolieren, indem wir eine Arbeit Ui von 5,14 eV - 4,02 eV ist gleich 1,12 eV verrichten.
Zur Ionenbildung müssen wir also Energie aufwenden. Andererseits ziehen sich das positive
und negative Ion gegenseitig an. Wenn wir sie zusammenbringen, gewinnen wir Arbeit durch
die Anziehungskraft, die den Kräften zwischen Punktladungen entspricht:
F=
q2
4πε r2
(2.1.1)
0
q ist dabei die Ladung der Ionen, ε0 die Dielektrizitätskonstante im Vakuum und r der
Ionenabstand. Die gewonnene Arbeit bei Annäherung der Ionen (aus dem Unendlichen) ist
daher
∞
U = ∫ F dr =
r
q2
.
4π ε0 r
Energiebilanz der Ionenbindung [4]
(2.1.2)
Abb. 2.1.4
-8-
2.1. Elastizität
Abb. 2.1.4 zeigt, wie der Arbeitsgewinn mit abnehmendem r zunimmt bis bei ungefähr
r = 1 nm, ein für Ionenbindungen typischer Wert, der Energieaufwand für die Ionenbildung von
1,12 eV wieder wettgemacht ist. Unterhalb von r = 1 nm können wir nur noch gewinnen, d.h.,
dass die Bindungsstärke mehr und mehr zunimmt. r kann aber nicht unendlich abnehmen und
immer mehr Energie freisetzen bis zur Verschmelzung der beiden Kerne. Wenn sich die Ionen
immer mehr annähern, würden sich irgendwann die Verteilungsfelder ihrer elektrischen
Ladungen überlappen, was zu einer starken Abstoßung führen würde. Abb. 2.1.4 zeigt den
Anstieg der potentiellen Energie, der damit verbunden ist. Die Ionenbindung hat ihre größte
Stabilität im Minimum der U(r) Funktion. Den Verlauf der Kurve kann man näherungsweise
angeben mit
U = Ui −
q2
B
+ n.
4πε 0 r r
(2.1.3)
Dort, wo die potentielle Energie ihr Minimum aufweist, ist die Bindung am stabilsten.
Die Elektronenverteilungen jedes der beiden Ionen sind kompliziert geformte räumliche
Gebilde (Orbitale) um den Atomkern herum. In erster Näherung können die Ionen als Kugeln
betrachtet werden. Von daher lassen sich die Ionen beliebig anordnen, wodurch zum
Ausdruck kommt, dass die Ionenbindung nicht gerichtet ist. Trotzdem müssen
Ionenpackungen unterschiedlichen Vorzeichens so zueinander geordnet sein, dass sich
positive und negative Ladungen zu Null kompensieren.
Der kovalente Bindungstyp liegt in reiner Form beim Diamant, beim Silicium und
Germanium vor, die allesamt sehr große Elastizitätsmoduln aufweisen (der von Diamant ist
der höchste überhaupt). Ferner überwiegt dieser Bindungstyp bei Silicatkeramiken und
Gläsern. Er trägt außerdem in nennenswertem Maße zur Bindung hochschmelzender Metalle,
wie Wolfram, Molybdän und Tantal bei. Schließlich findet man kovalente Bindungsanteile
auch in Polymeren, wo Kohlenstoffatome zu langen Ketten verbunden sind. Da aber in
Polymeren auch andere deutlich schwächere Bindungstypen vorkommen, wird man im
allgemeinen eher kleine Elastizitätsmoduln erwarten.
Der einfachste Fall kovalenter Bindungen ist der des Wasserstoffmoleküls. Durch die enge
Nachbarschaft der beiden Atomkerne entsteht ein gemeinsames Elektronenorbital
(Abb. 2.1.5).
-9-
2. Mechanisches Verhalten
Kovalente Bindung [4]
Abb.2.1.5
- hier zwischen zwei Wasserstoffatomen unter Bildung eines Wasserstoffmoleküls
Der Energiegewinn, der dadurch hervorgerufen wird, ist Ursache einer stabilen Bindung, wie
Abb. 2.1.6 zeigt. Die Energie der kovalenten Bindung läßt sich empirisch angeben als
U=
−A B
+
( m < n) .
rm rn
Energiebilanz der kovalenten Bindung [4]
(2.1.4)
Abb. 2.1.6
Ein typisches Beispiel kovalenter Bindung stellt der Diamant dar. Der Diamant ist eine
extrem harte Kohlenstoffmodifikation. Im Falle des Diamants besetzen die gemeinsamen
Elektronen die Ecken eines Tetraeders (Abb. 2.1.7).
- 10 -
2.1. Elastizität
Gerichtete kovalente Bindung der Diamantstruktur [4]
Abb. 2.1.7
Die symmetrische Form dieser Orbitale führt beim Diamant zu einer stark gerichteten
Bindung. Je nach Orbitalmuster weisen auch andere kovalente Bindungstypen eine starke
Ausrichtung auf, die dann ihrerseits Einfluss auf die Atompackung im Kristall hat.
Die metallische Bindung ist, wie der Name schon sagt, die vorherrschende Bindungsart in
Metallen und Metalllegierungen. In Metallen geben die Atome ihre äußeren Elektronen ab
(wobei Ionen entstehen), die dann einen See freibeweglicher Ladungsträger bilden
(Abb. 2.1.8). Die zugehörige Energiekurve ist derjenigen der kovalenten Bindung sehr
ähnlich und damit durch Gleichung 2.1.4 hinreichend definiert.
Metallische Bindung [4]
Abb. 2.1.8
- 11 -
2. Mechanisches Verhalten
Das hohe Maß an Beweglichkeit der Elektronen ist Ursache für die sehr gute elektrische
Leitfähigkeit der Metalle. Die metallische Bindung ist in keiner Weise gerichtet, so dass sich
die Metallionen zu sehr dichten Strukturen zusammenlagern können, etwa wie kleine
Stahlkugeln, die man in einer Schachtel so lange schüttelt, bis sie ein Minimum an Raum
einnehmen.
Sekundärbindungen
Sekundärbindungen sind ungleich schwächer als Primärbindungen. Sie stellen z.B. die
Verbindung zwischen Makromolekülen in Polyethylen und anderen Kunststoffen her,
wodurch diese erst zu Festkörpern werden.
Van-der-Waals-Bindung [4]
Abb. 2.1.9
Die Van-der-Waals-Bindung beschreibt eine Dipolanziehung zwischen an sich ungeladenen
Atomen. Die zu jedem Zeitpunkt in Bezug auf den Atomkern unsymmetrische
Ladungsverteilung bewirkt ein Dipolmoment. Das Moment erzeugt bei einem benachbarten
Atom ein ebensolches, so dass sich beide anziehen können (Abb. 2.1.9). Die Energie der
Anziehung nimmt mit r6 ab. Die Gesamtenergie der Van-der-Waals-Bindung lässt sich
angeben als
U=
−A B
+ n ( n ~ 12) .
r6
r
(2.1.5)
- 12 -
2.1. Elastizität
Als gutes Beispiel lässt sich flüssiger Stickstoff anführen, der bei -198°C von Van-der-WaalsKräften, die die kovalent gebundenen N2-Moleküle aufeinander ausüben, in flüssigem
Zustand gehalten wird. Dabei reicht die Wärmebewegung bei Raumtemperatur schon aus, um
die schwachen Van-der-Waals-Bindungen aufzubrechen.
Durch die Wasserstoffbrückenbindung bleibt Wasser bei Raumtemperatur flüssig und manche
polymeren Molekülketten verbinden sich zu Festkörpern. Auch die Bindung von Eis ist von
diesem Typ (Abb. 2.1.10). Die Bindung entsteht, wenn jedes Wasserstoffatom seine Ladung
an ein unmittelbar benachbartes Sauerstoffatom abgibt (das dann negativ geladen ist). Das
positiv geladene H-Atom wirkt dabei als eine Brücke zwischen benachbarten O-Atomen. Die
Ladungsumverteilung resultiert schließlich in einem Dipolmoment für jedes H2O-Molekül,
das dadurch zwei andere H2O-Moleküle anziehen kann.
Die Anordnung von H2O-Molekülen in Eis [4]
Abb. 2.1.10
Die Wasserstoffbindungen halten die Moleküle auf Abstand; daher hat Eis eine geringere Dichte als Wasser
Atomare Bindekräfte und physikalische Ursache des E-Moduls
Mit den Potentialen der verschiedenen Bindungstypen lassen sich die Kräfte zwischen den
Atomen abschätzen. Ausgehend von der U(r)-Kurve errechnet sich die Kraft F, die
erforderlich ist, um zwei Atome in einen Abstand r zu bringen, durch
F=
dU
.
dr
In Abb. 2.1.11 ist dieser Sachverhalt grafisch dargestellt:
(2.1.6)
- 13 -
2. Mechanisches Verhalten
Abschätzung der Kräfte zwischen Atomen [4]
Abb. 2.1.11
U
r0
F
(=dU/dr) Fmax
dU/dr wird maximal am Wendepunkt
der U/r-Kurve
Abstossung
Anziehung
r
dU/r -> 0
dU/r = 0
r0
Ionenradius
1. F ist Null im Gleichgewichtsabstand r0; wenn Atome um eine Strecke (r-r0 ) verrückt
werden sollen, so ist dazu eine bestimmte Kraft erforderlich. Bei kleinen Beträgen ist für alle
Stoffe die Kraft dem Abstand nahezu proportional, und zwar unter Zug- und unter
Druckbeanspruchung.
2. Die Steifigkeit S der Bindung ergibt sich aus
S=
dF
.
dr
(2.1.7)
Ist die Auslenkung klein, so bleibt S konstant und ist dann
⎛ d2U⎞
S0 = ⎜ 2 ⎟
⎝ dr ⎠
bei r = r0,
(2.1.8)
d.h. die Bindung verhält sich elastisch. S0 entspricht der Federkonstanten der Bindung. Die
Kraft zwischen zwei Atomen, die um eine Strecke r entfernt werden (wobei r ∼ r0) beträgt
F = S 0 ( r − ro ) .
(2.1.9)
Abb. 2.1.12 zeigt schematisch einen Festkörper, der von Federchen zusammengehalten ist.
- 14 -
2.1. Elastizität
Der Einfachheit halber hat man sich hier darauf beschränkt, die Atome an den Ecken eines
Würfels mit der Kantenlänge r0 anzuordnen. In der Realität folgen zwar nur wenige Stoffe
dieser einfachen Struktur, das Verständnis wird dadurch aber erheblich erleichtert.
Abschätzung des Elastizitätsmoduls aus der Steifikeit einzelner Atombindungen [4]
Abb. 2.1.12
Die Gesamtkraft, die durch die Fläche hindurchgreift, wenn die beiden Seiten
auseinandergezogen werden, ist definiert als die Spannung
σ = N S 0 ( r − r0 ) ,
(2.1.10)
wobei N die Zahl der Bindungen pro Einheitsfläche darstellt, also 1/r02 ist (r02 ist die mittlere
Fläche pro Atom).
N r0 = 1
2
(2.1.11)
Wird die Auslenkung (r-r0) in eine Dehnung εn umgerechnet, indem man durch den
Ausgangsabstand r0 dividiert, so ergibt sich
εn =
r − r0
r0
(2.1.12)
- 15 -
2. Mechanisches Verhalten
damit gilt:
σ=
1
r0 2
⋅ S 0 ⋅ ε n ⋅ r0
(2.1.13)
σ=
S0
⋅εn
r0
(2.1.14)
E=
S0
.
r0
(2.1.15)
Der E-Modul ist dann
S0 lässt sich aus den theoretisch hergeleiteten Kurven U(r) berechnen. Für die Ionenbindung
ist U(r) durch Gleichung 2.1.3 gegeben. Durch Differenzierung dieser Gleichung nach r erhält
man die Kraft zwischen den Atomen. Bei r = r0 muss sie Null sein. Aus dieser Bedingung
erhalten wir die Konstante
n −1
B=
q 2 r0
.
4 π n ε0
(2.1.16)
S0 können wir dann angeben als
S0 =
α q2
4 π ε 0 r0 3
(2.1.17)
mit α = (n - 1). Die Coulomb-Anziehung reicht sehr weit und hängt von 1/r ab. Daher steht
ein bestimmtes Na+-Ion nicht nur mit seinen 6 nächsten Cl--Ionen in anziehender
Wechselwirkung, sondern erfährt darüber hinaus eine abstoßende Kraft von seinen 12
übernächsten etwas weiter entfernten Na+-Nachbarn. Auch die nächsten 8 Cl--Ionen und die
übernächsten 6 Na+-Ionen spürt es noch. Um also S0 genau zu berechnen, müssen alle diese
Bindekräfte, anziehende und abstoßende, addiert werden. Das Ergebnis ist Gleichung 2.1.17
mit α = 0.58.
Aus Tabellen für physikalische Konstanten können die Werte für q und ε0 abgelesen werden.
Der Atomabstand r0 liegt bei etwa 2,5x10-10 m. Setzt man diese Werte in Gleichung 2.1.17 ein,
- 16 -
2.1. Elastizität
so ergibt sich
S 0 = 9 ,5 Nm −1
, für NaCl.
Die Steifigkeit anderer Bindungstypen errechnet sich in ähnlicher Weise. Einen Überblick
über Bindungssteifigkeiten gibt Tabelle 2.1.1.
Bindungssteifigkeiten verschiedener Werkstoffe [4]
Bindungsart
Tab. 2.1.1
S0 in N / m-1
E angenähert aus
(S0 / r0) in GN m-2
180
1000
Rein ionisch, z.B. Na – Cl
9 – 21
30 – 70
Rein Metallisch, z.B. Cu – Cu
15 – 40
30 – 150
H – Bindung, z.B. H2O – H2O
2
8
Van-der-Waals, z.B. Wachse; viele Polymere
1
2
Kovalent, z.B. C – C
Kovalent / ionisch, z.B. Al2O3; Si3N4
200 - 300
Vergleicht man die berechneten E-Modul-Werte mit gemessenen Werten, stellt man für
Metalle und keramische Werkstoffe durchaus akzeptable Übereinstimmungen fest. Die
Vorstellung einer Federauslenkung beschreibt die Steifigkeit in diesen Werkstoffen also ganz
gut. Eine Reihe von Polymeren und Gummiarten haben aber E-Moduln, die bis zu 100 mal
kleiner als der kleinste berechnete sind.
Dieses Phänomen hängt damit zusammen, dass Gummi wie viele weitere Polymere aus
langen spagettiähnlichen Kohlenstoffketten zusammengesetzt ist. Außerdem liegen die Ketten
kreuzweise übereinander. Die Kreuzverbindungen sind wie bei den Bindungen entlang der
Ketten kovalente, also sehr steife Bindungen. Sie tragen jedoch zur Gesamtsteifigkeit nur
wenig bei. Vielmehr sind es die viel weicheren Van-der-Waals-Bindungen, die sich dehnen,
wenn die Struktur belastet wird. Der Gesamtmodul resultiert also in der Hauptsache aus den
Van-der-Waalschen-Bindungen und nicht von den kovalenten Bindungen.
Bei tiefen Temperaturen entsprechen die beobachteten Moduln dem für diese Bindungsart
berechneten Wert von knapp 1 GN/m2. Sobald sich Gummi auf Raumtemperatur erwärmt,
schmelzen die Van-der-Waals-Bindungen. Tatsächlich ist die Bindungssteifigkeit eines
Stoffes proportional zu seinem Schmelzpunkt. Aus diesem Grund hat auch Diamant den
- 17 -
2. Mechanisches Verhalten
höchsten Schmelzpunkt und den höchsten E-Modul (Abb. 2.1.13).
Anstieg des E-Moduls in Polymeren mit zunehmender Dichte an kovalenten Bindungen [4]
Abb. 2.1.13
2.1.2 Die elastischen Moduln
Der E-Modul ist ein Maß für den Widerstand eines Materials gegenüber elastischer
Verformung. Werkstoffe mit kleinem E-Modul haben eine geringe Steifigkeit; wenn sie
belastet werden, geben sie stark nach (Federn, Polstermaterial, Stabhochsprungstab).
Keramische Werkstoffe haben einen sehr hohen E-Modul, bei Belastung zeigen sie nur sehr
geringe elastische Verformung. Zu weiteren Erläuterungen müssen zunächst die Begriffe
Spannung und Dehnung definiert werden.
Spannung
Eine Kraft F soll auf einen Quader wirken wie in Abb. 2.1.14 dargestellt. Die Kraft greift
durch den Quader hindurch. Sie erfährt eine Gegenkraft, die die Unterlage auf den Quader
ausübt (andernfalls würde sich der Quader bewegen). Der Unterseite kann man also eine
gleichgroße entgegen gerichtete Kraft zuschreiben. F wirkt auf alle Querschnitte des Quaders,
die parallel zur Oberfläche liegen. Der gesamte Quader befindet sich im so genannten
Spannungszustand.
- 18 -
2.1. Elastizität
Definition der Spannungsgrößen σ und τ [4]
Abb. 2.1.14
F
Zugspannung σ = F/S0
Schubspannung τ = Fs/S0
Zugspannung σ = Fl/S0
Gleichgewicht bedingt Scherung
Die Spannung σ wird angegeben durch die Kraft F geteilt durch die Querschnittsfläche S0 des
Quaders
σ=
F
.
S0
(2.1.18)
Wird die Spannung durch eine Zugkraft senkrecht zur Oberfläche hervorgerufen, spricht man
von Zugspannung.
Wirkt die Kraft nicht normal zur Oberfläche, sondern in einem bestimmten Winkel dazu
(Abb. 2.1.14b), kann die Kraft in zwei Komponenten zerlegt werden, in eine normal zur
Oberfläche und in eine parallel dazu. Die Normalkomponente bewirkt eine reine
Zugbeanspruchung. Ihre Größe ist, wie oben, Ft/S0. Die andere Kraftkomponente Fs belastet
den Quader ebenfalls, jedoch in Form von Scherung. Die durch die Scherung erzeugte
Spannung parallel zu Fs heißt Schubspannung τ und ist gegeben durch
τ=
Fs
.
S0
(2.1.19)
Die Größe der Spannung ist immer gleich der Kraft geteilt durch die Fläche, auf die diese
- 19 -
2. Mechanisches Verhalten
wirkt. Gebräuchliche Einheiten sind Mega-Newton pro Quadratmeter oder auch Mega-Pascal
(MN/m2 oder MPa).
Spannungszustände [4]
Einachsiger Zug σ = F/S0
Abb. 2.1.15
Einachsiger Druck σ = F/S0
Reine Scherung τ = Fs/S0
Zweiachsiger Zug σ = F/S0 Hydrostatischer Druck p = -F/S0
Man unterscheidet gewöhnlich vier Spannungszustände, die in Abb. 2.1.15 illustriert sind.
Der einfachste ist reiner Zug oder reiner Druck (wie in einer Zugvorrichtung bzw. in einer
Säule unter Druckbelastung). Die Spannung errechnet sich als Kraft geteilt durch die
Querschnittsfläche. Der zweite Spannungszustand ist der unter zweiachsigem Zug. Wenn eine
kugelförmige Hülle (z.B. ein Ballon) von innen mit Gasdruck beaufschlagt wird, wird die
Hüllenwand in zwei Richtungen gleichermaßen beansprucht. (Es gibt auch zweiachsige
Spannungszustände, in denen die beiden Zugspannungen unterschiedlich sind.) Der dritte
Spannungszustand ist der hydrostatische Druck. Hydrostatischer Druck tritt tief im Erdinnern
auf oder in großen Ozeantiefen, wo ein Festkörper von allen Seiten gleich stark
zusammengedrückt wird. Nach einer Konvention werden Spannungen positiv angegeben,
wenn es sich um Zugspannungen handelt. Drucke in Druckrichtung sind allerdings ebenfalls
positiv anzugeben, so dass sich Druck und Druckspannungen in ihren Vorzeichen
- 20 -
2.1. Elastizität
unterscheiden. Ansonsten ist der Druck ebenso wie die Druckspannung als Kraft geteilt durch
Fläche definiert. Der vierte Spannungszustand ergibt sich bei reiner Scherbeanspruchung.
Wenn man ein dünnwandiges Rohr verdreht, dann sind die Wandelemente reiner Scherung
unterworfen. Die Schubspannung ist einfach die Scherkraft geteilt durch die Fläche, auf die
sie wirkt. Umgekehrt ist klar, dass, wenn man eine Spannung kennt, man die Kraft auf einen
bestimmten Querschnitt berechnen kann als Spannung mal Fläche.
Dehnung
Werkstoffe, auf die eine Spannung wirkt, dehnen sich. Steife Werkstoffe (wie Stahl) dehnen
sich nur wenig, nachgiebige Werkstoffe (wie Polyethylen) mehr. Dieser Sachverhalt drückt
sich im E-Modul aus. Aber bevor wir diesen angeben können, definieren wir zunächst, was
Dehnung ist.
1. Eine Zugspannung ruft eine Dehnung in Zugrichtung hervor. Wenn ein zugbeanspruchter
Würfel mit Ausgangskantenlänge l (Abb. 2.1.16) sich um den Betrag u parallel zur
Zugrichtung verlängert, definieren wird die zugehörige Dehnung als
εn =
u
.
l
(2.1.20)
Dabei wird der Würfel gewöhnlich auch dünner. Das Verhältnis, um das er sich
zusammenzieht, heißt Poissonzahl oder Querkontraktionszahl ν. ν gibt das negative
Verhältnis von Querschnittsverminderung zu Längsdehnung an:
ν = - Querkontraktion/Längsdehnung.
- 21 -
2. Mechanisches Verhalten
Definition der Dehnungsgrößen: εn, γ und Δ [4]
Abb. 2.1.16
σ
u/2
u/2
v/2
-v/2
σ
τ
w
technische Längenänderung
εn = u / l
technische Querkontraktion
εn = -v / l
Poissonzahl,
ν = - Querdehnung /
Längsdehnung
p
w technische Scherung
γ = w / l = tan θ
= θ für kleine Dehnungen
p
Kompression (Verdichtung)
ΔV Δ = ΔV / V
V − ΔV
p
p
l
τ
2. Eine Schubspannung bewirkt eine Scherung. Wenn ein Würfel um den Betrag w
geschert wird, definiert sich die Scherung als
γ=
W
= tan θ ,
l
(2.1.21)
wobei θ der Scherwinkel ist (Abb. 2.1.16). Da elastische Dehnungen i.a. sehr klein sind,
können wir in guter Näherung auch schreiben
γ =θ.
(2.1.22)
3. Hydrostatischer Druck führt zu einer Volumenänderung, die auch Kompression genannt
wird. Bei einer Volumenänderung ΔV eines Würfels mit Volumen V ist die
Kompression definiert als
Δ=
ΔV
.
V
Dehnungen sind dimensionslos, da sie ein Verhältnis angeben.
(2.1.23)
- 22 -
2.1. Elastizität
Das Hookesche Gesetz
Die mathematischen Zusammenhänge zwischen Spannungen und Dehnungen sind bereits um
1680 vom englischen Physiker HOOKE aufgrund von Experimenten beschrieben worden
(unabhängig von ihm auch vom französischen Physiker MARIOTTE um die gleiche Zeit).
Das heute noch für die Elastizitätslehre fundamentale HOOKEsche Gesetz ist bei festen
Körpern bis zur Grenze der Proportionalität zwischen Normalspannungen und Dehnungen im
elastischen (reversiblen) Bereich anwendbar.
Das Hookesche Gesetz stellt zunächst eine Beschreibung einer experimentellen Beobachtung
dar, nämlich, dass für kleine Dehnungen die Dehnung der angelegten Spannung mit sehr guter
Näherung proportional ist. So ist z.B. die Dehnung nominal zur Zugrichtung der angelegten
Zugspannung proportional:
σ = Eεn,
(2.1.24)
wobei E der E-Modul ist. Die gleiche Beziehung gilt natürlich auch für Spannung und
Dehnung in Druckrichtung.
Auch die Scherung ist proportional zur Schubspannung:
τ=Gγ
(2.1.25)
mit G als Schubmodul.
Und schließlich ist die Kompression Δ proportional zum Druck:
p = K Δ;
(2.1.26)
K heißt Kompressionsmodul.
Da die Dehnung dimensionslos ist, müssen die Moduln die gleiche Dimension wie die
Spannung haben: Kraft pro Fläche (N/m2). In der Praxis ist man übereingekommen, die
Moduln in Einheiten von Giga-Newton pro Quadratmeter anzugeben (GN/m2 oder GPa). Ein
- 23 -
2. Mechanisches Verhalten
Giga-Newton sind 109 Newton.
Mit der linearen Beziehung zwischen Spannung und Dehnung lässt sich die Reaktion eines
Festkörpers auf eine angelegte Spannung im linear-elastischen Bereich auf einfache Weise
berechnen. Jedoch muss man sich im Klaren darüber sein, dass die meisten Festkörper nur bis
zu sehr kleinen Dehnungen elastisch reagieren (bis etwa 0,1%). Bei höheren Dehnungen
verformen sich die meisten Werkstoffe plastisch, andere wiederum brechen spröde. Aber
davon soll noch in späteren Kapiteln die Rede sein. Einige wenige Festkörper, wie etwa
Gummi, sind noch bei Dehnungen von mehreren 100% elastisch. Jedoch hören sie schon nach
etwa 1% auf, linear-elastisch zu sein, d.h. die Spannung ist dann der Dehnung nicht mehr
direkt proportional.
Die Poissonzahl als das negative Verhältnis von Querkontraktion und Längsdehnung ist eine
dimensionslose elastische Konstante. Insgesamt verfügt man also über vier elastische
Konstanten: E, G, K und ν. Dabei ist es aber nützlich zu wissen, dass für zahlreiche Metalle
gilt
K = E,
(2.1.27 a)
3
E,
8
(2.1.27 b)
ν = 0,33.
(2.1.27 c)
G=
Gleichwohl können für viele Stoffe diese Beziehungen ungleich komplizierter ausfallen.
- 24 -
2.1. Elastizität
Der E-Modul nach Werkstoffgruppen [4]
Abb. 2.1.17
Die Elastizitätsmoduln polymerer Werkstoffe sind im allgemeinen kleiner als diejenigen von
Metallen. Höchste Elastizitätsmoduln besitzen carbidkeramische Werkstoffe (Abb. 2.1.17).
Mit der Temperatur nehmen alle elastischen Eigenschaftskenngrößen in der Regel ab, weil sie
von der Stärke der atomaren Bindung abhängen. Da diese infolge der mit wachsender
2. Mechanisches Verhalten
- 25 -
Temperatur zunehmenden mittleren Atomabstände im allgemeinen abnimmt, zeigen auch z.B.
die Elastizitätsmoduln mit steigender Temperatur fallende Tendenz (Abb. 2.1.18).
Temperaturabhängigkeit von Elastizitätsmoduln keramischer und metallischer Werkstoffe [5]
Abb. 2.1.18
Dieser Zusammenhang zwischen Bindung und elastischen Eigenschaftskenngrößen ist es
auch, der Elastizitätsmodul und Schmelzpunkt korreliert. So haben beispielsweise
hochschmelzende Werkstoffe i.a. auch hohe Elastizitätsmoduln. Für Metalle ist dies in Abb.
2.1.19 wiedergegeben.
Schmelzpunkt und Elastizitätsmodul von Metallen [5]
Abb. 2.1.19
- 26 -
2.1. Elastizität
Die Veränderung der Konzentration der Komponenten in einem mehrkomponentigen
Werkstoff oder die Lösung einer zweiten Bausteinart in einem Einkomponentenwerkstoff
führt immer zu einer Veränderung der Bindungskräfte. Dies kann allerdings sowohl zu einer
Erhöhung als auch zu einer Erniedrigung der elastischen Eigenschaftskenngrößen führen
(Abb. 2.1.20).
Beziehung zwischen E-Modul und Zustandschaubild von Mg-Sn-Legierungen [5]
Abb. 2.1.20
Durch die Gefügestruktur werden die elastischen Eigenschaftskenngrößen einphasiger
Werkstoffe dann beeinflusst, wenn in polykristallinen Werkstoffen die Kristallite
Vorzugsorientierungen haben. Der Elastizitätsmodul eines Einkristalls z.B. ist anisotrop, da
die Bindungen in den verschiedenen Richtungen unterschiedlich stark sind. Besitzen die
Kristallite im polykristallinen Werkstoff eine Orientierung (Textur), so ist auch der
Elastizitätsmodul des polykristallinen Werkstoffes anisotrop. Ein ähnliches Verhalten ist bei
amorphen einphasigen Werkstoffen denkbar, wenn bestimmte Bindungen bevorzugt in
bestimmte Richtungen wirken.
- 27 -
2. Mechanisches Verhalten
Verbundwerkstoffe
Verbundwerkstoffe weisen häufig höhere Moduln auf als die Matrix. Verbundwerkstoffe
verhalten sich außerdem mechanisch ausgesprochen anisotrop. Z.B. beträgt der E-Modul von
Holz längs der Faser etwa 10 GN/m2, quer dazu jedoch nur etwa 10% davon.
Zur Bestimmung des E-Moduls von faserverstärkten Verbundwerkstoffen gibt es eine
einfache Methode. Nimmt man an, dass ein Verbundwerkstoff mit einem Volumenanteil Vf
an Fasern längs zur Faser beansprucht wird (Abb. 2.1.21a) und geht man davon aus, daß sich
Fasern (f) und Matrix (m) gleichviel dehnen, dann ist die Spannung, die dem Werkstoff
aufgeprägt wird,
σ = Vf σ f + (1− Vf )σ m
(2.1.28)
= Vf E f ε n + (1 − Vf )E m ε n .
Da aber der Gesamtmodul EVwst = σ/εn ist, können wir andererseits schreiben
E Vwst = Vf E f + (1 − Vf ) E m .
(2.1.29)
Diese Beziehung stellt offenbar eine obere Grenze des E-Moduls unseres Faserverbundwerkstoffes dar. Größer als dieser Wert kann EVwst nicht werden.
Belastet man den Verbundwerkstoff quer zur Faser (Abb. 2.1.21b) dann sieht man, dass die
Spannungen in den beiden Komponenten gleich sind und nicht die Dehnungen. In diesem Fall
ergibt sich dann die Gesamtdehnung als die mit dem Volumenanteil gewichtete Summe der
Einzeldehnungen:
ε n = Vf ε n f + (1 − Vf ) ε nm
= Vf
Aus Evwst =
σ
Ef
+ (1 − Vf )
σ .
(2.1.30)
Em
σ
1
.
berechnet sich ein Gesamtmodul von Evwst =
Vf 1 − Vf
εn
+
Ef
Em
(2.1.31)
- 28 -
2.1. Elastizität
Unterschiedliche Belastung eines faserverstärkten Verbundwerkstoffes zur Erzielung eines
(a) maximalen E-Moduls (b) minimalen E-Moduls [4]
Abb. 2.1.21
Abb. 2.1.22, die die beiden Beziehungen 2.1.29 und 2.1.31 in grafischer Darstellung
gegenüberstellt, macht deutlich, dass faserverstärkte Werkstoffe ihren größten Zuwachs an
Steifigkeit haben, wenn man sie längs zur Faser belastet. Quer zur Faser steigt der
Gesamtmodul erst nennenswert an, wenn der Faseranteil schon relativ groß ist.
Faserverbundwerkstoffe verhalten sich also in der Tat sehr anisotrop.
E-Modul von Verbundwerkstoffen mit verschiedenen Volumenanteilen an Steifmachern [4]
Abb. 2.1.22
Auch Poren können prinzipiell als zweite Phase betrachtet werden. Der Einfluß der Porosität
auf den E-Modul ist mit folgenden Gleichungen beschrieben worden:
E = E 0 e − bP .
(2.1.32)
2. Mechanisches Verhalten
- 29 -
Dieser Zusammenhang ist in Abb.2.1.23 graphisch dargestellt.
Relativer E-Modul von Al2O3 in Abhängigkeit der Porosität [8]
Abb. 2.1.23
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der E-Modul von Metallen, keramischen
Werkstoffen und glasartigen Kunststoffen bei Temperaturen unterhalb Tg der Steifigkeit der
Atombindungen entspricht. Gläser und glasartige Kunststoffe werden oberhalb Tg leder- oder
gummiartig bzw. verwandeln sie sich in viskose Flüssigkeiten, wobei der Modul stark
abnimmt. Die Moduln von Verbundwerkstoffen stellen ein gewichtetes Mittel der Moduln der
einzelnen Komponenten dar. Besteht die zweite Komponente in Form von regellos verteilten
kompakten Teilchen, so ist die Theorie dazu sehr komplex. Allerdings ist es z.B. sehr
preiswert, Sand in einer Polymermasse einzubringen, anstatt dünne Glasfasern feinsäuberlich
darin auszurichten. Der Modulgewinn durch Teilchenzusätze ist wirtschaftlich also durchaus
lohnend. Außerdem verhält sich der Werkstoff mechanisch isotrop. Man findet derartige
Werkstoffe in Automodellen als Stoßstangen, Kühlergrill oder als Auskleidung von
verschleißbeanspruchten Oberflächen.
2.1.3 Das Spannungs-Dehnungs-Diagramm
Trägt man die Spannungen mit den zugehörigen Dehnungen oder entsprechenden
Formänderungen wie Stauchungen oder Schiebungen in Prozent der Ausgangslänge in ein
Diagramm ein (Spannungs-Dehnungs-Diagramm), so ergibt sich eine charakteristische Kurve
(Abb. 2.1.24).
- 30 -
2.1. Elastizität
Spannungs-Dehnungs-Kurve einer Aluminium-Legierung [23]
Abb. 2.1.24
Da Spannungen spezifische Kräfte (N/m2), Dehnungen (m/m) dagegen von diesen Kräften
zurückgelegte
Wege
darstellen,
entspricht
die
Fläche
unter
dieser
Kurve
der
Formänderungsarbeit (Volumenarbeit = Formänderungsenergie in Nm/m3).
Bei den mit zunehmender Spannung auftretenden Formänderungen lassen sich drei Stadien
unterscheiden:
1. das elastische Stadium: die Formänderung ist reversibel; sie verschwindet, wenn die
Krafteinwirkung aufhört, und zwar
−
entweder unmittelbar, d.h. zeitunabhängig (spontanelastisches Verhalten)
−
oder nach einer gewissen Zeit (viskoelastisches Verhalten)
2. das plastische Stadium: die Formänderung ist irreversibel; sie bleibt auch nach
Beendigung
der Krafteinwirkung erhalten und wird erreicht
−
entweder
unmittelbar
mit
Aufbringung
der
Kraft,
d.h.
zeitunabhängig
(spontanplastisches Verhalten)
−
oder nachdem die Kraft bereits eine zeitlang eingewirkt hat (viskoplastisches
Verhalten)
2. Mechanisches Verhalten
- 31 -
3. das Bruchstadium: der Werkstoff wird in makroskopische Bereiche getrennt, was sowohl
unmittelbar im Anschluss an eine elastische Formänderung als auch an eine elastische
und
plastische Formänderung erfolgen kann.
Im Spannungs-Dehnungs-Diagramm steigen Spannung und Dehnung zunächst proportional
an. Erfolgt unterhalb der Streckgrenze Entlastung, so kehrt der Körper in den völlig
spannungsfreien und dehnungsfreien Zustand zurück. Bei der Streckgrenze beginnt das
plastische Fließen, ohne dass die Spannung wesentlich ansteigt, bis zum Bruch. Nimmt man
die Belastung vor dem Bruch zurück, geht der reversible Anteil der bisher erfolgten
Gesamtdehnung zurück. Der plastische Anteil der Gesamtdehnung stellt die „bleibende
Dehnung“ dar.
Die Streckgrenze teilt das Widerstandsverhalten eines Werkstoffs in einen elastischen und
einen plastischen Bereich. Wenn die Spannungsbeanspruchung die Streckgrenze übersteigt,
setzen Bewegungsvorgänge von Versetzungen ein; das Material wird plastisch verformt.
Dieses Verhalten wird bei den meisten metallischen Werkstoffen beobachtet.
Bei keramischen Materialien wird bei Raumtemperatur vor erreichen der Streckgrenze bereits
die Bruchfestigkeit erreicht. Der Werkstoff bricht daher spröde, also ohne jegliche plastische
Verformung (Abb. 2.1.25).
Vergleich des Spannungs-Dehnungs-Verhaltens
Abb. 2.1.25
von Materialien unterschiedlicher Duktilität [23]
Dies ist der Grund, warum eine Porzellantasse, wenn sie auf eine Steinplatte fällt, in viele
- 32 -
2.1. Elastizität
Scherben zerspringt, ein Blechbecher dagegen nur eine Beule erhält, ansonsten aber
einigermaßen „funktionsfähig“ bleibt. Dieses Verhalten hat beim Konstruieren mit
keramischen Werkstoffen unter mechanischer Belastung erhebliche Konsequenzen (siehe
auch Kapitel 2.3 und 2.4)
2.1.4 Messung des E-Moduls
Zur Bestimmung des E-Moduls kann man z.B. einfach einen Block eines Materials mit einer
bestimmten Kraft zusammendrücken und die resultierende Dehnung (Stauchung) messen. Der
E-Modul ist dann gegeben durch die Beziehung E = σ/εn. Häufig wird auch die Durchbiegung
eines Probestabes in 3 Punkt- oder 4 Punkt- Biegeversuch ermittelt und in eine Dehnung bzw.
in den E-Modul umgerechnet.
Bei sehr großem E-Modul, wie bei Keramik üblich, ist die Längenänderung häufig zu klein,
um mit hinreichender Genauigkeit gemessen zu werden. Auf der anderen Seite kann der Wert
auch durch andere Beiträge verfälscht sein, etwa durch Kriechvorgänge (auf die wir in einem
späteren Kapitel noch zu sprechen kommen).
Eine wesentlich bessere Methode beruht auf der Messung der Eigenschwingungsfrequenz
eines Stabes, der an seinen Enden auf zwei Lagern aufliegt und in der Mitte von einem
Gewicht M in Schwingung versetzt wird, welches groß sein muß im Verhältnis zum
Eigengewicht des Stabes. Die Schwingungsfrequenz f eines Stabes der Länge l und des
Querschnitts π·d2/4 ergibt sich (in Schwingungen pro Sekunde (Hertz)) als
f=
1 3πEd 4
.
2π 4l 3 M
(2.1.33)
E=
16πMl 3f 2
.
3d 4
(2.1.34)
Der E-Modul bestimmt sich zu
Durch den Gebrauch eines Stroboskopes sowie sehr sorgfältig konstruierter Aufbauten führt
- 33 -
2. Mechanisches Verhalten
diese Methode schon zu recht genauen Ergebnissen.
Die beste Methode zur Messung von E erfolgt zweifellos über die Messung der
Schallgeschwindigkeit in einem Material. Die Geschwindigkeit vl von Longitudinalwellen
hängt vom E-Modul und der Dichte in folgender Form ab:
vl =
E
ϕ
(2.1.35)
vl wird gemessen, indem man einen Stab an einem Ende „anstößt“ (durch Anlegen einer
Ladungsdifferenz zwischen einem auf das Stabende geklebten Piezokristall und dem Stabende
selbst) und die Zeit misst, die der Schall benötigt, um am anderen Ende anzukommen
(ebenfalls über einen Piezokristall).
- 34 -
2.2 Anelastizität / Innere Reibung
2.2. Anelastizität / Innere Reibung
Alle realen Werkstoffe verhalten sich in Wirklichkeit auch bei kleinen Verformungen nicht
nach den Voraussetzungen der Elastizitätstheorie. Das bedeutet, sie folgen nicht der strengen
Gültigkeit des Hookeschen Gesetzes mit der zeitunabhängigen Proportionalität zwischen
mechanischen Spannungen und Dehnungen. Auch bei sehr kleinen Verformungen treten nach
dem zeitlichen Ende einer Krafteinwirkung auf ein Werkstück bleibende und auch
zeitabhängig nachwirkende Verformungen auf. Entsprechend sind die elastischen Konstanten
(E-Modul, Schubmodul, Querkontraktionszahl, Kompressibilität) nicht zeitunabhängig.
Der mit dynamischen, d.h. durch Schwingungsmethoden gemessene E-Modul zeigt
typischerweise eine Zunahme mit verwendeter Messfrequenz. Bei keramischen Werkstoffen
sind die Effekte bei Raumtemperatur sehr gering, so dass sie mit statischen Methoden nur
schwer nachweisbar sind. Bei Raumtemperatur sind verlässliche Aussagen nur mit besonders
empfindlichen Methoden der Schwingungsdämpfung mit dynamischer Belastung möglich.
Folgende Gründe sind für die stofflich bedingten Ursachen der Relaxation (hierunter wird die
durch innere Energieumsetzungen im Festkörper [innere Reibung] verzögerte Einstellung
eines neuen Gleichgewichtszustandes bei Einwirkung oder Aufhebung äußerer Kräfte
verstanden) in ein- oder polykristallinen Werkstoffen verantwortlich:
a) Wärmeaustausch mit der Umgebung durch Ausbildung von Temperaturunterschieden
bei verschiedenen Spannungszuständen.
b) Platzwechsel von beweglichen Einzelbausteinen, die auf Zwischengitterplätzen zu einer
Gitterverzerrung führen.
c) Orientierungssprünge von Punktfehlerpaaren (z.B. Leerstellen).
d) Versetzungsbewegungen.
e) Kristallumwandlungen.
f) Korngrenzengleitvorgänge.
g) Schmelzen von kristallinen Anteilen.
h) Poren, innere Oberflächen, Grenzflächen.
- 35 -
2. Mechanisches Verhalten
2.2.1 Verhalten bei statischer Beanspruchung
Hierbei unterscheidet man die Verhaltensweise eines linearen Standardkörpers unter
statischer Beanspruchung bei Vorgabe von konstanter Last oder konstanter Dehnung (Abb.
2.2.1).
Verhalten des linearen Standardkörpers [1]
Abb. 2.2.1
t
t
t=0
t=0
t
t=0
t
t=0
a) beim Fließversuch, b) beim Spannungsrelaxationsversuch
σ0 = Spannung zur Zeit 0, ε0 = Dehnung zur Zeit 0, εu = Anfangsdehnung, σu= Angangsspannung, εf = Dehnung nach
einer gewissen Zeit, σR = Spannung nach einer gewissen Zeit, Eu = unrelaxierter Modul, Ef und ER = Modul nach einer
gewissen Zeit
Zur Zeit t = 0 wird schlagartig die Spannung σ0 an die Modellschaltung angelegt, wobei die
Dehnung von einem Anfangswert σ0/Eu auf einen Endwert zunimmt. Aus der Abbildung 2.2.1
wird deutlich, dass man zwei Dehnungen angeben kann, εu aus der sofortigen Ablesung und εf
nach einer gewissen Wartezeit. Bringt man zur Zeit t = 0 die Dehnung ε0 auf und hält diese
konstant ( ε& = 0), so relaxiert die Spannung von einem Höchstwert, gegeben durch den
unrelaxierten Modul nach einer Exponentialfunktion, auf einen niedrigeren Endwert.
Bei konstanter Spannung ergibt sich
- 36 -
2.2 Anelastizität / Innere Reibung
ε(t) =
1
−
τσ
⎛ 1 1⎞
σ0
+σ⋅⎜ − ⎟ ⋅ e
Eu
⎝ Eu Ef ⎠
.
(2.2.1)
Bei konstanter Dehnung ergibt sich
−
σ( t ) = Eu ⋅ ε 0 + ε 0 ⋅ ( Eu − ER ) ⋅ e
t
τ
M
.
(2.2.2)
τσ ist die Retardationszeit bei vorgegebener Spannung, τM die Relaxationszeit bei Vorgabe der
Deformation.
2.2.2 Verhalten unter dynamischer Beanspruchung
Zyklisch wechselnde Beanspruchungen sind für die Werkstoffforschung zur Erfassung auch
kleiner innerer Energiedissipationen von Interesse, da diese in der Amplitude kleingehalten
und aus der Phasenlage und Amplitudengröße systematische Schlüsse gezogen werden
können. Legt man z.B. eine sinusförmige Spannung an einen Standardkörper an und führt
diese in die Verhaltensgleichung
σ = σ o ⋅ sin (ω ⋅ t )
( ω = 2π f , f = Frequenz )
(2.2.3)
ein, ergibt sich - hier ohne Rechnung angegeben -, dass das Modell im eingeschwungenen
Zustand ein Nacheilen der ebenfalls mit gleicher Frequenz sich ändernden Deformation zeigt
(siehe auch Abb.2.2.5). Der Phasenwinkel ϕ ist von den Modellgrößen und von der Frequenz
abhängig:
tgϕ =
bei ωτ = 1
gilt
E u − E f ⎛ ϖτ ⎞
⋅⎜
⎟
⎝ 1 + ϖ2 τ 2 ⎠
E
tgϕ = max .
Für die Frequenzabhängigkeit des Elastizitätsmoduls gilt:
bei
(2.2.4)
1 Eu − E f
2
E
- 37 -
2. Mechanisches Verhalten
E (ω ) = E U −
EU − EF
1 + ωτ 2
(2.2.5)
mit
τ = τ σ ⋅τ M
(2.2.6)
E = EU ⋅ EF
(2.2.7)
und
In Analogie zum dielektrischen Verhalten (siehe Kap.5.2) wird der Zusammenhang von
tgδ = f(ω) auch als Debye-Verhalten bezeichnet. Abb. 2.2.2 zeigt schematisch die
Frequenzabhängigkeit des Elastizitätsmoduls und des Verlustwinkels
Abhängigkeit des Elastizitätsmoduls E und des mechanischen Verlustwinkels tg ϕ von der
Schwingungsfrequenz ϖ [8]
Abb. 2.2.2
Der Verlustwinkel durchläuft in einem bestimmten Messfrequenzbereich ein Maximum, aus
dessen Lage auf die dem Vorgang innewohnende typische Relaxationszeit geschlossen
werden kann. Auch der Wendepunkt im Modul-Frequenzgang ergibt – meist weniger
empfindlich – diesen Hinweis.
Zur Untersuchung der Frequenzabhängigkeit des Verlustwinkels hat sich das Torsionspendel
bewährt. Abb. 2.2.3 zeigt schematisch Aufbau und Wirkungsweise eines umgekehrten
- 38 -
2.2 Anelastizität / Innere Reibung
Torsionspendels. Zur Vereinfachung wurden Vakuumglocke und Ofen weggelassen. Die
Probe S besteht üblicherweise aus einem Draht oder Band mit 0,5 mm bis 1,2 mm Dicke und
40 mm bis 100 mm Länge. Entsprechend dem Prinzip des umgekehrten Pendels ist das untere
Probenende fest eingespannt. Das obere Ende ist über eine vertikale Stange A, die mit einem
Querbalken B (mit trägen Massen B1, B2) verbunden ist, über Rollen R aufgehängt. Das
Gegengewicht G wird so eingestellt, dass nur eine geringe Zugkraft nach oben (ca. 0,1 N) auf
die Probe wirkt. Mit Hilfe des Permanentmagneten P, der mit der vertikalen Achse A
verbunden ist, und dem Helmholzspulenpaar C lässt sich ein Torsionsmoment erzeugen,
womit die Probe zu Torsionsschwingungen angeregt wird. Die Schwingungen werden über
ein optisches System, bestehend aus Halogenlampe L, Spiegel M und optischem Sensor D
(Schottky Diode) aufgenommen. Der mechanische Verlustwinkel φ (bzw. tg φ =Q-1) wird
nach folgender Beziehung aus dem freien Abklingen der Torsionsspannungen bestimmt.
Q-1 = tg φ = δ / π
(2.2.8)
δ = Abklingkonstante
Für höhere Dämpfungswerte ist die genauere Beziehung Q-1 = d/p(1-d/2p) zu verwenden.
Diese enthält einen Korrekturterm für die Anharmonizität der gedämpften Schwingung. Das
Torsionspendel erlaubt Messungen der inneren Reibung Q-1 (T) und der Schwingfrequenz
f(T) in Abhängigkeit von der Temperatur. Hierzu sind entsprechende Kühl- und
Aufheizeinrichtungen (mit T bezeichnet) vorhanden. Die Messfrequenz kann durch
unterschiedliche träge Massen (B1, B2) im Bereich von etwa 0,5 Hz bis 20 Hz variiert werden.
Torsionspendel[10]
Abb. 2.2.3
2. Mechanisches Verhalten
- 39 -
(2.2.9)
Eine periodisch mit einer Sinusfunktion angeregte linear-viscoelastische Probe ergibt eine
Verformungsantwort im Sinne einer gleichen Frequenz nur mit einer Phasenverschiebung
(Abb.2.2.4). Man kann auch die Verformung als Abszisse und die sich einstellende Kraft als
Ordinate abbilden. Die letztere Verfahrensweise führt nach dem Einschwingvorgang zu einer
Hystereseschleife, die sich als Ellipse ausbildet und deren Flächeninhalt ein Maß für die
Energieverluste je Zyklus im zu prüfenden Material darstellt. In Abb. 2.2.4 sind einige
typische Hystereseschleifen der Wechsellastprüfung dargestellt. Untersuchungstechniken
dieser Art wurden von Astbury für die Kennzeichnung von Ton/Wasser-Mischungen
herangezogen.
Phasenverschiebung bei erzwungenen Schwingungen [1]
Abb. 2.2.4
Erzwungene Schwingungen führen im eingeschwungenen Zustand bei linear viskoelastischen Verhalten zu
einer Phasenverschiebung von Spannungs- und Dehnungsfunktion, die in der Auftragung gegeneinander
eine elliptische Hysteresisschleife mit schräger Hauptachse ergeben.
c) zeigt ideal-elastisches Verhalten an, d) reinviskose Flüssigkeit mit waagerechter Hauptachse der
Hysteresisellipse, e) nichtlineares Verhalten eines Ton/Wasser-Gemisches
Temperatureinfluss auf das anelastische Verhalten
Die Temperaturabhängigkeit der Anelastizität wird üblicherweise bei konstanter Frequenz
verfolgt. Das experimentelle Problem besteht in der Realisierung einer störungsfreien
Halterung der Prüfkörper in einem Ofen und der temperaturbeständigen Zuführung der
- 40 -
2.2 Anelastizität / Innere Reibung
Schwingungsanregung und Abfuhr der Amplitudeninformation. In Abb. 2.2.5 sind zwei
Versuchsaufbauten schematisch dargestellt. Da bei atomaren Vorgängen die Temperaturabhängigkeit der inversen Relaxationszeit nach einer Arrhenius-Beziehung
τ −1 = τ 0
−1
exp (
−Q
)
RT
(2.2.10)
angenommen werden darf, verschiebt steigende Temperatur die Vorgänge der inneren
Veränderungen zu kürzeren Zeiten.
Biegeschwingapparaturen zur Resonanzerregung von Prüfstäben bis zu 1400°C [1]
Abb. 2.2.5
links:
Starre Ankopplung mit Hilfe dünner Oxidkeramikstäbe (geeignet für Werkstoffe mit hoher
Ausgangsdämpfung)
rechts: Ankopplung mit Schallwellen (für Werkstoffe mit geringer Eigendämpfung)
Die Zunahme der Atomabstände mit steigender Temperatur und die damit verbundene
abnehmende Attraktion der Gitterbausteine führt zu einer Abnahme des E-Moduls mit
steigender Temperatur. Der Effekt der Anelastizität äußert sich in einer Stufe innerhalb einer
abfallenden Kurve. Wesentlich empfindlicher erfassbar ist das bei der gleichen Temperatur
des Wendepunkts des ΔE-Effekts auftretende Maximum der Verlustgrößen. Bild??? Meist
erlaubt erst die Hinzunahme der Dämpfungsmessung eine eindeutige Zusage, ob ein
Relaxationsvorgang mit thermisch aktiviertem Zeitverhalten vorliegt.
- 41 -
2. Mechanisches Verhalten
Messungen der mechanischen Verluste von TZP-2-Mol% Y2O3 3Hz, 3kHz [10]
Abb. 2.2.6
Abbildung 2.2.6 zeigt Messungen der mechanischen Verluste von TZP-2-Mol% Y2O3 für
Messfrequenzen von 3 Hz (Torsionsschwingungen) und 3 kHz (Biegeschwingungen).
Die Probenabmessungen betrugen 50 x 50 x 1 mm³. Der mechanische Verlustwinkel wurde
aus der Dämpfung von abklingenden Schwingungen bestimmt und ist in Abhängigkeit von
der Temperatur aufgetragen. Die Messungen zeigen ein ausgeprägtes Maximum, dessen
Temperaturlage frequenzabhängig ist (370 K bzw. 480 K).
- 42 -
2.3 Bruchverhalten
2.3. Bruchverhalten
2.3.1 Theoretische Festigkeit fester Körper
Ein fester Körper wird durch Bindungskräfte zwischen den Atomen zusammengehalten. Dies
ist schematisch in Abb. 2.3.1 an einem Ausschnitt aus einem idealen Kristallgitter dargestellt.
Eine Zerstörung der Bindungen längs einer Gitterebene (angedeutet durch die Schlangenlinie
in Abb. 2.3.1) hat eine Zertrennung des festen Körpers zur Folge, die mit einer Schaffung
neuer Oberflächen verbunden ist.
Zur mikrostrukturellen Erklärung des Bruchvorgangs [9]
Abb. 2.3.1
Als theoretische oder ideale Zerreißfestigkeit (Kohäsionsfestigkeit) bezeichnet man die
Spannung, die erforderlich ist, um die Atome längs dieser Gitterebene voneinander zu
trennen.
- 43 -
2. Mechanisches Verhalten
Zwischenatomare Energie und Kraftverteilung [9]
Abb. 2.3.2
In Abb. 2.3.2 ist die potentielle Energie der Wechselwirkung zwischen zwei Atomen im
Kristallgitter in Abhängigkeit von ihrem Abstand, sowie der sich daraus ergebende Verlauf
der Kohäsionskraft dargestellt. Der atomare Abstand d für die Gleichgewichtslage der Atome
entspricht dem Minimum der potentiellen Energie (Abb. 2.3.2 a).
Die Verschiebung aus dem Gleichgewichtsabstand d sei x, dann ist σth die maximale
Spannung, die aufgebracht werden muss, um die Atome zu trennen. Man bezeichnet diese
Spannung als theoretische Zerreißfestigkeit oder Kohäsionsfestigkeit (Abb. 2.3.2 b).
Gemäß Abb. 2.3.2 c kann die Kraft- Abstandskurve durch eine Sinuskurve
σ = σ th sin
2πx
λ
(2.3.1)
approximiert werden. Für kleine Verschiebungen x gilt näherungsweise
σ = σ th
2πx
λ
(2.3.2)
- 44 -
2.3 Bruchverhalten
(linearer Anstieg der Kurve in Abb. 2.3.2 c), andererseits ist nach dem Hookeschen Gesetz
σ=E
x
d
(2.3.3)
wobei E den Elastizitätsmodul bedeutet. Aus den letzten beiden Gleichungen folgt
σ th =
E⋅λ
2 πd
(2.3.4)
und eine Berechnung von σth ist möglich unter der Annahme, dass die gesamte zur Trennung
der Atome aufgebrachte Arbeit in Oberflächenenergie übergeht. Es wird also nur elastische,
keine plastische Formänderung in Betracht gezogen.
Die Arbeit beim Auseinanderreißen der Atome pro Flächeneinheit ergibt sich als die
schraffierte Fläche unter der Kurve in Abb. 2.3.2 c), sie wird vollständig in
Oberflächenenergie der zwei neugebildeten Oberflächen übergeführt. Es gilt also
λ/2
∫ σ dx =
x =0
σ th λ
= 2γ 0
π
(2.3.5)
wobei γ0 die spezifische Oberflächenenergie (Oberflächenenergie pro Flächeneinheit)
bedeutet.
Setzt man λ = 2 γ0 π / σth in Gleichung 2.3.4 ein, so folgt
σ th =
E⋅γ0
d
(2.3.6)
zur Abschätzung der theoretischen Zerreißfestigkeit kristalliner Körper.
Die spezifische Oberflächenenergie γ0 ist eine Größe, die gemessen werden kann, sie beträgt
größenordnungsmäßig
γ0 ≈ 10-4 MPa·cm
- 45 -
2. Mechanisches Verhalten
für Metalle und keramische Materialien. Mit den weiteren Daten E ≈ 100 GPa sowie d ≈
2.5. 10-8 cm ergibt sich eine theoretische Zerreißfestigkeit
σth = 2 · 104 MPa, d.h. σth ≈
E
5
Demgegenüber liegen gemessene Zerreißfestigkeiten fester Körper um zwei bis drei
Größenordnungen niedriger. Sehr große Festigkeiten werden z.B. ermittelt bei
Klavierseitendraht
E
,
70
Eisenwhisker
E
25
Wolframdraht
E
,
50
Silicawhisker
E
4
Die gemessenen Zerreißfestigkeiten normaler fester Körper sind im allgemeinen geringer. Die
Unterschiede zwischen gemessenen und theoretischen Festigkeiten werden durch das
Vorhandensein von Fehlordnungen im Kristallgitter, durch Gefügefehler wie beispielsweise
Korngrenzen oder durch das Auftreten anderer Bruchmechanismen z.B. infolge plastischer
Verformung erklärt.
Da die Größe derartiger Gefügefehler statistisch verteilt ist, beobachtet man auch eine
Streuung der gemessenen Festigkeitswerte keramischer Werkstoffe (Abb. 2.3.3, siehe auch
Kap.2.3.2).
Auf die statistische Verteilung von Gefügefehlern und die damit verbundene Streuung der
Festigkeit wird an anderer Stelle ausführlich eingegangen. Typische Festigkeitswerte einiger
keramischer Werkstoffe zeigt Tabelle 2.3.1. Typische Bruchflächenenergien von Einkristallen
sind aus Tabelle 2.3.2 ersichtlich.
- 46 -
2.3 Bruchverhalten
Festigkeit einiger spröder Werkstoffe [8]
Abb. 2.3.3
1 Kg/cm2 ≈ 10-1 Mpa
1 Kg/mm2 ≈ 10 MPa
Festigkeit einiger keramischer Werkstoffe [8]
Tab. 2.3.1
(psi = 0,006895MPa)
- 47 -
2. Mechanisches Verhalten
Bruchflächenenergie von Einkristallen [8]
Tab. 2.3.2
(1 erg/cm2 = 10-1 Pa·cm)
2.3.2 Grundlagen der Bruchmechanik
Der Bruch von keramischen Werkstoffen geht von Fehlern aus. Diese können während der
Werkstoffherstellung in Form von Poren, Rissen oder Einschlüssen oder während der
Oberflächenbearbeitung entstehen. Das Versagen erfolgt durch die Ausbreitung von Rissen,
die von diesen Fehlern ausgehen. Die Sprödigkeit der keramischen Werkstoffe wird durch
den geringen Widerstand gegen die Rissausbreitung verursacht. Die große Streuung der
mechanischen Eigenschaften ist auf die Streuung der Fehlergröße zurückzuführen. Die
Bruchmechanik befasst sich mit den Gesetzmäßigkeiten der Ausbreitung von Rissen. Dabei
wird von der Idealvorstellung eines flächenhaften Fehlers mit einer unendlich scharfen Spitze
ausgegangen. Ein solcher Fehler wird als Riss bezeichnet. Reale Fehler dagegen sind häufig
Volumenfehler.
Für die Belange der Bruchmechanik sind die singulären Spannungsfelder in der Umgebung
einer Rissspitze von grundlegender Bedeutung. Die Stärke dieser Spannungsfelder lässt sich
mit einem einzigen Faktor, der nur von der Geometrie der Rissanordnung und der äußeren
Belastung abhängt, kennzeichnen.
- 48 -
2.3 Bruchverhalten
Nach Irwin lassen sich drei grundlegende Arten des Rissöffnungsverhaltens festlegen, die drei
voneinander
unabhängigen
Bewegungsmöglichkeiten
der
beiden
Rissoberflächen
gegeneinander entsprechen (Abb. 2.3.5).
Die drei grundlegenden Rissöffnungen I, II, III [9]
Abb. 2.3.5
Der Fall 1 ist charakteristisch für Zugbelastung, wenn sich die Rissoberflächen bezüglich der
Rissebene symmetrisch voneinander entfernen.
Der Fall 2 tritt bei ebener Schubbelastung in Rissrichtung auf.
Der Fall 3 entspricht dem nicht ebenen Schubspannungszustand. Die Rissoberflächen werden
quer
zur
Rissrichtung
gegeneinander
verschoben.
Dies
tritt
bei
Schub-
und
Torsionsproblemen auf.
Außenriss in Platte [10]
Abb. 2.3.6
- 49 -
2. Mechanisches Verhalten
In Abb. 2.3.6 wird der Außenriss der Länge a in einer Platte der Dicke B und der Breite W
betrachtet. Die wichtigste Beanspruchung ist die Belastungsart 1, also Zugbeanspruchung
senkrecht zur Rissebene.
Ein Punkt vor der Rissspitze wird durch die Koordinaten x und y oder r und θ charakterisiert.
Der Verlauf der Spannungen in Rissspitzennähe bei Belastungsart 1 ist gegeben durch
σx =
KI
θ
θ
3θ
cos (1 − sin sin )
2
2
2
2πr
(2.3.7 a)
σy =
KI
θ
θ
3θ
cos (1 + sin sin )
2
2
2
2πr
(2.3.7 b)
τ xy =
KI
θ
θ
3θ
sin cos cos
2
2
2
2πr
(2.3.7 c)
σz = 0:
für z = + B/2 und z = - B/2
(am Probenrand, Abb. 2.3.6)
ebener Spannungszustand (ESZ)
σz = ν (σx + σy):
in der Mitte genügend dicker Proben ebener Dehnungszustand (EDZ)
Für die Belastungsarten II und III sind die Gleichungen wesentlich kompliziertr. KI ist der
Spannungsintensitätsfaktor, der von der Höhe der Belastung σ, der Größe des Risses a und
der Geometrie des Bauteils Y(a, W) abhängt. Er kann geschrieben werden als
KI = σ· a ·Y(a, W)
(Spannungsbetrachtung)
(2.3.8)
Die Spannungen vor der Rissspitze sind also eindeutig durch die Größe des
Spannungsintensitätsfaktors KI bestimmt. Das Rissausbreitungsverhalten ist von dieser Größe
abhängig. Wird ein Bauteil oder eine Probe mit Riss belastet, dann nimmt KI mit
zunehmender Belastung zu, bis bei einem kritischen Wert instabile Rissausbreitung einsetzt.
Dieser kritische Wert ist die Risszähigkeit KIc, die auch als Bruchzähigkeit bezeichnet wird.
Die Risszähigkeit ist eine Werkstoffkenngröße und kann experimentell ermittelt werden.
- 50 -
2.3 Bruchverhalten
Die Dimension des Spannungsintensitätsfaktors bzw. der Risszähigkeit ist Nmm-3/2 oder
MNm-3/2 = MPa
m.
σC =
K IC
a ⋅Y
(2.3.9)
Die Beschreibung des Rissausbreitungsverhaltens mit dem Spannungsintensitätsfaktor basiert
somit auf der Betrachtung der Spannungen vor der Rissspitze. Alternativ dazu kann die
Rissausbreitung mit Hilfe von Energiebetrachtungen erfolgen. Als Risswiderstand GIC wird
die Energie bezeichnet, die aufzubringen ist, um den Riss um die Flächeneinheit zu
vergrößern. Die Dimension des Risswiderstandes in N/m oder N/mm.
Die spezifische Bruchflächenenergie γf ist die notwendige Energie, um die Flächeneinheit
einer Bruchfläche zu erzeugen. Da bei der Rissausbreitung zwei Bruchflächen entstehen, ist
GIC = 2γf
(2.3.10)
Der Belastungszustand eines Risses kann somit alternativ durch den Spannungsintensitätsfaktor KI oder durch die Energiefreisetzungsrate GI charakterisiert werden. Instabile Rissausbreitung erfolgt bei
KI = KIC
(2.3.18 a)
GI = GIC
(2.3.18 b)
oder
Irwin hat gezeigt, dass zwischen GI und KI eine Beziehung besteht
KI2 = GI E´,
(2.3.19)
mit
ebener Spannungszustand
⎧E
E′ = ⎨
2
⎩E / (1 − ν ) ebener Dehnungszustand
(2.3.20)
- 51 -
2. Mechanisches Verhalten
Gl. (2.3.19) führt damit die beiden Versagensbedingungen ineinander über. Es muß somit
auch gelten
2
K IC =
G IC E 2 γ f E
=
1 − ν2 1 − ν2
(Energiebetrachtung)
(2.3.21)
wobei der ebene Dehnungszustand vorausgesetzt wurde.
Aus der Energiebetrachtung lässt sich die höhere Bruchzähigkeit von Metallen gegenüber
keramischen Werkstoffen erläutern. An der Rissspitze tritt bei Metallen in Gegensatz zur
Keramik in der Regel plastische Verformung auf, die spezifische Bruchflächenenergie nimmt
zu. Die Bruchzähigkeit erhöht sich damit gemäß
2
K IC =
2( γ f + γ plastisch ) ⋅ E
1 −ν 2
(2.3.22 )
Den Spannungsverlauf in Abhängigkeit der bruchauslösenden Fehlergröße zeigt Abb.2.3.7
Spannungsverlauf in Abhängigkeit der bruchauslösenden Fehlergröße bei Keramik und Metall
σc =
Abb. 2.3.7
K IC
ac ⋅ Y
Wegen der geringen Bruchzähigkeit keramischer Werkstoffe wird die Bruchspannung schon
bei relativ kleinen Fehlergrößen (im µm-Bereich) erreicht. Aufgrund der Bindungsarten
(ionisch, kovalent) liegen die zur plastischen Verformung notwendigen Spannungen
wesentlich höher als die Bruchspannung. Keramik bricht daher spröde. Da die
- 52 -
2.3 Bruchverhalten
bruchauslösenden Fehler (Korngrenzen, Poren, Oberflächenrauhigkeiten, Bearbeitungsfehler)
stark streuen, streut auch die Festigkeit keramischer Werkstoffe entsprechend (Abb. 2.3.8).
Streuung der bruchauslösenden Fehlergröße
und der Bruchspannung bei keramischer Werkstoffen
Abb. 2.3.8
Die Rissgröße, die notwendig wäre, damit der Werkstoff vor erreichen der Streckgrenze
bricht, liegt bei metallischen Werkstoffen wegen der höheren KIC-Werte im Bereich einiger
Millimeter. Diese Fehlergrößen treten in Metallen praktisch nicht auf. Die Festigkeit wird
daher von den Bindekräften des Werkstoffs bestimmt und die Streuung ist sehr gering
(Abb. 2.3.9).
Festigkeitsstreuung keramischer und Metallischer Werkstoffe
Abb. 2.3.9
- 53 -
2. Mechanisches Verhalten
2.3.3 Bestimmung der Festigkeit
Die Festigkeit keramischer Werkstoffe wird üblicherweise durch den Widerstand des
Materials gegenüber Zugspannungen charakterisiert. Die Druckfestigkeit ist demgegenüber
von geringerer Bedeutung, auch wenn sie wesentlich größer ist als die Zugfestigkeit.
2.3.3.1 Zugfestigkeit
Der Zugversuch ist wegen seiner homogenen Spannungsverteilung und des rein einachsigen
Spannungszustandes das übersichtlichste Verfahren zur Bestimmung der Zugfestigkeit. Seine
Probleme liegen in der schwierigen Krafteinleitung und in der Vermeidung überlagerter
Biegespannungen.
Als
Prüfkörperformen
werden
fast
ausschließlich
kreisförmige
Probenquerschnitte verwendet. Die Einspannbereiche sind als zylindrische und konische
Schultern ausgebildet. Die Vorteile der Keramik gegenüber Metallen zeigt sich vor allem im
Hochtemperaturbereich. Bei diesen Temperaturen können die Einspanngestänge nicht mehr
aus metallischen Werkstoffen hergestellt werden. Es sind dann Keramikeinspannungen zu
verwenden, die zur Reduzierung der Zugspannungen mit relativ großen Querschnitten
ausgeführt werden. Die beiden wichtigsten Ursachen für das Auftreten störender
Biegespannungen sind seitlicher Versatz der unteren Einspanneinheit relativ zur oberen und
ein exzentrischer Einbau bei ansonsten fluchtenden Einspannklemmen (Abb. 2.3.10). Die
Festigkeit im Zugversuch errechnet sich zu
σ=
F F L tan α
±
2 Wb
S
(2.3.23)
wobei F die Zugkraft, S den Probenquerschnitt, L die Probenlänge und Wb das Widerstandsmoment gegen Biegung bedeutet.
Die Exzentrizität lässt sich durch Vergrößerung des Probenquerschnitts beträchtlich
verringern. In manchen Fällen ist neben der reinen Festigkeitsangabe auch noch eine Aussage
über die Bruchdehnung von Interesse. Bei Raumtemperatur und Temperaturen, wie sie bei der
Metallprüfung
üblich
sind,
genügt
das
Ansetzen
von
mechanisch-elektrischen
Wegaufnehmern. Im Hochtemperaturbereich wird in den einfachsten Ausführungen die
- 54 -
2.3 Bruchverhalten
Änderung des Abstandes der Einspanneinheiten gemessen. Im Hochtemperatureinsatzbereich
sind optische Dehnungsmessvorrichtungen von Vorteil.
Einspannfehler beim Zugversuch [10]
Abb. 2.3.10
Um den hohen versuchstechnischen Aufwand der so einfach erscheinenden Zugversuche zu
umgehen und um die aufwendige Probenvorbereitung (Schleifen von Rundstäben) zu
vermeiden, wurden andere Methoden zur Ermittlung der Zugfestigkeit entwickelt.
2.3.3.2 Der Biegeversuch
Abb. 2.3.11 zeigt die Abmessungen und die Belastungsanordnung am Beispiel des 4-PunktBiegeversuchs. Die Biegezugfestigkeit berechnet sich aus der Versagenslast F zu
σC =
3(S1 − S2 )F
2W 2 B
(2.3.24)
wobei S1 und S2 die Abstände der Belastungsrollen, W die Probenhöhe und B die
Probenbreite sind. Diese Versuchsanordnung hat den Vorteil, dass die Herstellung
entsprechender Proben im Vergleich zum Zugversuch relativ einfach ist. Darüber hinaus ist
der Biegeversuch hinsichtlich seiner Messfehlerbeurteilung der am umfassendsten
untersuchte Festigkeitstest.
- 55 -
2. Mechanisches Verhalten
Vierpunkt-Biegeprobe [10]
Abb. 2.3.11
2.3.3.3 Versuche an Rohrabschnitten
Während die mechanische Prüfung zur Materialcharakterisierung keramischer Werkstoffe oft
an Proben erfolgt, die aus speziell gesinterten Keramikplatten herausgearbeitet wurden oder
sogar als Einzelprobe hergestellt werden, müssen in der Praxis oft die Probekörper aus
Produktionsteilen entnommen werden. Liegen Produkte in Form von Rohren vor, sind zwei
Versuche anwendbar:
a) Der Kreisring-Test
Kreisringtest [10]
Abb. 2.3.12
Im Kreisringtest (Abb. 2.3.12) werden Ringe, die von rohrförmigen Fertigteilen abgeschnitten
wurden, diametral zwischen zwei planparallelen Platten durch eine Linienlast auf Druck
belastet. Dabei treten an den Ringinnenseiten direkt an der Lastlinie sowie auf den
Ringaußenseiten in maximalem Abstand von der Lastlinie maximale Zugspannungen auf.
Bedeutet t die Ringdicke, r den mittleren Radius und B die Länge des Rohrabschnitts, dann
folgt aus der Versagenslast F die Zugfestigkeit zu
- 56 -
2.3 Bruchverhalten
⎛
⎜1 −
Fr ⎝
σC =
B t2 ⎛
⎜1 −
⎝
t⎞
⎟
6r ⎠ 6
⋅
t⎞ π
⎟
2r ⎠
(2.3.25)
Um den effektiv belasteten Probenanteil zu erhöhen, ist in einer für Steinzeug entwickelten
Norm (DIN 1230) die Krafteinleitung in die Probe durch flächige Belastungselemente
homogener in die Probe eingeleitet worden (Abb. 2.3.12 b). Aus der beim Probenbruch
vorliegenden Scheiteldruckkraft F resultiert als Zugfestigkeit
σC = 1,8
Fr ⎛
t ⎞⎛
t⎞
1 + ⎟ ⎜1 + ⎟
2 ⎜
2r ⎠ ⎝
3r ⎠
Bt ⎝
(2.3.26)
b) Der C-Ring-Test
Im C-Ring-Test wird ein Ringsegment auf Druck oder Zug belastet. Abb. 2.3.13 zeigt die
Probe als Hälfte eines Kreisrings und schematisch die beiden Belastungsanordnungen. Durch
Anwendung des Druckversuchs kann die Zugfestigkeit im Bereich der äußeren
Rohroberfläche gemessen werden. Im Zugversuch, der eine etwas kompliziertere
Lasteinleitung erfordert, geht das Versagen von der inneren Rohroberfläche aus.
Bezeichnet F die Versagenslast, B die Breite und t die Dicke der Probe, dann berechnet sich
die Versagensspannung zu
σc = K
F
Bt
(2.3.27)
Nach Timoshenko und Young ist im Druckversuch mit dem „aktuellen Hebelarm“ q
K=
1
t ) ( r0 − L)
2
−1
r0 ( r − L)
(q −
(2.3.28)
und im Zugversuch
K=
(q −
1
t − d )( L − ri )
2
+1
ri ( r − L)
(2.3.29)
mit ri = r - t/2, ro = r + t/2, L = t/[ln(r0/ri)].
Bei exakt diametraler Belastung sind die in Abb. 2.3.13 definierten Größen q = r0 und d = 0.
- 57 -
2. Mechanisches Verhalten
Die größten Fehlermöglichkeiten entfallen auf die Dickenmessung. Eine typische
Messgenauigkeit von 5% in t führt zu ca. 10% Fehler der Festigkeit. Aufgrund der relativ
großen Dickentoleranz der unbearbeiteten Keramikprodukte empfiehlt sich die nachträgliche
Messung direkt an der Versagensstelle.
C-Ring-Test [10]
Abb. 2.3.13
2.3.3.4 Messung der Druckfestigkeit
Unter Druckbeanspruchung ertragen keramische Werkstoffe sehr viel höhere Belastungen als
unter Zugbeanspruchung. Beim Druckversuch an zylindrischen Proben erfolgt die Belastung
zwischen planparallelen Druckstempeln. Als Bruchfestigkeit wird die auf dem Zylinderquerschnitt bezogene Prüfkraft im Moment des Versagens bezeichnet. Die Problematik dieses
Versuchs liegt in der Kraftanleitung in die Probe. Es treten Störeffekte im Bereich des
Übergangs von den Druckstempeln auf die Probe auf.
a) Der Druckversuch an zylindrischen Proben
Im allgemeinen ist der Probendurchmesser kleiner als der Durchmesser der Druckstempel.
Dadurch kommt es entlang der äußersten Kontaktlinie zu einer linienförmigen
Spannungssingularität. Im Extremfall kann die sich einstellende Spannungsverteilung aus
dem elastizitätstheoretisch wohlbekannten Problem des Eindrückens eines starren Zylinders
vom Radius R in einen unendlich ausgedehnten elastischen Körper abgeschätzt werden. Man
- 58 -
2.3 Bruchverhalten
erhält dann die Spannungen im Abstand r von der Symmetrieachse zu
σ=
F
2 π R ( R 2 − r 2 )1/ 2
(2.3.30)
und folglich für r = R unendliche Spannungen. Die Spannungsverteilung wird homogener,
wenn man berücksichtigt, dass auch die Keramikproben einen endlichen E-Modul besitzen
und die Belastungsstempel eine mit dem Probenquerschnitt vergleichbare Größe haben. Die
Spannungssingularität bleibt jedoch erhalten.
b) Der Druckversuch am Hohlzylinder
Hohlzylinder für Druckversuche [10]
Abb. 2.3.14
Abb. 2.3.14 zeigt eine rohrförmige Probe, deren tragender Querschnitt im Mittenbereich auf
ca. ein Viertel des Endquerschnitts verjüngt ist. Durch die Rohrform werden einige der bei
Vollzylindern auftretenden Schwierigkeiten eliminiert. Die Belastung erfolgt über
„Compliance-Rohre“, die aus dem gleichen Material wie der Prüfling bestehen. Ihre
eigentliche Bedeutung finden die Hohlzylinderproben jedoch bei hydrostatistischen
Druckversuchen (Abb. 2.3.14 b). In diesem Belastungszustand sind Biegemomente und axiale
Exzentrizitäten ohne Bedeutung. Ein Nachteil der Hohlzylinderproben gegenüber den
Vollzylinderproben ist der wesentlich höhere Aufwand bei der Probenherstellung.
2. Mechanisches Verhalten
- 59 -
Druckfestigkeit in MPa von polykristallinen Keramiken nach Rice [10]
Tab. 2.3.3
Verhältnis der Druckfestigkeit zur Biegefestigkeit bei Raumtemperatur [10]
Tab. 2.3.4
Die Druckfestigkeit keramischer Werkstoffe (Tab. 2.3.3) liegt um Faktor 4 - 30 höher als die
Biegefestigkeit, was mit der Rissempfindlichkeit von Keramiken zu erklären ist.
Tab. 2.3.4 zeigt das Verhältnis der Druckfestigkeit zur Biegefestigkeit einiger Werkstoffe.
- 60 -
2.3 Bruchverhalten
2.3.4 Experimentelle Methoden zur Ermittlung der Risszähigkeit
Die prinzipielle Vorgehensweise bei der Ermittlung der Risszähigkeit KIC besteht in
folgenden Schritten:
−
Erzeugung eines Risses in einer Probe,
−
Messung der Bruchlast bzw. Bruchspannung
−
Berechnung von KIC aus der Bruchspannung und der Risslänge nach der Beziehung
K IC = σ aY
(2.3.31)
oder
KIC =
F
Y*
B W
(2.3.32)
Bei der Schreibweise nach Gl. 2.3.32 ist die Risslängenabhängigkeit vollständig in der
Funktion Y* (a/W) enthalten.
Das Problem besteht in der Erzeugung eines Anrisses und in der Vermessung der Risslänge.
An dieser Stelle soll lediglich die Biegeprobe mit durchgehendem Riss und die Methode der
Vickers-Härteeindrücke beschrieben werden.
2.3.4.1 Biegeprobe mit durchgehendem Riss
Die Probe wird üblicherweise im Vierpunktbiegeversuch belastet (Abb. 2.3.15). Die
Kantenlängen der Proben betragen einige Millimeter für den Querschnitt und 40-50 mm für
die Probenlänge. Die üblichen Auflagerlängen sind S1 = 40 mm und S2= 20 mm.
- 61 -
2. Mechanisches Verhalten
Biegeprobe mit einseitigem Außenriss [9]
Abb. 2.3.15
Der Riss wird häufig als feiner Schlitz eingesägt, wobei die relative Risslänge α = a/W
meistens 0.5 beträgt. Die Risszähigkeit berechnet sich aus der maximalen Kraft Fmax und der
relativen Risslänge α nach
K IC =
Fmax S1 − S 2 3ΓM α
⋅
⋅
W 2(1 − α )3/ 2
B W
(2.3.33)
mit
ΓM = 19887
.
− 1326
. α−
(3.49 − 0.68α + 135
. α 2 )α(1 − α )
(1 + α ) 2
(2.3.34)
Der Vorteil dieser Methode besteht in der relativ einfachen Erzeugung der Kerbe.
Experimentelle Untersuchungen über den Einfluss der Kerbbreite bzw. des Kerbradius haben
den in Abb. 2.3.16 angegebenen Zusammenhang ergeben.
- 62 -
2.3 Bruchverhalten
Einfluss des Kerbradius auf die gemessene Risszähigkeit [9]
Abb. 2.3.16
Der gemessene Wert von KIC nimmt oberhalb eines kritischen Kerbradius ρC linear mit der
Wurzel aus dem Kerbradius zu. Nur für ρ < ρC wird ein korrekter KIC Wert gemessen. Dabei
hängt der kritische Wert ρc vom Werkstoff ab. Es muss daher für jeden Werkstoff überprüft
werden, ob mit der kleinsten herstellbaren Schlitzbreite ein korrekter KIC-Wert ermittelt
werden kann.
Die übliche Methode der Risserzeugung ist das Kerben mit dünnen diamantbeschichteten
Scheiben oder mit diamantbeschichteten Drähten. Dabei können ohne große Schwierigkeiten
Kerbbreiten von 0.1 mm gefertigt werden. Mit größerem Aufwand ist die Erzeugung von
Kerbbreiten von 60 μm in Extremfällen bis zu 10 μm möglich.
2.3.4.2 Vickers-Härteeindrücke
Entwicklung von Vickers-Rissen [10]
Abb. 2.3.17
- 63 -
2. Mechanisches Verhalten
Bei der Ermittlung der Risszähigkeit mit Hilfe von Vickers-Härteeindrücken wird die
Risszähigkeit aus der Belastung beim Härteeindruck und aus der Länge der sich auf der
Oberfläche ausbildenden Risse ermittelt (Abb. 2.3.17).
Unterhalb des pyramidenförmigen Härteeindrucks bildet sich eine Deformationszone aus.
Während der Belastung und der anschließenden Entlastung entstehen zwei senkrecht
aufeinander stehende Risse, die von der tiefsten Stelle ausgehen, sich bis zur Oberfläche
ausbreiten und etwa halbkreisförmige Gestalt haben. Die Oberflächenrisslänge ist 2c, die
Länge der Diagonale des Härteeindrucks 2a (Abb. 2.3.18).
Palmquist-Risse [10]
Abb. 2.3.18
Aufgrund von theoretischen Überlegung folgt
K IC
⎛ E⎞
= H a ⋅⎜ ⎟
⎝ H⎠
1/ 2
⎛ c⎞
⋅⎜ ⎟
⎝ a⎠
3/ 2
(2.3.35)
wobei sich die Härte H aus der Belastung F und der Größe a berechnet.
H=
F
2 a2
(2.3.36)
Der Exponent E/H wird in der Literatur mit 0.4 angegeben. Für die praktische Anwendung
wird in Munz [10] die Beziehung
KIC = 0.032 H a (
E 1/ 2 c −3/ 2
) ( )
H
a
(2.3.37)
- 64 -
2.3 Bruchverhalten
empfohlen, da sie die beste theoretische Grundlage besitzt und das umfangreichste
Datenmaterial beschreibt.
Risszähigkeit in MPa·m1/2 [10]
Tab. 2.3.5
Tab. 2.3.5 zeigt Risszähigkeitswerte einiger keramischer Werkstoffe. Die Risszähigkeit hängt
von
den
angewandten
Meßmethoden
aber
auch
vom
Reinheitsgrad
und
dem
Herstellungsverfahren der Keramik ab. Deshalb enthält Tabelle 2.3.5 in einigen Fällen
Bereiche von KIC. Sind nur Einzelwerte angegeben, so sind diese als Anhaltswerte zu
betrachten.
Die Risszähigkeit ist wie alle Werkstoffgrößen temperaturabhängig. Bei einer Erhöhung der
Temperatur ändert sich bei den meisten Keramiken die Risszähigkeit zunächst nicht oder nur
gering. Ein deutlicher Einfluss der Temperatur wird beobachtet, wenn Kriecheffekte
auftreten. Dies wird z.B. bei Siliciumnitrid beobachtet (Abb. 2.3.19).
- 65 -
2. Mechanisches Verhalten
Kritische Werte des Spannungsintensitätsfaktors in Abhängigkeit
Abb. 2.3.19
von der Temperatur für heißgepresstes Siliciumnitrid [10]
Bis zu etwa 1000°C zeigt die Kraftverlängerungskurve rein lineares Verhalten. Die
Bruchkraft Fc ist mit der maximalen Kraft Fmax identisch. Oberhalb von 1100 °C gibt es eine
auf
stabiles
Risswachstum
Kraftverschiebungskurve.
In
zurückzuführende
diesem
Abweichung
Temperaturbereich
von
der
linearen
erweicht
die
amorphe
Korngrenzenphase und ermöglicht Kriechvorgänge. Dies führt zu einem Anstieg des
Spannungsintensitätsfaktors.
Vergleichsweise einfach ist das Verhalten von Materialien ohne oder mit nur geringer
viskoser Korngrenzenphase, wie dies in Abb. 2.3.20 für heißgepresstes SiC wiedergegeben
ist. Einer bis 1000°C nahezu konstanten Risszähigkeit folgt eine stetige Abnahme.
- 66 -
2.3 Bruchverhalten
Einfluss der Temperatur auf die Risszähigkeit von heißgepresstem Siliciumcarbid [10]
Abb. 2.3.20
Ähnlich wie bei der Betrachtung des E-Moduls kann dies mit der Abnahme der Bindekräfte
zwischen den elementaren Bausteinen in der Materie gedeutet werden.
2.3.5 Unterkritisches Risswachstum und Lebensdauer
Bei vielen Keramiken geht dem instabilen Bruch ein unterkritisches Risswachstum voraus.
Dabei verlängert sich ein Riss der Anfangsgröße ai langsam bis zu der von der Belastung
abhängigen kritischen Größe ac, bei der dann instabiler Bruch einsetzt. Im Bereich der
Gültigkeit der linear-elastischen Bruchmechanik wird die Risswachstumsgeschwindigkeit v
eines Werkstoffs in einem bestimmten Umgebungsmedium ausschließlich durch den
Spannungsintensitätsfaktor bestimmt.
v=
da
= f (K I )
dt
In Abb. 2.3.21 ist ein typischer Verlauf einer v-KI-Kurve aufgezeichnet.
(2.3.38)
- 67 -
2. Mechanisches Verhalten
Typische v - KI - Kurve [10]
In
der
doppeltlogarithmischen
Darstellung
Abb. 2.3.21
tritt
in
einem
großen
Bereich
der
Rissgeschwindigkeit ein linearer Bereich auf, der durch das Potenzgesetz
da
n
= AK I
dt
(2.3.39)
mit den temperaturabhängigen Materialkonstanten A und n beschrieben wird. In einigen
Fällen wurde ein unterer Grenzwert des Spannungsintensitätsfaktors KI0 gemessen, unterhalb
dessen kein unterkritisches Risswachstum auftritt. Bei großen Rissgeschwindigkeiten kann
ein Plateau (II) auftreten, in dem die Rissgeschwindigkeit unabhängig von KI ist. Nach einem
weiteren Anstieg der Rissgeschwindigkeit (III) setzt bei KI = KIC instabile Rissausbreitung
ein.
Die Lebensdauer eines keramischen Bauteils bei vorgegebener Belastung kann aus dem
Zusammenhang zwischen der Rissgeschwindigkeit und dem Spannungsintensitätsfaktor
berechnet werden.
Abb.
2.3.22
zeigt
den
Zusammenhang
zwischen
Spannungsintensitätsfaktor am Beispiel von Porzellan.
Rissgeschwindigkeit
und
- 68 -
2.3 Bruchverhalten
Rissgeschwindigkeit bei statischer und zyklischer Belastung für Porzellan [10]
Abb. 2.3.22
2.3.5.1 Lebensdauer unter statischer Last
Aus
der
Definition
des
Spannungsintensitätsfaktors
nach
Gl.
(2.3.8)
und
der
Risswachstumsgesetzmäßigkeit nach Gl. (2.3.39) ergibt sich bei Annahme einer konstanten
Geometriefunktion Y für das Zeitdifferential
dt =
1
da
Aσ Y n a n / 2
n
(2.3.40)
Integration der Gl. (2.3.40) von der Anfangsrisstiefe ai bis zum kritischen Wert ac liefert für
beliebige zeitabhängige Spannungen σ (t)
t
⎡ 2−n
2− n ⎤
2
2
⎢
∫0 σ( t ) dt = AY n ( n − 2) ⋅ ⎢a i − a c 2 ⎥⎥
⎣
⎦
B
n
(2.3.41)
Die Anfangsrisstiefe ai eines Werkstoffs lässt sich indirekt aus der sogenannten Inertfestigkeit
σc und der Risszähigkeit KIC berechnen:
- 69 -
2. Mechanisches Verhalten
⎡K ⎤
a i = ⎢ IC ⎥
⎣σC Y ⎦
2
(2.3.42)
Dabei ist σC die Versagensspannung, die sich bei einem Versuch ohne vorausgehendes
unterkritisches Risswachstum ergibt. Dies wird durch eine sehr hohe Belastungsgeschwindigkeit erreicht. Durch ein inertes Umgebungsmedium oder durch tiefe
Temperaturen kann unterkritisches Risswachstum zusätzlich unterdrückt werden.
Zwischen der kritischen Risslänge aC und der Spannung σB im Moment des Bruches besteht
die Beziehung
⎡K ⎤
a C = ⎢ IC ⎥
⎣ σ BY ⎦
2
(2.3.43)
Durch Einsetzen in Gleichung (2.3.41) ergibt sich für den Fall der statischen Belastung
σ = const.
t B = Bσ C
d.h.
eine
starke
n−2
σ − n (Lebensdauer im statischen Versuch)
Spannungsabhängigkeit
der
Bruchzeit
aufgrund
des
(2.3.44)
hohen
Spannungsexponenten n.
Die Konstante B fasst die bruchmechanischen Daten KIC, Y und A zusammen.
B=
2
K 2IC− n
A Y ( n − 2)
2
(2.3.45)
- 70 -
2.3 Bruchverhalten
Lebensdauer im statistischen Biegeversuch an Al2O3
Abb. 2.3.23
in einer konzentrierten Salzlösung bei 70°C [10]
Abb.2.3.23 zeigt den Zusammenhang zwischen Festigkeit und Lebensdauer am Beispiel
von Al2O3.
2.3.5.2 Lebensdauer bei wechselnder Belastung
In der Praxis wichtig sind Belastungsfälle mit zeitlich veränderlichen Spannungen σ(t). Bei
einer periodischen Belastung (Abb. 2.3.24) mit der Periodendauer T und somit σ(t + T) = σ(t)
gilt im Falle der Überlagerung einer konstanten Mittelspannung σm und einem reinen
zyklischen Anteil σa . f (t)
σ(t) = σm + σa f(t),
f(t) = f (t + T)
(2.3.46)
- 71 -
2. Mechanisches Verhalten
Verlauf von Spannung und Spannungsintensitätsfaktor bei zyklischer Belastung [10]
Abb. 2.3.24
Die Lebensdauer im zyklischen Versuch und die durch
TBz = NBT
(2.3.47)
definierte Zyklenzahl bis zum Bruch resultieren durch Einsetzen von Gl.(2.3.46) in Gl.
(2.3.44) zu
t Bz =
1
n −2
−n
Bσ c σ m (Lebensdauer im zyklischen Versuch)
g( n, σ a / σ m )
(2.3.48)
wobei die Funktion g(n, σa/σm) durch
n
⎤
1 T⎡ σ
g ( n , σ a / σ m ) = ∫ ⎢1 + a f ( t )⎥ dt
T 0 ⎣ σm
⎦
(2.3.49)
definiert ist.
2.3.5.3 Methoden zur Bestimmung von Risswachstumsgeschwindigkeiten
Es existieren eine Reihe von Bestimmungen des unterkritischen Risswachstums an
makroskopischen Rissen. Hier soll lediglich auf die Bestimmung des unterkritischen
Risswachstums an natürlichen Rissen eingegangen werden.
- 72 -
2.3 Bruchverhalten
a) Der dynamische Biegeversuch
Der dynamische Biegeversuch wurde erstmals von Charles zur Bestimmung der
Risswachstumsparameter vorgeschlagen. In diesem Versuch werden Proben mit jeweils
konstanter Belastungsgeschwindigkeit σ& = dσ/dt bis zum Bruch belastet und die von σ&
abhängige Festigkeit σB registriert. Einen formelmäßigen Zusammenhang erhält man durch
Einsetzen von
dt = dσ/ σ&
(2.3.50)
in das Integral auf der linken Seite von Gl. (2.3.41). Nach Ausführung der Integration folgt
σBn+1 = B σcn-2 σ& (n+1) [1 - (σB/σc) n-2]
(2.3.51)
Diese implizite Abhängigkeit σB = f ( σ& ) ist in Abb.2.3.25 dargestellt.
Abhängigkeit der Biegefestigkeit von der Beanspruchungsgeschwindigkeit [10]
Abb. 2.3.25
Zwei asymptotische Grenzfälle sind aus Gl. (2.3.51) zu erkennen. Für kleine
Beanspruchungs-geschwindigkeiten ( σ& → 0) ergibt sich
σ nB+ 1 = B σ& cn-2 (n + 1) σ&
(2.3.52)
Diese Beziehung eignet sich zur Ermittlung des Risswachstumsparameters n und der Größe B
- 73 -
2. Mechanisches Verhalten
und damit nach Gl. (2.3.45) des Parameters A. Der Exponent n ergibt sich aus der Steigung
der lg(σB) - lg( σ& )-Abhängigkeit. Der Wert Bσcn-2 folgt aus dem Ordinatenabschnitt.
Im Grenzfalle extrem hoher Belastungsgeschwindigkeit strebt die Festigkeit σB gegen die
Inertfestigkeit, d.h.
σB → σc bei ( σ& → ∞)
(2.3.53)
Zur Auswertung dynamischer Biegeversuche nach Gl. (2.3.52) muss daher immer
sichergestellt werden, dass diese Abhängigkeit in einem hinreichend großen σ& - Bereich
erfüllt ist. Hierzu sind Messungen über mehrere Zehnerpotenzen von σ& erforderlich, wobei
nur der bei doppelt-logarithmischer Auftragung von σB gegen σ& auftretende lineare Bereich
auszuwerten ist.
In Abb. 2.3.26 sind Ergebnisse dynamischer Biegeversuche an heißgepresstem Siliciumnitrid
bei hohen Temperaturen dargestellt. Bei diesen Ergebnissen ist deutlich der Übergang in die
Inertfestigkeit zu sehen.
Biegefestigkeit von heißgepresstem Siliciumnitrid bei hohen Temperaturen [10]
Abb. 2.3.26
- 74 -
2.3 Bruchverhalten
Vorteile dieser Prozedur sind:
−
Die Durchführung der Versuche ist einfach und ohne aufwendige Testapparaturen
möglich.
−
Das Risswachstum wird an Proben mit natürlichen Fehlern untersucht, wodurch
Übertragungsprobleme entfallen.
Nachteilig sind folgende Faktoren:
−
Der Typ der v - KI-Kurven muss bekannt sein, um eine Integration von Gl. (2.3.38) zu
gestatten. Er muss bei Verwendung von Gl. (2.3.52) durch ein Potenzgesetz gegeben
sein.
−
Die Biegefestigkeit wird hauptsächlich durch das Risswachstum bei relativ hohen
Risswachstumsgeschwindigkeiten beeinflusst. Dieses ist aber für Lebensdauervorhersagen von geringerem Interesse.
b) Bestimmung der Risswachstumsparameter im statistischen Biegeversuch
Eine einfache Bestimmung der Parameter des Potenzgesetzes - Gl. (2.3.39) kann aus Lebensdauermessungen erfolgen. Führt man statische Versuche bei unterschiedlichen Lastniveaus
mit den Spannungen σ durch und misst die bis zum Bruch vergehende Zeit tB, dann ist eine
Bestimmung von n und B (bzw. A) aus Gl. (2.3.44) möglich.
Trägt man - wie in Abb. 2.3.22 für Versuche an einer Al2O3-Keramik in konzentrierter
Salzlösung dargestellt - die Belastungsgröße σ gegen die Lebensdauern tB in doppeltlogarithmischer Weise auf, dann resultiert nach Gl. (2.3.44) der Exponent n aus der Steigung
der erhaltenen Geraden und der Wert Bσcn-2 aus dem Ordinatenabschnitt. Bei Kenntnis der
Inertfestigkeit σc und der Risszähigkeit KIC kann auch der Parameter A aus Gl. (2.3.45)
berechnet werden.
Die Bestimmung von n und A ist aufgrund der größeren Streuungen relativ unsicher. Aus
diesem Grund wird die Lebensdauerauswertung auch mit Hilfe der Weibull-Statistik
durchgeführt, die im folgenden Kapitel beschrieben ist.
- 75 -
2. Mechanisches Verhalten
Zyklische Ermüdung an heißgepresstem Siliciumnitrid mit MgO - Zusätzen bei 1200°C [10]
Abb. 2.3.27
Bei einigen Werkstoffen kann das Verhalten bei zyklischer Belastung aus den Ergebnissen
der statischen Belastung vorhergesagt werden (wenn z.B. Gl. 2.3.48 erfüllt ist). Beispielhaft
sind Ergebnisse für das Ermüdungsverhalten von Si3N4 in der Abb. 2.3.27 dargestellt.
2.3.6
Bruchverhalten von Faserverbundwerkstoffen
Die Faserverstärkung in einem keramischen Verbundwerkstoff hat allgemein zum Ziel, die
Duktilität und die Bruchzähigkeit des Werkstoffs zu erhöhen.
Aufgrund der vielfältigen Einflüsse kann von der Summe der Festigkeiten der
Einzelkomponenten nicht auf die Festigkeit des Composites geschlossen werden. Der Grund
dafür
ist
im
so
genannten
Faser/Matrix-Interface-Verhalten
zu
suchen.
Die
Wechselwirkungen zwischen Verstärkungsfaser und Matrix beeinflussen das mechanische
Verhalten des Composites entscheidend.
Da Faser und Matrix meist unterschiedliche Bruchspannungen haben, kommt es abhängig
davon zu verschiedenartigem Bruchverhalten.
Im Falle eines Composites, dessen Faser-Bruchdehnung niedriger ist als die MatrixBruchdehnung (z.B. keramikfaserverstärktes Metall MMC) kommt es zu einem einfachen
Bruchverhalten
- 76 -
2.3 Bruchverhalten
σƒuVƒ > σmuVm-σ’mVm
(2.3.54)
Vƒ = Volumenanteil Faser
Vm = Volumenanteil Matrix
Aus Gleichung 2.3.54 wird mit der zur Bruchdehnung der Faser gehörenden Matrixspannung
σ’m und der maximalen Bruchspannung von Faser σƒu und Matrix σmu wird deutlich, dass im
Falle des Faserbruchs die Matrix der eingeleiteten Spannung nicht mehr standhalten kann. In
diesem Fall brechen Fasern und Matrix in einer Ebene.
Die Bedingung 2.3.55 ist erfüllt, wenn die maximale Faserfestigkeit geringer als die der
Matrix ist. Die Fasern werden bereits vor dem Versagen der Matrix zerstört und haben keinen
Verstärkungseffekt.
σƒuVƒ < σmuVm-σ’mVm
(2.3.55)
Ist die Bruchdehnung der Faser hingegen größer als die der Matrix (z.B. im C/SiC), so kommt
es zum multiplen Bruch. Für diesen Fall gilt Gleichung 2.3.56.
σƒuVƒ > σmuVm+σ’ƒVƒ
(2.3.56)
Mit der Faserspannung σ’ƒ, die bei der entsprechenden Matrix-Bruchdehnung auftritt.
Die
mechanischen
Eigenschaften
der
faserverstärkten
Verbundwerkstoffe
werden
hauptsächlich von zwei Faktoren bestimmt:
1.
Die eigenen mechanischen Eigenschaften der Komponenten selbst (Fasern,
Matrix),
2.
Wechselwirkung zwischen Fasern und Matrix, die wiederum durch die
Volumenanteile, die Haftung, die chemische sowie mechanische Kompatibilität
- 77 -
2. Mechanisches Verhalten
zwischen beiden Komponenten beeinflusst werden.
Zwei vereinfachende Modelle beschreiben die Faserverstärkung von Werkstoffen:
1.
Spröde
Matrixkomponenten
mit
Fasern
hohen
Elastizitätsmoduls
(z.B.
Hochmodul-(HM)-Fasern) und eine vollständige (ideale) Haftung zwischen Fasern
und Matrix:
Die Bruchdehnung des Composites wird hier nur durch die Bruchdehnung der Matrix
bestimmt. Bei Überschreitung dieser Matrix-Bruchdehnung pflanzen sich die primär
entstandenen Risse transkristallin über die Fasern fort. Es ergibt sich dann ein einfaches
Bruchverhalten, bei dem die Zugfestigkeit der Fasern nicht mehr von Bedeutung ist.
2.
Spröde Matrixkomponenten mit Fasern niedrigen Elastizitätsmoduls und eine
unvollständige Haftung zwischen Fasern und Matrix:
Wenn der Volumenanteil der Fasern einen kritischen Wert überschreitet, wobei die
Biegefestigkeit des Verbundwerkstoffs nur von der Faserfestigkeit abhängt, tritt ein so
genanntes „multiples Bruchverhalten“ auf.
Durch die unvollständige Haftung zwischen Fasern und Matrix können Mikrorisse, die in der
Matrix beginnen, umgeleitet und teilweise an den Fasergrenzen abgelenkt oder zum Stillstand
gebracht werden. Hierbei tritt eine Delamination oder ein teilweiser „Pull-Out“ der Fasern
auf. Die Bruchdehnung der Fasern spielt hier insofern eine Rolle, als diese Fasern zusätzlich
oder gänzlich die Matrixrisse überbrücken können.
Es gibt also eine grundlegende Bedingung für die Zähigkeitssteigerung des faserverstärkten
Verbundwerkstoffs, den so genannten „Debonding-Effekt“. Das bedeutet, die Fasern müssen
zunächst von der Matrix abgelöst werden. Durch das Ablösen kann Bruchenergie abgebaut
werden, was einen erneuten Anstieg der Bruchspannung und die Erhöhung der Bruchdehnung
zur Folge hat.
Abb. 2.3.28 zeigt schematisch den Faser-Pull-Out in einem endlos-faserverstärkten
Composite. In Abb. 2.3.29 ist der Faser-Pull-Out in der Bruchfläche eines C/CSiCVerbundwerkstoffs zu sehen.
- 78 -
2.3 Bruchverhalten
Pull-Out-Schema in einem endlosfaserverstärkten Composite
Abb. 2.3.28
Pull-Out in C/C-SiC (Dissertation R.Goller 1996)
Abb. 2.3.29
Durch eine Beschichtung der Fasern wird die Faser/Matrix-Anbindung beeinflusst. Die
Beschichtung muss so ausgelegt sein, dass möglichst viel Debonding-Energie verbraucht
wird. Bei zu schwacher Anbindung wird die Festigkeit vermindert, bei zu starker tritt kein
Debonding auf und der Werkstoff bricht spröde.
Es ist also neben der Auswahl der Fasern und der Herstellungsverfahren des Composites
zusätzlich eine genaue Auslegung der Faserbeschichtung von besonderer Bedeutung für die
2. Mechanisches Verhalten
- 79 -
mechanischen Eigenschaften des Endprodukts.
Spannungs/Dehnungs-Diagramm für monolithische Keramik,
Abb. 2.3.30
faserverstärkte Keramik und Stahl (schematisch).
Dies kann prinzipiell am unterschiedlichen Spannungs/Dehnungs-Verhalten von Composites
im Vergleich zur monolithischen Keramik verdeutlicht werden. Während bei monolithischer
Keramik ein sprödes Bruchverhalten mit nahezu linearem Spannungs/Dehnungs-Verlauf bis
zum Bruch beobachtet wird, verläuft die Kurve bei den faserverstärkten Keramiken meist
nichtlinear (Abb. 2.3.30).
- 80 -
2.4. Weibull-Statistik
2.4. Weibull-Statistik
Die Streuung der Festigkeit von keramischen Werkstoffen ist wesentlich größer als diejenige
von metallischen Werkstoffen. Dies hängt mit der Bruchursache zusammen. Wie in Kapitel
2.3 besprochen, geht der Bruch keramischer Materialien von kleinen, im Werkstoff
vorhandenen Fehlern aus. Die Streuung der Festigkeit ist daher auf die Streuung der
Fehlergröße (Korngrenze, Poren, Einschlüsse, kleine Risse) zurückzuführen. Dies ist auch die
Ursache eines ausgeprägten Einflusses der Bauteilgröße auf die Festigkeit Der Bruch kann
sowohl von Oberflächenfehlern als auch von Volumenfehlern ausgehen. Abb. 2.4.1 zeigt die
typische Streuung der Festigkeit keramischer Werkstoffe.
Histogramm der Festigkeit [10]
Abb. 2.4.1
Nach Weibull errechnet sich die Überlebenswahrscheinlichkeit Pü bei einer wirkenden
Spannung σ zu
⎡ ⎛σ ⎞m
Pü = exp ⎢-V ⎜ c ⎟
⎢⎣ ⎝ σ 0 ⎠
⎤
⎥
⎥⎦
(2.4.1)
mit den Weibull-Parametern m und σ0 und dem Einheitsvolumen V.
Zwischen Überlebenswahrscheinlichkeit Pü und Versagenswahrscheinlichkeit F gilt der
Zusammenhang
Pü = 1 - F.
(2.4.2)
2. Mechanisches Verhalten
- 81 -
Mit dem Einheitvolumen V = 1 ergibt sich
⎡ ⎛σ ⎞m⎤
1 − F = exp ⎢−⎜ c ⎟ ⎥
⎢⎣ ⎝ σ 0 ⎠ ⎥⎦
(2.4.3)
Gleichung 2.4.3 wird allgemein zur Beschreibung der Verteilung der Festigkeit von
keramischen Bauteilen verwendet. Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt in einem sog.
Weibull-Diagramm. Aus Gl. 2.4.3 folgt durch zweimaliges logarithmieren
ln ln
1
= m ln σ c − m ln σ 0
1− F
(2.4.4)
Dies bedeutet, dass sich bei der Auftragung von ln ln 1/(1-F) über ln σc eine Gerade mit der
Steigung m ergibt, deren Lage durch dem Parameter σ0 bestimmt ist. Bei σ = σ0 ist
ln ln 1/(1-F) = 0 oder F = 0,632 (Abb.2.4.2).
Darstellung der Streuung der Festigkeit von Al2O3 im Weibull-Diagramm [10]
Abb. 2.4.2
Bei der graphischen Ermittlung vom m und σ0 werden die gemessenen Bruchfestigkeiten der
Größe nach geordnet und von 1 bis n durchnummeriert. Dann werden den einzelnen
Festigkeiten Überlebenswahrscheinlichkeiten zugeordnet. Dies geschieht mit der Beziehung
- 82 -
2.4. Weibull-Statistik
Pü ( k ) =
n +1− k
n +1
n = Anzahl der Proben
(2.4.5)
k = k-te Probe
Schließlich wird ln ln 1/(1-F) gegen ln σi aufgetragen (Abb. 2.4.2)
Anschaulicher ist die doppeltlogarithmische Darstellung der Versagenswahrscheinlichkeit F
als Funktion der Bruchspannung (Abb. 2.4.3). Hieraus kann m ebenfalls aus der Steigung der
Gerade und σ0 bei F=0,632 ermittelt werden. In Abb. 2.4.3 wurden die Geraden mit den
experimentell gemessenen Festigkeitswerten von Si3N4-Ventilwerkstoffen extrapoliert und
die notwendige Festigkeit ermittelt, um eine Ausfallwahrscheinlichkeit von 10-6 zu
garantieren. Um sicherzustellen, dass von 1Million Ventilen max. 1 Stück versagt, dürfen die
maximalen Spannungen in den Bauteilen 460 MPa (bei HCT 90) bzw. 670 MPa (bei HOE
120) nicht übersteigen.
Versagenswahrscheinlichkeit von Si3N4-Ventilwerkstoffen
(m >> 1 bedeutet sehr geringe Streuung, m klein bedeutet große Streuung.)
Abb. 2.4.3
2. Mechanisches Verhalten
- 83 -
2.4.1 Größeneinfluss
Für eine vorgegebene Versagenswahrscheinlichkeit verhalten sich die Festigkeiten zweier
Komponenten mit den Volumina V1 und V2 wie
σ 1 ⎛ V2 ⎞
=⎜ ⎟
σ 2 ⎝ V1 ⎠
1/ m
(2.4.6)
Abb. 2.4.4 zeigt diesen Einfluss im Weibull-Diagramm.
Einfluss des Volumens auf die Verteilung der Festigkeit [10]
Abb. 2.4.4
Die Wahrscheinlichkeit, dass im Bereich der maximalen Belastung ein bruchauslösender
Fehler auftritt, nimmt mit zunehmender Bauteilgröße zu, die Festigkeit nimmt daher ab.
Diesem
Phänomen
ist
nur
mit
extrem
sorgfältiger
Kontrolle
aller
Herstellungsbedingungen zu begegnen.
2.4.2 Streuung der Lebensdauer
Der Zusammenhang zwischen der Lebensdauer eines Bauteils und den Kenngrößen des
unterkritischen Risswachstums lässt sich bei zeitlich konstanter Spannung herleiten nach
Gleichung
tB =
Bσ c n − 2
σn
(2.4.7)
- 84 -
2.4. Weibull-Statistik
mit B =
2
( n − 2) A Y 2 K Ic n −2
(2.4.8)
(siehe Kap. 2.3.5)
σ war dabei eine charakteristische Spannung im Bauteil und σc die inerte Festigkeit des
Bauteils. Die Lebensdauer verschiedener identisch belasteter Bauteile streut, da die
Ausgangsfehlergröße, welche die Lebensdauer bestimmt, ebenfalls streut. Die Streuung der
Lebensdauer lässt sich aus der Streuung der inerten Festigkeit herleiten. Wie in Abb. 2.4.5
schematisch gezeigt wird, hängen die Verteilungsdichten der Lebensdauer und der
Verteilungsdichte des maximalen Fehlers zusammen.
Zusammenhang zwischen Verteilungsdichte von Festigkeit und Lebensdauer [10]
Abb. 2.4.5
Für die Verteilungsfunktion der Lebensdauer gilt eine Weibull-Verteilung mit den Parametern
t0 und m*
⎡ ⎛ t ⎞ m∗ ⎤
F( t B ) = 1 − exp ⎢−⎜ B ⎟ ⎥
⎢ ⎝ t0 ⎠ ⎥
⎣
⎦
(2.4.9)
m
n−2
(2.4.10)
mit
m* =
2. Mechanisches Verhalten
- 85 -
n− 2
und t 0 =
Bσ 0
σn
(2.4.11)
.
Für verschiedene Spannungen ergeben sich in einem Weibull-Diagramm, in dem
⎛ 1 ⎞
ln ln ⎜
⎟ gegen ln tB aufgetragen ist, Geraden mit der Steigung m*. Diese Steigung ist
⎝ 1- F ⎠
nach
Gl. (2.4.10) vom Weilbull-Parameter der Festigkeit und vom Risswachstumsexponenten n
abhängig. Die Lage der Weibull-Gerade hängt nach Gl. (2.4.11) von der Spannung σ, dem
Weibull-Parameter σ0, vom Exponenten n der Rissgeschwindigkeitsbeziehung sowie von der
Größe B ab.
In Abb. 2.4.6 ist die Lebensdauer von Al2O3 für verschiedene Biegespannungen im WeibullDiagramm dargestellt.
Darstellung der Lebensdauer von Al2O3 im Weibull-Diagramm [10]
Abb. 2.4.6
Mit zunehmender Belastung der Proben nimmt die Lebensdauer erwartungsgemäß ab.
Ausfallwahrscheinlichkeiten und Lebensdauervorhersagen sind wichtige Kriterien für
mechanisch belastete keramische Konstruktionsbauteile. Weil Konstrukteure im Umgang mit
Keramiken noch sehr wenig Erfahrung besitzen und bislang nur geringe praktische
Überprüfungsmöglichkeiten des vorhergesagten Bauteilverhaltens vorliegen, haben sich
keramische Konstruktionswerkstoffe nur in Ausnahmefällen in der Anwendung durchgesetzt.
Meist sind es zusätzliche Eigenschaften wie z.B. thermische oder chemische Beständigkeit im
Vergleich zu Metallen, die den Einsatz von Keramik notwendig machen.
- 86 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
2.5. Hochtemperaturplastizität
Das Werkstoffverhalten unter mechanischer Beanspruchung bei hoher Temperatur ist
Gegenstand dieses Kapitels. Die Beanspruchung kann entweder bei vorgegebener Spannung
σ erfolgen, wobei eine zeitabhängige Dehnung der Probe beobachtet wird, oder durch das
Erzwingen einer bestimmten Verformungsgeschwindigkeit dε / dt =
ε& , wozu eine
zeitabhängige Spannung σ erforderlich ist. In beiden Fällen spielen die Temperatur und die
jeweilige Struktur des Werkstoffs eine maßgebliche Rolle.
Die plastische Verformung eines Werkstoffs wird häufig gemessen, indem man die Belastung
einer Probe mit konstanter Geschwindigkeit erhöht und die dazugehörige Verformung misst.
Die Ergebnisse dieser Versuche führen zu einer Spannungs-Dehnungs-Kurve (Abb. 2.5.1).
Diese Kurve kann beschrieben werden mit dem E-Modul E, der Streckgrenze Y und der
Bruchspannung S. Der E-Modul ist das Verhältnis von Spannung zu Dehnung im linearelastischen Bereich. Die Streckgrenze ist diejenige Spannung, die zu einer Dehnung von
beispielsweise 0,05% führt (Abb. 2.5.1).
Spannungs-Dehnungskurve für KBr- und MgO-Kristalle im Biegeversuch bei 25 °C [8]
Abb. 2.5.1
2. Mechanisches Verhalten
- 87 -
Die starke Temperaturabhängigkeit der Verformungsgeschwindigkeit bei konstanter
Spannung, die insbesondere für feuerfeste Werkstoffe von Bedeutung ist, hat zum
Druckerweichungsversuch geführt. Bei diesen Untersuchungen wird bei einer konstanten Last
die Temperatur der Probe mit konstanter Geschwindigkeit erhöht. Die resultierende
Verformung setzt sich aus thermischer Ausdehnung und Kriechprozessen zusammen
(Abb. 2.5.2).
Verformung einer MgO-Probe bei konstanter Last (0,2N/mm²) und steigender Temperatur [8]
Abb. 2.5.2
Derartige Untersuchungen lassen zwar keinen Schluss auf den Verformungsmechanismus zu,
geben aber gute Anhaltspunkte für die praktische Anwendung feuerfester Materialien.
Beim Druckerweichen handelt es sich um eine Art Kompressionsversuch, bei dem eine
konstante Nennspannung von 0,2 N/mm2 auf die kalte Probe aufgebracht wird. Die
zylindrische Probe ist wegen des oft heterogenen Gefüges keramischer Stoffe relativ groß. Sie
hat nach DIN51053 einen Durchmesser von 50 mm bei einer Höhe von ebenfalls 50 mm. Eine
zentrale Bohrung nimmt den Dehnungsfühler auf. Bei der beschriebenen konstanten
Belastung wird linear mit 5 K/min aufgeheizt, wobei die Änderung der Probenlänge l
kontinuierlich gemessen wird. l/l0 wird als Höhenänderungs-Temperaturkurve über der
Temperatur aufgetragen. Wie bereits erwähnt, überlagert sich die thermische Dehnung des
Werkstoffs mit der Verkürzung durch plastische Verformung, die wegen der starken
Temperaturabhängigkeit der Kriechrate allerdings erst bei hoher Temperatur einsetzt. Als
Kenngrößen werden die Temperaturen T0,5 und T1 ermittelt, welche 0,5 bzw. 1% Verkürzung
der Probe - gemessen vom Maximum der Kurve - entsprechen.
- 88 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
Der charakteristische Verlauf von ε(T) lässt sich durch Gleichung 2.5.1 beschreiben.
T
ε( T) = α( T − T ) − ( A / B) ∫ exp( − Q / RT) dT ,
0
T
0
(2.5.1)
wobei α der Ausdehnungskoeffizient ist, A und B Konstanten darstellen und Q die
Aktivierungsenergie der Kriechverformung ist.
Die Gesamtdehnung errechnet sich also aus der Summe des Ausdehnungskoeffizienten des
Werkstoffes und der temperatur- und spannungsabhängigen Kriechverformung.
In den folgenden Abschnitten werden zunächst die Grundeigenschaften des Kriechprozesses
und danach die mikrostrukturellen Verformungsmechanismen diskutiert.
2.5.1 Grundeigenschaften des Kriechprozesses
Das Kriechverhalten keramischer Werkstoffe beschreibt Ilschner nach folgenden Gesichtspunkten:
1.
Die Kriechkurve ε(t), Abb. 2.5.3, beschreibt die Dehnung als Funktion der Zeit bei
konstanter Temperatur und Belastung.
Grundform der Kriechkurve ε(t) [11]
Abb. 2.5.3
2. Mechanisches Verhalten
2.
- 89 -
Die Kriechkurve lässt sich in der Regel in drei Bereiche gliedern: primäres oder
Übergangskriechen (engl.: transient creep) - sekundäres oder stationäres Kriechen (engl.
steady-state creep) - tertiäres Kriechen (engl.: ternary creep). Vor dem Einsetzen der
zeitabhängigen Dehnung wird eine Anfangsdehnung ε0 (engl.: instantaneous strain)
festgestellt.
3.
Bei Belastung setzt im Regelfall der Kriechvorgang mit großer Geschwindigkeit ein;
die Geschwindigkeit nimmt im Übergangsbereich ab, erreicht im stationären Bereich
einen konstant bleibenden Minimalwert ε& = ε& min und steigt im tertiären Bereich
abermals an, bis der Bruch eintritt.
4.
Die Temperaturabhängigkeit von ε& kann innerhalb nicht zu großer σ-Bereiche durch
eine Exponentialfunktion (ARRHENIUS- Funktion) angenähert beschrieben werden:
ε& s = A (S, σ) exp( − Q c / RT) ,
(2.5.2)
wobei die Konstante A von einem Strukturparameter S, der Gefügeeinflüsse
berücksichtigt, und der Spannung σ abhängig ist.
5.
Die Spannungsabhängigkeit von ε& s kann innerhalb nicht zu großer σ-Bereiche durch
eine Potenzfunktion angenähert beschrieben werden:
ε& s = B (S, T) σ n ,
(2.5.3)
wobei die Konstante B von dem Strukturparameter S und der Temperatur T abhängig ist.
Für einfach aufgebaute Werkstoffe ist der Spannungsexponent häufig n = 4. Bei
höheren Spannungen nimmt n zu, so dass sich anstelle von Gleichung (2.5.3) eine
angenähert exponentielle Spannungsabhängigkeit ergibt. Mit zunehmender Spannung
bzw. Temperatur nimmt die Kriechgeschwindigkeit zu (Abb. 2.5.4).
6.
Bei Beanspruchung durch eine vorgegebene Verformungsgeschwindigkeit ε& ist der
Spannungsverlauf durch die Spannungs-Dehnungs-Kurve σ( ε ) gegeben. Deren Form
und Wertebereich hängt wiederum von T und von ε& ab. Für vergleichbare Dehnungen
- 90 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
gilt dabei oft
σ = Cε& m
(2.5.4)
mit typischen Werten für m von 0,1 bis 0,3. Die Konstante C ist wiederum vom
Strukturparameter S und der Temperatur abhängig.
Einfluss von Temperatur und Spannung auf die Kriechkurve [8]
7.
Abb. 2.5.4
Der Strukturparameter S umfasst Angaben über Korngröße und Kornform,
Volumenanteil,
Dispersionsgrad,
Form,
Größe,
Textur
und
Anordnung
der
verschiedenen Phasen, ggf. von Poren, über Lage und Winkelunterschied von
Zellgrenzen, Zahl, Dichte und Form isolierter Versetzungen sowie die Konzentration
von Punktfehlstellen.
2.5.2 Messgrößen und Messverfahren
Als vergleichbarer Messwert wird im Kriechversuch die relative Dehnung gemessen. Am
einfachsten ist die Normierung mit der Ausgangslänge l0 der Messstrecke
ε 0 (t) =
l − l0
.
l0
Die Dehnungsgeschwindigkeit berechnet sich zu
(2.5.5)
2. Mechanisches Verhalten
- 91 -
dε 0
1 dl
= ε&0 =
.
dt
l 0 dt
(2.5.6)
Dehnungsgeschwindigkeiten werden bei Kriech- und Warmverformungsversuchen meist in
der Maßeinheit s-1 angegeben. Für Zeitstandsversuche ist die kleinere Einheit %/h=2,78.10-6s-1
üblich. Zur Bestimmung der Kriechgeschwindigkeit ist bei metallischen Werkstoffen neben
dem Zugversuch der Stauchversuch und der Torsionsversuch üblich. Keramische Werkstoffe
zeigen sehr viel geringere Verformungen als metallische Materialien. Aus diesem Grunde und
wegen der einfacheren Probenform (einfache Bearbeitung) werden keramische Werkstoffe
häufig im Vierpunkt-Biegeversuch charakterisiert. Bei sehr kleinen Verformungsraten und
flachen Proben zeigt sich hier eine wesentlich höhere Messempfindlichkeit.
Man unterscheidet zwischen dem Dreischneiden- und dem Vierschneiden-Versuch, je
nachdem, ob die Last als Einzellast zwischen den Stützen der frei aufliegenden Probe oder
durch zwei Schneiden symmetrisch zur Probenmitte aufgebracht wird. Im VierpunktBiegeversuch (Abb. 2.5.5 und 2.5.6) ergibt sich zwischen den beiden mittleren Schneiden ein
konstantes
Biegemoment,
nahezu
kreisbogenartige
Verformungen
und
gleichartige
Beanspruchung aller Gefügequerschnitte im Bereich des maximalen Biegemoments.
Schema der Versuchsanordnung und Erläuterung
der Messgrößen im Vierschneiden-Biegeversuch [11]
Abb. 2.5.5
- 92 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
Versuchsanordnung und Messgrößen im 4-Punkt-Biegekriechversuch (schematisch) [11]
Abb. 2.5.6
Der Biegeradius r des Mittelstückes der Probe mit dem Schneidenabstand lp ist gegeben durch
2
2
lp
fp
lp
r=
.
+
≈
8fp
2
8fp
(2.5.7)
Dabei wird fp üblicherweise als Durchbiegung des Mittelteiles bezeichnet. Die Näherung gilt
für Durchbiegungen, die relativ zum Abstand lp der mittleren Schneiden klein sind (fp < lp/2).
Eine Beziehung zu der im Zugversuch verwendeten Messgröße Dehnung ε0 lässt sich
herstellen, wenn man annimmt, dass trotz der Quetscheffekte infolge des hohen
Auflagedruckes der Schneiden die Mittelebene der Probe als „neutrale Faser“ keine Dehnung
erleidet. Dann gilt wegen Gl. 2.5.7 für die Zugfaser
Δl Δr 8 f p
=
= 2 ⋅ Δr;
l0
r
lp
(2.5.8)
setzt man für Δ r die halbe Probendicke, also h/2, so folgt
ε0 =
4h
f p.
2
lp
(2.5.9)
In der Regel wird fp nicht direkt ermittelt; vielmehr liefert die Maschine die gesamte
Durchbiegung fs zwischen den Stützen,(vgl. Abb. 2.5.5). fp lässt sich jedoch aus dem
Verhältnis von ls und lp ableiten, wenn fs gemessen ist. Ist z.B. lp = ls/3 wie in Abb. 2.5.6, so
ist fp = 0,13 fs.
2. Mechanisches Verhalten
- 93 -
2.5.3 Der Kriech-(Zeitstand-)Versuch
Beim Kriechversuch wird die Probe bei konstanter Temperatur einer gleichbleibenden
Beanspruchung unterworfen, und zwar im Sinne von Zug, Druck, Biegung oder Verdrehung.
Die resultierende Formänderung - Dehnung, Stauchung usw. - wird in der Regel als Funktion
der Zeit t kontinuierlich oder aber nach bestimmten Beanspruchungsintervallen t1, t2, t3, ...
gemessen. Eine erhebliche Verringerung des Aufwandes stellt es dar, wenn man sich darauf
beschränkt, die Zeit tB bis zum Bruch der Probe (Zug- oder Biegebeanspruchung) sowie die
bis dahin erzielte Formänderung εB zu messen.
Auswertung des Kriechversuches [11]
Abb. 2.5.7
Die Kriechkurve ε(t) stellt die Basisinformation dieses Versuchstyps dar. Von hier aus erfolgt
in der Praxis ein Prozess der numerischen oder graphischen Auswertung, der in Abb. 2.5.7
- 94 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
dargestellt ist. Dieser Weg gabelt sich in zwei Äste.
Der eine - a, b, c - entspricht dem in der technischen Werkstoffprüfung üblichen Zeitversuch.
Er führt auf Grenzwerte der Belastung, welche innerhalb einer vorgegebenen Zeitdauer
gerade noch nicht zum Bruch bzw. zu einer vorgeschriebenen maximal zulässigen Dehnung bzw. Biegung usw. - führen. Im Falle der technischen Werkstoffprüfung wird aus den
Messdaten a, die aus Kriechversuchen bei verschiedener Nominalspannung gewonnen
wurden, nur eine Teilmenge entnommen, nämlich diejenigen Zeiten tB oder tε, zu denen bei
gegebener Belastung entweder der Bruch eintritt oder eine vorgegebene Maximaldehnung
erreicht ist. Durch Interpolation zwischen diesen Wertetripeln ( σ, ε, t) entsteht unter Verzicht
auf einen erheblichen Teil der in a enthaltenen Information das Zeitstandschaubild b. Dass die
darin enthaltenen Zeitbruchlinien (σ, tB) bzw. Dehngrenzlinien (σ, tε) bei der üblichen
doppelt-logarithmischen Auftragung die Form von Geraden annehmen, soll hier zunächst als
empirischer Befund hingenommen werden. In einem zweiten Schritt wird nun das
Zeitstandschaubild, wie Abb. 2.5.7 andeutet, auf einzelne Werkstoffkennwerte reduziert,
insbesondere auf die Zeitstandfestigkeit σB/t und auf die Zeitkriechgrenze σε/t.
Der andere Weg - a, d, e, f - entspricht mehr dem wissenschaftlichen Interesse an einem
Verständnis der Grundlagen derjenigen Vorgänge, welche das Fließen oder Kriechen der
Festkörper bei hohen Temperaturen ermöglichen. Er führt auf andere Kennwerte, die solchen
Funktionen der Zeit, der Spannung und der Temperatur zugeordnet sind, welche einer
theoretischen
Deutung
fähig
erscheinen.
In
der
wissenschaftlichen
Analyse
des
Kriechversuchs wird in neuerer Zeit das Basisdatenmaterial a zunächst durch Differenziation
nach der Zeit in das Kriechdiagramm d überführt. Dieses stellt die Kriechgeschwindigkeit ε&
logarithmisch als Funktion der Dehnung ε w (εw = wahre Dehnung, berücksichtigt die
Querschnittsveränderung bei metallischer Werkstoffe) dar. Dadurch wird ein fundamentalerer
Zusammenhang zweier Größen herausgestellt, als es die anwendungstechnisch wichtigere
Funktion ε ( t ) ist. Ferner lassen sich in einem solchen ε& (ε ) -Diagramm primäre, sekundäre
und
tertiäre
Kriechbereiche,
vgl.
Abb.
2.5.3,
sowie
Überlagerung
von
Rekristallisationsprozessen besser voneinander trennen.
Eine „Informationsverdichtung“ führt nun von d zu e: Auftragung der zu einem bestimmten
Wert von ε oder zu einem bestimmten Stadium der Kriechkurve a - z.B. dem stationären
Bereich - gehörenden Kriechgeschwindigkeiten ε& über dem Parameterwert σ . Dass auch hier
2. Mechanisches Verhalten
- 95 -
wie bei b doppeltlogarithmische Auftragung zu einer angenähert linearen Darstellung führt,
soll wiederum als empirischer Befund vorgemerkt werden. Ein weiterer Schritt führt von der
Kurve e zu einem Kennwert, dem Spannungsexponenten n.
Ganz analog würde die Auswertung einer Schar von Kriechkurven, die bei gleicher
Spannung, aber verschiedener Temperatur gewonnen wurden, verlaufen. In der zu d
entsprechenden Stufe wäre log ε& über 1/T - statt über log σ - aufzutragen. Als Kennwert
würde sich analog zu n die Aktivierungsenergie Q ergeben.
2.5.4 Verlauf der Kriechkurve
Anfangsdehnung
Ein Kriechversuch findet zwar bei konstanter Spannung σ statt, jedoch wird der Soll-Wert σ
wegen der Trägheit des Systems nicht momentan, sondern innerhalb eines endlichen
Zeitintervalls Δt aufgebracht. Δt ist relativ zur Dauer des Kriechversuchs sehr klein. Am Ende
von Δt - unmittelbar nach Lastaufgabe - wird eine Anfangsdehnung ε0 gemessen. Da die
Spannung σ von der gesamten Probe getragen wird, enthält ε0 einen elastischen (reversiblen)
Anteil von der Größenordnung σ/E und ferner einen plastischen Anteil, wie er sich auch bei
einem Verformungsversuch mit der vorgegebenen Geschwindigkeit ε& ≈ ε 0 / Δt eingestellt
hätte.
ε0 ist experimentell schwer festzulegen, zumal dann, wenn die Kriechgeschwindigkeit im
anschließenden Übergangsbereich mit ε0/Δt vergleichbar ist. Es bleibt dann nur die
Möglichkeit, die innerhalb von 1 bis 2 s nach Lastaufgabe gemessene Dehnung als ε0
auszuwerten, wobei erhebliche Streuungen auftreten können. ε0 hängt naturgemäß auch vom
Probenzustand unmittelbar vor der Lastaufgabe und vom Verlauf von σ(t) zwischen t = 0 und
Δt ab. Vom atomistischen Standpunkt aus kann ε0 als diejenige Dehnung verstanden werden,
welche durch die Summe von elastischer Verzerrung, sowie athermischen und thermisch
aktivierten Versetzungsbewegungen unter Einschluss von Gleit- und Schneidprozessen
innerhalb der Lastaufgabezeit Δt bewirkt wird. Die thermisch aktivierten Prozesse sind
naturgemäß zeitabhängig. Dies führt nicht nur zur Geschwindigkeitsabhängigkeit von ε0,
- 96 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
sondern auch dazu, dass diese Prozesse für t > Δt weiterlaufen: Die Anfangsdehnung setzt
sich im Übergangskriechen fort.
Übergangskriechen
Ein „klassischer“ Ansatz zur empirischen Beschreibung des Verlaufs der Kriechkurve
zwischen ε0 und ε1 (Abb. 2.5.3) geht auf Andrade zurück (sog. „β-flow“)
l( t ) = l 0 (1 + ß ⋅ t ) exp( k ⋅ t )
1/3
l(t)
= Länge zur Zeit t
l0
= Ausgangslänge
(2.5.10)
ß und x = Konstanten
t
= Zeit
Der Exponentialterm sollte das Aufsteigen der Kriechkurve im sekundären und tertiären
Bereich erfassen. Nachdem später der Begriff des stationären Kriechens entwickelt war,
formten Cottrell und Ayetekin obigen t1/3-Ansatz so um, daß er eine zeitproportionale
Dehnung enthält:
ε( t ) = ε 0 + ß ′ ⋅ t
1/ 3
+ ε& s ⋅ t.
(2.5.11)
Der 2. Term erlaubt in der Tat eine gute Beschreibung von Messergebnissen im
Übergangsbereich, z.B. an Cu, an Ni-Co-Legierungen, und an niedrig legierten ferritischen
Stählen (Abb.2.5.8).
Proportionalität der Kriechdehnung εc von gesintertem Siliciumnitrid bei 1250 °C im
Übergangsbereich entsprechen εc~tm mit m = 0,7 [10]
Abb. 2.5.8
2. Mechanisches Verhalten
- 97 -
Stationäres Kriechen
Kriechverformung mit konstanter Geschwindigkeit ε& s ist über einen längeren Dehnbereich
nur bei konstanter Spannung zu erwarten. Bei Kriechversuchen mit konstanter Last ist
insbesondere bei metallischen Werkstoffen wegen der laufenden Querschnittsveränderungen
keine konstante Kriechgeschwindigkeit zu erwarten. Wegen der geringen Verformungsraten
keramischer Werkstoffe stellt sich dort dieses Problem in der Regel nicht. In vielen Fällen
stellt
sich
kein
wirkliches
stationäres
Kriechen
ein,
weil
bei
den
hohen
Untersuchungstemperaturen Gefügeveränderungen wie z.B. Oxidation, Glasphasenbildung
oder Kristallumwandlungen auftreten. Bei metallischen Werkstoffen kann es darüber hinaus
zur
Bildung
stabiler
Substrukturen
durch
Ausscheidungspartikel
oder
Versetzungsaufspaltungen kommen.
Abb. 2.5.9 zeigt am Beispiel einer Ni-Cr-Legierung mit steigender Spannung die Zunahme
der Kriechgeschwindigkeit. Gleiches gilt übrigens für zunehmende Temperatur, wie später
noch gezeigt wird.
Schwach ausgeprägter stationärer Kriechbereich von SRBSN bei σ = 160 MPa und
verschiedenen Temperaturen [10]
Abb. 2.5.9
- 98 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
Tertiärer Kriechbereich
Der Übergang vom sekundären in den tertiären Kriechbereich läuft ebenso kontinuierlich wie
der vom primären in den sekundären Bereich. Der tertiäre Kriechbereich leitet den
Kriechbruch ein. Das Ende des Tertiärbereiches - der Bruch - wird durch εB und tB
gekennzeichnet (Abb. 2.5.3). Zahlreiche Messungen haben gezeigt, dass tB und ε& s durch die
einfache Beziehung
t B = c / ε&
s
(2.5.12)
verknüpft sind, wobei in der Konstante c u. a. Strukturparameter des Werkstoffs vereinigt
sind. Diese empirische Beziehung findet sich u.a. bestätigt an Kupfer, austenitischem Stahl,
Nickel- und Nickelchromlegierungen und an α-Eisen (Abb. 2.5.10). Diese Abbildung zeigt,
dass alle Kriechkurven eines Werkstoffs untereinander ähnlich sind.
Proportionalität zwischen der Zeit tf bis zum Bruch und dem Kehrwert
Abb. 2.5.10
der stationären Kriechgeschwindigkeit von Al2O3 mit 4% Glasphase [10]
2.5.5 Einflussgrößen auf die stationäre Kriechgeschwindigkeit
Spannung
Die Spannungsabhängigkeit der Kriechgeschwindigkeit wird am häufigsten mit der Potenzfunktion
ε& s ( σ ) = B1 σ n .
(2.5.13)
beschrieben. In der Konstante B sind wiederum Strukturparameter des Werkstoffs enthalten.
2. Mechanisches Verhalten
- 99 -
Für den Spannungsexponenten n ergeben sich insbesondere für metallische Werkstoffe häufig
Werte zwischen 3 und 5, keramische Werkstoffe zeigen häufig einen Spannungsexponenten n
zwischen 1 und 2. (Abb. 2.5.11) Wie später noch gezeigt wird, sind hierfür
Diffusionsvorgänge bzw. Korngrenzengleitvorgänge verantwortlich.
Spannungsabhängigkeit von ε& nach dem Potenzgesetz
Abb. 2.5.11
für verschiedene HIP-Si3N4 Werkstoffe
Temperatur
Experimentell ergibt sich für die stationäre Kriechgeschwindigkeit nicht zu großer
Temperaturbereiche häufig eine Arrheniusfunktion
- 100 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
ε& s = f 1 ( σ, S) exp( −Q c / RT)
(2.5.14)
mit einer konstanten (scheinbaren) Aktivierungsenergie Qc. Aus der Auftragung von log ε& s
über 1/T lässt sich aus der Steigung dieser Geraden die Aktivierungsenergie der Reaktion
ermitteln (Abb. 2.5.12).
Arrhenius-Darstellung verschiedener HPSN-Werkstoffe bei 70,5 MN/m2 [14]
Abb. 2.5.12
Statio
näre
Kriec
hgesc
hwind
igkeit
Diese Funktion ähnelt sehr dem funktionalen Verhalten des Diffusionskoeffizienten und es
liegt schon hier nahe, die Qc-Werte mit Selbstdiffusionskoeffizienten zu korrelieren. Auf
diese Zusammenhänge wird an anderer Stelle noch einmal eingegangen (siehe Kap. 2.5.6).
2. Mechanisches Verhalten
- 101 -
2.5.6 Kriechmechanismen
Die
Verformung
keramischer
Werkstoffe
bei
hohen
Temperaturen
wird
durch
Versetzungsbewegungen sowie Diffusions- und Korngrenzengleitvorgänge bestimmt. Um die
Entstehung von Verformungsdiagrammen und Gefügeeinflüsse auf das Verformungsverhalten
verstehen zu können, werden die atomistischen Zusammenhänge im folgenden kurz
beschrieben.
Versetzungen
Die plastische Verformung in Kristallen findet statt durch die Bewegung von Versetzungen in
den Kristallstrukturen. Neben den Punktdefekten existieren in realen Kristallen Liniendefekte,
die Versetzungen genannt werden. Wird ein Kristall mechanisch belastet, findet die
Verformung statt durch relative Scherung von zwei Teilen dieses Kristalls entlang einer
Gleitebene, die parallel zu einer Gitterebene verläuft.
Reine (a) Stufen- und (b) Schraubenversetzung bei plastischer Deformation [8]
Abb. 2.5.13
Die Grenze zwischen den verschobenen und unverschobenen Teilen des Kristalls wird
Versetzungslinie genannt. Die Versetzungslinie kann senkrecht zur Gleitrichtung verlaufen
(Stufenversetzung) oder parallel zur Gleitebene (Schraubenversetzung) (Abb. 2.5.13). Die
Struktur einer Stufenversetzung ist gleichzusetzen mit der Einführung einer zusätzlichen
Ebene von Atomen in den Kristall. Dies wird in Abb. 2.5.14 am Beispiel von Seifenblasen
deutlich gemacht.
- 102 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
Versetzungen in einem Netzwerk von Seifenblasen [8]
Abb. 2.5.14
Charakteristisch für die Versetzung ist der Burgers-Vektor b, der die Einheit des Gleitabstandes für die Versetzung darstellt und immer parallel zur Gleitebene verläuft
(Abb. 2.5.15).
Kombination von Stufen- und Schraubenversetzung mit Burgers-Vektoren [8]
Abb. 2.5.15
Er wird bestimmt, indem man beim Punkt A startet und eine bestimmte Anzahl von
Gitterabständen in eine Richtung zählt. Eine weitere Anzahl von Gitterabständen wird nun in
eine Richtung senkrecht dazu gezählt usw. bis der komplette Kreis geschlossen ist. Der
Endpunkt liegt in einem bestimmten Abstand von A, dem sogenannten Burgers-Vektor. Bei
einer Stufenversetzung verläuft der Burgers-Vektor immer senkrecht zur Versetzungslinie,
bei einer Schraubenversetzung parallel zur Versetzungslinie. Im allgemeinen sind
Versetzungen nicht auf diese beiden Typen beschränkt, meistens kommen sie in Kombination
vor (gemischte Versetzungen). Um Versetzungen zu erzeugen, sind sehr große Spannungen
2. Mechanisches Verhalten
- 103 -
notwendig. Sie entstehen in der Regel bei der Kristallisation, Kühlprozessen oder bei der
Bearbeitung als thermische und mechanische Spannungen, durch Ausscheidungen und durch
Entstehung von Sekundärphasen.
Versetzungen mit kleinen Burgers Vektoren benötigen geringe Energien zu ihrer Bildung.
Dies wird deutlich am Vergleich von Versetzungen in Metallen und ionisch gebundenen
Werkstoffen (Abb. 2.5.16).
Schematische Darstellung einer Stufenversetzung in einem Metall und in NaCl [8]
Abb. 2.5.16
Um die Regelmäßigkeit von Ionen oberhalb und unterhalb der Gleitebene zu erhalten, müssen
z.B. in Na-Cl-Kristallen zwei Halbebenen von Atomen bewegt werden, in einem
Metallkristall nur eine. Um Versetzungen in Ionenkristallen zu erzeugen, sind daher
wesentlich höhere Spannungen notwendig als in Metallen.
Abb. 2.5.17 zeigt die schematische Darstellung von makroskopischen und mikroskopischen
Gleiten und Zwillingsbildung.
- 104 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
Schematische Darstellung von makroskopischem (a) und
Abb. 2.5.17
mikroskopischem (b) Gleiten und Zwillingsbildung [8]
Die erforderliche Spannung für plastische Deformation von Einkristallen ist die notwendige
Schubspannung in Gleitrichtung auf der Gleifläche (Abb. 2.5.18).
Bestimmung der kritischen Schubspannung [8]
Abb. 2.5.18
2. Mechanisches Verhalten
- 105 -
Wenn die Normale zur Gleitebene einen Winkel von φ zur angelegten Spannung aufweist,
dann ist die Spannung in dieser Ebene (F/A)·cos φ. Wenn die Gleitrichtung in einen Winkel
von ψ zur Belastungsrichtung verläuft, beträgt die kritische Scherspannung
τ krit =
F
cos φ cos ψ
A
(2.5.15)
Im allgemeinen sind die Unterschiede zwischen den kritischen Scherspannungen für
verschiedene Gleitsysteme sehr groß. In Natrium-Chlorid-Strukturen ist das Gleiten auf
{110}-Ebenen und in
[110] − Richtungen
schon bei niedrigen Temperaturen möglich
(Abb. 2.5.19).
Gleitmöglichkeiten in Kristallen mit NaCl-Struktur [8]
Abb. 2.5.19
Derartige Verschiebungen führen zu Verformungsmarkierungen auf der Oberfläche der
deformierten Kristalle (Abb. 2.5.20).
Verformungsmarkierungen auf der Oberfläche von verformten MgO-Kristallen [8]
Abb. 2.5.20
- 106 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
Begrenzungen in den Gleitsystemen und Gleitrichtungen resultieren sowohl aus
geometrischen als auch aus elektrostatischen Betrachtungen.
Dort wo Versetzungen an die Oberfläche treten, können sie mit Ätztechniken sichtbar
gemacht werden (Abb. 2.5.21).
Ätzgruben von Versetzungen in LiF Kristallen [8]
Abb. 2.5.21
Einmal entstandene Versetzungen bewegen sich unter Belastung in sogenannte Gleitbänder,
die viele Versetzungen enthalten, wie in Abb. 2.5.22 dargestellt ist.
Versetzungen an der Oberfläche von LiF Kristallen [8]
Abb. 2.5.22
Die Geschwindigkeit, mit der sich ein Kristall bei Belastung plastisch verformt, hängt davon
ab, wie viele Versetzungen sich bewegen und wie hoch ihre Geschwindigkeit ist.
2. Mechanisches Verhalten
- 107 -
In realen Kristallen findet die plastische Deformation nicht nur durch das Gleiten von
Versetzungen statt. Eine Vielzahl von Hindernissen müssen von Versetzungen umgangen
werden, um den Gleitmechanismus in Bewegung zu setzen bzw. in Bewegung zu halten.
Größere Hindernisse, wie Ausscheidungen, können nur schwer überwunden werden, kleinere
Kristallfehler, wie z.B. Punktdefekte, können insbesondere durch thermische Aktivierung
umgangen werden.
Versetzungsklettern
Versetzungsklettern ist die Bewegung von Versetzungen aus ihren Gleitebenen heraus; es
erfordert die Diffusion von Atomen oberhalb der Versetzungslinie (Abb. 2.5.23).
Versetzungsklettern beim Überwinden eines Hindernisses [8]
Abb. 2.5.23
Dies entspricht einer Bewegung der Versetzung in eine angrenzende Ebene entsprechend der
Volumendiffusion von Leerstellen. Dieser Kletterprozess hängt also ab von der Diffusion von
Gitterleerstellen, und die Deformationsgeschwindigkeit wird durch Diffusion kontrolliert. Die
stationäre Kriechgeschwindigkeit für kleine Spannungen ist gegeben durch
π 2 Dσ 4.5
ε& ≈ 0.5 3.5 0.5
b G N kT
(2.5.16)
wobei D der Diffusionskoeffizient der Spezies ist, G der Schubmodul, b der Burgers-Vektor
und N ist die Dichte der Versetzungen.
- 108 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
Diffusionskriechen
Bei diesem Prozess erlaubt die Selbstdiffusion innerhalb der Körner eines polykristallen
Festkörpers, dass er sich unter einer angelegten Spannung plastisch verformt. Die
Deformation resultiert aus dem Diffusionsfluss innerhalb eines Korns weg von jenen
Grenzen, an denen Druckspannungen herrschen, hin zu Korngrenzen, an denen Zugspannung
vorherrscht (Abb. 2.5.24).
Spannungsinduzierte Wanderung an Korngrenzen führt zur Kornverlängerung [8]
Abb. 2.5.24
Z.B. erhöht die Zugspannung an der Korngrenze die Leerstellenkonzentration c nach
c = c 0 exp(σΩ / kT) ,
(2.5.17)
wobei Ω das Leerstellenvolumen darstellt und c0 die Gleichgewichtskonzentration. Eine
Druckspannung reduziert die Konzentration nach
c = c 0 exp( −σΩ / kT).
(2.5.18)
Die resultierende Verformung ist immer begleitet von Korngrenzengleitvorgängen. Unter
stationären Bedingungen wird die Kriechgeschwindigkeit nach F.R.N. Nabarro und
C. Herring berechnet nach
2. Mechanisches Verhalten
- 109 -
ε& =
13,3 ΩDσ
,
kTd 2
(2.5.19)
wobei d die Korngröße ist.
Die Kriechgeschwindigkeit ist also proportional zur angelegten Spannung, das bedeutet, der
Spannungsexponent ist 1. Wenn die geschwindigkeitsbestimmende Diffusion entlang der
Korngrenzen erfolgt, hat R.L. Coble die stationäre Kriechgeschwindigkeit berechnet zu
ε& =
47 ΩδD b σ
,
kTd 3
(2.5.20)
wobei δ die Korngrenzenbreite und Db der Diffusionskoeffizient in der Korngrenze ist. Auch
hier ist die stationäre Kriechgeschwindigkeit linear abhängig von der angelegten Spannung.
Korngrenzengleiten
Häufig finden sich an Korngrenzen glasig erstarrte Sekundärphasen. Bei höheren
Temperaturen
können
sie
wie
Flüssigkeiten
betrachtet
werden.
Bei
niedrigen
Geschwindigkeiten bewegt sich die Flüssigkeit in parallelen Schichten (Abb. 2.5.25).
Für einfache Flüssigkeiten ist die Verformungsgeschwindigkeit direkt proportional zur
angelegten Schubspannung.
Kraft pro Einheitsfläche (τ) und Geschwindigkeitsgradient
sind über die Viskosität miteinander verknüpft [8]
Abb. 2.5.25
- 110 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
η=
τ
,
dv / dx
dv τ
=
dx η
(2.5.21)
Die Viskosität η ist also definiert als das Verhältnis von Schubspannung zu
Geschwindigkeitsgradient, τ ist die angelegte Spannung an eine Einheitsfläche A parallel zur
Fließrichtung und dv/dx ist der Geschwindigkeitsgradient. Der Viskositätskoeffizient η
besitzt die Einheit Schubspannung pro Geschwindigkeitsgradient (g/cm ⋅ sec oder Poise).
Die Viskosität variiert in sehr weiten Grenzen. Wasser bei Raumtemperatur und flüssige
Metalle haben Werte in der Größenordnung von 0,01 P. Natron-Kalk-SiO2-Gläser haben bei
Liquidustemperatur Werte von ∼ 1000 P.
Bei Anlegen einer Schubspannung verhält sich also die Dehnung proportional zur angelegten
Spannung. Die Kriechgeschwindigkeit jedoch wird begrenzt durch die Änderung der Gestalt
der
individuellen
Körner.
Wenn
die
erforderlichen
Akkommodationsprozesse
diffusionskontrolliert ablaufen, kann die Kriechgeschwindigkeit ebenfalls nach Gleichung
2.5.19 und 2.5.20 berechnet werden. Umgekehrt sind Korngrenzengleitvorgänge notwendig,
wenn der Kriechvorgang diffusionsgesteuert ist.
Verformungsdiagramme
M. Ashby hat Verformungsdiagramme eingeführt, aus denen die Verformungsmechanismen
abgelesen werden können. An den Achsen ist die homologe Temperatur T/Tm aufgetragen,
wobei Tm die absolute Schmelztemperatur darstellt und die normalisierte Spannung σ/G mit
G als Schubmodul dargestellt ist. Verschiedene stationäre Verformungsmechanismen, die in
einem bestimmten Spannungs-Temperaturgebiet dominant sind, sind als Felder dargestellt.
Die Diagramme sind mit den Gleichungen 2.5.16, 2.5.19 und 2.5.20 berechnet.
2. Mechanisches Verhalten
- 111 -
Verformungsdiagramm von MgO [8]
Abb. 2.5.26
Wenn z.B. die Dehnungsgeschwindigkeiten für Magnesiumoxid nach Gleichungen 2.5.16
2.5.19 und 2.5.20 berechnet werden, ergeben sich die Grenzen zwischen versetzungs- und
diffusionskontrollierten Kriechbereichen (Abb. 2.5.26). Bei keramischen Werkstoffen sind
die diffusionsbestimmten Bereiche wesentlich ausgeprägter als bei metallischen Werkstoffen
(s. Diskussion über Versetzungskriechen).
Gefügeeinflüsse
Neben der Temperatur und der Spannung wird die Kriechgeschwindigkeit keramischer
Werkstoffe auch durch das Gefüge (Korngröße und Porosität), die chemische Zusammensetzung und die Atmosphäre beeinflusst.
So nimmt z.B. die Kriechgeschwindigkeit zu, wenn die Porosität ansteigt. Abb. 2.5.27 zeigt
den Einfluss der Porosität auf die Kriechgeschwindigkeit von Aluminiumoxid. Zunehmende
Porosität reduziert den Probenquerschnitt, was zu einem Anstieg der Kriechgeschwindigkeit
führt.
- 112 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
Einfluss der Porosität auf das Kriechverhalten von polykristallinem Al2O3 [8]
Abb. 2.5.27
Das Verhältnis der Kriechgeschwindigkeiten des porösen ( ε& p ) und des dichten Werkstoffes
( ε& d ) lässt sich mit folgender empirischen Beziehung beschreiben:
ε& p
2
= 1 + a[ Vv ( P)] ,
ε& d
(2.5.21)
wobei Vv(P) Volumenanteil der Porosität ist.
Dieser Zusammenhang ist in Abb. 2.5.28 am Beispiel von RBSN graphisch dargestellt.
Porositätsabhängigkeit der Kriechgeschwindigkeit von RBSN [12]
Abb. 2.5.28
2. Mechanisches Verhalten
- 113 -
Das Kriechverhalten von Magnesiumoxid mit Eisenverunreinigungen wird bei niedrigen
Spannungen durch Diffusionskriechen bestimmt. Dies wird dokumentiert durch den linearen
Zusammenhang zwischen der Verformungsgeschwindigkeit und der Spannung und der (d)-2Abhängigkeit von der Korngröße (Abb. 2.5.29). Bei höheren Spannungen nimmt der
Spannungsexponent zu, was auf den Mechanismus des Versetzungskriechens hinweist.
Kriechgeschwindigkeit in Abhängigkeit von der Korngröße von polykristallinem MgO [8]
Abb. 2.5.29
In feuerfesten Werkstoffen finden sich in der Regel größere Mengen an Glasphase im Gefüge.
Diese Glasphase kontrolliert häufig den Verformungsmechanismus. Die Verformungsgeschwindigkeit hängt dann linear ab von der Spannung und hat eine Aktivierungsenergie, die
ähnlich der Temperaturabhängigkeit der Viskosität des Glases ist. Mit zunehmender Reinheit
verändern sich die Verformungsmechanismen. Für hochaluminiumoxidhaltige feuerfeste
Werkstoffe
wird
als
Verformungsmechanismus
neben
Korngrenzengleiten
Versetzungskriechen beobachtet.
Wenn in den Kristallstrukturen der kovalente Bindungsanteil zunimmt, nehmen die
Diffusionskoeffizienten und die Versetzungsmobilität ab. Carbide und Nitride beispielsweise
sind aus diesen Gründen äußerst kriechbeständige Materialien. Sekundäre Phasen an den
Korngrenzen, die zur Beschleunigung der Sintermechanismen zugegeben werden, erhöhen
- 114 -
2.5. Hochtemperaturplastizität
allerdings die Kriechgeschwindigkeit bei hohen Temperaturen.
Kriechdehnung als Funktion der Zeit für verschiedene HIP-Si3N4 Werkstoffe
Abb. 2.5.30
So nimmt z.B. die Kriechgeschwindigkeit in dichtem Si3N4 mit zunehmendem
Glasphasenanteil im Gefüge (hervorgerufen durch zunehmenden Anteil an Sinteradditiven
MgO oder Y2O3) bzw. mit abnehmender Viskosität der gebildeten Korngrenzenphase (Ersatz
von Y2O3 durch MgO) zu (Abb.2.5.30).
3. Thermische Eigenschaften
- 115 -
3. Thermische Eigenschaften
3.1. Spezifische Wärme
Die spezifische Wärme ist in der Technik diejenige Wärmemenge, die notwendig ist, um 1 kg
eines Stoffes um 1K zu erwärmen. Bei Gasen wird die spezifische Wärme meistens auf einen
Normkubikmeter bezogen, d.h. auf 1 m3 des Gases bei 0°C und 760 Torr. Ihre Einheit ist
kJ/m3·K. In der Chemie wird die spezifische Wärme oft auf das kmol bezogen (= Molwärme).
Ihre Einheit ist dann kJ/kmol·K. Bei Elementen spricht man von der Atomwärme bezogen auf
ein
Kilogrammatom,
also
kJ/kg-Atom·K.
Spezifische
Wärmen
sind
immer
temperaturabhängig. Für Gase sind sie außerdem noch druckabhängig. Bei festen Stoffen
beobachtet man praktisch keine Druckabhängigkeit und auch bei Flüssigkeiten kann sie
meistens vernachlässigt werden.
Die spezifische Wärme ist eine Energiegröße, die einem Stoff zwecks Temperaturerhöhung
zugeführt werden muss. Es gilt:
spezifische Wärme bei
konstantem Druck:
dH
⎛ dQ ⎞
cp = ⎜ ⎟ ≡
⎝ dT ⎠ p dT
(3.1.1)
spezifische Wärme bei
konstantem Volumen:
dU
⎛ dQ ⎞
cv = ⎜ ⎟ ≡
⎝ dT ⎠ v dT
(3.1.2)
H ist die Enthalpie, U die innere Energie eines Stoffes. Da sich Körper mit steigender
Temperatur ausdehnen, wird bei einer Energiezufuhr unter konstantem Druck noch eine
Volumenarbeit geleistet, d.h. cp ist größer als cV.
H = U + pxV
⎛ dH ⎞ ⎛ dU ⎞ d ( p ⋅ V)
,
⎜
⎟ =⎜ ⎟+
⎝ dT ⎠ ⎝ dT ⎠
dT
(3.1.3)
(3.1.4)
pxV=RxT
(3.1.5)
d ( p ⋅ V)
=R
dT
(3.1.6)
- 116 -
3.1. Spezifische Wärme
cp = cv
+ R
(3.1.7)
R = allgemeine Gaskonstante = Volumenarbeit (für ideales Gas).
Bei Festkörpern ist dieser Unterschied klein und kann lediglich bei sehr hohen Temperaturen
nicht mehr vernachlässigt werden.
Spezifische Wärme von Gasen
Die spezifische Wärme vergrößert wie jede andere Wärmemenge die Bewegungsenergie der
Gasmoleküle. Diese haben drei verschiedene Bewegungsmöglichkeiten:
1.
Translation = fortschreitende Bewegung: Sie kann nach den drei Richtungen des
Raumes erfolgen, hat also drei Freiheitsgrade.
2.
Rotation = Drehbewegung: Die Anzahl der Freiheitsgrade richtet sich nach der Anzahl
der Atome im Molekül, es muss also unterschieden werden:
2.1
Einatomige Moleküle: Die für die Rotation benötigte Energie ist im Vergleich zur
Energie, die für die Translation notwendig ist, so gering, dass sie hier
vernachlässigt werden kann, also kein Freiheitsgrad.
2.2
Zweiatomige Moleküle (Hantelmodell): Sie besitzen zwei Freiheitsgrade der
Rotation. Das Rotieren um die Längsachse benötigt fast keine Energie, so dass sie
hier vernachlässigt werden kann.
2.3.
Dreiatomige Moleküle: Hier muss zwischen zwei Molekülarten unterschieden
werden:
2.3.1
Gestreckte Moleküle (z.B. CO2): Für sie gilt dasselbe wie für zweiatomige
Moleküle, d.h. sie besitzen zwei Freiheitsgrade der Rotation.
2.3.2
Gewinkelte Moleküle (z.B. H2O): Da das Rotieren um alle drei Drehachsen
Energie erfordert, besitzen sie drei Freiheitsgrade der Rotation.
3.
Oszillation = Schwingungsbewegung: Hierunter versteht man das Schwingen der
3. Thermische Eigenschaften
- 117 -
Atome innerhalb des Moleküls, d.h. ein elastisches Hin- und Herschwingen der Atome
gegeneinander, entsprechend einer fortlaufenden Speicherung von kinetischer und
potentieller Energie. Deshalb zählt auch jede Schwingung doppelt, d.h. zwei
Freiheitsgrade der Oszillation. Die Anzahl der Freiheitsgrade richtet sich auch hier
nach der Anzahl der Atome im Molekül.
3.1
Einatomige Moleküle: Sie haben null Freiheitsgrade der Oszillation.
3.2
Zweiatomige Moleküle: Sie haben zwei Freiheitsgrade der Oszillation.
3.3
Dreiatomige Moleküle: Hier können zwei mal zwei Atome gegeneinander
schwingen, d.h. sie haben vier Freiheitsgrade der Oszillation.
Ganz allgemein gilt jedoch, dass die Oszillation erst bei höheren Temperaturen (etwa ab
700°C) zum Tragen kommt.
Nach dem „Gesetz über die Gleichverteilung der Energie“ benötigt jeder Freiheitsgrad die
gleiche Energiemenge. Diese beträgt nach der kinetischen Gastheorie R/2 pro Freiheitsgrad
R
8,314
pro Freiheitsgrad =
= 4,157 kJ / Freiheitsgr.⋅kmol ⋅ K
2
2
oder 0,993 kcal / Freiheitsgr.·kmol·K
(3.1.8)
R = allgemeine Gaskonstante, hier: 8,314 kJ/kmol·K.
Das bedeutet, dass die schnellere Bewegung der Gasmoleküle, welche die Erwärmung von
einem Kilomol eines Gases um 1 K bei konstantem Volumen erfordert, eine Energiezufuhr
von 0,993 kcal pro angeregtem Freiheitsgrad bedingt.
Auf diese Weise lässt sich die Molwärme eines Gases bei konstantem Volumen (cv)
berechnen. Der berechnete Wert stimmt mit dem experimentell gefundenen Wert umso besser
überein, je mehr das untersuchte Gas einem idealen Gas gleicht. Zum Beispiel:
1. Ein einatomiges Edelgas hat insgesamt nur drei Freiheitsgrade:
cv = 3·
R
= 3·0,993 kcal/kmolxK = 2,979 kcal/kmol·K
2
cp = cv + R = 5·
R
= 4,97 kcal/kmol·K
2
- 118 -
3.1. Spezifische Wärme
Experimentell ermittelt:
Ar. cv = 2,98 kcal/kmolxK
He: cv = 2,98 kcal/kmol·K;
2. Ein zweiatomiges Gas hat insgesamt fünf Freiheitsgrade:
cv = 5·
R
= 5·0,993 kcal/kmol·K = 4,965 kcal/kmol·K
2
cp = cv + R = 7·
R
=6,951 kcal/kmol·K
2
Experimentell ermittelt:
H2: cv = 4,91 kcal/kmol·K;
N2: cv = 4,97 kcal/kmol·K;
CO: cv = 4,97 kcal/kmol·K;
O2: cv = 5,03 kcal/kmol·K
3. Ein dreiatomiges Gas mit gewinkeltem Molekül hat insgesamt sechs Freiheitsgrade:
cv = 6·
R
= 6·0,993 kcal/kmol·K = 5,958 kcal/kmol·K
2
cp = cv + R = 8·0,993 kcal/mol·K = 7,944 kcal/kmol·K
Experimentell ermittelt:
H2O: cv = 6,01 kcal/kmol·K;
H2S: cv = 6,10 kcal/kmol·K;
SO2: cv = 7,55 kcal/kmol·K.
Das Verhältnis der spezifischen Wärmen ist also von der Anzahl der Atome im Gasmolekül
abhängig.
k = cp/cv
einatomige Gasmoleküle:
(3.1.9)
k = 1,667
zweiatomige Gasmoleküle: k = 1,40
dreiatomige Gasmoleküle:
k = 1,40 (gestreckte Moleküle)
dreiatomige Gasmoleküle:
k = 1,33 (gewinkelte Moleküle).
Die Unabhängigkeit der Molwärme von der Temperatur ist nur bei einatomigen Gasen streng
gegeben. Bei zwei- und mehratomigen Gasen treten mit steigender Temperatur auch
Schwingungen innerhalb des Moleküls (Oszillation) auf, so dass die Molwärme zunimmt. Die
3. Thermische Eigenschaften
- 119 -
Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme kann für verschiedene Temperaturbereiche
berechnet werden etwa nach
cp = a + bT
(3.1.10)
oder
cp = a + bT + cT-2.
(3.1.11)
Die Formeln gelten meist nur für verschiedene Temperaturbereiche. Die Konstanten a, b und
c sind tabellarisiert.
Spezifische Wärme von Festkörpern
Die Differenz cp - cv fester Körper ist mit dem Volumenausdehnungskoeffizient ß, dem MolVolumen V0 der Dichte ϕ und der Kompressibilität χ verbunden nach:
cp − cv =
cp − cv =
ß 2 V0 T
χ
(3.1.12 a)
mit ß =
1 dV
V0 dT
(3.1.12 b)
und χ =
1 dV
V0 dp
(3.1.12 c)
1 dV 2 V0 T V0 dp
2
V0 dT2
dV
⎛ dV ⎞
⎛ dp ⎞
=⎜ ⎟ T ⎜ ⎟
⎝ dT ⎠ p ⎝ dT ⎠ V
(3.1.13)
Bei Festkörpern ist der Unterschied zwischen cp und cv sehr klein und kann üblicherweise
vernachlässigt werden.
Die zur Temperaturerhöhung eines Kristalls erforderliche Energie wird ausgehend von einem
Zustand am absoluten Nullpunkt für folgende Veränderungen aufgenommen:
a) Aufnahme als Schwingungsenergie der Atome um ihre Ruhelagen, wobei Frequenz und
Amplitude von der jeweiligen Temperatur abhängen,
- 120 -
3.1. Spezifische Wärme
b) Erhöhung des Energieniveaus der Elektronen,
c) Wechsel von Atomlagen im Gitter (zur Bildung von Defekten, Unordnungsvorgängen,
magnetische Orientierung oder auch strukturelle Vorgänge z.B. Einfrieren einer
Flüssigkeitsstruktur = Übergang zu einem Glas).
Einstein legte 1907 den ersten Lösungsvorschlag zur Temperaturabhängigkeit der
spezifischen Wärme vor, indem er die Schwingungsfrequenz der Atome als konstanten Wert
ν E annahm und erhielt
⎤
⎡
h⋅ ν E
⎥
⎢
2
k ⋅T
⎥
⎢
h
⋅
ν
e
dU
⎛
E ⎞
.
cV =
= 3Nk ⎜
⎟ ⎢ h⋅ ν
2 ⎥
⎝ k ⋅ T ⎠ ⎢⎛
dT
E
⎞
⎥
k ⋅T
− 1⎟ ⎥
⎢⎜e
⎝
⎠ ⎦
⎣
(3.1.14)
N = Anzahl Atome/Mol
k = Boltzmann Konstante
h = Planck´sches Wirkungsquant
νE = Schwingungsfrequenz der Atome
T = Temperatur
Man sieht, dass
bei T→0:
cV→0
bei T→∞:
cV→3 R
Durch Einsetzen von praktischen Messergebnissen kann man die „Einsteinfrequenz“
berechnen. Jedoch nähern sich im Tieftemperaturgebiet die so errechneten Werte der
spezifischen Wärme stärker dem Wert Null, als es die experimentell ermittelten tun.
Debye führte später wesentliche Verbesserungen in der Theorie ein. Er betrachtete einen
kristallinen Festkörper als ein Kontinuum von Schwingern mit einer Frequenzverteilung bis
zu einer Maximalfrequenz νD, wobei die Gesamtzahl der erlaubten Frequenzen den Wert 3 N
3. Thermische Eigenschaften
- 121 -
(N Atome im Gesamtkristall eines Mols schwingen in 3 Raumrichtungen) nicht überschreiten
kann.
Mit der oberen Grenzfrequenz ist eine „Mindestwellenlänge“ nach
λD ≡
cs
νD
(3.1.15)
gegeben, die nicht unterschritten werden kann. Darin ist cs die Schallgeschwindigkeit im
Festkörper. Die Mindestwellenlänge ist durch den kürzesten Abstand der Atome im Gitter
bestimmt.
Man kann nun den Quotienten
h ⋅ νD
= θD
k
(3.1.16)
als Debye-Temperatur θD definieren, die eine Stoffkonstante darstellt (auch „charakteristische
Temperatur“ genannt). Nach Debye ergibt sich für die spezifische Wärme:
⎡ ⎛ T ⎞ 3 θ/ T x
θ
1 ⎤
⎥.
c v = 9 R ⎢4⎜ ⎟ ⋅ ∫ x
dx − ⋅ θ / T
T e − 1⎥
⎢⎣ ⎝ θ D ⎠ 0 e − 1
⎦
mit x =
(3.1.17)
h⋅ν
k⋅T
(3.1.18)
Für T → 0 ergibt sich:
3
3
⎛ T ⎞ π4
⎛ T⎞
c V = 9 R ⋅ 4⎜ ⎟ ⋅
= 234 R⎜ ⎟ .
⎝ θ D ⎠ 15
⎝ θD ⎠
(3.1.19)
Bei tiefen Temperaturen ist
cv ∼ T3.
(3.1.20)
Andererseits besitzen nach Boltzmann die Atome fester Körper bei ihrer Oszillation um die
Ruhelage und bei voller Anregung, also bei hoher Temperatur, je drei Freiheitsgrade der
kinetischen und potentiellen Energie, d.h. insgesamt 6. Damit ergibt sich nach dem
- 122 -
3.1. Spezifische Wärme
Gleichverteilungssatz der Energie
cV = 6
R
= 3 R = 25 J/g-atom·K bzw. 6 cal/g-atom·K.
2
(3.1.21)
Dies bedeutet, dass sich die spezifische Wärme von Festkörpern bei hohen Temperaturen
einem konstanten Grenzwert von 3R nähert (Dulong-Petit-Regel).
Tab. 3.1.1: Spezifische Wärme einiger Elemente bei 20°C in J/g-atom·K
Ag
Al
Au
Ca
Cd
Cr
Cu
K
Li
Mg
Mo
Na
Pb
Pt
W
cV
cP
24,27
23,03
24,47
24,21
24,57
22,78
23,63
24,80
22,53
23,46
23,06
24,58
24,85
24,95
23,59
25,49
24,34
25,35
26,28
26,04
23,35
24,47
29,51
23,46
24,81
23,75
28,12
26,82
26,57
24,08
Allgemein gilt das Gesetz von Dulong Petit bei metallischen Elementen mit Atomgewichten
oberhalb 40 recht gut (Tab. 3.1.1).
Eine Reihe stark positiver Metalle (also solche, die eine Tendenz zur Elektronenabgabe
haben) wie Na, Cs, Ca und Mg zeigen eine starke Wertzunahme auf Werte über 3 R mit
zunehmender Temperatur. Diese hohe spezifische Wärme kann durch einen Beitrag der
Elektronen erklärt werden.
Man kann zeigen, dass sich die spezifischen Wärme aller Stoffe in ihrem Temperaturverlauf
auf eine einzelne Kurve reduzieren lassen, wenn man cV gegen T/θD aufträgt (Abb. 3.1.1).
3. Thermische Eigenschaften
- 123 -
Spezifische Wärme einiger Materialien als Funktion von T/θD
Abb. 3.1.1
Als grobe Nährung für die Debye-Temperatur kann gelten
θ D ≈ (0,2-0,5)Ts
(3.1.22)
(Ts = Schmelztemperatur).
Tabelle 3.1.2: Beispiele für Debye-Temperaturen in K
Mg0
946
Ag
220
Cr
405
SiO2
470
Al
380
Cu
310
CaF2
510
Au
185
K
99
TiO2
760
Ca
230
Mo
375
Fe2O3
660
Cd
165
Pb
86
Bei keramischen Systemen erreicht die spezifischen Wärme einen Wert von 3 R erst bei sehr
hohen Temperaturen (Abb. 3.1.2). Die Temperatur, bei der die spezifische Wärme einen
konstanten Wert einnimmt oder sich nur gering mit der Temperatur ändert, ist von der
Bindungsfestigkeit, elastischen Konstanten und dem Schmelzpunkt der Werkstoffe abhängig
und unterscheidet sich sehr stark für verschiedene Materialien (Tab. 3.1.2).
- 124 -
3.1. Spezifische Wärme
Spezifische Wärme einiger keramischer Werkstoffe
Abb. 3.1.2
in Abhängigkeit von der Temperatur [8]
Für die analytische Darstellung der Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärmen fester
Werkstoffe verwendet man für thermodynamische Berechnungen wie bei Gasen Ansätze, die
stets nur für einen bestimmten Temperaturbereich gelten (siehe Gl. 3.1.10 und 3.1.11).
Wie in Abb. 3.1.2 zu sehen ist, steigt die Wärmekapazität bei Temperaturen über der
charakteristischen Debye-Temperatur geringfügig an. Dafür sind die Entwicklung von
Frenkel-
und
Schottky-Fehlstellen,
magnetischen
Umordnungen
und
Elektronenenergieverteilungen verantwortlich.
In den meisten keramischen Werkstoffen steigt die spezifische Wärme von Null bei niedrigen
Temperaturen zu einem Wert in der Größenordnung von 5,96 kJ/g-Atom·K bei Temperaturen
um 1000°C (für die meisten Oxide und Carbide). Kristallumwandlungen aller Art äußern sich
durch Unstetigkeiten im Temperaturgang der spezifischen Wärmen. Eine abrupte Änderung
der spezifischen Wärme ist z.B. bei der Änderung von Gitterstrukturen, also z.B. bei der α/ßQuarzumwandlung zu beobachten (Abb.3.1.3).
3. Thermische Eigenschaften
Spezifische Wärme verschiedener CaO + SiO2 Varianten (Mol-Verhältnis 1:1) [8]
- 125 -
Abb. 3.1.3
Der Verlauf der spezifischen Wärme bei einer Ordnung-Fehlordnung-Umwandlung ist in
Abb. 3.1.4 zu sehen. Ähnliche Veränderungen der spezifischen Wärme beobachtet man bei
magnetischen und ferroelektrischen Umwandlungen.
Spezifische Wärme bei Fehlordnungsübergängen [8]
Abb. 3.1.4
a) Wasserstoffbindungen in KH2PO4, b) Fe3+-Ionen in Fe3O4
Während die Gefügeeinflüsse auf die spezifische Wärme gering sind, ist der Einfluss der
Porosität eines Werkstoffs sehr groß, da die Masse in einem Einheitsvolumen mit
zunehmendem Porenanteil abnimmt. Dies bedeutet, dass die Energie, die notwendig ist, um
z.B. die Temperatur in einem Feuerleichtstein zu erhöhen, wesentlich geringer ist als
diejenige für einen dichten Schamottestein. Auch verkleinert man bei Laboröfen gern deren
Wärmekapazität durch leichte Strahlungsschutzbleche, Faser- oder Pulverisolation.
- 126 -
3.2. Thermische Ausdehnung
3.2 Thermische Ausdehnung
Das spezifische Volumen eines Kristalls nimmt mit steigender Temperatur zu, und der
Kristall tendiert dazu, symmetrischer zu werden. Die generelle Volumenzunahme mit der
Temperatur ist im wesentlichen bestimmt durch die Zunahme der Amplitude von
Schwingungen der Gitterbausteine um ihre mittlere Lage. Die abstoßende Kraft zwischen
Atomen ändert sich bei Vergrößerung des Abstandes zweier Atome schneller als die
anziehende Kraft. Als Konsequenz daraus ergibt sich, dass der Energieverlauf in
Abhängigkeit vom Atomabstand unsymmetrisch ist (Abb. 3.2.1). Wenn die Gitterenergie
zunimmt, führt die zunehmende Amplitude der Gitterschwingungen zu einem größeren
Atomabstand, was einer Gitterexpansion gleichkommt. Aus thermodynamischer Sicht nimmt
die Energie der Struktur zu und die Entropie nimmt ab.
Gitterenergie als Funktion des Atomabstandes [8]
Abb. 3.2.1
Die Änderung des Volumens, hervorgerufen durch Gitterschwingungen, ist also eng
verbunden mit einem Anstieg der inneren Energie. Konsequenterweise verlaufen
Veränderungen des thermischen Ausdehnungskoeffizienten mit steigender Temperatur
parallel zu Veränderungen der spezifischen Wärme (Abb. 3.2.2).
3. Thermische Eigenschaften
Parallele Veränderung der spezifischen Wärme und des WAK
- 127 -
Abb. 3.2.2
von Al2O3 über einen großen Temperaturbereich [8]
Der thermische Ausdehnungskoeffizient nimmt bei niedrigen Temperaturen schnell zu und
erreicht einen nahezu konstanten Wert bei der charakteristischen Debye-Temperatur θD.
Oberhalb dieser Temperatur ist eine Zunahme des thermischen Ausdehnungskoeffizienten
verbunden mit der Bildung von Frenkel- und Schottky-Defekten. Die Konzentration dieser
Defekte kann direkt überführt werden in Ausdehnungsverhalten. Einige typische
Ausdehnungskoeffizienten sind in Abb. 3.2.3 dargestellt.
WAK als Funktion der Temperatur für einige keramische Oxide [8]
Abb. 3.2.3
- 128 -
3.2. Thermische Ausdehnung
Der Wärmeausdehnungskoeffizient (WAK) für die Volumendehnung ist gegeben durch
β=
1 ⎛ dV ⎞
⎜
⎟
V ⎝ dT ⎠
(3.2.1)
und für die Längenausdehnung durch
1 ⎛ dl ⎞
α= ⎜ ⎟
l ⎝ dT ⎠
(3.2.2)
Bei der praktischen Ermittlung des WAK bestimmt man endliche Differenzen
(Differenzenquotient) und erhält mittlere Wärmeausdehnungskoeffizienten, die dann
zweckmäßigerweise mit dem Temperaturbereich angegeben werden:
β 20,T =
ΔV
V ΔT
(3.2.3)
α 20,T =
Δl
l ΔT
(3.2.4)
Bei isotropen Körpern gilt für den Zusammenhang zwischen α und β näherungsweise
1 + β ΔT = 1 + 3 α Δ T + 3 α 2 Δ T2 + α 3 Δ T3
β ≈ 3α .
(3.2.5)
(3.2.6)
Bei anisotropen Kristallen unterscheidet sich der Wärmeausdehnungskoeffizient in Richtung
der unterschiedlichen kristallographischen Achsen. Kristalle streben fast immer bei höheren
Temperaturen eine höhere Symmetrie an. In tetragonalen Kristallen z.B. nimmt das Verhältnis
der kristallographischen Achsen c/a mit steigender Temperatur ab. Auch das Verhältnis der
Ausdehnungskoeffizienten αc/αa nimmt in der Regel mit steigender Temperatur ab. Einige
Werte für anisotrope Materialien zeigt Tabelle 3.2.1.
3. Thermische Eigenschaften
- 129 -
WAK einiger anisotroper Kristalle ( α x 106/K) [8]
Tab. 3.2.1
Ein typisches Beispiel für anisotropes Ausdehnungsverhalten ist z.B. der Graphit mit seiner
Schichtstruktur, in der die Bindekräfte stark gerichtet sind. Der Ausdehnungskoeffizient
parallel zur c-Achse ist viel größer als senkrecht dazu. Für stark anisotrope Kristalle kann der
Ausdehnungskoeffizient in einer kristallographischen Richtung negativ sein und der
resultierende Gesamtausdehnungskoeffizient kann sehr klein sein. Typische Beispiele sind
Aluminiumtitanat, Cordierit und verschiedene Lithium/Aluminium-Silicate. β-Eukriptit
(LiAl[SiO4]) besitzt sogar einen negativen Wärmeausdehnungskoeffizienten.
Der Wärmeausdehnungskoeffizient ist also von der Kristallstruktur und den Bindungskräften
abhängig. Werkstoffe mit hoher Bindungsfestigkeit wie Wolfram, Diamant oder
Siliciumcarbid haben sehr niedrige Wärmeausdehnungskoeffizienten. Verständlich werden
auch Beziehungen zwischen Wärmedehnung und Schmelzpunkt von Werkstoffen. Mit
zunehmender
Schmelztemperatur
von
Elementen
und
Verbindungen
nimmt
der
Wärmeausdehnungskoeffizient ab (Abb. 3.2.4 und 3.2.5).
WAK in Abhängigkeit vom Schmelzpunkt der Elemente
Abb. 3.2.4
- 130 -
3.2. Thermische Ausdehnung
WAK einiger Halogenide und Oxide in Abhängigkeit vom Schmelzpunkt
Abb. 3.2.5
Aus solchen Betrachtungen ist es verständlich, dass sich der lineare WAK auch aus der
Debyeschen Theorie des Festkörpers ableiten lässt als
α=γ
cv ⋅χ
3⋅ V
(3.2.7)
darin ist cv die spezifische Wärme, χ die Kompressibilität, V das Volumen pro g bei 0 K und γ
die Grüneisenkonstante, die sich aus der Theorie nach
γ=−
d ln ν
d ln Va
(3.2.8)
ergibt, worin ν eine jeweilige Eigenfrequenz des Festkörpers ist und Va das Volumen (γ liegt
zwischen 1 und 3).
In der Gleichung zur Definition der Grüneisenkonstante muss anstelle einer einzigen
Schwingungsfrequenz eigentlich das gewogene Mittel über das ganze Schwingungsspektrum
nach der Debyeschen Theorie eingesetzt werden. Demnach ändert sich auch γ, wenn man zu
niedrigeren Temperaturen kommt (T<1/3·θD), bei denen die höherfrequenten Schwingungen
keinen Beitrag mehr zur spezifischen Wärme leisten. Die Transversalschwingungen ergeben
dann manchmal negative Werte von γ, weshalb bei niedrigeren Temperaturen auch der WAK
negativ werden kann. Dies ist z.B. bei SiO2-Glas, Zinkblende und Indiumantimonit
3. Thermische Eigenschaften
- 131 -
beobachtet worden. Eine niedrigere Koordinationszahl begünstigt diesen Effekt dadurch, dass
eine größere Zahl von Zwischengitterplätzen entsteht, die den Atomen die Querschwingungen
zur Bindung zwischen zwei Nachbaratomen besser ermöglicht. Bei einigen Metallen (z.B.
Plutonium) beeinflusst auch eine besondere Elektronenverteilung das Ausdehnungsverhalten
in negativer Richtung.
3.2.1 Thermische Ausdehnung von mehrphasigen Keramiken
Beim Sinterprozess mehrphasiger Werkstoffe entsteht bei hohen Temperaturen ein dichtes
Gefüge bestehend aus mehreren kristallinen Phasen oder einer Mischung aus kristallinen und
glasigen Phasen. Wenn sich die Wärmeausdehnungskoeffizienten der unterschiedlichen
Phasen unterscheiden, ziehen sie sich beim Abkühlen unterschiedlich zusammen und es
entstehen Spannungen und Mikrorisse zwischen einzelnen Körnern. Der resultierende
Ausdehnungskoeffizient des Werkstoffverbundes kann berechnet werden, wenn man
annimmt, dass nur reine Zug- und Druckspannungen entstehen und keine Risse gebildet
werden. Die Spannungen in jedem Teilchen sind dann gegeben durch
σ i = K(α r − α i )ΔT ,
(3.2.9)
wobei α r der durchschnittliche Volumenausdehnungskoeffizient ist, α i der Volumenausdehnungskoeffizient des Teilchens i, ΔT die Temperaturdifferenz zwischen dem spannungsfreien und dem abgekühlten Zustand und K der Kompressionsmodul
K = - P/ (Δ V / V) = E / 3 (1-2μ)
(3.2.9 a)
wobei P der isotrope Druck ist, V das Volumen, E der E-Modul und μ die Poissonzahl). Mit
dem Massenanteil F und der Dichte ρ einer Phase ergibt sich nach Turner[8] für den mittleren
Wärmeausdehnungskoeffizienten α eines zweiphasigen Werkstoffes:
F1
F
+ α 2 ⋅ K 2 2 + ⋅⋅⋅
ρ1
ρ2
F
F
K1 1 + K 2 2 + ⋅⋅⋅
ρ1
ρ2
α 1 ⋅ K1
α=
(3.2.10)
- 132 -
3.2. Thermische Ausdehnung
Unter Einbeziehung des Volumenanteils und des Schubmoduls ergibt sich nach Kerner [8] die
Gleichung
α r = α 1 + V2 (α 2 − α 1 )
K (3K + 4G ) 2 + ( K 2 − K 1 )(16G 1 2 + 12G 1 K 2 )
1
2
1
(4G 1 + 3K 2 )[4 V2 G 1 ( K 2 − K 1 ) + 3K 1 K 2 + 4G 1 K 1 ]
(3.2.11)
wobei G1 der Schubmodul der Phase1 ist.
Für ein Li2O-B2O3-System mit 20 g-Atom % Li2O ergibt sich nach diesen Beziehungen die
Abbildung 3.2.6. Die Werte der Einzelkomponenten sind:
α1
K1
= 1,5x10" dyn/cm2
G1
= 0,8x10" dyn/cm2
ρ1
= 1,86 g/cm3
α2
K2
= 4,5x10-6/K
= 12x10-6/K
G2
= 3,6x10″ dyn/cm2
= 2x10" dyn/cm2
ρ2
= 2,09 g/cm3
Vergleich der vorhergesagten WAK´s eines zweiphasigem Werkstoffs [8]
Abb. 3.2.6
3. Thermische Eigenschaften
- 133 -
3.2.2 Thermische Ausdehnung von Aluminiumtitanat (Tialit)
Die hervorstechendste Eigenschaft des Tialits ist eine ausgeprägte Anisotropie der
Wärmedehnung, die beim Abkühlen zu einer Ausdehnungshysterese führt (Abb. 3.2.7).
Ausdehnungsverhalten von Aluminiumtitanat
Abb. 3.2.7
Infolge der sehr unterschiedlichen Ausdehnungskoeffizienten in den drei Kristallachsen
entstehen beim Abkühlen starke Gefügespannungen. Die a- und die b-Achsen zeigen
zwischen
20°C
und
600°C
einen
positiven
und
deutlich
unterschiedlichen
Ausdehnungskoeffizienten
(αa = 10·10-6 K-1, αb = 20x10-6 K-1) während die c-Achse einen negativen Wert aufweist
(αc = -1,4 ⋅ 10-6 K-1). Wird ein Bauteil nach dem Sinterbrand im Ofen abgekühlt, so
überschreiten die Gefügespannungen bei etwa 500 °C die Zugfestigkeit des Materials,
wodurch Risse im Gefüge entstehen, insbesondere senkrecht zur a- und b-Achse (Abb. 3.2.8).
- 134 -
3.2. Thermische Ausdehnung
Riss- und Porenstruktur in Aluminiumtitanat
Abb. 3.2.8
Zur Erklärung des Ausdehnungsverhaltens von Al2TiO5 sollte Abb. 3.2.7 zum besseren
Verständnis von rechts nach links gelesen werden. Beim Abkühlen von hohen Temperaturen
entspricht die Kontraktion zunächst etwa dem mittleren Ausdehnungskoeffizienten aller
kristallographischen Achsen. Bei etwa 500 °C führt der geschilderte Vorgang der
Rissbildung, was zu einer Zunahme der Gesamtporosität und damit zu einer
Volumenzunahme führt. Das Entstehen dieser Risse ab etwa 500°C konnte durch
Schallemissionsmessungen nachgewiesen werden. Wird nun ein solcher Körper wieder
erhitzt, so wirkt nach außen zunächst nur die thermische Dehnung der c-Achse, da in
Richtung der a- und b-Achse die Tialit-Körner in die vorhandenen Risse hineinwachsen. Bei
ca. 600°C ist dieser Vorgang abgeschlossen, d.h. der Werkstoff dehnt sich bis zu dieser
Temperatur vorerst nicht aus. Bei höheren Temperaturen entspricht der WAK wieder der
Summe der Ausdehnungskoeffizienten aller kristallograpischen Achsen.
3.2.3 Thermische Ausdehnung von ZrO2
ZrO2 zeigt bei etwa 1100 °C eine reversible Umwandlung von der monoklinen in die
tetragonale Modifikation, was mit einer theoretischen Volumenschrumpfung von etwa 12%
verbunden ist. Dies macht sich deutlich in der Dilatometerkurve bemerkbar, wie die
3. Thermische Eigenschaften
ausgezogene
Kurve
- 135 -
in
Abb.
3.2.9
zeigt.
Monoklines
ZrO2
hat
einen
-6 -1
Ausdehnungskoeffizienten von etwa 8⋅10 K während tetragonales ZrO2 zwischen 1150 °C
-6 -1
und 1700 °C einen Ausdehnungskoffizienten von etwa 21x10 K
verzögerte
Umwandlung
tetragonal-monoklin
sind
aufweist. Für die
Keimbildungsschwierigkeiten
verantwortlich zu machen. Durch Zusätze geeigneter Oxide lässt sich die kubische
Hochtemperaturmodifikation von ZrO2 stabilisieren und damit die störende Umwandlung bei
1000 bis 1200 °C vermeiden. Sehr gute Thermoschockeigenschaften lassen sich mit
teilstabilisiertem
Zirkonoxid
und
damit
durch
Einstellung
eines
sehr
niedrigen
Ausdehnungskoeffizienten erzielen.
Dilatometerkurven von ZrO2 [12]
Abb. 3.2.9
- 136 -
3.3 Thermische Leitfähigkeit
3.3 Thermische Leitfähigkeit
Für den Wärmetransport in keramischen Werkstoffen ist vor allem die Wärmeleitung
verantwortlich.
Bei
höheren
Temperaturen
ist
daneben
die
Wärmestrahlung
zu
berücksichtigen. Der Beitrag der Konvektion zum Wärmetransport kann im allgemeinen
vernachlässigt werden. Herrscht in einem Medium das Temperaturgefälle dT/dx, dann fließt
in der Zeit t senkrecht zur Fläche F die Wärmemenge Q nach
Q
dT
= λF .
t
dx
(3.3.1)
In Gleichung 3.3.1 stellt der Proportionalitätsfaktor λ die Wärmeleitfähigkeit dar. Die
physikalische Dimension von λ ist cal cm-1 sec-1 K-1, die technische Dimension kcal m-1 h-1
1
K- , die Si-Einheit ist W/mK. Aus Versuchen erhält man meist einen Wert λ g, der sich aus
den Beiträgen der reinen Wärmeleitfähigkeit λ l und der Wärmestrahlung λ st zusammensetzt
nach
λ g = λ l + λ st .
(3.3.2)
Ist die Temperatur in irgendeiner Ortskoordinate zeitlich nicht konstant, hängt die
Geschwindigkeit der Wärmeleitung von dem Verhältnis der Wärmeleitfähigkeit zur
Wärmekapazität pro Volumen (also dem Produkt aus Dichte ρ und spezifischer Wärme cp) ab.
Dieses Verhältnis heißt Temperaturleitfähigkeit (thermal diffusivity) und hat die gleiche
Dimension wie der Diffusionskoeffizient (cm2 /s).
Aus der Wärmeleitfähigkeit lässt sich die Temperaturleitfähigkeit α ermitteln nach
α=
λ
,
cρ
(3.3.3)
worin c = spezifische Wärme und ρ = Dichte. α ist bestimmend für die Geschwindigkeit des
Temperaturausgleichs.
In Gasen wird die Wärme durch gegenseitigen Stoß der Moleküle übertragen, woraus sich
3.3 Thermische Leitfähigkeit
- 137 -
ergibt
1
λ gas = c v l,
3
(3.3.4)
mit c = spezifische Wärme pro Volumeneinheit, v = Geschwindigkeit der Moleküle und
l = mittlere freie Weglänge der Moleküle. In Festkörpern sind die Teilchen nicht frei, führen
aber Gitterschwingungen aus. Da diese nicht harmonisch sind, können sie die Wärme nach
Debye in Form von Gitterwellen übertragen. Eine einfache Deutung der reinen
Wärmeleitfähigkeit in Festkörpern ergibt sich, wenn man in Analogie zu den Photonen bei
den elektromagnetischen Wellen die Gitterwellen als Phononen auffasst. Dann erhält man
eine der Gleichung 3.3.4 entsprechende Gleichung
1
λ l , fest = c v p l p ,
3
(3.3.5)
in der jetzt vp = Geschwindigkeit der Phononen und lp = deren mittlere freie Weglänge der
Phononen ist.
Mit Hilfe von Gleichung 3.3.5 ist es möglich, die Temperaturabhängigkeit der Wärmeleitfähigkeit zu erklären, wobei zunächst der Einfluss der spezifischen Wärme betrachtet werden
soll. Diese ist am absoluten Nullpunkt gleich Null, steigt zunächst proportional T3 und dann
nach einer Funktion an, in die die sog. charakteristische oder Debyetemperatur θ = h·ν/k
eingeht (h = Plancksches Wirkumsquantum, k = Boltzmannsche Konstante, ν = Frequenz der
Eigenschwingung). Bei hohen Temperaturen geht
nach der Dulong-Petitschen Regel cp
gegen x · 6,2 cal mol-1K-1 = x · 25,96 J mol-1K-1, wobei x die Zahl der Elemente in einer
Verbindung darstellt (vgl. Kap. 3.1).
Dieser konstante Wert wird um so eher erreicht, je kleiner θ, je geringer also die
Schwingungsfrequenz ν ist. Diese wiederum ist um so geringer, je schwerer die
schwingenden Atome sind. So liegt θ für Graphit bei 1700 °C, für BeO bei 900 °C und für
Al2O3 bei 650 °C.
- 138 -
3.3 Thermische Leitfähigkeit
WLF eines Al2O3-Einkristalls über einen weiten Temperaturbereich [8]
Abb. 3.3.1
Der Anstieg der Wärmeleitfähigkeit bei tiefen Temperaturen muss also zunächst entsprechend
Gleichung 3.1.19 auch proportional T3 erfolgen, jedoch gilt diese Abhängigkeit nur für T <<
θ. Bei höheren Temperaturen strebt die spezifische Wärme einem konstanten Wert zu, hat
also dann keinen ändernden Einfluss mehr auf λ. Für die meisten Oxide wird im Bereich um
1000 °C die spezifische Wärme nahezu unabhängig von der Temperatur.
In dem für die Praxis interessanten Bereich haben theoretische Betrachtungen ergeben, dass
mit steigender Temperatur die Dichte der Phononen zunimmt und dadurch sich deren mittlere
Weglänge l verringert, so dass l und damit auch λ proportional 1/T wird. Dazwischen muss
ein Maximum von λ liegen, das bisher erst wenig untersucht wurde. Für MgO und Al2O3 liegt
es bei 40 K (Abb. 3.3.1). Bei allen hier interessierenden Verbindungen befindet man sich
oberhalb Raumtemperatur im Bereich der mit steigender Temperatur fallenden λ-Werte, wie
es auch die meisten Kurven der Abb. 3.3.2 zeigen [12].
3.3 Thermische Leitfähigkeit
- 139 -
WLF von Kieselglas und einiger, auf 0% Porosität korrigierter Werkstoffe [12]
Abb. 3.3.2
In Abb. 3.3.2 treten einige bemerkenswerte Ausnahmen auf. Der Wiederanstieg von λ bei
hohen Temperaturen für z.B. MgO und Al2O3 ist durch den beginnenden Strahlungseinfluss
bedingt, der weiter unten diskutiert wird. Die anderen Erscheinungen lassen sich mit der
mittleren freien Weglänge der Phononen erklären. Es wurde bereits gesagt, daß diese wegen
der zunehmenden Phononendichte mit steigender Temperatur abnimmt, da dann mehr Stöße
untereinander erfolgen. Überschlagsrechnungen von Kingery haben für Raumtemperatur
Werte von l in der Größenordnung von 50 Å ergeben. l kann aber höchstens bis zur Größe der
Gitterdimension abnehmen, was bei etwa 1200 °C erreicht ist, so dass dann λ unabhängig von
der Temperatur wird. Daneben wird aber l noch durch Stöße an Kristallgrenzen und an
Fehlstellen
verringert,
ein
Effekt,
der
temperaturunabhängig
ist.
Hohe
Fehlstellenkonzentration, wie sie im stabilisierten ZrO2 vorliegt, hat geringe l-Werte und
damit auch λ-Werte zur Folge. Ähnliches gilt für das Kieselglas, das wegen der fehlenden
Fernordnung in der Struktur nur eine geringe mittlere freie Weglänge der Phononen erlaubt
(etwa 5 Å), so dass dessen Temperaturabhängigkeit von λ nur noch von der spezifischen
Wärme bestimmt wird.
Der Beitrag der Wärmestrahlung bei hohen Temperaturen wurde bereits erwähnt. Für ihn gilt
λ st =
16 2 3
σn T l st
3
(3.3.6)
- 140 -
3.3 Thermische Leitfähigkeit
mit σ = Stefan-Boltzmannsche Konstante, n = Brechungsindex und lst = mittlere freie
Weglänge, jetzt der Photonen. Dieser Beitrag steigt wegen der T3-Abhängigkeit bei hoher
Temperatur rasch an. Bei mittlerer Temperatur hängt er vom Brechungsindex für die
Wellenlänge der Temperaturstrahlung ab, die im infraroten Gebiet liegt. Deshalb zeigt das
Kieselglas den Anstieg von λg oberhalb 500 °C. Das Elektroporzellan in Abb. 3.3.2 zeigt
wegen des hohen Anteils an Glasphase ebenfalls steigende λ-Werte. Die sich aus Gleichung
(3.3.6) ergebenden lst-Werte sind relativ groß. Lee und Kingery [8] haben sie für Al2O3Einkristalle bei 750 °C zu 10 cm abgeschätzt. Die Photonen können daher an Poren leicht
gestreut werden, wodurch lst stark erniedrigt wird und z.B. bei einer Porosität von 0,25 Vol.% in Al2O3 bereits auf 0,04 cm absinkt. Die Folge ist, dass sich der Strahlungseinfluss bei
nicht vollkommen dicht gesintertem Material erst bei höherer Temperatur bemerkbar machen
kann und oft erst oberhalb 1200 °C erkennbar wird.
3.3.1 Wärmeleitfähigkeit von mehrkomponentigen keramischen Werkstoffen
Die meisten keramischen Werkstoffe sind Mischungen aus einer oder mehreren festen Phasen
mit glasigen Anteilen und Porosität. Die resultierende Wärmeleitfähigkeit des Werkstoffs ist
abhängig von der Menge und der Anordnung der einzelnen Phasen sowie von ihren
individuellen Wärmeleitfähigkeiten.
Idealisierte Phasenanordnungen [8]
a) parallele Schichten, b) kontinuierliche Hauptphase, c) kontinuierliche Nebenphase
Abb. 3.3.3
3.3 Thermische Leitfähigkeit
- 141 -
Modellbetrachtungen gehen von Grenzfällen über die geometrische Anordnung der Phasen im
Werkstoff aus (Abb. 3.3.3).
1. Plattenförmige Phasenanordnung
a) Fluss parallel zur Plattenrichtung
b) Fluss senkrecht zur Plattenrichtung
2. Kugelige Teilchen in einer umgehenden Matrix.
(Die Effekte der Matrix können sich umkehren in die der eingebetteten Teilchen.)
Zu 1a): Bei einem Wärmefluss parallel zur Plattenrichtung liegt eine einfache Analogie
einer parallelen Schaltung von Widerständen vor. Alle Platten liegen im gleichen
Temperaturgradienten und der größte Wärmefluss wird unter Berücksichtigung des
Volumenanteils relativ gesehen durch die Phase mit der größten WLF fließen. Es gilt:
λ M = λ 1 ⋅ V1 + λ 2 ⋅ V2
(3.3.7)
worin V1 und V2 die Volumenanteile der beiden Phasen sind, die man bei einem
entsprechend richtig gelegten Schnitt auch gleich den Flächenanteilen setzen kann.
Ist λ1 viel größer als λ2 dann gilt die Näherung:
λ M ≈ λ 1 ⋅ V1
(3.3.8)
(zum Beispiel für porige Güter bzw. Werkstoffe).
Zu 1b): Liegen die plattenförmigen Phasen senkrecht zum Wärmefluss, entsprechend einer
elektrischen Serienschaltung von Widerständen, dann ist der Wärmefluss durch jede Platte
hindurch gleich und für die WLF gilt
V V
1
= 1+ 2
λ M λ1 λ 2
(3.3.9)
bzw.
λM =
λ1 ⋅ λ 2
V1λ 2 + V2 λ 1
(3.3.10)
- 142 -
3.3 Thermische Leitfähigkeit
In diesem Fall wird die Gesamt-WLF durch die Komponente mit der niedrigsten WLF des
Mischkörpers bestimmt. Ist λ1 viel größer als λ2 so ergibt sich als Näherung:
λM ≈
λ2
V2
(3.3.11)
Zu 2): Im Falle der Dispersion einer kugeligen Phase in einer Matrix, muss man festlegen,
welcher Stoff die Matrixrolle übernimmt. Eine quantitative Formel von Eucken lautet:
λM = λ2
λ2 ⎞
⎛
⎜1−
⎟
λ1 ⎟
⎜
1 + 2 V1
⎜ 2 λ2 ⎟
⎜
⎟
⎝ λ1 + 1⎠
λ2 ⎞
⎛
⎟
⎜1−
λ1 ⎟
⎜
1 − V1
⎜ λ2 ⎟
⎟
⎜
⎝ λ1 + 1⎠
λ2
=
WLF der Matrixphase
λ1
=
WLF der kugelig dispergierten Phase
V1 =
(3.3.12)
Volumenanteil der kugeligen Phase
Für den Fall λ2»λ1 (d.h. z.B. λ1 = Poren) kann man die Eucken-Formel vereinfachen zu
λM ≈ λ2
1 − V1
,
1
1 + V1
2
(3.3.13)
woraus man in grober Nährung erhält
λM = λ2 (1-V1) mit V1 = Volumenanteil der Porosität.
(3.3.14)
Für den Fall λ2 « λ1 (z.B. Metall in Kunststoffmatrix) gilt:
λM ≈ λ2
1 + 2 V1
1 − V1
(3.3.15)
3.3 Thermische Leitfähigkeit
- 143 -
WLF im System MgO - MgSiO4 [8]
Abb. 3.3.4
Abb. 3.3.4 zeigt Ergebnisse im System MgO-MgSiO4. Neben den Messpunkten stellen die
jeweiligen dünnen Linien den Verlauf der Wärmeleitfähigkeit dar, wenn die entsprechende
Endphase die kontinuierliche Phase darstellen würde.
Einfluss der Porosität
Bei heterogenen feuerfesten Werkstoffen interessieren Wärmeleitungsvorgänge in der
Gasphase der Poren neben denen in der Feststoffphase. Wärme wird in einem Gas
transportiert, indem die Gasmoleküle im heißen Gebiet des Temperaturfeldes durch Stoß eine
zusätzliche Energie aufnehmen. Diese zusätzliche Energie diffundiert zur kalten Seite, indem
sie bei unzähligen Stößen auf immer wieder andere Gasmoleküle übertragen wird.
Wärmeleitfähigkeit von Gasen in Abhängigkeit von der Temperatur [13]
Abb. 3.3.5
- 144 -
3.3 Thermische Leitfähigkeit
Die Wärmeleitfähigkeit von Gasen steigt mit der Temperatur, wie Abbildung 3.3.5 zeigt. Die
meisten technisch bedeutsamen Gase haben mit Ausnahme des Wasserstoffes eine ungefähr
gleich große Wärmeleitfähigkeit, die wesentlich kleiner als die der festen Stoffe ist. Der
Wärmetransport durch Stoßprozesse ist der alleinige Transportmechanismus, wenn das Gas in
den Poren der feuerfesten Werkstoffe in relativ kleine Räume eingeschlossen ist, in denen
keine Strömung auftreten kann. Ist die Porengröße kleiner als die freie Weglänge der
Gasmoleküle (bei Raumtemperatur etwa ≤ 50 nm), so werden die Stöße der Gasmoleküle
behindert, und die Wärmeleitfähigkeit der Gase sinkt sprunghaft ab.
Nach gewissen Vereinfachungen ergibt sich für die Wärmeleitfähigkeit durch Strahlung
innerhalb der Poren nach Loeb:
λs = 4 γ d σ ε T3
(3.3.16)
mit d = Porendurchmesser, γ = Formfaktor, σ = Strahlungskonstante,
ε = Gesamtemissionsgrad
Die Wärmeleitfähigkeit nimmt danach linear mit der Porengröße ab (vgl. auch Gl. 3.3.14).
Wenn die Poren groß genug sind, so dass die mittlere freie Weglänge der Photonen kleiner ist
als die Porengröße, nimmt die Wärmeleitfähigkeit poröser Werkstoffe mit zunehmender
Temperatur zu, weil die Wärmestrahlung in den Gasen der Poren zunimmt (Abb. 3.3.6).
Wärmeleitzahl in Abhängigkeit von der Temperatur für zwei feuerfeste Baustoffe
Abb. 3.3.6
mit unterschiedlicher Porengrößenverteilung [13]
(dabei ist der mittlere Porendurchmesser für 2 kleiner gegenüber 1 bei gleichem Porenvolumenanteil)
3.3 Thermische Leitfähigkeit
- 145 -
Feuerfeste Werkstoffe sind heterogene poröse Mehrphasenkörper. Der Wärmetransport in
diesen feuerfesten Werkstoffen, wie z.B. in einem Schamottestein, erfolgt durch
Wärmeleitung im Feststoff und durch Strahlung in den Poren. Zunächst senkt die Porosität
die Wärmeleitfähigkeit stark, da die Wärmeleitfähigkeit in den Gasen der Poren deutlich
geringer ist als die Wärmeleitfähigkeit im Feststoff. Eine diskontinuierliche in den Poren
verteilte Gasphase senkt die Wärmeleitfähigkeit etwa linear mit der Porosität (siehe Gl.
3.3.14). Die effektive Wärmeleitfähigkeit besitzt immer dann ein Minimum in Abhängigkeit
von der Porosität, wenn die Strahlung bzw. die Konvektion am Wärmetransport beteiligt sind.
Das Minimum liegt mit steigender Temperatur bei geringeren Porositäten, weil der
Strahlungswärmetransport gegenüber dem Leitungswärmetransport stärker in Abhängigkeit
von der Temperatur zunimmt. Das Auftreten einer minimalen Wärmeleitfähigkeit in
Abhängigkeit von der Porosität bedeutet, dass es für Wärmedämmstoffe eine optimale
Porosität bzw. Rohdichte gibt, die den größten Wärmedämmeffekt hervorruft. Das Minimum
wurde experimentell an Schamotteleichtsteinen, Calciumsilicat-Materialien und feuerfesten
Phasen etwa bei folgenden Porositäten gefunden:
bei 25 °C
bei 200 °C
bei 400 °C
bei 600 °C
bei 800 °C
bei 1000 °C
98% Porosität
95% Porosität
92% Porosität
90% Porosität
85% Porosität
80% Porosität
Verschiedene Autoren haben versucht, die Wärmeleitfähigkeit poröser Werkstoffe
mathematisch zu erfassen (Tab. 3.3.1). Aufgrund der komplizierten Zusammenhänge sind die
Formeln in Tab. 3.3.1 üblicherweise jeweils nur unter bestimmten Voraussetzungen gültig
(Art des Werkstoffs, Porengrößenverteilung usw.).
- 146 -
3.3 Thermische Leitfähigkeit
Wärmetransportmodelle für feuerfeste Werkstoffe [13]
Tab. 3.3.1
Abb. 3.3.7 enthält eine Übersicht über die Wärmeleitfähigkeit repräsentativer feuerfester
Werkstoffe. Es ist auffallend, dass die Wärmeleitfähigkeit mit der Temperatur steigt, wenn sie
bei Raumtemperatur unter 1 W/mK liegt, und fällt, wenn sie bei Raumtemperatur wesentlich
höher als 1 W/mK ist. Dieses Verhalten erklärt sich aus den unterschiedlichen Anteilen an
Poren und Feststoff und dem erhöhten Strahlungswärmetransport in hochporösen, d.h. bei
Raumtemperatur wenig leitenden, bei hohen Temperaturen aber wärmedurchlässigen
Materialien. Umgekehrt besitzen niedrigporöse Werkstoffe wegen der hohen Wärmeleit-
3.3 Thermische Leitfähigkeit
- 147 -
fähigkeit der Feststoffphase bei Raumtemperatur eine große Wärmeleitfähigkeit, bei hohen
Temperaturen wegen des negativen Temperaturkoeffizienten der Feststoffe eine geringere
Wärmeleitfähigkeit.
WLF einiger Typen feuerfester Baustoffe in Abhängigkeit von der Temperatur [13]
Abb. 3.3.7
Für poröse feuerfeste Werkstoffe gelten folgende wesentliche Aussagen [13]:
•
Der innere Strahlungstransportanteil nimmt mit steigender Temperatur wesentlich
schneller zu als der Leitungsanteil. Bei hohen Temperaturen findet der Wärmetransport
weitgehend durch innere Wärmestrahlung statt.
•
Der Leitungsanteil wird bei konstanter Temperatur mit steigender Gesamtporosität
geringer.
•
Der Strahlungsanteil wird bei gleicher Temperatur mit kleinerem mittlerem
Porendurchmesser geringer. Er wird wesentlich von der Porengrößenverteilung
beeinflusst.
•
Bei gleicher Ausgangsporosität wird ein feuerfester Werkstoff mit kleinerem mittlerem
Porendurchmesser einen geringeren Anstieg der effektiven Wärmeleitfähigkeit in
- 148 -
3.3 Thermische Leitfähigkeit
Abhängigkeit von der Temperatur zeigen.
•
Bei Anisometrien bzw. Texturen, besonders bei der Porenvolumenstruktur, kann die
effektive Wärmeleitfähigkeit richtungsabhängig sein.
Fasst man alle dargestellten Aussagen zusammen, so kann man die Anforderungen an einen
feuerfesten Werkstoff mit minimaler bzw. maximaler Wärmeleitfähigkeit formulieren. Ein
Wärmedämmstoff mit optimalen Eigenschaften wird durch folgende Maßnahmen erhalten:
•
Die Porosität ist auf die Einsatztemperatur bzw. das zu dämmende Temperaturgefälle
abzustimmen. Die für die minimale Wärmeleitfähigkeit erforderliche Porosität sinkt mit
steigender Einsatztemperatur.
•
Die Poren sollen möglichst klein sein.
•
Das Feststoffgerüst soll aus locker gepackten Kristallstrukturen aus Atomen mit hoher
relativer
Atommasse
aufgebaut
sein,
komplizierte
Verbindungen
enthalten,
feinkristallin sein, eine hohe Fehlstellendichte, großen Brechungsindex und geringe
Transparenz aufweisen.
•
Risse und Grobporen, die einen konvektiven Wärmetransport ermöglichen, sind zu
vermeiden.
•
Den Wärmedämmstoffen können Stoffe zugesetzt werden, die den Strahlungstransport
behindern. Diese Maßnahme hat erfahrungsgemäß nur bis zu Temperaturen von unter
1000 °C einen Effekt.
Ein feuerfester Werkstoff mit maximaler Wärmeleitfähigkeit wird durch folgende
Maßnahmen erreicht:
•
Der feuerfeste Werkstoff soll weitgehend porenfrei sein.
•
Die Feststoffphase soll aus einer dichtgepackten Kristallstruktur aus Atomen mit einer
geringen relativen Atommasse aufgebaut sein, aus möglichst großen Kristallen mit einer
hohen Ordnung im Gitter, ohne Mikrorisse oder amorphe Anteile bestehen, möglichst
einphasig sein und eine hohe Transparenz besitzen.
•
Der Zusatz von Graphit oder SiC erhöht die Wärmeleitfähigkeit üblicher feuerfester
Werkstoffe. Für Sonderfälle ist BeO das Material mit der höchsten Wärmeleitfähigkeit.
•
3.3 Thermische Leitfähigkeit
- 149 -
Korngrenzeneinflüsse
Bei sehr niedrigen Temperaturen ist die mittlere freie Weglänge von Phononen sehr groß, was
zu dem Maximum in der Wärmeleitfähigkeit in Abb. 3.3.1. führt. Bei Raumtemperatur liegt
die mittlere freie Weglänge von Phononen in der Größenordnung von 100 Å, mit
zunehmender Temperatur nehmen diese Werte weiter ab. Die Kristallitgröße, die notwendig
ist für Phononenstreuung an den Korngrenzen, müsste also extrem klein sein. Ein Vergleich
der Wärmeleitfähigkeit von Einkristallen und polykristallinen Proben unterschiedlicher
Korngröße im Mikrometerbereich sind in Abb. 3.3.9 dargestellt.
WLF von Einkristallen und polykristallinem Al2O3, TiO2 und CaF2 [8]
Abb. 3.3.8
Für alle diese Materialien ist die Wärmeleitfähigkeit bei Temperaturen um etwa 200 °C in den
polykristallinen Materialien und in den Einkristallen identisch. Bei höheren Temperaturen
weichen diese Werte aufgrund der Photonenleitfähigkeit voneinander ab, polykristalline
Werkstoffe haben dann eine niedrigere Wärmeleitfähigkeit als Einkristalle (mittlere freie
Weglänge der Photonen liegt in der Größenordnung der Korngrößen und nimmt mit
steigender Temperatur zu).
- 150 -
3.4 Thermoschockverhalten
3.4 Thermoschockverhalten
Thermische Spannungen, d.h. durch thermische Behandlung hervorgerufene mechanische
Spannungen, können in einem Festkörper auf folgende Arten entstehen:
1.
Durch ein Temperaturgefälle innerhalb des Körpers entstehen ohne äußere Kräfte Zugund Druckspannungen (außer bei Werkstoffen deren thermischer Ausdehnungskoeffizient Null ist).
2.
Wenn das Ausdehnen oder Zusammenziehen eines Körpers beim Aufheizen oder
Abkühlen durch äußere Kräfte verhindert wird.
3.
Durch verschiedene Ausdehnungskoeffizienten verschiedener Phasen in Werkstoffen
(z.B. Glasphase, Mullitkristalle usw.) entstehen an den Phasengrenzen Spannungen, die
sich bei Temperaturänderungen schädlich auswirken können.
Übersteigen die thermischen Spannungen an irgendeiner Stelle im Körper die Zugfestigkeit
des Werkstoffs, so entstehen an dieser Stelle Risse, die u.U. zum vollständigen Bruch führen.
Da sich keramische Werkstoffe auch bei höheren Temperaturen nur gering plastisch
verformen, können sie thermische Spannungen nicht abbauen. Sie sind daher besonders durch
zeitliche oder örtliche Temperaturwechsel gefährdet. Drei Faktoren bestimmen die
Temperaturwechselbeständigkeit keramischer Werkstoffe:
1.
Faktoren der äußeren Beanspruchung: Darunter versteht man die Temperaturdifferenz,
d.h. die Höhe des Temperaturwechsels, der ein Körper ausgesetzt ist, und den
Wärmeübergangskoeffizienten, der ein Maß für die Heftigkeit des Thermoschocks ist.
2.
Geometrische Faktoren: Durch diese Faktoren werden die Größe und die Form eines
Werkstücks berücksichtigt.
3.
Materialeigenschaften: Dies sind vor allem die elastischen Konstanten wie E-Modul, GModul, Poissonkonstante, Bruchfestigkeit, Ausdehnungskoeffizient und Wärmeleitfähigkeit.
Die Faktoren der beiden ersten Gruppen bestimmen die Bedingungen und Heftigkeit des
3. Thermische Eigenschaften
- 151 -
Thermoschocks, während von den Faktoren der dritten Gruppe die Höhe der entstehenden
Spannungen und die Fähigkeit des keramischen Werkstoffes, diesen Spannungen zu
widerstehen, abhängt.
Der Ausdehnungskoeffizient keramischer Werkstoffe variiert in einem weiten Bereich.
Typischerweise erhöht sich die Länge eines 25 cm langen Rohres um etwa 0,25 cm, wenn es
auf 1000 °C erhitzt wird. Wenn das Bauteil homogen und isotrop ist, entstehen keine
Spannungen durch diese thermische Ausdehnung. Wenn allerdings die Ausdehnung
verhindert wird, z.B. durch kalte Einspannungen, können beträchtliche Spannungen
entstehen. Unter diesen Bedingungen sind die entstehenden Spannungen ähnlich, als würde
man die Probe frei ausdehnen lassen und dann durch von außen einwirkende Kräfte auf die
ursprüngliche Dimensionen komprimieren. Zwischen Spannung, E-Modul, elastischer
Verformung und Ausdehnungskoeffizient bestehen die folgenden Beziehungen:
σ = E⋅ε
(3.4.1)
ε=
Δl
l0
(3.4.2)
α=
Δl
l 0 ⋅ ΔT
(3.4.3)
ε = α ΔT
(3.4.4)
Aufheizen:
σ = E α ΔT
(3.4.5)
Abkühlen:
σ = -E α (T´-T0)
(3.4.6)
wobei E der E-Modul ist, α der lineare Ausdehnungskoeffizient, ε die plastische Dehnung, l0
die Ausgangslänge der Probe, T0 die Ausgangstemperatur, T´ die neue Temperatur und
ΔT=T´-T0. Für ein Rohr aus Al2O3 mit α (T´-T0) = 0,01 cm/cm und E = 390 GPa ergeben sich
bei ΔT = 1000 °C Spannungen von 390 MPa , die höher sind als die Zugfestigkeit der meisten
keramischen Werkstoffe. Beim Aufheizen entstehen Druckspannungen, da der Körper dazu
tendiert, sich gegen die zurückgehaltenen Gefügebestandteile auszudehnen, beim Abkühlen
können entsprechende Zugspannungen entstehen.
- 152 -
3.4 Thermoschockverhalten
Neben den aus thermischer Ausdehnung resultierenden Spannungen können Spannungen
auch aufgrund von Temperaturgradienten innerhalb eines Bauteils entstehen, wenn die freie
Ausdehnung eines jeden Volumenelements nicht gewährleistet ist. Die Behinderung der
freien Ausdehnung führt in diesem Falle zu Spannungen. Temperaturgradienten entlang eines
Aluminiumoxidrohres in einem Rohrofen dagegen führen nicht zu thermischen Spannungen,
da sich das Rohr entlang der Achse frei ausdehnen kann. Wäre dies nicht gegeben, würden
sehr große Spannungen auftreten, und das Rohr würde zerstört werden. Dort, wo diese
Freibewegung nicht gegeben ist, entstehen Spannungen, die wie oben aus dem Elastizitätsmodul, dem Ausdehnungskoeffizienten und der Temperaturverteilung berechnet werden
können.
Im folgenden sollen die Spannungen in einer großen Glasplatte berechnet werden, die
zunächst in kochendem Wasser auf 100 °C erhitzt wird und dann in einem Eisbad bei 0 °C
abgekühlt wird. Unter diesen Bedingungen ist die Geschwindigkeit des Wärmeübergangs von
der Oberfläche sehr groß. Die Oberfläche erreicht die neue Temperatur sehr schnell, während
das Innere der Glasplatte auf dem ursprünglichen Wert bei T0 = 100 °C verbleibt. Wenn sich
die Oberfläche frei bewegen könnte, würde sie sich um den Wert α (T0-T´) = 100 α
zusammenziehen. Da die Temperatur im Innern der Probe nach wie vor T0 = 100°C beträgt,
entstehen Zugspannungen an der Oberfläche. Um das Spannungsgleichgewicht zu erhalten,
müssen im Innern der Probe entsprechende Druckspannungen entstehen. Die entstehenden
durchschnittlichen Spannungen lassen sich berechnen zu
σy = σz =
Eα
(T∅ − T)
1− μ
(3.4.7)
mit T∅ = durchschnittliche Temperatur der Probe.
T = Temperatur an einer beliebigen Stelle der Probe.
Die maximal zulässig Temperaturdifferenz, der die Probe ohne Rissbildung ausgesetzt
werden kann, ergibt sich dann zu
σ (1 − μ )
(3.4.8)
E ⋅α
Zu Beginn des Versuches, wenn die Temperatur im Innern 100 °C und die OberflächenΔTmax =
temperatur 0 °C beträgt, errechnen sich für ein Glas mit E = 107 psi, α=10.10-6 cm/(cm K) und
3. Thermische Eigenschaften
- 153 -
ν = 0,20 Spannungen σy bzw. σz zu 12 500 psi. Dies liegt deutlich über der Bruchspannung
von ca. 10 000 psi, so dass erwartet werden kann, dass dieses Glas unter den genannten
Bedingungen beim Thermoschock bricht. Bei Gläsern mit niedrigeren Ausdehnungskoeffizienten entstehen dagegen sehr viel niedrigere Spannungen, so dass z. B. Pyrex- oder
Silicagläser unter diesen Bedingungen nicht zerstört würden.
Die resultierenden Spannungen, die beim Heizen oder Kühlen von Proben unterschiedlicher
Geometrie entstehen, sind in Tabelle 3.4.1 dargestellt.
Spannungen an Oberflächen und im Zentrum verschiedener Formkörper [8]
Tab. 3.4.1
Ta=mittlere Probentemperatur, Ts=Oberflächentemperatur und Tc=Temperatur im Probeninneren
Man erhält ein unterschiedliches Spannungsbild, je nachdem, ob der Wärmeübergang
zwischen dem äußeren Medium und dem keramischen Körper groß oder klein ist. In ersterem,
- 154 -
3.4 Thermoschockverhalten
gerade oben betrachteten Fall, z.B. beim Tauchen in Wasser bei 0° (mit einer
Wärmeübergangszahl h ∼ 0,2 cal/cm2 sec °C), besteht wegen der relativ geringen
Wärmeleitung zwischen Oberfläche und der darunter liegenden Schicht ein großer
Temperaturunterschied. Ist der Wärmeübergang dagegen klein, z.B. beim Abkühlen in Luft
(h ∼ 0,002 cal/cm2 sec °C), dann findet ein Temperaturausgleich statt, und die
Temperaturwechselbeständigkeit wird abhängig von der Temperaturleitfähigkeit des
keramischen Werkstoffs, dem Wärmeübergangskoeffizienten und der Probendimension.
Dieses dimensionslose Verhältnis wird Biot-Zahl genannt
β=
rm h
λ
(3.4.9)
mit rm = Radius eines erhitzten Stabes.
Für relativ niedrige Übergangskoeffizienten, die üblicherweise unter den Bedingungen
auftreten, bei denen der Wärmeübergang durch Konvektion und Strahlung gegeben ist, gilt
σ max =
σ f (1 − ν)
r h
= 0.31 m
Eα (T0 − T' ) max
λ
(3.4.10)
σf = Bruchspannung
ΔTmax =
σ f (1 − ν)
λ
⋅
0.31rm h
Eα
(3.4.11)
ΔTmax=maximale Temperaturdifferenz beim Abschrecken
Aus dem Gezeigten wird klar, dass die Temperaturwechselbeständigkeit nicht durch einen
einzigen Parameter charakterisiert werden kann. Sie ist abhängig von den Abschreckbedingungen und der Geometrie des Bauteils.
Die
maximale
Abschrecktemperatur,
der
ein
Körper
in
Abhängigkeit
Wärmeübergangsbedingungen widerstehen kann, ist in Abb. 3.4.1 dargestellt.
von
den
3. Thermische Eigenschaften
Maximale Abschrecktemperaturen einiger Werkstoffe
- 155 -
Abb. 3.4.1
in Abhängigkeit von der Wärmeübergangszahl h [12]
Man erkennt, dass bei hohen Übergangskoeffizienten die Kurven parallel zur Abszisse laufen,
also keine Abhängigkeit von der Form besteht. Bei geringen h-Werten ist dagegen auch eine
Abhängigkeit von b, also von der Form vorhanden. Die ΔTmax-Werte sind aber in ruhender
Luft sehr hoch, so dass nur bei sehr dicken Gegenständen ein Reißen zu befürchten ist. Die
Wärmeübergangszahl nimmt mit steigender Strömungsgeschwindigkeit der Luft zu
(Tab.3.4.2) und kann Werte bis zu h = 0,03 cal/cm2 sec °C erreichen. Dadurch wird ΔTmax
stark erniedrigt. Aus Abb. 3.4.1 ist außerdem zu erkennen, dass sich einige Kurven
überschneiden. Man kann daher keine bestimmte Reihenfolge für die TWB verschiedener
Werkstoffe angeben, da diese von der Art der Beanspruchung abhängt.
Wärmeübergangskoeffizienten für verschiedene Abschreckbedingungen [8]
Tab. 3.4.2
- 156 -
3.4 Thermoschockverhalten
Die Temperaturwechselbeständigkeit kann auch vom Standpunkt der Bruchmechanik aus
betrachtet werden. Wenn die thermischen Spannungen in einem Bauteil die theoretische
Zugfestigkeit überschreiten, entstehen Risse, was zu einer spontanen Abnahme der Festigkeit
führt (Abb. 3.4.2).
Thermoschockverhalten von Keramik [8]
Abb. 3.4.2
Die neu entstandene Risslänge ist zunächst unterkritisch, die Temperaturdifferenz beim
Thermoschock muss zur weiteren Rissverlängerung über eine neue kritische Temperaturdifferenz erhöht werden (Abb. 3.4.2).
Bei einer weiteren Temperaturerhöhung bei Thermoschockuntersuchungen kommt es zu
einem quasi-statischen Risswachstum und entsprechender weiterer Abnahme der Festigkeit
(Abb. 3.4.2). Je nach Abkühl- und Wärmeübergangsbedingungen wird das Verhalten
keramischer Werkstoffe häufig durch die beiden Thermoschockparameter
3. Thermische Eigenschaften
- 157 -
R=
σ f (1 − μ )
E⋅α
(3.4.12)
R′ =
σ f (1 − μ )
⋅λ
E ⋅α
(3.4.13)
oder
beschrieben, die lediglich eine Vereinfachung von Gl. 3.4.11 darstellen. Kurven in der Form
von Abb. 3.4.2 sind der Praxis häufig beobachtet worden, so z.B. an polykristallinen
Aluminiumoxidproben mit unterschiedlicher Korngröße (Abb. 3.4.3).
Thermoschockverhalten von Al2O3 [8]
Abb. 3.4.3
Die elastischen Konstanten und die thermischen Eigenschaften keramischer Werkstoffe lassen
sich durch Variation von Gefügeparametern in weiten Grenzen beeinflussen Abb. 3.4.4, 3.4.5
und 3.4.6 zeigen dies am Beispiel von Si3N4-Werkstoffen.
- 158 -
3.4 Thermoschockverhalten
Temperaturleitfähigkeit von HPSN als Funktion des β-Gehaltes
Abb. 3.4.4
Morphologie der a- und ß-Phase in RBSN
Abb. 3.4.5
Einfluß der Gefügeparameter auf die TWB von RBSN
Abb. 3.4.6
3. Thermische Eigenschaften
- 159 -
Dies hat zur Folge, dass auch das Thermoschockverhalten keramischer Werkstoffe sehr stark
durch die Gefügeparameter beeinflusst werden kann, was sich in der starken Streuung der
kritischen Temperaturdifferenz nach Wasserabschreckung verschiedener keramischer
Werkstoffe bemerkbar macht (Abb. 3.4.7).
Festigkeit (RT) als Funktion der Abschrecktemperaturdifferenz nach Wasserabschreckung
Abb. 3.4.7
(22°C) für verschiedene Konstruktionskeramiken
Abb. 3.4.8 zeigt, dass auch durch Variation der Abschreckbedingungen und damit durch
Variation der Wärmeübergangszahl die kritische Temperaturdifferenz von RBSN in weiten
Bereichen variiert werden kann.
Festigkeit von RBSN als Funktion der Temperaturdifferenz
beim Abschrecken in H2O und Öl
Abb. 3.4.8
- 160 -
4.1 Korrosion
4. Chemische Eigenschaften
4.1 Korrosion
Korrosionsvorgänge sind in der Keramik, der Glastechnologie und der Metallurgie von großer
Bedeutung. Dabei spielen Reaktionen zwischen Festkörpern (z.B. in Ofenausmauerungen),
Gas-Festkörper-Reaktionen (Verdampfung und chemische Reaktionen oder Oxidation) und
Flüssigkeit-Festkörper-Reaktionen (z.B. Angriff feuerfester Substanzen durch Schlacken und
Glasschmelzen) eine große Rolle. Die Hauptschwierigkeiten bei der Beschreibung von
Korrosionsprozessen liegen zum einen in der großen Zahl an Variablen (Temperatur, Dichte,
Konzentration, Viskosität, Benetzung, Grenzflächenspannung, Porosität usw.) und z.a. in der
Kinetik der zeitlich und räumlich gleichzeitig ablaufenden und sich gegenseitig
beeinflussenden
Elementarprozesse
(Diffusion,
Lösungsvermögen,
Reaktion,
Phasenneubildung, thermische- und Grenzflächenkonvektionen, Verdampfung, Zersetzung,
Kondensation usw.). Die grundlegendsten dieser Prozesse werden im folgenden einzeln und
teilweise in ihrer Wechselwirkung dargestellt.
4.1.1 Reaktionen zwischen Feststoffen
Betrachten wir eine Reaktion, bei der zwei Feststoffe (in diesem Fall NiO und Al2O3) bei
erhöhten Temperaturen eine Reaktionsschicht bilden, in diesem Fall einen Nickelaluminatspinell (NiAl2O4). Es gibt viele mögliche Reaktionswege, fünf davon sind
schematisch in Abb. 4.1.1 gezeigt. Die Spinellbildung könnte durch die Diffusion von A2+Ionen, B3+-Ionen oder O2--Ionen, durch den Transport von Elektronen (Leerstellen), durch
den Transport von O2-Gas oder durch Reaktionen an der Grenzfläche AO-AB2O4 oder
AB2O4-B2O3 kontrolliert werden.
4. Chemische Eigenschaften
- 161 -
Schematische Darstellung von Festkörperreaktion zur Spinellbildung [8]
Abb. 4.1.1
Wenn Diffusionsvorgänge die Reaktionsgeschwindigkeit bestimmen, gelten folgende
Beziehungen:
x
=
gebildete Schichtdicke
D
=
Diffusionskoeffizient
K
=
Konstante
t
=
Zeit
dx k ⋅ D
=
dt
x
(4.1.1)
∫ x dx = k ⋅ D dt
(4.1.2)
x
= ( k ' t ) 1/ 2
(4.1.3)
x2
= k' t
(4.1.4)
- 162 -
4.1 Korrosion
Die Reaktionsgeschwindigkeit ist also reziprok abhängig von der Dicke der gebildeten
Schicht und es wird eine parabolische Abhängigkeit der Bildung des Reaktionsprodukts von
der Zeit beobachtet, bzw. eine lineare Abhängigkeit zwischen dem Quadrat der
Reaktionsschichtdicke und der Zeit (Abb. 4.1.2).
Schichtdicke von NiAl2O4 als Funktion der Reaktionszeit (Argonatmosphäre) [8]
Abb. 4.1.2
Abb. 4.1.3 zeigt eine NiAl2O4-Schicht, die sich zwischen einer NiO- und einer Al2O3-Schicht
bei 1400°C nach 73 Stunden gebildet hat.
Schnittbild einer NiAl2O4-Schicht gebildet nach 73h bei 1400°C [8]
Abb. 4.1.3
4. Chemische Eigenschaften
- 163 -
In der Praxis werden häufig sehr anwendungsnahe Untersuchungen zur Beobachtung der
Korrosionsneigung
der
Materialien
durchgeführt.
Schamotteerzeugnisse
zeigen
beispielsweise oberhalb 1500°C intensive zerstörende Reaktionen im Kontakt mit MgO- und
kieselsäurereichen Erzeugnissen. Für den praktischen Ofenbau ist die Kenntnis solcher
korrodierender Kontaktwirkungen wesentlich, weil davon die Kombinationsfähigkeit
verschiedener feuerfester Werkstoffe in einer Anlage bestimmt wird. In Abb. 4.1.4 ist
schematisch die Kontaktwirkung verschiedener feuerfester Baustoffe miteinander dargestellt.
Diese empirischen Untersuchungen sind für den Anwendungstechniker ebenfalls von großer
Bedeutung.
Kontaktwirkung verschiedener feuerfester Baustoffe miteinander [16]
Abb. 4.1.4
4.1.2 Gas-Festkörper-Reaktionen
Die einfachste Art von Gas-Festkörper-Reaktionen sind Verdampfungs- und thermische
Zersetzungsvorgänge eines Festkörpers. Die Zersetzungsgeschwindigkeit ist abhängig von
thermodynamischen treibenden Kräften, von der Kinetik der Oberflächen-Reaktionen, dem
Zustand der reagierenden Oberfläche und von der jeweiligen Atmosphäre. Hochtemperaturoxide verdampfen beispielsweise in Vakuum sehr viel schneller als in Luft.
- 164 -
4.1 Korrosion
a) Verdampfung von SiO2
Der Verlust von SiO2 aus Gläsern und feuerfesten keramischen Werkstoffen in reduzierender
Atmosphäre ist ein wichtiger Faktor, der die Anwendung dieser keramischen Produkte
limitiert.
Betrachten wir zunächst die Reaktion, die die Verdampfung von SiO2 bestimmt:
2 SiO2 (s) ⇔ 2 SiO (g) + O 2 (g).
(4.1.5)
Bei 1320°C berechnet sich die Gleichgewichtskonstante nach
Keq =
P 2 S i O ⋅ PO 2
a
2
= 10 −25 .
(4.1.6)
SiO 2
Nimmt man an, dass die Aktivität a von SiO2 konstant ist, wird offensichtlich, dass der
Sauerstoffpartialdruck den Partialdruck von SiO (g) und daher die Geschwindigkeit der
Verdampfung kontrolliert. In reduzierenden Atmosphären (inerte Atmosphäre, H2- oder COAtmosphäre) beträgt PO 2 = 10-18 atm, der SiO-Druck beträgt 3 ⋅ 10-4 atm. Die Verdampfungsgeschwindigkeit in der Nähe des Gleichgewichts ist nach Knudsen
A Pi α i
dn i
=
dt
2 π M i RT
(4.1.7)
wobei dni/dt den Verlust der Komponente i in mol/Zeiteinheit darstellt, A die
Probenoberfläche, αi der Verdampfungskoeffizient (≤ 1), M das Molekulargewicht von i und
Pi der Dampfdruck von i über der Probe ist. Bei hoher Gasgeschwindigkeit über der Probe
oder bei Verdampfung im Vakuum stellt sich über der Probe kein Gleichgewichtsdampfdruck
ein und die Verdampfungsgeschwindigkeit wird durch die Reaktionsgeschwindigkeit an der
Grenzfläche bestimmt. Für die Verdampfung von SiO2 nach Gleichung 4.1.5 errechnet sich
mit Gleichung 4.1.7 eine Verlustrate von ungefähr 5 ⋅ 10-5 mol SiO2/cm2 sec bei 1320°C.
4. Chemische Eigenschaften
- 165 -
Abb. 4.1.5 zeigt den Gewichtsverlust von Ziegeln mit unterschiedlichen SiO2-Gehalten bei
1425°C in Wasserstoffatmosphäre. Die Zersetzungsreaktion lautet:
H2 (g) + SiO2 (s) = SiO (g) + H2O
Gewichtsverlust von Ziegeln mit unterschiedlichen SiO2-Gehalten
(4.1.8.)
Abb. 4.1.5
beim Glühen in Wasserstoffatmosphäre [8]
b) Oxidation
1) Thermodynamische Überlegungen
Am Beispiel von Siliciumnitrid ist in Abb. 4.1.6. gezeigt, dass dieser Werkstoff nur bei
moderaten Stickstoff- und sehr niedrigen Sauerstoffpartialdrücken stabil ist. Die
thermodynamischen Daten lassen erkennen, dass Siliciumnitrid zu festem SiO2 oxidiert und
dabei gasförmigen Stickstoff freisetzt, nach der Gleichung:
Si 3 N 4 (s) + 3 O 2 (g) → 3 SiO 2 (s) + 2 N 2 (g)
(4.1.9)
- 166 -
4.1 Korrosion
Stabilität von Si3N4 und anderen Phasen [18]
Abb. 4.1.6
Unter oxidierenden Bedingungen führt diese Reaktion zu einer passivierenden SiO2-Schicht
auf der Siliciumnitridoberfläche, die eine weitere Oxidation verhindert. Bei sehr niedrigen
Sauerstoffpartialdrucken ist es möglich, dass sich festes Si3N4 unter Bildung von
gasförmigem SiO zersetzt. Dies geschieht nach der Gleichung:
2Si3N4 (s) + 3O2 (g) → 6SiO (g) + 4N2 (g)
(4.1.10)
In diesem Fall entsteht keine passivierende Oxidationsschicht und die Korrosionsgeschwindigkeit hängt im wesentlichen vom SiO-Dampfdruck und der Strömungsgeschwindigkeit des Gases ab.
Ein weiteres Beispiel für die thermodynamische Betrachtung der Zersetzung ist Urandioxid
(UO2), Kernbrennstoff in den meisten Kernreaktoren. Die thermodynamischen Eigenschaften
dieses Oxids zeigen, dass es als Kernbrennelement in Kontakt mit Sauerstoff zu U3O8 oder
UO3 oxidiert wird. Diese Oxidation ist mit einer großen Volumenveränderung und damit
Rissbildung und Abplatzungen verbunden, so dass sie in Reaktoren durch Kapselung oder die
Verwendung einer inerten Gasatmosphäre verhindert werden muss. Darüber hinaus reagiert
Urandioxid mit Wasser oder wässrigen Lösungen zu Uranhydroxiden, was hier aber nicht
näher betrachtet werden soll.
4. Chemische Eigenschaften
- 167 -
2) Zersetzungsmechanismus
Die Oxidation von nichtoxidischen, keramischen Festkörpern kann prinzipiell nach drei
grundsätzlichen Reaktionsmechanismen erfolgen.
a)
Die Auflösungsgeschwindigkeit wird kontrolliert durch die direkte Reaktion an der
Festkörperoberfläche mit dem strömenden Gas. Nimmt man an, dass sich der
Oberflächenzustand nicht wesentlich ändert, so folgt diese Zersetzung einer linearen
Abhängigkeit, wobei
dQ
= kc
dt
(4.1.11)
Q = Gesamtmasse der aufgelösten Bestandteile pro Einheitsfläche des
Festkörpers
kc = lineare Geschwindigkeitskonstante
t = Zeit
b)
Die Zersetzungsgeschwindigkeit wird durch Diffusion chemischer Spezies aus der
Matrix des Festkörpers in die gasförmige Umgebung kontrolliert. Die Bildung des
Reaktionsprodukts an der Oberfläche folgt dann einer parabolischen Gleichung gemäß
Q = ( k p ⋅ t ) 1/ 2
(4.1.12)
kp ist darin die parabolische Geschwindigkeitskonstante.
c)
In vielen Fällen kommt es zu einer Überlagerung der unterschiedlichen Zersetzungsmechanismen und in Abhängigkeit von der Zeit können sowohl lineare als auch
parabolische Abhängigkeiten beobachtet werden.
Darüber hinaus kommt es bei zyklischer Beanspruchung zu Oberflächenabplatzungen,
wodurch keine stationären Bedingungen mehr gegeben sind und sich die verschiedenen
Zersetzungsmechanismen ebenfalls überlagern können.
- 168 -
4.1 Korrosion
3) Temperatureinfluss auf die Reaktionskinetik
Die Reaktionsgeschwindigkeiten sind im allgemeinen von der Temperatur abhängig. Wenn
sich die Reaktionsmechanismen in Abhängigkeit der Temperatur nicht ändern, dann kann die
Temperaturabhängigkeit der Geschwindigkeitskonstanten k durch den bekannten ArrheniusAnsatz beschrieben werden:
⎛ E ⎞
k = k 0 exp ⎜ − a ⎟
⎝ RT ⎠
(4.1.13)
wobei Ea die Aktivierungsenergie des geschwindigkeitsbestimmenden Prozesses, R die
Gaskonstante und T die absolute Temperatur darstellen. Die Aktivierungsenergie Ea wird
ermittelt, indem man ln k gegen 1/T aufträgt. Die Zusammenhänge sollen im folgenden am
Beispiel der Oxidation von Siliciumnitrid näher erläutert werden.
Die Gewichtszunahme von Si3N4 während der Oxidation läuft für die meisten Werkstoffe
diffusionskontrolliert ab und kann durch die parabolische Funktion
Q2= (Δm / A)2 = kp..t
(4.1.14)
beschrieben werden, wobei Δm/A die Gewichtszunahme pro Flächeneinheit, t die Oxidationszeit und kp die parabolische Geschwindigkeitskonstante darstellt.
Oxidationskinetik von HPSN mit unterschiedlichen Arten
und Mengen an Sinterhilfsmitteln
Abb. 4.1.7
4. Chemische Eigenschaften
- 169 -
Die Geraden in Abb. 4.1.7 zeigen, dass dieses Gesetz für verschiedene Gehalte an
Magnesiumoxid, bzw. Yttriumoxid als Sinteradditiv Gültigkeit besitzt.
Bei der Verwendung von MgO oder Yttriumoxid als Sinteradditiv kommt es zur Diffusion
von Mg2+-bzw. Y3+-Kationen vom Innern der Probe an die Oberfläche (Abb. 4.1.8).
Schematische Darstellung der Oxidationsmechanismen von HPSN [15]
Abb. 4.1.8
Dies ist dadurch bedingt, dass die Glasphase bestrebt ist mit dem an der Oberfläche durch
Oxidation entstandenem SiO2 ins Gleichwicht zu kommen. Gleichzeitig ist die Glasphase der
Diffusionspfad von Sauerstoff bzw. gasförmigen Oxidationsprodukten (z.B. N2). Mit
steigendem MgO-Gehalt kann nun entweder der Anteil der während der Verdichtung
entstandenen Glasphase erhöht und/oder deren Viskosität erniedrigt werden. Beide Vorgänge
können zu einem Anstieg der parabolischen Geschwindigkeitskonstanten kp führen, wie in
Abb. 4.1.9 zu sehen ist.
- 170 -
4.1 Korrosion
Oxidationsgeschwindigkeitskonstanten verschiedener Si3N4-Qualitäten
Abb. 4.1.9
Bei der Verwendung von Y2O3 wird angenommen, dass der Anteil der gebildeten Glasphase
geringer ist, da nach der Oxidation kristalline Phasen aufgetreten sind und die Viskosität der
Glasphase wegen der höheren eutektischen Temperaturen in diesem System größer ist als bei
MgO-haltigen Proben. Beides führt zu einer geringeren Gewichtszunahme, was in Abb. 4.1.7
bestätigt wird. Die parabolische Geschwindigkeitskonstante kp liegt für die Oxidation von
MgO-haltigen Materialien je nach Temperatur zwischen 10-9 und 10-12 kg2 m-4s-1. Bei der
Verwendung von Yttriumoxid als Sinteradditiv liegt die Geschwindigkeitskonstante aufgrund
der höheren Viskosität der entstehenden Glasphase deutlich niedriger. Aus der Steigung der
Geraden in Abb. 4.1.9 lassen sich die Aktivierungsenergien der Oxidationsreaktionen
ermitteln.
4. Chemische Eigenschaften
- 171 -
4.1.3 Flüssig-Festkörperreaktionen
Ein wichtiges Beispiel der Kinetik von Flüssig-Festkörperreaktionen ist die Auflösungsgeschwindigkeit der Festkörper in Flüssigkeiten, was besonders wichtig ist bei der Korrosion
von feuerfesten keramischen Werkstoffen durch Schlacken und Gläser. Für die Auflösung
eines Festkörpers in einer Flüssigkeit ist kein Keimbildungsschritt notwendig. Der
geschwindigkeits-bestimmende Schritt der Gesamtreaktion ist die Reaktionsgeschwindigkeit
an der Phasengrenze. Die Reaktion an dieser Phasengrenze jedoch führt zu einer
zunehmenden Konzentration in der Grenzfläche. Material muss von der Grenzfläche
wegdiffundieren, um die Reaktion weiterlaufen zu lassen. Die Geschwindigkeit des
Materialtransports, also die Auflösungsgeschwindigkeit, wird durch Massetransport in der
Flüssigkeit kontrolliert, der durch molekulare Diffusion, freie und erzwungene Konvektion
ablaufen kann. Im folgenden werden verschiedene Einflussgrößen dieser Arte der Korrosion
und ihre empirischen Bestimmungsmethoden diskutiert.
a) molekulare Diffusion
Für einen stationären Zustand z.B. einer ungerührten Flüssigkeit ist die Auflösungsgeschwindigkeit durch Moleküldiffusion bestimmt. Die effektive Diffusionslänge, über die
Masse transportiert werden muss, ist proportional dt. Das bedeutet, dass die Änderung der
Probendicke, die proportional der aufgelösten Masse ist, sich mit
x≈
t ändert (Abb. 4.1.10).
D⋅t
Diffusion und Konzentrationsverlauf bei anfänglicher Stufenverteilung [1]
(4.1.15)
Abb. 4.1.10
- 172 -
4.1 Korrosion
So kann z.B. die Auflösung von Al2O3 in einer silikatischen Schlacke durch die Diffusion von
Kationen oder Anionen in Al2O3 oder in der Schlacke bestimmt werden. Dieses Beispiel zeigt
Abb. 4.1.11, in der die Auflösung von Saphir in einer CaO-Al2O3-SiO2-Schmelze mit 21
Gew.-% Al2O3 dargestellt ist. Derartige Beobachtungen werden nur bei sehr kurzen Zeiten zu
Beginn des korrosiven Angriffs gemacht.
Auflösung eines Saphir-Zylinders in CaO-Al2O3-SiO2 (21 Gew.% Al2O3) [8]
Abb. 4.1.11
b) Freie Konvektion
In dem Maße, in dem die Auflösung infolge von Diffusion fortschreitet, bilden sich Dichtedifferenzen in der angreifenden Flüssigkeit oder Schmelze aus. Dadurch entsteht letztendlich
eine Strömung aufgrund freier natürlicher Konvektion, die zu einer Erhöhung der
Korrosionsrate führen kann. Abb. 4.1.12 zeigt die Auflösungsgeschwindigkeit von Al2O3Einkristallen in CaO-Al2O3-SiO2-Schmelzen. Kennzeichnend ist die Tatsache, dass zwischen
ΔR und der Zeit t ein linearer Zusammenhang besteht.
Auflösung von Al2O3-Einkristallen in CaO-Al2O3-SiO2-Schmelzen [8]
Abb. 4.1.12
4. Chemische Eigenschaften
- 173 -
Freie Konvektion kann nicht nur durch Dichtegradienten entstehen, sondern auch durch
thermische Konvektion, die sich aufgrund von Temperaturgradienten z.B. in einer Glaswanne
einstellen.
c) Grenzflächenkonvektion
Eine andere Art der freien Konvektion tritt dann auf, wenn drei Stoffe aneinandergrenzen.
Liegt teilweise oder vollständige Mischbarkeit der Stoffe ineinander vor, so ist den
Grenzflächenenergien Gelegenheit zum Ausgleich gegeben. Damit ist normalerweise eine
Flüssigkeitsbewegung verbunden, die zu einer Vergrößerung der Stoffaustauschgeschwindigkeit führt. Je nach Größe bzw. Verhältnis der Grenzflächenspannungen treten
unterschiedliche Spaltungs- bzw. Wirbelphänomene auf. Für die Praxis wichtig ist das
Auftreten der sogenannten horizontalbevorzugten Korrosion (Spülkante, Spülfuge) und der
vertikal bevorzugten Korrosion (Lochfraß, Blasenbohren). Die Abb. 4.1.13 und 4.1.14 zeigen
schematische Darstellungen zu diesen Effekten.
Spülkanteneffekt [1]
Abb. 4.1.13
- 174 -
4.1 Korrosion
Lochfraßeffekt [1]
Abb. 4.1.14
d) Erzwungene Konvektion
Der Einfluss erzwungener Konvektion tritt bei Massedurchsatzströmung in Glaswannen oder
z.B. durch Rühren von Schmelzen und Schlacken auf. Im Labor sind verschiedene
Experimente zur Bestimmung dieser Art von Korrosion entwickelt worden. Beim
sogenannten „Fingertest“ wird ein zylindrischer Stab in eine Schmelze gesteckt und dabei
gedreht. Der Nachteil dieser Methode liegt darin, dass die Strömungsverhältnisse an der
Oberfläche bisher nicht bekannt sind. Im Gegensatz zu diesem Stabeintauchverfahren können
bei einer in einer Flüssigkeit rotierenden Scheibe die Strömungsverhältnisse für den Fall einer
laminaren Strömung berechnet werden. Abb. 4.1.15 zeigt derartige Versuchsergebnisse,
wobei die Korrosion in cm/sec der Quadratwurzel der Winkelgeschwindigkeit proportional
ist.
Auflösung einer Saphir-Scheibe [8]
Abb. 4.1.15
4. Chemische Eigenschaften
- 175 -
e) Benetzung
Das Benetzungsverhalten keramischer Werkstoffe wird durch ihre stofflichen und
Gefügeeigenschaften sowie durch stoffliche Merkmale der angreifenden Schlacken bzw.
Schmelzen beeinflusst. Eine geringe Benetzung, die durch einen großen Kontaktwinkel
gegeben ist, führt immer zu weniger intensiver Korrosion. In Abb. 4.1.16 ist unterschiedliches
Benetzungsverhalten dargestellt.
Darstellung eines unterschiedlichen Benetzungsverhaltens [16]
Abb. 4.1.16
Dabei gilt
cosϕ =
ϕ
=
γsv =
γ sv − γ sl
γ lv
(4.1.16)
Kontaktwinkel
Grenzflächenenergie Festkörper gegen Atmosphäre
γsl
= Grenzflächenenergie Festkörper gegen Flüssigkeit und
γlv
= Oberflächenenergie der Flüssigkeit
Abb. 4.1.17 zeigt Benetzungswinkel zwischen verschiedenen feuerfesten Baustoffen und
einer Glasschmelze in Abhängigkeit von der Einwirkzeit. Der Benetzungswinkel stellt sich
erst nach einer gewissen Einwirkungszeit auf einen für verschiedene feuerfeste Werkstoffe
charakteristischen Wert ein. Bei feuerfesten Werkstoffen trifft der Kontaktfall der Benetzung
im allgemeinen für Schlacken und Schmelzen immer zu, weil stofflich ähnliche
Kontaktparameter vorliegen. Eine besonders günstige Bedingung mit relativ hohem
Benetzungswinkel ergibt sich im Kontakt von silikatischen Schlacken und metallischen
Schmelzen mit Kohlenstoff.
- 176 -
4.1 Korrosion
Benetzungswinkel zwischen verschiedenen feuerfesten Baustoffen
Abb. 4.1.17
und einer Glasschmelze in Abhängigkeit von der Einwirkungszeit [16]
f) Oberflächeninfiltration
Durch offene Porosität der Oberflächenschicht der keramischen Werkstoffe wird die
Reaktionsfläche wesentlich erhöht. Dies begünstigt die Korrosion erheblich, wobei Poren mit
einem großen effektiven Porenradius besonders wirksam sind. Die Korrosion von
Schamotteerzeugnissen in Steinkohlenschlacken in Abhängigkeit von der offenen Porosität
bei verschiedenen Temperaturen zeigt Abb. 4.1.18.
Korrosion von Schamotteerzeugnissen in Steinkohlenschlacken (30%Fe2O3)
in Abhängigkeit von der offenen Porosität bei verschiedenen Temperaturen [16]
Abb. 4.1.18
4. Chemische Eigenschaften
- 177 -
Infolge der Kapillarwirkung von Poren können angreifende Schmelzen und Schlacken
feuerfeste Werkstoffe infiltrieren. Die Einsaughöhe h
max
ergibt sich durch die
Kapillaraktivität für einen bestimmten Temperaturbereich gemäß:
h max =
2γ lv cos ϕ
r ρ Fl
(4.1.17)
r = mittlerer Porenradius
ρFl = Dichte der benetzenden Flüssigkeit
Mit abnehmendem Porenradius nimmt also die Infiltrationstiefe zu. Bei geringer Benetzung
bzw. großem Kontaktwinkel wird die Infiltrationsneigung herabgesetzt.
Die Eindringtiefe bzw. Infiltration von Schmelzen und Schlacken in das feuerfeste Material
ist zeitabhängig und lässt sich für einen bestimmten Temperaturbereich angeben nach:
r γ lv cos ϕ
dh
=
dt
4ηh
(4.1.18)
bzw.
t=
2 η h2
r γ lv cos ϕ
(4.1.19)
Danach wird die Zeitabhängigkeit der Eindringtiefe ganz maßgeblich durch die Viskosität der
infiltrierenden Schmelzen und Schlacken beeinflusst. Niedrigviskose Schlacken infiltrieren
schnell. Das ist besonders bei hohen Temperaturen und entsprechender Zusammensetzung der
angreifenden Schlacken und Schmelzen gegeben.
g) Empirische Methoden zur Bestimmung der Fest-Flüssig Korrosionsbeständigkeit
1)
Fingertest (s. Pkt. d)
2)
Rotierende Scheibe (s. Pkt. d)
3)
Tiegelverfahren
- 178 -
4.1 Korrosion
Bei dieser Methode wird eine zylindrische Bohrung in einem Probekörper angebracht.
In die Bohrung wird eine festgelegte Menge Schlacken- oder Glaspulver eingefüllt.
Danach wird der Probekörper bei einer Temperatur oberhalb der Schlacken- oder
Glasschmelztemperatur eine gewünschte Zeit erhitzt. Nach der Abkühlung erfolgt ein
vertikales Durchtrennen des Tiegels, so dass die Achse der Ausbohrung in der
Schnittebene liegt. Zur Bewertung wird die Lösungs- und Tränkungsfläche innerhalb
der Schnittebene ausplanimetriert (Abb. 4.1.19).
Schema zur Auswertung einer Korrosionstestprobe nach Tiegelverfahren [16]
4)
Abb. 4.1.19
Aufstreuverfahren
Bei diesem Verfahren wird auf einen erhitzten Probekörper Schlacken- oder Glaspulver
aufgestreut. Nach dem Versuch werden Aussehen, Gewichts- und Masseverlust der
Proben beurteilt.
All diese Verfahren lassen nur grobe vergleichende Bewertungen zu. In der Praxis werden die
keramischen Werkstoffe bzw. die zu verarbeitenden Schlacken daher in der Regel sehr
anwendungsnahen produktionsrelevanten Tests unterzogen.
- 180 -
5.1 Elektrische Leitfähigkeit
5. Elektrische Eigenschaften
5.1 Elektrische Leitfähigkeit
Wird an ein Bauteil ein elektrisches Feld angelegt, so erreicht der elektrische Stromfluss mehr
oder weniger schnell einen Gleichgewichtswert, der sich aus der Zahl der vorhandenen
Teilchen, die Ladungen transportieren, und ihrer Bewegungsgeschwindigkeit ergibt. Die
elektrische Stromdichte j wird als die Ladungsmenge definiert, die in der Zeiteinheit durch
eine Einheitsfläche transportiert wird.
j = ni zi e v
(5.1.1)
ni
= Zahl der beweglichen geladen Teilchen pro Volumeneinheit
v
= die unter der Wirkung des elektrischen Feldes erzielte Wanderungsgeschwindigkeit
e
= Elementarladung
zi
= elektrochemische Wertigkeit
zi·e = Ladungsmenge pro Teilchen i
Die spezifische elektrische Leitfähigkeit wird durch die Beziehung
σ=
j
E
(5.1.2)
definiert, worin E die elektrische Feldstärke ist, die gerade an dem betreffenden Ort wirkt. Die
elektrische Feldstärke kann in einem Werkstoff örtlich verschieden sein. Die elektrische
Leitfähigkeit muss dann auf einen Teilwert bezogen werden, der allein durch die Teilchenart i
zustande kommt.
σ i = ni zie
vi
E
(5.1.3)
Bei einem konstanten Wert von σi ist also die Wanderungsgeschwindigkeit vi proportional der
örtlich wirkenden Feldstärke E.
Das Verhältnis
5. Elektrische Eigenschaften
- 181 -
μi =
vi
E
(5.1.4)
ist als Beweglichkeit definiert. Die elektrische Leitfähigkeit ist also das Produkt aus der
Konzentration ni zi e und der Beweglichkeit der Ladungsträger μi. Ladungsträger können
dabei Elektronen, Defektelektronen oder Ionen sein. Diese wiederum unterscheiden sich in
Konzentration, Ladung und Beweglichkeit.
Zum gesamten Leitfähigkeitsverhalten eines Werkstoffs trägt häufig mehr als nur eine einzige
Ladungsträgerart bei. Daher ergibt sich diese aus der Addition der partiellen Leitfähigkeiten
der einzelnen Arten:
σ = σ1 + σ2 + σ3 = Σσi
(5.1.5)
Der Anteil der Gesamtleitfähigkeit, der von jeder Lagerungsträgerart beigesteuert wird, heißt
Überführungszahl ti
ti =
σi
σ
(5.1.6)
Die Summe aller individuellen Überführungszahlen ist 1.
Überführungszahlen von Kationen t+, Anionen t-, Elektronen
oder Leerstellen te,h verschiedener Werkstoffe [8]
Abb.5.1.1
- 182 -
5.1 Elektrische Leitfähigkeit
5.1.1. Elektronenleitung
Elektronenleitung, wie sie in metallischen Werkstoffen große Bedeutung hat, kann mit dem
Bändermodell erklärt werden. Bereits im Einzelatom kann ein Elektron immer nur einen
durch entsprechende Quantenzahlen beschriebenen Energiezustand einnehmen (PauliPrinzip). Die diskreten Energieniveaus der Elektronen der einzelnen Atome verbreitern sich
im Atomverband jeweils zu einem Energieband, in dem die Elektronen gleichen
Quantenzustands der außerordentlich vielen Atome sehr dicht beieinander liegende aber
voneinander verschiedene Energiezustände besetzen können. Nehmen die Atome ihren
Gleichgewichtsabstand r0 zueinander ein, so sind nur die Energieniveaus der miteinander in
Wechselbeziehung stehenden Bindungselektronen zu einem Band aufgeweitet. Bei
Verringerung des Atomabstandes (Druckbeanspruchung) treten auch Elektronen der inneren
Schalen in Wechselwirkung und spalten zu Bändern auf.
Energieniveaus von Na-Atomen im Gitterverband [17]
Abb.5.1.2
Im Na-Gitter sind die verschiedenen besetzbaren Energieniveaus durch nichtbesetzbare
Energiebereiche der Breite ΔE getrennt (Abb. 5.1.2). Da jedes Na-Atom nur ein von zwei
möglichen 3s-Elektronen aufweist, ist das zur Verfügung stehende Bindungselektronen- oder
Valenzband nur halb, und zwar von unten beginnend, gefüllt. Es stehen diesen
Bindungselektronen also noch unbesetzte höher liegende Energiezustände zur Verfügung, in
die sie gelangen können, wenn ein elektrisches Potential ihnen einen Impuls verleiht und sie
in Richtung dieses Potentials beschleunigt. Die beweglichen Elektronen im teilweise gefüllten
5. Elektrische Eigenschaften
- 183 -
Valenzband bewirken die elektrische Leitfähigkeit. In einem ionischen oder kovalenten
Verband sind dagegen alle im Valenzband bestehenden Energiezustände besetzt. Die
Elektronen sind an diese Energieniveaus gebunden und damit nicht für eine gerichtete
Elektronenbewegung verfügbar. Stoffe mit ionischer oder kovalender Bindung sind unter
diesen Umständen Nichtleiter, wenn man bei ersteren von einer möglichen Ionenleitung
absieht. Das oberste vollständig gefüllte Elektronenband wird als Valenzband bezeichnet, das
nächste darüber befindliche als Leitungsband (Abb. 5.1.4).
Leiter, Halbleiter, Nichtleiter
Die Einteilung von Stoffen in elektrische Leiter, Halbleiter und Nichtleiter erfolgt unabhängig
vom jeweiligen Leitungsmechanismus nur nach dem Wert ihrer Leitfähigkeit. Die
Leitfähigkeit umfasst dabei einen Bereich von mehr als 20 Größenordnungen (Abb. 5.1.3).
Einteilung von elektrischen Leitern, Halbleitern
Abb.5.1.3
und Nichtleitern nach ihrer Leitfähigkeit [17]
Das Bändermodell beschreibt auch vereinfacht das Verhalten von Elektronenleitern,
Elektronenhalbleitern und Elektronennichtleitern (Abb. 5.1.4) Bei Metallen ergibt sich die
Leitfähigkeit dadurch, dass das oberste Elektronenband, wie beim Natrium, nur teilweise
besetzt ist oder die Energiebereiche von Valenz- und Leitungsband überschneiden sich, so
dass die Energielücke ΔE = 0 wird (Abb. 5.1.4a).
- 184 -
5.1 Elektrische Leitfähigkeit
Bändermodell [17]
Abb.5.1.4
Elektronen-Nichtleiter sind dagegen Substanzen mit leerem Leitungsband und einer
Energielücke ΔE zum Valenzband, die von Elektronen bei normalen Temperaturen nicht
überwunden wird. Grundsätzlich besteht kein Unterschied zwischen Nicht- und Halbleitern.
Bei tiefen Temperaturen sind beide Isolatoren mit leerem Leitungsband. Beim Halbleiter ist
die Energielücke ΔE relativ schmal (Abb. 5.1.4c) und bereits bei Raumtemperatur kann eine
bestimmte Zahl von Elektronen durch thermische Anregungen ins Leitungsband gelangen.
Die Grenze zwischen Nicht- und Halbleitern wird etwas willkürlich bei einer Energielücke
ΔE = 3 eV gezogen.
Eigenhalbleitung
Da bei Halbleitern nur eine schmale Energielücke ΔE existiert, können Elektronen des
Valenzbandes durch Energiezufuhr in das leere Leitungsband gehoben werden. Jedes dorthin
gebrachte Elektron ist beweglich und damit zur Stromleitung befähigt. Gleichzeitig hinterlässt
ein
„angehobenes“
Elektron
im
Valenzband
eine
Elektronenleerstelle,
ein
sog.
Defektelektron. Durch dieses Elektronenloch werden auch die Elektronen im Valenzband
beweglich. Eine dadurch ermöglichte Wanderung von Elektronen im Valenzband kann formal
als entgegengerichtete Bewegung von Defektelektronen angesehen werden. Die gleichzeitige
Erzeugung von Leitungselektronen im Leitungsband und von Defektelektronen im
5. Elektrische Eigenschaften
- 185 -
Valenzband wird Paarbildung genannt (Abb. 5.1.5). Die durch Paarbildung hervorgerufene
Leitfähigkeit wird Eigenhalbleitung genannt.
Paarbildung durch Elektronenanregung [17]
Abb.5.1.5
Störstellenhalbleitung
Für die technische Nutzung von Halbleitern ist die gezielte Verunreinigung (Dotierung) eines
Eigenhalbleiters mit höher oder geringer wertigen Fremdatomen und die dadurch erreichbare
Störstellenhalbleitung
von
Bedeutung.
Hierbei
werden
beispielsweise
vierwertige
Eigenhalbleiter Germanium und Silicium mit fünfwertigen Fremdatomen P, As, Sb oder mit
dreiwertigen Fremdatomen wie B, Al, Ga und In dotiert.
Bei der Aufnahme eines fünfwertigen Fremdatoms in das kovalent gebundene Gitter
vierwertiger Si-Atome bleibt ein Elektron übrig, da für die Einbindung in den Gitterverband
nur vier Elektronen benötigt werden. Dieses Überschusselektron ist an das fünfwertige
Fremdatom dann nur noch sehr locker gebunden und nimmt einen Energiezustand direkt
unterhalb des leeren Leitungsbandes ein. Bereits die bei Raumtemperatur wirksame
thermische Anregung reicht aus, das Überschusselektron in das Leitungsband zu heben. Die
hierdurch verursachte Elektronenleitung ist auf negative Ladungsträger zurückzuführen und
wird daher als n-Leitung bezeichnet. Da die Ladungsträger von den Fremdatomen quasi
- 186 -
5.1 Elektrische Leitfähigkeit
gespendet werden, nennt man solche „Elektronengeber“, hier also die fünfwertigen
Fremdatome, Donatoren (Abb. 5.1.6a).
Störstellenhalbleitung dotierter Halbleiter [17]
Abb.5.1.6
Bei der Einbindung dreiwertiger Fremdatome in das vierwertige Gitter fehlt dagegen jeweils
ein Elektron zur Ausbildung vollständiger Bindungen, es entsteht eine Elektronenleerstelle,
ein Defektelektron. Das Energieniveau A solcher Defektelektronen befindet sich in der Nähe
des Valenzbandes, so dass diese Defektelektronen durch geringe thermische Aktivierung von
Elektronen aus dem Valenzband ausgefüllt werden können. Hierdurch entstehen nun
Defektelektronen im Valenzband, deren Bewegung, da sie formal der Wanderung positiver
Ladungsträger entspricht, als p-Leitung bezeichnet wird. Die p-Leitung wird durch
Elektronen „nehmende“ Fremdatome herbeigeführt, in Analogie zu den Donatoren nennt man
sie Akzeptoren (Abb. 5.1.6b). Abb. 5.1.7 zeigt einige wichtige Elemente der Halbleittechnik.
In analoger Weise ist es möglich, durch Verbindung dreiwertiger mit fünfwertigen oder
zweiwertiger mit sechswertigen Elementen Störstellenhalbleiter herzustellen.
5. Elektrische Eigenschaften
- 187 -
Wichtige Elemente der Halbleitertechnik [17]
Abb.5.1.7
Temperaturverhalten
Leitungselektronen erfahren bei ihrem Weg durch das Gitter einen Bewegungswiderstand, so
daß ein Elektronenstrom nur mit Hilfe des treibenden Potentials einer Spannungsquelle fließt.
Der Leitungswiderstand entsteht durch Streuungen der sich im Gitter gerichtet bewegenden
Elektronen, die zum einen durch die thermisch bedingte Vibration des Gitters z. a. durch
Unregelmäßigkeiten des Gitters wie Leerstellen, Fremdatome, Versetzungen, Korn- und
Phasengrenzen verursacht werden. Als Folge solcher Streuungen verlieren die Elektronen
einen Teil ihrer Bewegungsenergie an die Atomrümpfe. Dieser Energieumsatz äußert sich in
einer Erhöhung der Gittertemperatur. Fehlerarme Kristallstrukturen weisen daher bei tiefen
Temperaturen eine mehrfach erhöhte elektrische Leitfähigkeit auf. Mit zunehmender
Temperatur nimmt die Streuung der im Gitter bewegten Elektronen zu und damit die
Leitfähigkeit ab. Für Metalle ist also ein positiver Temperaturkoeffizient des elektrischen
Widerstands charakteristisch, d.h. der Widerstand nimmt mit steigender Temperatur zu, die
Leitfähigkeit ab (Abb. 5.1.8).
Einfluss der Temperatur auf den elektrischen Widerstand von Metallen [17]
Abb.5.1.8
- 188 -
5.1 Elektrische Leitfähigkeit
Der elektrische Widerstand von Metallen setzt sich also aus zwei unterschiedlichen Anteilen
zusammen, einem temperaturabhängigen thermischen Anteil ρth und einem durch
Gitterdefekte verursachten Anteil ρD:
ρ = ρth + ρD.
(5.1.7)
Bei tiefen Temperaturen überwiegt der auf Gitterfehler zurückzuführende, weitgehend
temperaturunabhängige Anteil ρD, bei höheren Temperaturen tritt dagegen mehr der
thermisch bedingte Anteil ρth in den Vordergrund.
Zwischen der Elektronenbandstruktur von reinen Halbleitern und von Isolatoren besteht kein
grundsätzlicher Unterschied. Sie unterscheiden sich lediglich in der Größe der zwischen
Valenz- und Leitungsband bestehenden Energielücke ΔE. Beide sind bei tiefen Temperaturen
Isolatoren, erlangen aber bei erhöhten Temperaturen durch thermisch verursachte Paarbildung
eine gewisse Leitfähigkeit. Wegen der bei Isolatoren wesentlich größeren Energielücke findet
Paarbildung in merklichem Umfang erst bei sehr hohen Temperaturen statt (Abb. 5.1.9).
Einfluss der Temperatur auf die elektrische Leitfähigkeit
Abb.5.1.9
von Eigenhalbleitern und Isolatoren [17]
Wie bei Metallen steigt auch bei Halbleitern der Bewegungswiderstand bei Elektronen mit
zunehmender Temperatur an. Allerdings wird bei Halbleitern der thermisch bedingte Verlust
an Leitfähigkeit durch die gleichzeitig stattfindende thermisch bedingte Produktion von
Ladungsträgern mehr als ausgeglichen, was zu einem negativen Temperaturkoeffizienten des
elektrischen Widerstandes führt.
5. Elektrische Eigenschaften
- 189 -
Im Temperaturverhalten dotierter Halbleiter überlagern sich drei verschiedene Vorgänge
(Abb. 5.1.10).
Einfluss der Temperatur auf die elektrische Leitfähigkeit dotierter Halbleiter [17]
Abb.5.1.10
Bei geringem Temperaturanstieg werden Donatorelektronen in das Leitungsband bzw.
Elektronen aus dem Valenzband in das Akzeptorband gehoben, die Leitfähigkeit steigt mit
der Temperatur an (sog. Reservebereich). Die Leitfähigkeit erreicht einen Grenzwert, da nur
eine begrenzte Zahl von Dotierungselektronen zur Verfügung steht. Wegen der thermischen
Streuung der beweglichen Elektronen fällt bei höherer Temperatur die Leitfähigkeit ein wenig
ab (sog. Erschöpfungsbereich). Bei noch höheren Temperaturen setzt die Paarbildung ein und
aufgrund der Eigenhalbleitung nimmt die Leitfähigkeit wieder zu.
Supraleiter
Bei Supraleitern verschwindet der elektrische Widerstand beim Unterschreiten extrem
niedriger Temperaturen schlagartig (Abb. 5.1.11).
- 190 -
5.1 Elektrische Leitfähigkeit
Einfluss der Temperatur auf den elektrischen Widerstand
Abb.5.1.11
von Leitern und von Supraleitern [17]
Der supraleitende Zustand kommt durch die gekoppelte Bewegung von jeweils zwei
Leitungselektronen ungleichen Spins zustande. Der Abstand zwischen den beiden Elektronen
eines Paares kann viele Atomabstände betragen, ihre gegenseitige Bindung beruht darauf,
dass das erste Elektron aufgrund seiner negativen Ladung das Gitter etwas zusammenzieht
und so eine ihm folgende, stärker positiv geladene Zone erzeugt. Diese Zone wirkt auf das
zweite Elektron des Paares anziehend und veranlasst dieses Elektron zu solchen
Bewegungsreaktionen, dass Streuungen des ersten Elektrons nicht zu Energieverlusten an das
Gitter führen. Der durch schwache Wechselwirkungskräfte hervorgerufene besondere
elektronische Ordnungszustand von Supraleitern kann nicht nur durch geringe thermische
Gitterbewegungen zerstört werden, sondern ist auch außerordentlich empfindlich gegen
äußere Magnetfelder. So ist die Sprungtemperatur Tc abhängig von der Stärke H eines
äußeren Magnetfeldes (Abb. 5.1.12).
Einfluss der magnetischen Feldstärke H auf die Sprungtemperatur Tc* [17]
Abb.5.1.12
5. Elektrische Eigenschaften
- 191 -
5.1.2 Ionenleitung
Keramische Werkstoffe enthalten normalerweise keine freien Elektronen, so dass ihre
elektrische Leitfähigkeit um viele Größenordnungen niedriger ist als bei Metallen (Abb.
5.1.13).
Elektrischer Widerstand einiger Werkstoffe bei Raumtemperatur [8]
Abb.5.1.13
Für die Leitfähigkeit sind Ionen als Ladungsträger verantwortlich. Deren Beweglichkeit ist
aber durch den Einbau in die Kristallstruktur gering. Der Anteil unterschiedlicher Ionen an
der Gesamtleitfähigkeit eines Werkstoffs wird durch die Überführungszahlen von Kationen,
Anionen und Elektronen oder Leerstellen dokumentiert (Abb. 5.1.1).
Wenn ein Ion durch ein Kristallgitter bewegt werden soll und die treibende Kraft ein
elektrisches Feld darstellt, so muss es eine ausreichende thermische Energie besitzen, um eine
Energieschwelle, die der mittleren Position von Gitterplätzen entspricht, zu überwinden. Die
Ionenbeweglichkeit im Zusammenhang mit einem elektrischen Feld wird durch die NernstEinstein-Beziehung beschrieben. Zwischen der elektrischen Leitfähigkeit σ und dem
Selbstdiffusionskoeffizienten D einer Ionensorte i mit der Überführungszahl ti gilt die
Beziehung
- 192 -
5.1 Elektrische Leitfähigkeit
2 2
⎛ D ⎞ a D i n i zi e
σ i = t iσ = f ( n i e z i ) ⎜ i ⎟ =
⎝ kT ⎠
kT
(5.1.8)
a = Korrelationsfaktor, der die Möglichkeit eines Ions beschreibt, eine Leerstelle zu besetzen
(a = 4 für eine Ionenleerstelle in der Natriumchloridstruktur). Die elektrische Leitfähigkeit ist
also direkt proportional dem Selbstdiffusionskoeffizienten. Das bedeutet, dass die schneller
diffundierenden Kationen im wesentlichen die elektrische Leitfähigkeit bewirken, besonders
kleine Kationen mit niedriger Wertigkeit.
Temperaturabhängigkeit der elektrischen Leitfähigkeit σ (in Ω-1 cm-1)
Abb.5.1.14
einiger keramischer Werkstoffe [12]
Über die Diffusion ergibt sich die Temperaturabhängigkeit der elektrischen Leitfähigkeit zu
⎛ −Q ⎞
σ = A ⋅ exp⎜
⎟
⎝ RT ⎠
d.h.,
mit
steigender
Temperatur
nimmt
oder ln σ = A'−
die
elektrische
Q
RT
(5.1.9)
Leitfähigkeit
zu.
Diese
Temperaturabhängigkeit ist in Abb. 5.1.14. dargestellt. In Abb. 5.1.15 sind gemessene
Sauerstoffdiffusionskoeffizienten
verglichen
mit
der
elektrischen
Leitfähigkeit
in
Abhängigkeit von der Temperatur, berechnet nach der Nernst-Einstein-Gleichung. Die gute
Übereinstimmung zwischen Experiment und Kalkulation bestätigt die Theorie.
5. Elektrische Eigenschaften
Diffusionskoeffizient von Sauerstoffionen in Zr0,85Ca0,15O1,85 [8]
- 193 -
Abb.5.1.15
Aus Abb. 5.1.14 ist zu erkennen, dass mit zunehmendem Alkaligehalt in keramischen
Werkstoffen die elektrische Leitfähigkeit zunimmt (entspricht einer Zunahme von ni in
Gleichung 5.1.8), wenn man z.B. Porzellan mit Steatit (Kurven 1 und 3), Schamotte mit
Silicastein (Kurven 7 und 8) oder β-Al2O3- mit α-Al2O3-haltigen Steinen (Kurven 11 und 12)
vergleicht. Insgesamt aber ist die elektrische Leitfähigkeit gering und die meisten
keramischen Werkstoffe können auch bei hoher Temperatur als Isolatoren betrachtet werden.
Die hohe elektrische Leitfähigkeit von CaO-stabilisiertem ZrO2 (Kurve 5) erklärt sich durch
die hohe Selbstdiffusion aufgrund von Sauerstoffleerstellen im Gitter. ZrO2 bildet mit einem
zweiten Kation niedrigeren Wertigkeit Mischkristalle, z.B. CaO-ZrO2 oder Y2O3-ZrO2. Die
Substitution von Zr-Ionen durch niederwertige Ca- oder Y-Ionen führt zu einer großen
Defektkonzentration bzw. zu Leerstellenbildung. Die Leerstellenkonzentration liegt in der
Größenordnung von 15%, wodurch Sauerstoffionen sehr schnell diffundieren können.
Fehlstellen erhöhen also die Diffusion und damit auch die elektrische Ionenleitfähigkeit.
Da das Auftreten von nichtstöchiometrischen Verbindungen oder die Substitution von Ionen
mit anderen Wertigkeiten von der Atmosphäre abhängen, beobachtet man bei Oxiden auch
eine Abhängigkeit der elektrischen Leitfähigkeit vom Sauerstoffpartialdruck.
- 194 -
5.1 Elektrische Leitfähigkeit
Stabile keramische Materialien mit ausschließlich Ionenleitfähigkeit (ti = 1) können als
Festkörperelektrolyt in Batterien oder Brennstoffzellen verwendet werden. Wenn z.B.
Kohlenmonoxid auf der einen Seite einer Zirkonoxidzelle strömt und durch diffundierende
Sauerstoffionen zu CO2 oxidiert wird, kann durch den Fluss von Elektronen ein Strom
abgegriffen werden.
Für die Reaktion
CO + O2- = 2e- + CO2
Seite I vonZrO2
1/2O2 (in Luft) + 2e-→O2-
Seite II von ZrO2
1CO + 1/2O2→CO2
errechnet sich die entstehende Spannung Φ zu:
I
RT ⎛ PO2 ( CO 2 / CO ) ⎞
⎟
Φ=
ln⎜
2F ⎜⎝
PO2 ΙΙ ( air ) ⎟⎠
(5.1.10)
mit F = Faraday Konstante
die zur Erzeugung elektrischen Stroms verwendet werden kann (Prinzip der Lambda Sonde).
Elektronenleitfähigkeit in Kristallen
In einigen Fällen von Übergangsmetalloxiden wie z.B. ReO3, CrO2, VO, TiO und ReO2
überlappen sich Elektronenorbitale, woraus sich ungefüllte d- oder f-Bänder ergeben, wie in
Abb. 5.1.4. dargestellt. Dies führt zu einer Konzentration von 1022 bis 1023 quasi freien
Elektronen pro cm3. Die Mobilität dieser Elektronen liegt um mehrere Größenordnungen über
der von Ionen und liefert einen wesentlichen Beitrag zur elektrischen Leitfähigkeit
(Abb. 5.1.16).
5. Elektrische Eigenschaften
Temperaturabhängigkeit der elektrischen Leitfähigkeit
von einigen elektronisch leitenden Oxiden [8]
- 195 -
Abb.5.1.16
- 196 -
5.2 Dielektrizität
5.2. Dielektrizität
Elektronen und Ionen in kovalenten bzw. ionisch gebundenen Materialien sind fest gebunden
und können in einem elektrischen Feld nicht in eine ungebundene Bewegung versetzt werden.
Ein elektrisches Potential übt aber auf die geladenen Teilchen je nach ihrer Polarität eine
anziehende bzw. abstoßende Wirkung aus, so dass die Teilchen eine reversible
Ladungsverschiebung erfahren. Durch diese Verlagerung der Ladungsschwerpunkte findet
eine Polarisation des Nichtleiters statt. Dabei werden in ihm Dipolmomente erzeugt bzw. die
Momente bestehender Dipole verstärkt und ausgerichtet. Je nach Polarisation des Isolators
spricht man von Elektronen-, Ionen- und Dipolpolarisation. Bei der Elektronen- oder
Atompolarisation beobachtet man eine Verschiebung der negativen Elektronenhülle
gegenüber dem positiven Atomkern, wodurch die Ladungsschwerpunkte räumlich getrennt
werden (Abb. 5.2.1).
Elektronenpolarisation [17]
Abb.5.2.1
Entsprechend spricht man bei der Verschiebung von Ionen in Ionenkristallen von einer
Ionenpolarisation. Eine andere Polarisationserscheinung ist durch die Abstandsvergrößerung
der elektrischen Schwerpunkte von polaren Molekülen gegeben, deren Ladungsschwerpunkte
schon im feldfreien Raum nicht zusammenfallen, so dass infolge der Polarisation im Feld das
bereits vorhandene permanente Dipolmoment noch vergrößert wird (Dipolpolarisation
permanenter Dipole). Weiterhin können in inhomogenen Werkstoffen, wenn die
dielektrischen Eigenschaften und die Leitfähigkeit ihrer Komponenten voneinander abweichen, an deren Grenzflächen Ladungen entstehen (Grenzflächenpolarisation) (Abb.5.2.2).
5. Elektrische Eigenschaften
Schematische Darstellung von Polarisationen bei Nichtleitern [18]
- 197 -
Abb.5.2.2
Ionenpolarisation tritt insbesondere bei Gläsern und keramischen Isolatoren auf und kann
unter besonderen Umständen zu extrem großen Polarisationseffekten (Ferroelektrizität)
führen. Alle genannten Polarisationsarten erfordern sehr kleine Einstellzeiten und sind
temperatur-unabhängig. Von der Temperatur abhängig hingegen sind die sogenannte
Orientierungs-polarisation (Abb. 5.2.2.e). Darunter versteht man die Ausrichtung der infolge
der Wärmebewegung statistisch verteilten permanenten Dipolmomente zum äußeren
elektrischen Feld. Sie benötigt wesentlich größere Einstellzeiten, die von der Viskosität des
Stoffes abhängen.
- 198 -
5.2 Dielektrizität
Permittivitätszahl
Die Speicherung der elektrischen Energie in einem Dielektrikum kann man sich vorstellen
wie das Spannen einer Feder. Beim Spannen wird mechanische Energie aufgenommen und
bei der Entlastung der Feder wieder abgegeben. Entsprechend wird bei der Polarisation
elektrische Energie gespeichert, die Bausteine des Dielektrikums wirken wie elektrostatische
Federn. Mit Hilfe eines Dielektrikums kann die elektrische Ladungsfähigkeit C eines
Kondensators gegenüber seiner Kapazität C0 im Vakuum um den Faktor εr vergrößert werden.
C = εr ⋅ C0
(5.2.1)
εr = Permittivitätszahl, relative Permittivität, Dielektrizitätskonstante.
Die Dielektrizitätskonstante beschreibt den Polarisationseffekt eines Dielektrikums. Zu ihr
tragen die einzelnen Polarisationsmechanismen additiv bei, so dass
εr = εr.El. + εr.Ion. + εr.Dipol
(5.2.2)
Je nach Masse und Bewegungsfähigkeit dieser Ladungsträger sowie den Dimensionen ihrer
Verschiebung können die einzelnen Polarisationsvorgänge von Elektronen, Ionen oder
Dipolen nur mit einer für sie typischen Maximalgeschwindigkeit ablaufen. Die
Zeitabhängigkeit äußert sich insbesondere bei elektrischen Wechselfeldern, da hier die
Verschiebung der Ladungsträger mit der Geschwindigkeit der Wechselfeldänderung ablaufen
muss.
Liegt
die
Frequenz
eines
Wechselfeldes
z.B.
deutlich
oberhalb
der
Maximalgeschwindigkeit eines Polarisationsmechanismus, so kann diese Polarisation nicht
mehr ablaufen und auch keinen Beitrag zur Permittivitätszahl liefern. Bei der Elektronen- und
der Ionenpolarisation kommt es nur zu Ladungsverlagerungen um Strecken, die deutlich
kleiner als ein Atomabstand sind. Diese beiden Mechanismen sind daher bis zu sehr hohen
Frequenzen möglich, während die Orientierung von Dipolen bereits Umlagerungen im
molekularen Bereich erfordert und demzufolge schon bei niedrigeren Frequenzen nicht mehr
möglich ist (Abb. 5.2.3.). Hohe Permittivitätszahlen sind nur erreichbar, wenn neben
Elektronenpolarisation auch Ionen- und Dipolpolarisation möglich sind.
5. Elektrische Eigenschaften
- 199 -
Frequenzabhängigkeit der Permittivitätszahl [17]
Abb.5.2.3
Dielektrische Verluste
Die in einem Dielektrikum durch Polarisation gespeicherte Energie wird bei Entladung im
Idealfall ohne Verluste wieder vollständig freigesetzt. In einem realen Dielektrikum verläuft
der Polarisationsvorgang jedoch nicht verlustfrei, ein Teil der Energie wird absorbiert und in
Wärme umgesetzt. Außer diesem Polarisationsverlust fließt bei jedem Laden eines
Kondensators entsprechend der Leitfähigkeit des Dielektrikums als zusätzlicher Verlust ein
allerdings sehr geringer Leckstrom. Während beim verlustlosen idealen Kondensator der
Polarisationsstrom Ic der angelegten Spannung um 90° vorauseilt, fließt beim realen,
verlustbehafteten Kondensator ein zusätzlicher Verluststrom Iv, der sich mit der angelegten
Spannung in Phase befindet. Beide Ströme ergeben den Gesamtladestrom Iges., der mit der
Spannung U den zwischen 0 und 90° betragenden Phasenwinkel ϕ mit dem
Komplementwinkel δ = 90° - ϕ bildet (Abb. 5.2.4.).
Strom-Spannung-Diagramm eines verlustbehafteten Kondensator [17]
Abb.5.2.4
- 200 -
5.2 Dielektrizität
tan δ ist das Verhältnis von Verluststrom Iv und Kondensatorstrom Ic.
Iv/Ic = tan δ
(5.2.3)
tan δ ist also ein Maß für die beim Laden des Kondensators auftretenden Verluste und wird
als dielektrischer Verlustfaktor bezeichnet. Je größer tan δ, desto größer ist der Verluststrom
des Dielektrikums.
Die innere Reibung von Polarisationsvorgängen ist bei solchen Frequenzen am größten, bei
denen ein Polarisationsmechanismus der Frequenz des Feldes gerade noch folgen kann.
Deshalb treten Maximalwerte von tan δ immer bei Grenzfrequenzen eines Polarisationsmechanismus auf (Abb. 2.5.5.).
Permittivitätszahl εr und dielektrischer Verlustfaktor tan δ
in Abhängigkeit von der Frequenz [17]
Abb.5.2.5
Diese Erscheinungen sind nicht nur beim Betrieb von Kondensatoren von Bedeutung, sondern
auch bei der Isolation wechselspannungsführender Teile, wobei das Material, das die Teile
unterschiedlichen elektrischen Potentials gegeneinander isoliert, als Dielektrikum zu
betrachten ist.
Die in einer Wechselspannungsisolation entstehende Verlustleistung Nv hängt vom Quadrat
der Spannung, der Frequenz f, den dielektrischen Größen εr und tan δ ab und ermittelt sich zu:
Nv = U2 ⋅ 2 π ⋅f ⋅ ε0 ⋅ εr ⋅ tan δ
(5.2.4)
5. Elektrische Eigenschaften
- 201 -
Die dielektrischen Verluste müssen also besonders in der Hochfrequenz- und in der
Hochspannungstechnik beachtet werden. Zur Isolation in der Hochfrequenz- und
Hochspannungstechnik sind Werkstoffe mit niedrigem εr- und tanδ- Werten zu wählen.
Andererseits können Werkstoffe mit hohem εr· tanδ - Produkten in einem hochfrequenten
Wechselfeld bis zum Schmelzen erwärmt werden. Diese Eigenschaft wird u.a. beim
Mikrowellensintern keramischer Werkstoffe genutzt. Hierfür sind Frequenzen nach Abb.
5.2.5 vorteilhaft, die zu besonders hohen dielektrischen Verlusten führen.
Am Beispiel von Steatit ist die Dielektrizitätskonstante und der Verlustwinkel in
Abhängigkeit von der Temperatur in Abb. 5.2.6 dargestellt.
Dielektrizitätskonstante und der Verlustwinkel von Steatit
Abb.5.2.6
in Abhängigkeit von der Temperatur und der Frequenz [8]
Mit steigender Temperatur bringt die Erleichterung der Ionenbeweglichkeit eine Erhöhung
von tan δ. Bei Porzellan steigt beispielsweise der tan δ-Wert im Temperaturbereich von 20 100 °C bei 50 Hz um das 5- bis 10-fache. Bei höheren Frequenzen ist der Anstieg geringer.
- 202 -
5.2 Dielektrizität
Ferroelektrizität
Eine besondere Erscheinung der Dielektrizität, die bei einigen ionischen Kristallen auftritt
und zu Permittivitätszahlen von 103 und größer führt, wird als Ferroelektrizität bezeichnet,
weil sie sehr viele Gemeinsamkeiten mit ferromagnetischem Verhalten aufweist. In
ferroelektrischen Kristallen, wie z.B. BaTiO3, stimmen durch eine unsymmetrische
Anordnung der positiven und negativen Ionen die Ladungszentren in der Elementarzelle nicht
überein (Abb. 5.2.7a und
Abb.5.2.7b), so dass bereits ohne äußere Feldwirkung im Kristall Dipole existieren.
Atomanordnung im idealen Perovskitgitter [8]
Abb.5.2.7a
5. Elektrische Eigenschaften
- 203 -
Ionenanordnung in tetragonalem BaTiO3 [8]
Ferroelektrisches
Verhalten
hat
also
ionischen
Abb.5.2.7b
Ursprung
im
Gegensatz
zum
ferromagnetischen Verhalten, das elektronischen Ursprung hat. Kennzeichnend ist in beiden
Fällen die Ausbildung sogenannter Domänenstrukturen im Gefüge. Innerhalb einer Domäne
werden durch starke gegenseitige Wechselwirkungen die durch den Strukturaufbau
vorhandenen elektrischen Dipole auch ohne Einwirkung eines äußeren Feldes in die gleiche
Richtung orientiert (Abb. 5.2.8 und Abb. 5.2.9).
Schematische stark vereinfachte Darstellung der chemischen Mikrodomänen
und ihrer Polarisationsvektoren in Relaxor-Materialien [19]
Abb.5.2.8
- 204 -
5.2 Dielektrizität
Domänenstruktur von grobkörniger BaTiO3-Keramik [19]
Abb.5.2.9
Die Ausrichtung der einzelnen Domänen ist aber statistisch verteilt, so dass sich die Domänen
ohne äußeres Feld gegenseitig kompensieren und die Gesamtpolarisation gleich Null ist.
Unter der Wirkung eines elektrischen Feldes werden nun ähnlich wie bei der Magnetisierung
solche Domänen vergrößert und erzeugt, wenn sie zum äußeren Feld günstig orientiert sind.
Sind alle Domänen in Richtung des äußeren Feldes ausgerichtet, so ist das Material
hinsichtlich seiner Polarisierbarkeit gesättigt. Bei der Fortnahme des äußeren Feldes bleibt
dann ein Teil der Polarisierung als Polarisierungsremanenz zurück (Abb. 5.2.10).
Verlauf der Polarisation D in Abhängigkeit von der elektrischen Feldstärke E
Abb.5.2.10
bei einem ferroelektrischen Material [17]
Analog zur Magnetisierung eines ferromagnetischen Materials in einem Magnetfeld beginnt
auch hier die Polarisierung mit einer Neukurve, erreicht eine Sättigung und beschreibt bei
Verminderung und Umkehr des Feldes eine durch Remanenz und Koerzitivfeldstärke
gekennzeichnete Hysteresekurve. Oberhalb einer kritischen Temperatur, der sogenannten
5. Elektrische Eigenschaften
- 205 -
Curietemperatur, werden die zwischen den Dipolen wirkenden Kopplungskräfte durch die
thermische Bewegung zerstört, der innerhalb der Domänen bestehende Ordnungszustand
gleichorientierter Dipole und damit auch das ferroelektrische Verhalten gehen verloren. Bei
Temperaturen über der Curietemperatur verhalten sich Ferroelektrika normal-dielektrisch.
Am Beispiel von Bariumtitanat soll im folgenden die Ferroelektrizität keramischer
Materialien erklärt werden. In der Kristallstruktur von Bariumtitanat (Abb. 5.2.7) ist jedes
große Bariumion von 12 Sauerstoffionen umgeben, jedes Titanion hat 6 Sauerstoffionen in
oktaedrischer Koordination. Die Barium- und Sauerstoffionen bilden ein flächenzentriertes
kubisches Gitter, wobei Titanionen in den oktaedrischen Zwischengitterplätzen sitzen. Die
Rattling-Titanium-Hypothese lässt vermuten, dass es für jedes Titanion Positionen minimaler
Energie
gibt,
die
außerhalb
des
Zentrums
dieser
kubischen
Zelle
liegen
und
konsequenterweise der Grund für die Ausbildung elektrischer Dipole darstellen. Unterhalb
der Curietemperatur ändert sich die Position des Titanions und die Struktur ändert sich von
kubisch nach tetragonal mit dem Titanion außerhalb der zentralen Position und der Bildung
eines permanenten elektrischen Dipols. Diese Dipole sind der Grund für die Ausbildung von
Domänenstrukturen, wie bereits diskutiert. Die Veränderung der Gitterkonstanten mit der
Temperatur zeigt Abb. 5.2.11.
- 206 -
5.2 Dielektrizität
Temperaturabhängigkeit der Gitterkonstanten (a)
und der Dielektrizitätskonstanten (b) von pseudokubischen BaTiO3 [8]
Abb.5.2.11
Durch Anlegen eines elektrischen Feldes findet in der tetragonalen Perowskitstruktur eine
Ausrichtung der Ti-Ionen statt, wobei innerhalb der Domänen (Größenordnung 1μm), wie
bereits oben erwähnt, durch eine gegenseitige Beeinflussung eine einheitliche Orientierung
der induzierten Dipole hervorgerufen wird. Die hohe Polarisation ist die Ursache für die
hohen DK-Werte. Sie ist jedoch an die Kristallstruktur gebunden. Beim Übergang in andere
Strukturen beobachtet man Extremwerte der Dielektrizitätskonstante (Abb. 5.2.11). Im
kubischen Bariumtitanatgitter ist Ferroelektrizität nicht mehr möglich. Die Grenztemperatur
zwischen dem kubischen nichtpolarisierbaren Bariumtitanat und dem tetragonalen
polarisierbaren wird in Analogie zum Magnetismus als Curietemperatur bezeichnet. Zwischen
den
Temperaturen
der
Kristallumwandlungen
gibt
es
Bereiche,
in
denen
die
Dielektrizitätskonstante mit steigender Temperatur ab- bzw. zunimmt (Abb. 5.2.11). Ähnliche
Erscheinungen hat man auch bei anderen Titanaten und Zirkonaten gefunden. Eine
Einflussnahme auf die Dielektrizitätskonstante ergibt sich durch den Einbau von Fremdionen
ins Kristallgitter und die damit verbundene Mischkristallbildung. Abb. 5.2.12 zeigt, dass man
dadurch die Curietemperatur in relativ weiten Bereichen beeinflussen kann.
5. Elektrische Eigenschaften
- 207 -
Änderung der ferroelektrischen Curietemperatur von BaTiO3-haltigen Mischkristallen [12]
Abb.5.2.12
Piezoelektrizität
Die Polarisierung eines Dielektrikums hat eine Änderung der Abmessungen des Festkörpers
zur Folge. Diese Dimensionsänderungen werden analog zur Magnetostriktion Elektrostriktion
genannt. Der elektrostriktive Effekt ist jedoch von geringem Ausmaß und erfährt keine
besondere technische Bedeutung.
Die infolge der Polarisation auftretenden Dimensionsänderungen bei ionischen Kristallen,
deren ungleich geladene Ionen kein gemeinsames Symmetriezentrum besitzen, sind jedoch
deutlich größer und der Effekt lässt sich auch umkehren.
Bei einem piezoelektrischen Kristall führt eine elastische Deformation in bestimmten
kristallographischen Richtungen zu unterschiedlichen Verlagerungen der positiven und der
negativen Ionen und erzeugt an den Kristalloberflächen entsprechende elektrische Ladungen
(Abb. 5.2.13).
Piezo-Effekt [17]
A) Unverzerrter Piezo-Kristall, B) Verzerrter Piezo-Kristall
Abb.5.2.13
- 208 -
5.2 Dielektrizität
Andererseits ändert ein solcher Kristall auch seine Abmessungen im Rhythmus einer von
außen angelegten elektrischen Wechselspannung. Auf diese Weise lassen sich mechanische
Kräfte in elektrische Signale umwandeln und umgekehrt. In diesem Sinne unsymmetrische
Ionenkristalle und damit piezoelektrisch sind alle ferroelektrischen Substanzen, aber auch
einige nichtferroelektrische wie z.B. Quarz. Da der Piezoeffekt nur in bestimmten kristallographischen Richtungen auftritt, müssen sich piezoelektrische Substanzen anisotrop
verhalten. Entweder werden sie dazu einkristallin verwendet oder sie erhalten als
Ferroelektrika im polykristallinen Zustand eine spezielle Texturbehandlung dadurch, dass sie
von einer Temperatur oberhalb der Curietemperatur aus dem normaldielektrischen Zustand in
einem starken elektrischen Feld langsam abgekühlt werden. Das Feld bewirkt, dass die
Domänen bei ihrer Bildung in Feldrichtung bevorzugt orientiert werden.
Beim direkten piezoelektrischen Effekt setzen Piezokeramiken bei mechanischer Verformung
eine elektrische Ladung frei. Beim inversen piezoelektrischen Effekt ändert die Piezokeramik
unter Einfluss eines elektrischen Feldes ihre Dimensionen (Abb. 5.2.14).
Direkter und inverser piezoeletrischer Effekt
Abb.5.2.14
5. Elektrische Eigenschaften
- 209 -
Wie bereits erwähnt, sind Piezokeramiken polykristalline Ferroelektrika mit polarer Struktur
und hoher Dielektrizitätszahl. Die Piezoelektrizität ergibt sich aus der bevorzugten
Orientierung polarer Bereiche (Domänen), die sich durch Abkühlen im elektrischen Feld
ausbilden. Durch die vielfältigen Möglichkeiten der Optimierung von Zusammensetzung und
geometrischer Formgebung hat Piezokeramik für die unterschiedlichsten Anwendungen eine
große Bedeutung.
Die polykristallinen piezoelektrischen Werkstoffe werden nach den bekannten keramischen
Verfahren gefertigt. Die wichtigsten basieren auf dem oxidischen Mischkristallsystem
Bleizirkonat und Bleititanat. Die Eigenschaften hängen vom molaren Verhältnis Bleizirkonat
zu Bleititanat sowie der Substituierung und Dotierung zusätzlicher Elemente ab. Diese
Materialien werden eingesetzt als Sensoren, Hochleistungsultraschall-generatoren und
Aktoren. Der direkte piezoelektrische Effekt wird in Sensoren bei der Umwandlung
mechanischer in elektrische Signale genutzt, der inverse piezoelektrische Effekt in
Ultraschallsendern bei der Umwandlung elektrischer Energie in mechanische/akustische
Energie. Die reine Deformation wird bei Anlegen von elektrischen Spannungen an Aktoren
genutzt. Beide Effekte nutzt man bei der Signalübertragung (z.B. in der Sonartechnik, in der
medizinischen Ultraschalldiagnostik und der zerstörungsfreien Ultraschallmaterialprüfung).
Die bekannteste Anwendung von Piezokeramiken bilden die Filter und Resonatoren in der
Radio- und Fernsehtechnik und in Geräten der Telekommunikation sowie als Tongeber.
5. Elektrische Eigenschaften
- 211 -
5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen
Isolatoren
Bei der Übertragung und Verteilung elektrischer Energie im Hochspannungs- und
Niederspannungsbereich übernehmen keramische Werkstoffe wichtige Funktionen. Sie
isolieren die spannungsführenden Teile der Leitungen und Anlagen gegen Erde und gegen
Berührung und sie übernehmen die mechanische Fixierung der spannungsführenden Teile im
System. Diese Funktionen erfordern von Werkstoffen für die elektrotechnische Isolation hohe
elektrische und mechanische Festigkeit. Sowohl im Hochspannungs- als auch im
Niederspannungsbereich werden Porzellan, Steatit und Sondersteatit sowie Tonerdeporzellan
verwendet. Im Hochspannungsbereich ist die Übertragung von Spannungen über 400 000
Volt selbstverständlich. Die Übertragung und Verteilung elektrischer Energie erfolgt fast
ausschließlich über Freileitungen. Freileitungsisolatoren isolieren die spannungsführenden
Leiter gegen die geerdeten Masttraversen und übertragen die mechanischen Kräfte der
Leiterseile auf die Traversen.
Langstabisolator
Abb. 5.3.1
- 212 -
Massivstützer
5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen
werden
dagegen
zum
Abstützen
der
Sammelschienen
in
Hochspannungsanlagen oder als Stützer in Trennschaltern eingesetzt. Durchführungen dienen
dagegen zur Isolation spannungsführender Leiter oder Sammelschienen bei deren Einführung
durch Gebäudewände, in Kessel von Transformatoren oder in andere Hochspannungsgeräte.
Auch in Sendeanlagen werden Hochfrequenz-Hochspannungsisolatoren benötigt, die zur
Isolation der Tragwerke für Antennenanlagen und der Antennenzuleitungen dienen. Im
Niederspannungsbereich lösen keramische Werkstoffe Isolations-, Sicherungs- und
Schaltprobleme. So werden sie beispielsweise eingesetzt als Sockel für Herdschalter, als
Kochplattenanschlussklemmen, als Lampensockel zur Aufnahme von Glühlampen, als
Gehäuse für Sicherungen, als Potentiometerringe, Spulenkörper für Induktionsspulen und
Zündelektrodenhalter.
Keramikkondensatoren
Bei keramischen Kondensatoren wird neben der Funktion als Isolierstoff die Fähigkeit des
Dielektrikums, elektrische Ladungen zu speichern, genutzt. Je nach Zusammensetzung und
Eigenschaften unterscheidet man drei Kondensatortypen.
Kondensatoren mit Permitivitätszahlen von 20 - 600 zeigen eine lineare Abhängigkeit der
Kapazität von der Temperatur. Als Werkstoffe finden Titanoxid und Erdalkalititanate
Anwendung.
Kondensatorelektrika mit Permitivitätszahlen bis zu 15 000 bestehen im wesentlichen aus
Bariumtitanat. Bei Bariumtitanat liegt der Curiepunkt, also der Umwandlungspunkt vom
ferroelektrischen in den paraelektrischen Zustand, im Bereich der Anwendungstemperatur des
Kondensators. Durch Modifikation des Bariumtitanats kann der Curiepunkt in Richtung
Raumtemperatur verschoben werden.
Durch Dotierung und reduzierende Atmosphäre beim Brand werden halbleitende
Bariumtitanat- oder Strontiumtitanat-Werkstoffe erzeugt. Beim Sintern entsteht um jedes
Korn eine Sperrschicht (intergranularer Sperrschichtkondensator). Mit dieser Vielzahl parallel
geschalteter Kondensatoren geringer Dicke werden scheinbare Permitivitätszahlen zwischen
20000 und 50000 erreicht.
5. Elektrische Eigenschaften
- 213 -
Im Bestreben, immer mehr Kapazität pro Volumeneinheit unterbringen zu können, ist die
Multilayer-Technik entwickelt worden. Dabei werden auf ungebrannte gegossene
Keramikfolien Edelmetallbeläge aufgedruckt, die Folien gestapelt, zusammengepresst und in
einzelne Kondensatoren getrennt und gebrannt. Nach dem Brand erfolgt die Verbindung der
Elektroden, die sich zwischen den bis zu 0,02 mm dünnen Schichten befinden, durch
Metallisierung der Stirnflächen der Chips
Keramik-Vielschicht-Chipkondensator
Abb. 5.3.2
NTC-Widerstände
Der spezifische Widerstand ρsp von keramischen NTC-Widerständen (Negative Temperature
Coefficient) nimmt mit der Temperatur annähernd exponentiell ab.
⎛ B⎞
ρ sp ( T) ∝ ρ ∞ exp⎜ ⎟
⎝ T⎠
In dieser Gleichung ist ρ∞ = ρsp (T → ∞). NTC-Widerstände werde aus halbleitenden Oxiden
mit einer Spinellstruktur (AB2O4) hergestellt, wobei die A-Plätze und/oder die B-Plätze mit
Kationen unterschiedlicher Wertigkeit besetzt sind. Die Verbindungen stellen damit stark
dotierte Grundsubstanzen dar. Im relevanten Temperaturbereich befinden sich die Materialien
weitgehend im Zustand der Störstellenerschöpfung (s. Abb. 5.1.10).
Bei diesen Heißleitern nimmt der Widerstand also mit steigender Temperatur ab (Abb. 5.3.3).
Halbleitende NTC-Oxide bestehen, wie bereits erwähnt, aus Mischkristallen mit
Spinellstruktur, die sich aus zwei bis vier Kationen der Gruppe Mn, Ni, Co, Fe, Cu und Ti
zusammensetzen. Da eine heterovalente Besetzung von Gitterplätzen vorliegt und der
- 214 -
5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen
Ladungsaustausch zwischen A- und B-Plätzen eine relativ hohe Aktivierungsenergie hat, ist
der spezifische Widerstand bei Raumtemperatur relativ hoch.
Temperaturabhängigkeit des Widerstandes R in verschiedenen NTC-Widerstandstypen [19]
Abb. 5.3.3
NTC-Widerstände werden als Temperatur- oder Wärmeableitsensoren verwendet oder sie
übernehmen Schutzfunktionen in elektronischen Schaltungen. NTC-Widerstände werden als
Temperatursensoren beispielsweise zur Kontrolle der Temperatur des Motorblocks, des
Kühlwassers, des Öls und der Bremsflüssigkeit in einem Auto verwendet. Elektronische
Fieberthermometer
haben
im
Krankenhausbereich
aufgrund
der
höheren
Handhabungssicherheit und der besseren Ablesbarkeit bereits weitgehendst die älteren
Quecksilberthermometer verdrängt. Bei Sensoren für die Wärmeleitfähigkeit wird die
Temperaturänderung eines unter konstantem Strom selbst aufgeheizten NTC-Elements bei
einer Änderung des Wärmeleitkoeffizienten genutzt.
PTC-Widerstände
Kaltleiter oder PTC-Widerstände (Positive Temperature Coefficient) sind Bauelemente, deren
spezifischer Widerstand mit steigender Temperatur zunimmt. Keramische PTC-Widerstände
5. Elektrische Eigenschaften
- 215 -
können in einem beschränkten Temperaturbereich eine Zunahme des Widerstands über
mehrere Zehnerpotenzen aufweisen (Abb. 5.3.4).
Temperaturabhängigkeit des spezifischen Widerstandes von PTC-Keramik
Abb. 5.3.4
auf der Basis von donator-dotiertem Bariumtitanat [19]
Für technische Anwendungen spielt insbesondere Bariumtitanat (BaTiO3) eine entscheidende
Rolle. In diesem Material ist die Auswirkung des Übergangs zwischen der ferroelektrischen
und der paraelektrischen kubischen Phase für den ausgeprägten PTC-Effekt verantwortlich.
Im Kaltwiderstandsbereich, der sich bis zur Curietemperatur TC erstreckt, zeigt das Material
einen für halbleitende Titanatkeramik typischen niedrigen spezifischen Widerstand von 0,1 1 Ωm. Im PTC-Bereich steigt der Widerstand um 5-7 Größenordnungen an. Oberhalb von
Tmax schließt sich ein NTC-Bereich an, in dem die Leitfähigkeit wie bei jedem thermisch
aktivierten Transportprozeß mit der Temperatur zunimmt. Durch Mischkristallbildung kann
der Übergang zwischen dem Kaltwiderstandsbereich und dem PTC-Bereich auf der
Temperaturachse verschoben werden (Abb. 5.3.5).
- 216 -
5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen
Temperaturabhängigkeit des spezifischen Widerstandes von PTC-Keramik auf der Basis von
Abb. 5.3.5
donator-dotierten BaTiO3 (——), (BaPb)TiO3 (------) und (Ba,Sr)TiO3 (-·-·-·-) [19]
PTC-Widerstände werden als Temperaturfühler, zum Überlastschutz, als Heizelemente und
zur Endmagnetisierung eingesetzt. Aufgrund der hohen Temperaturabhängigkeit des
spezifischen Widerstands innerhalb des PTC-Bereichs können Kaltleiter mit kleinem
Volumen als Temperaturfühler zur Überwachung von Über- oder Untertemperatur verwendet
werden.
Außerdem
werden
PTC-Widerstände
zum
Überlastschutz
von
Leistungsbauelementen (z.B. Motoren) genutzt. Bei elektrischer oder thermischer
Überlastung wird der PTC-Widerstand hochohmig und reduziert dadurch den Strom durch die
Last auf einen kleineren Wert. Zum thermischen Überlastschutz muss der PTC-Widerstand
thermisch mit der Last gekoppelt sein. Nach Wegfall der Überlastung und nach Abkühlung
des PTC-Widerstands ist die Schaltung wieder funktionstüchtig. Die ausgeprägte positive
Temperaturcharakteristik des Widerstands bewirkt eine Selbststabilisierung der Temperatur,
wenn ein PTC-Widerstand durch eine angelegte Spannung aufgeheizt wird. Dies bedeutet,
dass beim Einsatz von PTC-Keramik als Heizelement für einfache Anwendungen keine
zusätzlichen Thermostate und elektronischen Regelschaltungen zur Temperaturbegrenzung
und Stabilisierung benötigt werden.
5. Elektrische Eigenschaften
- 217 -
Keramische Supraleiter
In der September-Ausgabe von 1986 der „Zeitschrift für Physik“ beschreiben die beiden
Physiker Alex Müller und Georg Bednorz in Zürich, dass die keramische Substanz LantanBarium-Kupferoxid bereits bei relativ hohen Temperaturen von 35 Kelvin (-238 °C) jeglichen
elektrischen Widerstand verliert (Abb. 5.3.6).
Sprungtemperatur von Lantan-Barium-Kupferoxid bei verschiedenen Stromdichten [21]
Abb. 5.3.6
Auf der Basis von Kupferoxid Supraleitern wurden nach der Erfindung von Bednorz und
Müller yttriumoxidhaltige Supraleiter mit Sprungtemperaturen von 90 Kelvin entwickelt.
Dies waren die ersten Supraleiter mit einer Sprungtemperatur über 77 Kelvin, d.h. sie ließen
sich in preiswertem flüssigen Stickstoff hinreichend kühlen. Sprungtemperaturen von 125
Kelvin erreicht man mit einer Verbindung aus Thallium, Barium, Kalzium, Kupfer und
Sauerstoff. Die höchsten Temperaturen von 134 Kelvin wurden bislang durch den Einbau von
Quecksilber in die oxidischen Gitter erreicht (Abb. 5.3.7 bis 5.3.9).
- 218 -
5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen
Einige Varianten von Kupferoxid-Supraleitern [20]
Abb. 5.3.7
Anstieg der Sprungtemperatur [22]
Abb. 5.3.8
5. Elektrische Eigenschaften
- 219 -
Technisch relevante keramische Hochtemperatur-Supraleiter [20]
Abb. 5.3.9
Man kennt heute weder die absolute obere Temperaturgrenze für Supraleitfähigkeit noch sind
die grundlegenden Wechselwirkungen, die in keramischen Materialien bei spezifischen
Sprungtemperaturen den elektrischen Widerstand zusammenbrechen lassen, vollständig
geklärt.
In Materialien, die eine Sprungtemperatur nur wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt
aufweisen, bilden die Elektronen sogenannte Cooper-Paare. Im Gegensatz zu einzelnen
Elektronen stoßen Cooper-Paare nicht mit ihresgleichen zusammen und werden auch nicht an
den Störstellen im leitenden Medium gestreut. Sie treffen also bei ihrer Fortbewegung auf
keinerlei Widerstand. In einem Supraleiter fließt Strom ohne elektrische Spannung und bleibt
in einem geschlossenen Stromkreis beliebig lang erhalten, sofern das Material unter die
kritische Temperatur gekühlt wird. Die Paarbildung kann man sich mit dem Doppelpass beim
Fußball vorstellen: Zwei Stürmer spielen einander den Ball im Lauf hin und her zu, so dass
keiner ihn unterwegs an den Gegner verliert. Dieses konventionelle Modell der Supraleitung
vermag das Auftreten von Sprungtemperaturen über 35 Kelvin in Kupferoxidkeramiken
allerdings
nicht
zu
erklären.
In
einem
keramischen
Supraleiter
mit
hoher
Übergangstemperatur würden nämlich Elektronen und Phononen sehr stark wechselwirken
und dadurch die Struktur des Materials derart verzerren, dass es nicht mehr supraleitend und
wahrscheinlich sogar nicht einmal mehr leitfähig wäre.
Die heute dominierende Theorie zur Supraleitfähigkeit keramischer Materialien ist das
sogenannte Spinwellenmodell. Demnach kippt eine bewegte Ladung die Spinorientierung
(und somit das magnetische Moment) der Atome im supraleitenden Medium. Der
Ladungsträger erzeugt gleichsam in seinem Kielwasser eine magnetische Störung - eine
Spinwelle. Der Sog dieser Heckwelle zieht einen weiteren Träger an und die beiden bilden ein
Cooper-Paar (Abb. 5.3.10).
- 220 -
5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen
Alte und neue Modelle der Supraleitung [22]
Abb. 5.3.10
Der Mechanismus der Supraleitung in keramischen Materialien ist also nicht eindeutig
geklärt, die molekularen Strukturen kennt man mittlerweile allerdings sehr genau. Die
Kristallgitter aller Hochtemperatursupraleiter enthaltenen Ebenen aus Kupfer- und
Sauerstoffatomen, die zwischen Schichten aus anderen Elementen liegen. Bei der Abkühlung
unter die Sprungtemperatur bilden die Kupfer-Sauerstoff-Ebenen perfekte Leitungswege für
Elektronen (Abb. 5.3.11). Durch die entsprechende Auswahl und Anordnung der übrigen
Elemente im Kristallgitter lässt sich die Sprungtemperatur variieren.
In supraleitenden Keramiken teilen sich die Sauerstoff- und die Kupferatome Elektronen, um
einen möglichst günstigen Energiezustand zu erreichen. Die gemeinsamen Elektronen
bewegen sich zwischen den Kupfer- und Sauerstoffatomen und bilden ein sogenanntes
Leitungsband. Werden die Kupferatome auf Oxidationsstufen unter +2 reduziert (d.h. geben
sie im Durchschnitt weniger als zwei Elektronen ab), so bewegen sich nur wenige Elektronen
im Leitungsband. Werden die Kupferatome hingegen auf Stufen von mehr als +2 oxidiert
(geben sie demnach im Mittel mehr als zwei Elektronen ab), so befinden sich sehr viele
Elektronen im Leitungsband. Auch in den Elektronenschalen von Wismut und Blei kann die
Zahl der an Sauerstoff abgegebenen Elektronen schwanken. Unter geeigneten Bedindungen
bilden diese beiden Metalle mit Sauerstoff kovalente Bindungen und setzen Elektronen in ein
Leitungsband frei. Man hat sowohl Blei- als auch Wismutoxide entdeckt, die bei relativ hohen
Temperaturen supraleitend werden.
5. Elektrische Eigenschaften
Supraleitende Kristallstruktur im System Tl-Ba-Ca-Cu-O, Sprungtemperatur 125K [20]
- 221 -
Abb. 5.3.11
- 222 -
5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen
Kristallgitterstruktur von La2CuO4 [20]
Abb. 5.3.12
Die von Bednorz und Müller entdeckten Supraleiter gehen aus der Verbindung La2CuO4
hervor (Abb. 5.3.12). In dieser Verbindung sind die Kupferatome mit sechs Sauerstoffatomen
koordiniert, die an den Ecken eines länglichen Oktaeders sitzen. Wegen der
Energiebedingungen innerhalb der äußeren Schale des Kupferatoms in der Oxidationsstufe +2
sind zwei an gegenüberliegenden Ecken des Oktaeders sitzende Sauerstoffatome stets weiter
vom Kupfer entfernt als die vier übrigen. Diese Strukturverzerrung bedeutet, dass die
Elektronen mit den jeweiligen Orten der Kupfer- und Sauerstoffatome im Kristallgitter in
5. Elektrische Eigenschaften
- 223 -
starker Wechselwirkung stehen, da ihre Energie hochgradig von diesen Positionen abhängt.
Dies wiederum betrachtet man als sehr wichtig für das Auftreten von Supraleitung.
Die Kupfer-Sauerstoff-Oktaeder in La2CuO4 sind durch die vier Sauerstoffatome, die dem
Kupfer am nächsten liegen, miteinander verbunden. Die Kupferatome und ihre nächsten
Sauerstoffnachbarn liegen in einer Ebene. In dieser Ebene werden die supraleitenden
Ladungsträger frei. Dazu musste allerdings die Kristallstruktur von La2CuO4 modifiziert
werden, indem einige Lanthan- durch Bariumatome ersetzt wurden und so die Verbindung
La2-x BaxCuO4 entstand. In dieser Verbindung ist der Ladungsausgleich gewährleistet, wenn
für jedes Bariumatom, das an die Stelle eines Lathanatoms tritt, ein Kupferatom von +2 nach
+3 oxidiert wird. Das vom Kupfer zusätzlich abgegebene Elektron ist nicht räumlich
gebunden sondern geht in das Leitungsband über. Wenn die Kupferatome eine kritische
durchschnittliche
Oxidationsstufe
von
etwa
+2,2
erreichen,
so
schwindet
der
Antiferrimagnetismus vollständig und Supraleitfähigkeit stellt sich ein.
Supraleitende Kristallstrukturen im System Y-Ba-Cu-O, Sprungtemperatur 92K [20]
Abb.5.3.13
Im Gegensatz zu den festen Lösungen, die La2CuO4 supraleitend machen, hat der Supraleiter
YBa2Cu3O7 (die sogenannte 1-2-3-Verbindung) ein vollständig geordnetes Kristallgitter aus
Yttrium, Barium- und Kupfer-Ebenen (Abb. 5.3.13). Auf den Kristallgitterplätzen findet
keine Mischung der Metallatome statt. Die kleinen Yttrium-Ionen (Oxidastionsstufe +3) sind
immer an acht, die großen Barium-Ionen (Oxidationsstufe +2) an zehn Sauerstoffatome
- 224 -
5.3 Spezielle Keramiken für elektrische und elektronische Anwendungen
gebunden. Zwischen den Barium- und den Yttriumschichten sind die Kupferatome
pyramidenförmig
mit
Sauerstoff
koordiniert.
Die
Grundflächen
der
Kupfersauerstoffpyramiden liegen einander - durch eine Lage von Yttrium-Atomen getrennt gegenüber und erzeugen die für die Supraleitfähigkeit erforderliche Kupfer-Sauerstoff-Ebene.
In der Verbindung YBa2Cu3O7 sind die sieben Sauerstoffatome für die Supraleitfähigkeit
ganz besonders entscheidend. Wird der Sauerstoffgehalt nämlich von sieben auf sechs Atome
verringert, entsteht der Isolator YBa2Cu3O6. Die Sprungtemperatur nimmt mit abnehmendem
Sauerstoffgehalt rasch ab (Abb. 5.3.14).
Übergangstemperatur und spezifische Remanenz von YBa2Cu3OX
als Funktion des Sauerstoffgehaltes x [21]
Abb. 5.3.14
6. Magnetische Eigenschaften
- 225 -
6. Magnetische Eigenschaften
6.1. Magnetismus
Nichtleitende Materialien werden in einem elektrischen Feld elektrisch, in einem Magnetfeld
magnetisch polarisiert. Wegen dieser gegenseitigen Wechselwirkungen von elektrischem und
magnetischem Feld existieren auch analoge Größen mit ähnlichen Dimensionen:
Magnetisches Feld: B = μr·μo·H
(6.1.1)
B = magnetische Flussdichte; Einheit: 1T(Tesla) = 1 Vs/m2
H = magnetische Feldstärke; Einheit: A/m
μ0 = magnetische Feldkonstante; μ0 = 4π·10-7 Vs/(Am)
μr = Permeabilitätszahl
Elektrisches Feld: D = εr·εo·E
(6.1.2)
D = elektrische Verschiebungsdichte; Einheit: As/m2
E = elektrische Feldstärke; Einheit: V/m
ε0 = elektrische Feldkonstante; ε0 = 8,85·10-12 As/(Vm)
εr = Dielektrizitätszahl
Magnetismus wird von sich bewegenden elektrischen Ladungen hervorgerufen. Elektronen
vollführen beispielsweise zwei unterschiedliche Bewegungen, nämlich die Orbitalbewegung
und ihre Eigenrotation, den Spin. Das aus den Bewegungen der Kernladung resultierende
Moment ist im Vergleich zu den Momenten der Elektronen sehr gering. Von den beiden
Elektronenmomenten ist vor allem das durch den Elektronenspin verursachte Moment für das
Verhalten magnetischer Stoffe verantwortlich.
- 226 -
6.1. Magnetismus
6.1.1 Dia- und Paramagnetismus
Bei vollständiger Besetzung der Elektronenzustände eines Atoms ist jedes Elektronenorbital
mit zwei Elektronen entgegensetzten Spins besetzt. In diesem Falle heben sich die
Elektronenmomente gegenseitig auf. Beispiele für derartige diamagnetische Substanzen sind
Edelgase, viele ionische und kovalente Verbindungen wie NaCl, H2O, Ge, aber auch Metalle
wie z.B. Zn. Schematisch sind die magnetischen Atommomente dieser diamagnetischen
Werkstoffe in Abb. 6.1.1 A dargestellt.
Schematische Darstellung der magnetischen Atommomente
Abb. 6.1.1
in dia-, para- und ferromagnetischen Stoffen [17]
Bei unvollständiger Besetzung der Elektronenniveaus findet keine vollständige Kompensation
der Elektronenmomente statt. Die Orientierung dieser unkompensierten Momente sind jedoch
ungeordnet (Abb. 6.1.1 B), so dass ein nach außen wirkendes magnetisches Moment nicht
erkennbar wird. Derartige paramagnetische Stoffe sind beispielsweise O2, Al und Ti. Das
magnetische Verhalten von dia- und paramagnetischen Werkstoffen findet so gut wie keine
technische Nutzung, sie gelten gemeinhin als unmagnetisch.
6. Magnetische Eigenschaften
- 227 -
6.1.2 Ferro-, Antiferro- und Ferrimagnetismus
Bei ferromagnetischen Werkstoffen tritt eine Kopplung und gemeinsame Ausrichtung der
unkompensierten Elektronenmomente auf. Ferromagnetismus ist also eine spezielle Form des
Paramagnetismus, die unkompensierten Spinmomente werden hier durch besondere
gegenseitige Wechselwirkungskräfte zu größeren Bereichen, sogenannten Domänen bzw.
Weiss’schen Bezirken parallel ausgerichtet (Abb. 6.1.1).
Ferromagnetismus ist an bestimmte Verhältnisse zwischen Atomabstand und Radius von
Elektronenbahnen gebunden. Neben nicht aufgefüllten 3d- oder 4f-Elektronenzuständen, die
unkompensierte Spinmomente liefern, müssen Ferromagnetika im Gitter ein Verhältnis von
Atomabstand ao und Radius der 3d- bzw. 4f-Elektronenbahn r3d bzw. r4f zwischen 1,5 und 2,0
aufweisen, wenn sich eine domänenkoppelnde Austauschkraft entwickeln soll. Diese
Bedingungen erfüllen von den Elementen nur die Metalle Fe, Co und Ni sowie einige Seltene
Erden (Tab. 6.1.1 C).
3d-Elektronen und Slater-Koeffizienten a0/r3d der Elemente 25 bis 28 [17]
Tab. 6.1.1
Die Grenze zwischen Domänen, in der sich der Orientierungswechsel kontinuerlich vollzieht,
heißt Blochwand (Abb. 6.1.2 ). Die Breite solcher Blochwände beträgt größenordnungsmäßig
einige 100 Atomabstände, die Abmessungen der Domänen liegen in der Größenordnung
< 0,1 mm. Einkristalle oder einzelne Körner im Gefügeverband bestehen im allgemeinen aus
mehreren Domänen. Die Domänen innerhalb dieser Körner oder Einkristalle tragen keine
Vorzugsrichtungen, so dass ferromagnetische Stoffe nach außen nicht magnetisch erscheinen.
Ihr ferromagnetisches Verhalten zeigt sich erst unter dem Einfluss eines äußeren die
Domänen ausrichtenden Magnetfeldes.
- 228 -
6.1. Magnetismus
Änderung der Orientierung magnetischer Atom-Dipole zwischen zwei Domänen [8]
Abb. 6.1.2
Ferromagnetismus besteht nur bis zu einer stoffabhängigen Grenztemperatur, der sogenannten
Curietemperatur. Oberhalb dieser Temperatur wird die Domänenstruktur zerstört.
Wenn das Verhältnis von Atomabstand zum Radius der 3d-Elektronenbahn < 1,50 ist, so
stellen sich bei verringertem Abstand die Spinmomente gleicher Atome in benachbarten
Gitterebenen zueinander antiparallel (Abb. 6.1.3 A). Hierdurch wird die Wirkung der
magnetischen Momente wegen ihrer gleichen Größe vollständig aufgehoben. Es bleibt daher
trotz Domänenanordnung kein resultierendes Moment nennenswerter Größe übrig. Dieses
Verhalten nennt man antiferromagnetisch, Beispiele hierfür sind Mn, Cr, MnO, MnS, FeO
u.a..
Ausrichtung der magnetischen Atommomente
in antiferro- und ferrimagnetischen Stoffen [17]
Abb. 6.1.3
6. Magnetische Eigenschaften
- 229 -
Im Falle von antiferromagnetischen Verbindungen werden die Magnetmomente nur von einer
Komponente aufgebracht, also z.B. nur von Mn in der Verbindung MnO. Bestehen dagegen
Gitter aus zwei verschiedenen Komponenten mit Antiparallelstellung ihrer Spinmomente oder
werden in der Struktur der Gitterplätze mit Antiparallelstellung der Spinmomente nicht in
gleich Zahl besetzt, so findet keine vollständige Kompensation der antiparallelen Momente
statt und es bleibt ein beachtliches Gesamtmoment je Domäne übrig (Abb. 6.1.3 B). Dieses
Verhalten wird als ferrimagnetisch, die entsprechenden Stoffe als Ferrite bezeichnet. Dabei
handelt es sich um wesentlichen um oxidische Substanzen (Tab. 6.1.2).
Kationenverteilung und magnetische Momente von Ferriten mit Spinellstruktur [12]
Tab. 6.1.2
Magnetische Momente der
Ferrit
Resultierendes
Kationenverteilung
(Tetr.)(Okt.2)O4
tetraedrischen
oktaedrischen
Ionen
ZnFe2O4
ZnFe2O4
0
Fe3O4
CoFe2O4
NiFe2O3
Fe3+(Fe2+Fe3+)O4
Fe3+(Co2+Fe3+)O4
Fe3+(Ni2+Fe3+)O4
MnFe2O4
MgFe2O4
Ni0,8Zn0,2Fe2O4
Ni0,6Zn0,4Fe2O4
Ni0,4Zn0,6Fe2O4
magnetisches Moment
theoretisch
beobachtet
0
0
4
3
2
4,1
3,7
2,3
(0,14+1,86) *5
1,1 *5
5
1
4,6
1,1
0,8* 2 + 1,2 *5
0,6* 2 + 1,4 *5
0,4* 2 + 1,6 *5
3,6
5,2
6,8
3,8
5,1
5,2
5
5
5
0
(antiferromagn.)
4+5
3+5
2+5
(Mn2+0,86Fe3+0,14)(Mn2+0,14Fe3+1,86)O4
(Mg2+0,1Fe3+0,9)(Mg2+0,9Fe3+1,1)O4
(0,86+0,14) *5
0,9 *5
(Zn2+0,2Fe3+0,8)(Ni2+0,8Fe3+1,2)O4
(Zn2+0,4Fe3+0,6)(Ni2+0,6Fe3+1,4)O4
(Zn2+0,6Fe3+0,4)(Ni2+0,4Fe3+1,6)O4
0,8 *5
0,6 *5
0,4 *5
Wird ein ferromagnetisches Material in ein äußeres Magnetfeld der Stärke H gebracht, so
findet eine erhebliche Stärkung des Feldes durch reversible und irreversible Wechselwirkung
zwischen Feld und magnetischen Domänen statt. Die Wechselwirkungen bestehen darin, daß
sich zunächst Domänen mit einer zum äußeren Feld günstigen Orientierung auf Kosten
ungünstiger orientierter Domänen vergrößern und sich in Richtung des äußeren Feldes
parallel stellen. Bei einer bestimmten magnetischen Feldstärke H wird ein Zustand
magnetischer Sättigung erreicht Bs (Abb. 6.1.4).
- 230 -
6.1. Magnetismus
Magnetisierungskurve (Neukurve und Hystereseschleife)
Abb. 6.1.4
ferro- bzw. ferrimagnetischer Stoffe [17]
Wird nach Erreichen der Sättigungsflussdichte Bs das Magnetfeld H entfernt, so gehen alle
reversibel verlaufenden Vorgänge zurück, während die irreversiblen Ausrichtungen bleiben
und bei der Feldstärke H = 0 eine Remanenzflussdichte Br verursachen. Der Werkstoff
befindet sich also hier in einem magnetisierten Zustand. Soll die Remanenzflussdichte im
Werkstoff beseitigt werden, muss ein magnetisches Gegenfeld der Größe Hc aufgebracht
werden. Dieses magnetische Gegenfeld wird als Koerzitivfeldstärke bezeichnet. Die in einem
magnetischen Wechselfeld bei der Magnetisierung jeweils bis zur Sättigung erzwungenen
irreversiblen Vorgänge führen zu der in Abb. 6.1.4 dargestellten Hystereseschleife. Die von
der Hysteresekurve eingeschlossene Fläche gibt die bei einem Magnetisierungszyklus
entstehenden Magnetisierungsverluste wieder. Neben diesen magnetischen Verlusten treten
bei höheren Frequenzen zusätzliche Energieverluste durch Wirbelströme auf. Bei
keramischen Magnetwerkstoffen entfallen diese Wirbelstromverluste wegen der fehlenden
Leitfähigkeit.
Je nach Hystereseschleife unterscheidet man weich- und hartmagnetische Werkstoffe. Als
magnetisch weich bezeichnet man ferro- bzw. ferrimagnetische Werkstoffe, die sich leicht
und mit geringen Hystereseverlusten ummagnetisieren lassen, d.h. es muss ein leichter Ablauf
der zur Magnetisierung erforderlichen Bewegungen von Blochwänden gewährleistet sein. Da
die Bewegungsfähigkeit von Blochwänden entscheidend durch Gitterfehler, Fremdatome,
6. Magnetische Eigenschaften
- 231 -
Versetzungen und Ausscheidungen eingeschränkt wird, kommen als weichmagnetische
Materialien möglichst homogene und reine und weichgekühlte Werkstoffe in Frage. In der
Magnetisierungskurve zeichnet sich ein weichmagnetischer Werkstoff durch hohe
Permeabilitätswerte, eine schmale Hysteresekurve und niedrige Koerzitivfeldstärken aus
(Abb.6.1.5 A).
Hystereseschleifen weich- und hartmagnetischer Werkstoffe [17]
Abb. 6.1.5
Ein Dauermagnet soll dagegen seinen einmal erzeugten Magnetisierungszustand auch ohne
Feld oder gar unter dem Einfluss eines anderen Magnetfelds möglichst beibehalten. Dazu ist
eine hohe Sättigungsflussdichte Bs und eine große Koerzitivfeldstärke Hc notwendig
(Abb. 6.1.5 B). In diesem Fall müssen die mit einer Ummagnetisierung verbundenen
Blochwandbewegungen möglichst stark behindert werden. Dies ist in besonderem Maße in
Gefügen mit einem hohen Gehalt an Gitterfehlern (wie Versetzungen, Korngrenzen,
Fremdatomen und feinen Ausscheidungen einer nichtferromagnetischen Phase) der Fall.
- 232 -
6.2. Keramische Magnetwerkstoffe
6.2. Keramische Magnetwerkstoffe
Spinellferrite
Ferrimagnetische Oxide, die als Ferrite bezeichnet werden, haben die generelle Formel
M2+O⋅Fe23+O3, wobei M2+ ein zweiwertiges metallisches Ion wie z.B. Fe2+, Ni2+, Cu2+, Mg2+
darstellt. Darüber hinaus existieren Mischferritte in denen das zweiwertige Kation eine
Mischung aus unterschiedlichen Ionen darstellen kann (z.B. Mg1-xMnxFe2O4), wodurch sich
ein
sehr
großer
Bereich
unterschiedlicher
Zusammensetzungen
und
magnetischer
Eigenschaften in diesen Ferriten ergibt. Im Spinellgitter AB2O4 (Abb.6.2.1) enthält die
Elementarzelle 32 O-Ionen in dichtester Packung. Die 16 B-Ionen befinden sich im normalen
MgAl2O4-Spinell in oktaedrischen, die 8 A-Ionen in tetraedrischen.Lücken. Wegen der
Edelgaskonfiguration aller Ionen ist dieser Spinell allerdings diamagnetisch. In den
sogenannten Inversspinellen werden die dreiwertigen B-Ionen mit den zweiwertigen A-Ionen
in ihren Lagen bis zum Grenzfall B(AB)O4, ausgetauscht. Die zuerst stehenden Kationen
befinden sich dabei in tetraedrischer, die danach stehenden in oktaedrischer Lage. Die
Inversionszahl λ ist dann das Verhältnis der B-Ionen in Tetraederkoordination zur
Gesamtzahl der B-Ionen. Bei Normalspinellen beträgt
λ = 0, bei reinen Austauschspinellen beträgt λ = 0,5. Dazwischen findet man alle Übergänge
mit der allgemeinen Formel (A1-xBx) (AxB2-x)O4.
Kristallstruktur von Spinell (AB2O4) [8]
Abb. 6.2.1
6. Magnetische Eigenschaften
- 233 -
Bei den Ferriten ist das B-Ion ein Fe3+-Ion. Da der Ionenradius der zweiwertigen Kationen
fast immer größer ist als der der dreiwertigen, findet man die zweiwertigen Kationen
bevorzugt in der größeren Oktaederlücke. Alle ferrimagnetischen Spinelle sind mehr oder
weniger Inversspinelle. Das dreiwertige Ion B ist also Fe3+, die zweiwertigen Ionen A werden
durch Fe2+, Co2+, Ni+2, Mn2+, Mg2+, Cu2+, Zn2+ oder Cd2+ gebildet.
Die magnetischen Momente in den Untergittern verlaufen parallel, tetraedrische und
oktaedrische Untergitter sind antiparallel orientiert. Im Normalspinell ZnFe2O4 befinden sich
die Fe3+-Ionen nur in oktaedrischen Lagen (Tabelle 6.1.2). Die magnetischen Momente
orientieren
sich
dort
antiparallel,
d.h.
es
tritt
Antiferromagnetismus
auf.
Die
Austauschspinelle Fe3O4, CoFe2O4, NiFe2O4, MnFe2O4 und MgFe2O4 zeigen dagegen starke
magnetische Momente. Neben diesen Spinellen mit nur zwei Kationen besteht eine große
Vielfalt in der Bildung von Mischkristallen. Am Beispiel von Nickelzinkferriten ist diese
Mischkristallbildung zusammen mit den magnetischen Momenten ebenfalls in Tabelle 6.1.2
zu sehen. Die Bevorzugung der tetraedrischen Koordination durch das Zn-Ion hat zur Folge,
dass die entsprechende Anzahl Fe3+-Ionen in die oktaedrische Lage gedrängt wird, wodurch
sich das magnetische Moment erhöht. Die Einführung einer nichtmagnetischen Komponente
kann daher die magnetischen Eigenschaften dieser Ferrite verbessern.
Perowskitferrite
In der Perowskitstruktur ABO3 existiert Ferromagnetismus bei den Manganiten mit B = Mn3+
oder Mn4+, der auf einer parallelen Orientierung der Momente dieser Kationen beruht. Auch
hier gibt es natürlich Mischkristallbildung wie z.B. La3+Mn3+O3 mit Erdalkalimanganiten des
Typs R2+Mn4+O3.
Granatstrukturen
In der kubischen Granatstruktur A2+3 B3+2 C4+3 O12 (z.B. Ca3Al2[SiO4]3) sind drei Untergitter
vorhanden. Das Ion A tritt in der Koordinationszahl 8, das Ion B in der Koordinatioszahl 6
und das Ion C in der Koordinationszahl 4 auf. Als ferrimagnetisch erwiesen sich Granate der
Zusammensetzung Y3+3 Fe3+2 Fe3+3 O12. Während das Y3+-Ion diamagnetisch ist, sind die
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6.2. Keramische Magnetwerkstoffe
Momente der Fe3+-Ionen in den tetraedrischen und oktaedrischen Lagen antiparallel
ausgerichtet, woraus sich ein resultierendes magnetisches Moment ergibt. Natürlich kann man
auch in diesen Strukturen durch Substitution der Ionen die magnetischen Eigenschaften in
weiten Bereichen beeinflussen. So bewirkt z.B. der Ersatz von Fe3+ in der tetraedrischen Lage
durch z.B. Al3+ eine Erniedrigung, der Ersatz von Fe3+ in der oktaedrischen Lage durch z.B.
Cr3+ eine Erhöhung des Magnetismus.
Hexagonale Ferrite
Hexagonale Ferrite weisen eine Struktur auf, die der Spinellstruktur ähnelt, allerdings sind die
Sauerstoffionen hexagonal dicht gepackt und die Einheitszelle entspricht der Formel AB12O19,
wobei A ein zweiwertiges Ion wie z.B. Ba, Sr oder Pb darstellt und B ein dreiwertiges Ion
von Al, Ga, Cr oder Fe. Die Strukturen bestehen also aus Spinellschichten, die durch Bahaltige
Schichten
getrennt
sind.
Die
wichtigsten
Verbindungen
sind
BaFe12O19,
BaMe2Fe16O27, Ba2Me2Fe12O22 und Ba3Me2Fe24O41.
Korundstruktur
Variiert man die Korundstruktur Al2O3 zu Me2+Me4+O3, dann kann bei geordneter Verteilung
der beiden Kationen Ferrimagnetismus eintreten. Dieser Typ ist bei Co2+Mn4+O3 beobachtet
worden.
Gefügeeinflüsse
Wie bereits erwähnt, lassen sich die magnetischen Eigenschaften durch Variation der
chemischen
Zusammensetzung
der
keramischen
Werkstoffe
in
weiten
Bereichen
beeinflussen. Einige Beispiele sind in Tabelle 6.2.1 am Beispiel von Mangan- und NickelZink-Ferriten zu sehen.
6. Magnetische Eigenschaften
Einige Eigenschaften von Mn-Zn- und Ni-Zn-Ferriten [8]
- 235 -
Tab. 6.2.1
Darüber hinaus beeinflusst aber auch die Korngröße und die Porosität der keramischen
Werkstoffe die magnetischen Eigenschaften. So nimmt z.B. die Permeabilität in
polykristallinen Ferriten mit zunehmender Korngröße zu (Abb. 6.2.2). Man vermutet, dass
mit zunehmender Korngröße die magnetischen Domänen in die Körner eingeschlossen
werden und sie an den Korngrenzen oder durch intergranulare Poren miteinander verbunden
werden. Dadurch wird ihre Bewegung bei der Magnetisierung durch Korngröße und
Porengröße bzw. deren Verteilung beeinflusst.
Einfluss des Korndurchmessers von Mn-Zn-Ferrit
mit unkontrollierter Porosität auf die Permeabilität [8]
Abb. 6.2.2
- 236 -
7. Literatur
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:Grundlagen·Übungen·Lösungen.
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