SWR2 OPER Moderationsmanuskript von Reinhard Ermen Héctor Parra: Libretto: Händl Klaus „Wilde“ Sonntag, 07.06.2015, 20.03 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. 1 Sie hören heute Abend „Wilde“ von Héctor Parra nach einem Libretto vom Händl Klaus. Es handelt sich um einen Mitschnitt von den Schwetzinger Festspielen, wo diese Oper am 22. Mai im Rokoko-Theater uraufgeführt wurde. Am Mikrophon ist Reinhard Ermen. „Wilde“, der kurze, lapidare Titel des Stücks, der zudem etwas in der Luft zu hängen scheint, irritiert auf den ersten Blick. Man darf sich in diesem Falle ruhig eine ‚wilde‘, abseitige Geschichte vorstellen. Das eigene Originalschauspiel von 2003, das der Österreichische Dramatiker Händl Klaus dafür bearbeitete, hieß ursprünglich „(WILDE) Mann mit traurigen Augen“. Gunter, der ‚Mann mit (den) traurigen Augen‘ steigt zu früh aus dem richtigen Zug und landet am falschen Ort, er gerät buchstäblich unter die Räder, vielleicht sogar unter die ‚Wilden‘. Dabei erscheint anfangs doch alles so normal, - so verdächtig normal. Dass der Kommentar zur Oper jetzt so zielstrebig auf die Handlung zugeht, verdankt sich einer Besonderheit. Der wunderbare aber auch etwas seltsame Dichter Händl Klaus, der 1968 in Innsbruck geboren wurde, legt mit diesem Text sein drittes Libretto für die Schwetzinger Festspiele vor. Voran gingen zwei Arbeiten für den Komponisten Georg Friedrich Haas, ein drittes Büchlein für Haas wird in der nächsten Saison folgen. Dieser Autor ist damit eine offensichtliche Leitfigur der aktuellen Schwetzinger Dramaturgie. Die Musik ist davon letztlich nicht zu trennen, aber sie erscheint in einem etwas anderen Licht … Der Komponist heißt also Héctor Parra. Er wurde 1976 in Barcelona geboren und ist schon jetzt ein Weltbürger seiner Zunft, ein vielgefragter und vielfach ausgezeichneter Musiker. Studiert hat unter anderem bei Brian Ferneyhough, Jonathan Harvey und Michael Jarrell. Diese Phalanx der Lehrer steht weniger für das beliebte Namedroping der Fachleute, sondern vor allen Dingen für eine Ästhetik, die den hohen komplexen Anspruch seiner Kunst mit klangsinnlichem Charisma vereint. So jedenfalls ließe sich diese Ahnenreihe interpretieren. Zur Zeit unterrichtet er am renommierten IRCAM in Paris Komposition. Parra hat in Barcelona auch einige Semester Germanistik studiert; das ist nicht ganz unwichtig in diesem Zusammenhang. Wichtig ist möglicherweise auch der Hinweis auf die Tatsache, dass „Wilde“ seine fünfte Komposition fürs Musiktheater ist. Drei von diesen Arbeiten waren, nach Auskunft des Komponisten, Opern im strengeren Sinne. Im Jahr zuvor gab es zum Beispiel bei der Münchner Biennale „Das Geopferte Leben“, eine moderne Orpheus-Mythe. Interessant an dieser Oper war nicht nur das Libretto der französischen Schriftstellerin Marie NDiaye sondern auch das Konzept fürs Orchester. Im Graben saßen seinerzeit das Ensemble recherche und das Barockorchester Freiburg, also zwei bedeutende, durchaus unterschiedlich gepolte Klangkörper, die in dieser eindrücklichen Produktion auch von zwei verschiedenen Kammertönen aus agierten. Bevor ich gleich auf die neue Schwetzinger Uraufführung zuschreite, soll ein Stück Musik von Héctor Parra folgen, als akustischer Prolog, als Einführung in die Klangwelt des Komponisten. Es gab in Schwetzingen eine Woche vor der Opernuraufführung ein Komponisten Portrait unter dem schönen Titel „Flüchtige Schwingungen“; daraus jetzt „Early Live“ für Oboe, Klavier und Streichtrio mit dem ensemble recherche aus Freiburg. Parra macht sich eine Wissenschaftstheorie über die Entstehung des Lebens zu Eigen. Gemeint ist das „genetik takeover“, also die ‚genetische Wachablösung‘ wie sie der schottische Biologe Graham Cairns-Smith kreiert hat. Danach hat das Leben, bzw. der Schritt zum Leben “mit sich selbst replizierenden anorganischen Kristallen begonnen, die sich in einer kontinuierlichen Evolution an die Umgebung anpassten.“ Das wäre, ganz kurz gesagt, bzw. sehr verkürzt das Modell für einen faszinierenden musikalischen Verdichtungsprozess, wobei die fehlerhaft replizierten Kristalle, denen sich die Gene verdanken, mit gedacht werden. Zu hören ist im weitesten Sinne eine sich selbst generierende Struktur, deren Linien und Widerhaken nach knisternden Anfängen zu einem komplizierten Eigenleben heranwachsen. Dreizehneinhalb Minuten dauert dieses auskomponierte Crescendo und Decrescendo. „Early Life“ für Oboe, Klavier & Streichtrio (ensemble recherche) = 13‘30“ 2 „Early Live“, also: ‚Frühes Leben‘ für Oboe, Klavier & Streichtrio mit dem ensemble recherche. Aufgenommen beim Komponistenporträt Héctor Parra in Schwetzingen, knapp eine Woche vor der Uraufführung der Oper „Wilde“. – Am Mikrophon ist Reinhard Ermen. Im Anschluss an die letzte Bühnenorchesterprobe hatte ich die Gelegenheit mit Héctor Parra zu sprechen. Der erste Eindruck, was ist das für ein Stück? Der Komponist spricht der Einfachheit halber Englisch. Interview Parra 1 (Overvoice): „Ja, das ist ein starkes Stück, das einen Komponisten schon ganz schön unter Spannung setzt. Es geht nicht einfach nur um Terror, das ist auf seine Art real. Ja, ich geriet unter Zugzwang. WILDE, das ist eine Oper über Vieles, zuerst über die menschliche Verletzlichkeit, über den Verlust der Identität, über den Zusammenbruch in einer Extremsituation, warum nicht: Über Menschlichkeit, die total zerstört wird, wie im Krieg, wie unter der Last einer Krankheit …“ = 1.02 Sie hören es, selbst der Komponist gerät etwas ins Schleudern, wenn er die Intentionen des Stückes auf den Punkt bringen will. Ohne Frage, „Wilde“ ist ein ganz besonderer Untergang, der Extreme mobilisiert, die möglicherweise erst durch Musik zu einer erträglichen Wahrhaftigkeit gelangen können. Doch wie geht ein Spanier, der zwar über beachtliche Deutschkenntnisse verfügt, mit so einem fragilen und explosiven Stück um? Interview Parra 2 (Overvoice): „Zuallererst hat Klaus mir den Text geschickt, Stück für Stück, in Häppchen. Dann habe ich einen Freund von Klaus, Ramon aus Barcelona gebeten, der viel Erfahrung mit der Übersetzung seiner Arbeiten hat, mir eine katalanische Wort-FürWort-Übersetzung zu machen. Das war der erste Schritt. Ich habe natürlich mit Klaus sehr intensiv das Stück durchgesprochen. Er hat für mich auch das Libretto aufgenommen in einer Art halbszenischer Lesung. Und das habe ich auf meinen IPot gespielt und unentwegt gehört. Irgendwann hatte ich das Ganze natürlich auch als Ausdruck. Ich habe da jeden Charakter farbig markiert, denn das ist ein vielfach fragmentierter Text. Das sind sehr konsequent überlappende Charaktere, ein Wort folgt im personalen Wechsel auf das andere. Ich habe diese Sätze für mich komplettiert, wodurch sie einen anderen Sinn ergeben. Das ist ja eigentlich ein Spiel der Sprache mit einer ständigen Vieldeutigkeit. - Man muss wissen, wo man Zäsuren setzt, was man ausdrücken will, um dem Sprachspiel gerecht zu werden. Das hat eine Weile gedauert, also den Text zu verdauen, um eine Musik mit entsprechender Innenspannung zu komponieren. Aber ich kann Ihnen versichern, in dieser Oper kommt alles aus dem Text. Es gibt keine Strukturvorgabe, keine vorangestellte Harmonik oder sowas. Es kam alles aus dem Text.“ = 2.04 Die Art und Weise, wie der Katalane sich den deutschen Text des Österreichischen Dramatikers zu eigen macht, kommt der Schreibweise dieses Autors entgegen. In der Tat, das ist ein „Spiel der Sprache“, die sich gelegentlich sogar verselbständigt. Ja, man hat gelegentlich das Gefühl, dass diese Geschichte einfach so abläuft, dass sie nicht zuvor auf einer Art „Story Board“ entworfen wurde, sondern passiert, weil ein Wort das andere ergibt; wie beim Ping-Pong. Gelegentlich landet das Geschehen dann in Wortfeldern, die sich im Libretto für die Arien anbieten. Typisch auch, das Verteilen semantischer Zusammenhänge auf mehrere Personen, die manchmal Wort für Wort einen Satz sozusagen durchreichen. Aus der Perspektive der Musikwissenschaft, insbesondere der Alten Musik, könnte man sich an einen „Hoquetus“ erinnert fühlen. Ein melodischer Zusammenhang wird durch mehrere Stimmen bedient: Während die eine Stimme schweigt, setzt die andere den angefangenen Gedanken fort. Händel Klaus spitzt diese Dialogtechnik gerne in windschiefen Kurzphrasen zu; deren Extremfall sind Dialogketten, in denen nur ein Wort kreist und zerrieben wird. Sie werden das in der Oper als Angelpunkte wiedererkennen. Was Parra ebenfalls angesprochen hat, ist die Vieldeutigkeit des Gesagten/Gesungen. Das macht auch ein nüchternes Inhaltsreferat der Handlung irgendwie schwer. Wie ganz zu Beginn schon gesagt: Gunter steigt zu früh aus dem richtigen Zug und landet am falschen 3 Ort. Sonntagmittag in der Provinz: Tote Hose. Und der nächste Zug kommt erst morgen. Der Mann will nach Bleibach, aber er landet in Neumünster an der Lau. Er war bei den „Ärzten ohne Grenzen“, hat in Moldawien Gutes getan, und jetzt ist er hier gestrandet. Doch die Brüder Emil und Hanno Flick kümmern sich um ihn. Gunter kann bei ihnen wohnen, und im Hause Flick warten die drei Schwestern Angela, Hedy und Iris. Soweit so gut. Doch die Brüder erscheinen wie Quälgeister, wie lästige Verführer, ja partiell wie Zuhälter. Zusehends wächst sich die fast alltägliche Situation zu einem Sado-Maso Spielchen aus. Ein ratloser Bariton zwischen zwei Tenören, von denen der eine ein virtuos singender Counter ist. Es gibt epische Leitmotive, die Hitze, das schwitzende Opfer und vor allen Dingen der Durst. Ständig ist vom Wasser die Rede, doch weit und breit ist kein Tropfen zu haben. Und dann sind da noch Gunters wartende Eltern in Bleibach. Der Mann will nach Hause, aber es geht nicht. So ließe sich die Geschichte jetzt noch haarklein weitererzählen. Doch die Gefahr besteht, sich in den Vieldeutigkeiten, die Wort für Wort das Geschehen treiben, zu verlieren. Ohnehin hat man das Gefühl, dass die Figuren sich gegenseitig, und damit auch uns, ständig belügen. Was eben gesagt wurde, gilt wenig später nicht mehr. Gunter, der Mann mit dem schweren Koffer, in dem sich noch Verbandsmaterial aus Moldawien befindet, zieht mit. Unterwegs rauben die drei Benzin. Ein alter Mann, der sich später als der alte Vater Flick erweist, wird dabei fast erschlagen. Dann sind die Männer schließlich im Dreimädelhaus der Flicks. Die Schwestern spielen mit ihren Reizen. Sie waren früher Krankenschwestern und wollen heilen, doch wahrscheinlich wollen sie selber erlöst werden. Drei (kunstvolle) Arien über medizinisch, technische Wortfelder, gesungen von einem dramatischen, einem Koloratursopran und einem Mezzo schmücken das Stück. Längst ist die ausweglose Situation ins Absurde gekippt. Was geschieht in diesem Katastrophenhaushalt? Das ist so einfach nicht zu sagen, aber fest steht: Der große Durst wird durch Blut gelöscht! Niemand kommt um, man berappelt sich, - morgen will man sich an der Lau vergnügen und gegebenenfalls noch eine alte Kirche besichtigen. Der Komponist reagiert auf dieses Szenario mit einem dichten Vokal- und Orchestersatz. Sie konnten es in der Kammermusik hören, wie lustvoll er sich in polyphone horror vacui Zustände hineinstürzt. So auch hier. Anregungen kamen von der Bildenden Kunst, das „Haus Ur“, das Gregor Schneider 2001 auf der Venedig- Biennale im Deutschen Pavillon installierte, ist für ihn eine Art optisches Gegenüber seiner Schreibweise: Ein verwinkeltes, ja fatalistisch-kleinbürgerliches Labyrinth. Das passt ohne Frage. Garanten von Parras klingender Klaustrophobie in „Wilde“ sind das vielbeschäftigte Orchester von etwa 30 Spielern und die kunstvolle Stimmführung der Sänger. Gelegentlich mischen sich Zitate ein, am deutlichsten hörbar Schumanns „Mondnacht“ am Ende des zweiten Teils: Eine geliehene Musik, die mit ihrem falschen Glanz, ein utopisches Moment andeutet, das nicht ganz echt ist. Grundsätzlich gehören solche schwelgerischen Momente dazu. Als Charakteristikum dieser Musik könnte man ein freitonales Dauerespressivo benennen, das bereits mit einem Orchestervorspiel beginnt und auch in dem Orchesternachspiel nochmal ausführlich zu Wort kommt. Auslöser ist der Text, doch die Musik macht für den Komponisten Hector Parra letztlich das Drama … Interview Parra 5 (Overvoice): „Ich liebe ganz allgemein Parallelstrukturen. Das Libretto muss transzendiert werden. Und letztlich ist es die Musik, die das Drama macht; wenn nicht, ist das keine richtige Oper, sondern was anderes. Das Ganze entsteht im Zusammenspiel von allem. Zuerst kommt also der Text, und dann setze ich die musikalischen Strukturen, die die Wahrnehmung auf eine andere Ebene bringen. Ich gehe zum Beispiel genau auf den Rhythmus ein, den Klaus bei den Brüdern gesetzt hat, eben in den Hoquetus Momenten der Brüder. Wenn man zu frei damit umgeht, geht das verloren. Das alles, die Instrumentation, die melodische Skulptur, die Worte, oder was auch immer wächst in einer anderen Dimension zusammen. Das ist Oper! Wenn man all‘ die Libretto ohne die Musik liest, ist das eine andere Welt, eine andere energetische Struktur.“ = 1.49 "Wilde" von Héctor Parra nach einem Libretto von Händl Klaus; die Ausführenden sind: 4 Gunter: Ekkehard Abele Hedy: Marisol Montalvo Angela: Mireille Lebel Iris: Lini Gong Hanno: Vincent Lièvre-Picard Emil: Bernhard Landauer Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Leitung: Peter Rundel Der Vollständigkeit halber sei noch gesagt, dass in Schwetzingen der spanische Regisseur Calixto Bieito inszenierte, in einer Szene von Susanne Gschwender. Zu sehen war ein dreigeschossiger Rohbau aus Holzverschalungen, der diagonal in den Bühnenraum gewuchtet war. Das Orchester saß links daneben. Bieito hat das (für seine Verhältnisse) ungewöhnlich diskret gemacht. Er hatte wohl eine Leidensgeschichte im Sinn, die Passion des Mannes mit den traurigen Augen. Das trifft vielleicht nicht exakt in das Herz des Dramas, ist aber als Sichtweise auf ein Stück, das so offen und vieldeutig erzählt ist wie diese Oper, möglich. Geräusche von der Szene fügen sich rhythmisch eigenständig, aber perfekt eingepasst in das Geschehen. Die Textverständlichkeit ist im Übrigen in diesem Mitschnitt besser als vor Ort. Gelegentlich sind die Radiohörer durchaus im Vorteil. - Etwa 100 Minuten dauert dieses vielschichtige Musiktheater-Abenteuer. WILDE von Héctor Parra & Händl Klaus. Zeit insgesamt, mit Einführung und Oper (inkl. Beifall): 02.15.00. SWR2 Opernabend, heute mit einem Uraufführungsmitschnitt von den Schwetzinger Festspiele. Zu hören war „Wilde“ von Héctor Parra nach einem Libretto von Händl Klaus. Die Ausführenden waren: Gunter: Ekkehard Abele Hedy: Marisol Montalvo Angela: Mireille Lebel Iris: Lini Gong Hanno: Vincent Lièvre-Picard Emil: Bernhard Landauer Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Leitung: Peter Rundel Unsere Aufnahme entstand am 22., 24, und 25. Mai im Rokokotheater. Ton, Technik und Schnitt: Thomas Angelkorte, Wilfried Wenzl und Tanja Hiesch. Redaktion und Einführung: Reinhard Ermen. Overvoice: Bernd Künzig 5