Die Wirksamkeit von Krebsmedikamenten mathematisch vorhersagen

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Die Wirksamkeit von Krebsmedikamenten
mathematisch vorhersagen
Neue Krebsmedikamente werden oft nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ ausprobiert.
Der Grund dafür ist, dass die molekularen Prozesse der Medikamentenwirkung im
Tumorgewebe bisher oft nur im Ansatz verstanden werden. Am Stuttgart Research Center
Systems Biology (SRCSB) der Universität Stuttgart wird seit dem Jahr 2013 in einem
Forschungsverbund daran gearbeitet, die Wirkungsweise solcher Medikamente
vorherzusagen. Dabei kombinieren die Wissenschaftler molekularbiologische Experimente
mit aufwendigen mathematischen Modellen, um so ein ganzheitliches Verständnis von
Erkrankung und Therapie zu erlangen. So soll in Zukunft die Entwicklung von
Krebsmedikamenten effizient begleitet werden: Neue, vielversprechende Wirkstoffe aus
gentechnisch hergestellten Proteinen könnten dann schneller und kostensparender auf den
Markt gebracht werden. Erste Wirkstoffkandidaten wurden bereits entwickelt.
PREDICT steht für ein ehrgeiziges Projekt mit dem Namen „Holistic multi-scale modeling of
targeted protein therapeutics action: Towards predicting effective treatment of cancer“, an
dem seit Anfang 2013 acht Arbeitsgruppen aus vier Instituten der Universitäten Stuttgart und
Tübingen, der Robert Bosch Gesellschaft für medizinische Forschung, des Stuttgarter RobertBosch-Krankenhauses sowie der Unternehmen Bayer Technology Services (BTS) und Celonic
GmbH arbeiten. Koordiniert wird das Verbundforschungsprojekt, das vom BMBF mit insgesamt
3,5 Millionen Euro gefördert wird, am Stuttgart Research Center Systems Biology (SRCSB). Die
Wissenschaftler haben es sich dabei zum Ziel gesetzt, ein ganzheitliches mathematisches
Modell zu entwickeln, mit dem sie die Wirkung von Krebsmedikamenten vorhersagen und
damit den Entwicklungsprozess in Labor und Klinik beschleunigen können. Parallel dazu
arbeiten Molekularbiologen an der Entwicklung solcher Medikamente: Proteintherapeutika als
Wirkstoffkandidaten gegen Darmtumoren.
Diese mathematischen Modelle werden mit Hilfe einer Multiskalen-Modellierung erstellt „einer Spezialität in Stuttgart“, wie Prof. Dr. Dr. h.c. Matthias Reuss, Teilprojektleiter am SRCSB,
erklärt: „Das heißt, einer Modellierung auf mehreren Ebenen. Man beginnt auf der untersten
Skala der Moleküle und ihrer Interaktionen, weiter über die Kette von Reaktionen der
subzellulären Ebene, dann über die nächsten Ebenen der Zell-Zell-Interaktionen und
schließlich von Gewebe und Tumor, der Organ-Ebene, bis hin zum Ganzkörpermodell. Damit
lässt sich die Dynamik der Medikamentenverteilung im Körper modellmäßig abbilden.“
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Prof. Dr. Klaus Pfizenmaier ist Koordinator des Projekts PREDICT. Er möchte mit seinen Mitarbeitern bis Ende 2015
einen validierten Prototypen für einen Wirkstoff gegen Darmkrebs entwickeln © SRCSB
Die Methoden dazu wurden am SRCSB in Kooperation mit Bayer Technology Services selbst
entwickelt. Voraussetzung für die mathematischen Modelle sind zunächst unter anderem
experimentelle Untersuchungen der Pharmakokinetik - der Verteilung und Aufnahme der
Medikamente - und Pharmakodynamik - der Wirkung im Körper. Diese Ergebnisse werden mit
biochemischen und histologischen Untersuchungen sowie mit bildgebenden Verfahren am
Kleintiermodell gewonnen und dann als Modell ausgearbeitet. „Jeder Tumor ist einzigartig“, so
Reuss. „Man kann sie aber gruppieren, und diese Gruppen werden dann in unserem Modell
unterschiedlich behandelt.“
Mathematische Modelle unterstützen die Wirkstoffentwicklung
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Prof. Dr. Dr. h.c. Matthias Reuss ist für die mathematischen Modelle des Projekts PREDICT verantwortlich. © SRCSB
Die Entstehung und das Wachstum solcher Tumoren sind äußerst komplexe und individuelle
Prozesse: ein dynamisches und vielschichtiges System, das sich nicht so einfach linear
beschreiben lässt, sondern eine komplexe mathematische Strukturierung erfordert. Wollte
man alle Parameter ganz ohne Vorhersagen rein empirisch untersuchen, wäre dies ein
enormer Aufwand, der aus praktischen Gründen nicht zu bewältigen ist und auch wenig
Aussicht auf Erfolg hat.
Deshalb werden die Lücken zwischen den Experimenten im Labor mit Hilfe von
mathematischen Modellen überbrückt. „Wir entwickeln mathematische Modelle der
biologischen Prozesse bei der Tumorentwicklung, die uns dann Vorhersagen für die
Laborexperimente liefern und damit die Wirkstoffentwicklung wesentlich beschleunigen“, sagt
Prof. Dr. Klaus Pfizenmaier, Koordinator von PREDICT und Leiter des Instituts für Zellbiologie
und Immunbiologie der Universität Stuttgart.
Personalisierte Krebstherapie mit Proteinwirkstoffen
Die Modelle, die in Stuttgart entwickelt werden, zielen auf eine neue Klasse von
Krebsmedikamenten ab: Proteintherapeutika, die zielspezifisch am Tumor wirken. Solche
gentechnisch hergestellten Wirkstoffe sind Fusionsproteine, die die Tumorzellen in den Zelltod
schicken. Sie bestehen aus einer von Antikörpern abstammenden Komponente, die den Tumor
spezifisch erkennt, und einer Zytokinkomponente, die für den programmierten Zelltod
verantwortlich ist. Die tumorselektive Komponente des Fusionsproteins kann auf die speziellen
Merkmale einer bestimmten Tumorart zugeschnitten sein. Die zugehörigen mathematischen
Modelle sind auf diese neuen Tumortherapeutika ausgerichtet und sollen den Verlauf einer
Therapie abschätzen und vorhersagen, bei welchen Patienten das Medikament erfolgreich sein
kann. Bei einer solchen personalisierten Krebstherapie wird der Arzt dann aufgrund der
patientenspezifischen diagnostischen Parameter mit Hilfe der Modelle entscheiden, welcher
Wirkstoff die größte Chance auf Heilung bringt.
Im Verlauf der Therapie können zudem aktuelle Daten, zum Beispiel Ergebnisse aus
bildgebenden Untersuchungen, dazu benutzt werden, das individuelle Modell noch weiter
anzupassen. Vergleichbar sei dies mit der Vorgehensweise bei Wettervorhersagen, so Reuss: „In
der Meteorologie werden die Vorhersagen auch ständig mit aktuellen Wetterdaten abgeglichen
und entsprechend ans Modell adaptiert. Wir sind momentan dabei, eine solche
Verfahrensweise auf die Krebsforschung anzuwenden – aber die Herausforderungen an uns
sind groß.“ Grund dafür sind die vielen unterschiedlichen Skalen der Modelle. Schon allein die
beiden Skalen „Zeit“ und „Raum“ sorgen für ein enormes Spektrum: „Im biochemischen
Bereich liegen diese im Sekundenbereich, bei den klinischen Betrachtungen, ob ein Tumor auf
die Behandlung anspricht, dagegen bei Tagen und Wochen“, erklärt Reuss. „Molekulare
Wechselwirkungen müssen wir auf einer Mikrometerskala betrachten, den Ganzkörper im
Meterbereich. Da muss man sich schon überlegen, wie man so etwas überbrückt.“ Zudem
kommt dann noch die Erweiterung auf den dreidimensionalen Raum: „Das ist mathematisch
sehr anspruchsvoll“, meint Reuss. Das Spektrum an Skalen hat eine enorme Datenmenge zur
Folge, die verarbeitet und gesichtet werden muss. „Glücklicherweise sind wir hier in Stuttgart
durch das Hochleistungsrechenzentrum in der Lage, dies zu bewältigen: Seine ca. 30.000
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Prozessoren ermöglichen es den Wissenschaftlern des SRCSB, die aufwendigen Simulationen
parallel durchzuführen."
Mit Hilfe der Multiskalen-Modellierung wird die Dynamik der Verteilung von Krebsmedikamenten im Körper simuliert,
beginnend auf der Skala der Moleküle und ihrer Wechselwirkungen über die zelluläre Ebene hin zu Geweben und
schließlich der Organebene bis hin zum Ganzkörpermodell. © SRCSB
Erster Medikamenten-Prototyp zeigt Wirkung
Konkrete Ergebnisse gibt es nach nur anderthalb Jahren Forschungsarbeit auch schon:
Beispielsweise haben die Biowissenschaftler den Prototypen eines gentechnisch hergestellten
Fusionsproteins entwickelt, der in Gewebemodellen und Tierversuchen bereits hervorragende
Wirkung zeigte. Außerdem wurde ein Modell auf Einzelzellebene erstellt, das das
programmierte Absterben der Tumorzellen zuverlässig beschreibt. Allerdings besteht ein
Tumor in der Regel aus Milliarden Zellen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr verschieden
sind. Die nächste Herausforderung an die Mathematiker wird es deshalb sein, für eine solche
Zellpopulation Modelle zu entwickeln. „Plan ist es, bis Ende 2015 mit einem ersten validierten
Prototypen für einen Wirkstoff gegen Darmkrebs aufzuwarten“, erklärt Pfizenmaier. „Und wir
hoffen, dass wir für dieses Medikament auch einen Partner finden, der bereit ist, den
Prototypen weiterzuentwickeln - also die nächsten Schritte von Produktion, präklinischer und
klinischer Prüfung zu begleiten. Das ist mit enormen Kosten verbunden. Alles hängt aber ganz
davon ab, wie sich die Datenlage im nächsten Jahr gestaltet. Es sieht aber bisher ganz gut
aus.“
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Fachbeitrag
21.07.2014
pbe
BioRegio STERN
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
Weitere Informationen
Prof. Dr. Klaus Pfizenmaier
Stuttgart Research Center Systems Biology (SRCSB) und
Institut für Zellbiologie und Immunologie der Universität Stuttgart
Allmandring 31
70569 Stuttgart
Tel.: 0711 685-66986
E-Mail: klaus.pfizenmaier(at)izi.uni-stuttgart.de
Stuttgart Research Center Systems Biology
(SRCSB)
Der Fachbeitrag ist Teil folgender Dossiers
Systembiologie: das Komplexe begreifbar machen
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