Autor und Sprecher: Jörn

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SWR2 WISSEN - Manuskriptdienst
„Vorsicht, Qualle! Gefahr für Mensch und Meere”
Autor und Sprecher: Jörn Freyenhagen
Redaktion: Sonja Striegl
Sendung: Mittwoch, 14. Juli 2010, 8.30 Uhr, SWR2
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Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
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Atmo 1: Wasserplätschern
O-Ton 1 - Jamileh Javid:
Meine Qualle kann auch leuchten, und man sieht im Aquarium diese kleinen Jellys,
die mehr als 95 Prozent aus Wasser bestehen, die sehen so schön aus und diese
kleinen können auch viel tun, das man wahrscheinlich nicht von dem ersten Blick
dran denken kann. Die vermehren sich so schnell und nach einer Woche, die
können einfach Aquarium voll mit den Quallen haben.
Autor:
Jamileh Javid vom Leibniz-Institut für Meereswissenschaften in Kiel bricht eine
Lanze für die Quallen. Doch die Tiere sind nicht sonderlich beliebt. In einigen
Meeresgebieten haben sie sich explosionsartig vermehrt, erreichen Rekordgrößen
von acht Meter Länge und 200 Kilogramm Gewicht. Die massenhaften Vorkommen
bedrohen die Fischerei und bringen das Ökosystem durcheinander. Wer den giftigen
Quallen zu nahe kommt, muss um sein Leben fürchten.
Ansage:
„Vorsicht, Qualle! - Gefahr für Mensch und Meere“. Eine Sendung von Jörn
Freyenhagen.
Atmo 2: Metallgeräusche / Wasserplätschern
Autor:
Das kleine, wendige Forschungsschiff „Polarfuchs“ kreuzt in der Kieler Förde. An
Bord muss jeder Handgriff sitzen. Das Team von Meeresbiologin Jamileh Javid
befestigt gerade Metallhaken an Planktonnetzen, die nach und nach an einer
bestimmten Stelle ins Wasser gelassen werden. Die aus dem Iran stammende
Wissenschaftlerin will das Vorkommen der Quallen in dieser Bucht am Rande der
Ostsee untersuchen:
O-Ton 2 - Jamileh Javid:
Ich sammel das Wasser von drei verschiedenen Tiefen, null Meter, sieben Meter
und 18 Meter für Plankton-Zählung und hier ist ungefähr zwischen 20 bis 21, 22
Metern, aber das ist ja die tiefste Stelle in der inneren Förde. Die Larven sind ganz
klein, kleiner als 1 Millimeter, und ich muss von jeder Tiefe, was ich genommen
habe jetzt, dreimal halbe Liter rausnehmen. Deshalb brauche ich diese Zylinder, um
zu messen, wie viel Wasser ich am Ende genommen habe.
Autor:
Einmal pro Woche halten die Forscher Ausschau nach den Glibbertieren, - die meist
zwischen zehn und 35 Zentimeter groß sind, zum Plankton zählen und sich von
Plankton oder Fischlarven ernähren. Dabei sucht Javid nicht nur nach der hier
heimischen Ohrenqualle, die aussieht wie kleine Ohren, sondern vor allem nach der
amerikanischen Rippenqualle. Die gelangte vermutlich in den Schiffstanks von
Ballastwasser über den Atlantik. Vor vier Jahren entdeckte Jamileh Javid erstmals
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ein Exemplar dieser Art in einer Wasserprobe aus der Kieler Förde. Fast
durchsichtig, harmlos für den Menschen. Trotzdem schlug die Wissenschaftlerin
Alarm, denn die Rippenquallen sind überall als Monster verschrien, wo sie
eingewandert waren. Sie können dort die gesamte Zooplanktonproduktion binnen
kurzer Zeit leerfressen, so dass den Fischen kaum noch etwas zum Überleben
bleibt, berichtet Javids Kollege, der Fischereibiologe Thorsten Reusch vom Kieler
Institut für Meereswissenschaften. Als Beispiel nennt er die Entwicklung im
Schwarzen Meer:
Atmo 3: Schiff / Fahrgeräusche / Wasser
O-Ton 3 - Thorsten Reusch:
Da hat es sieben Jahre gedauert von der Erstsichtung bis zu dem Punkt, wo es eine
massenhafte Vermehrung gab mit den dann vermutlichen Beiträgen zum Fischfang,
der dann komplett zusammengebrochen ist. Das bedeutet, dass wir auf jeden Fall
damit rechnen können und dass wir das intensiv beobachten müssen.
Autor:
Hiobsbotschaften über große Vorkommen von Quallen häufen sich in den letzten
Jahren in Europa und Ostasien. So jagt das Auftreten riesiger Medusen vor den
japanischen Küsten besonders Fischern Angst und Schrecken ein. Die massenhafte
Vermehrung von Quallen habe es in der Erdgeschichte zwar immer wieder
gegeben, erklärt der Meeresbiologe Dr. Gerd Jarms von der Universität Hamburg.
Allerdings kennt er für das aktuelle Phänomen der Wurzelmundqualle in Japan
keinen vergleichbaren Fall. Denn diese sind aus einem Zuchtprojekt der Chinesen
entwichen, das für Nahrungszwecke entwickelt wurde:
O-Ton 4 - Gerd Jarms:
Die Jugendstadien dieser Quallen setzen sie dann in ein vermeintlich
abgeschlossenes Seegebiet und behaupten, sie würden 99 komma Prozent wieder
fangen, aber offenbar hat sich das Strömungsregime etwas verändert und ihnen
sind dann aus diesem Bereich die großen Quallen abgedriftet, die kommen dann
zwangsläufig bei den japanischen Inseln an und wenn so Nassgewicht ein bis zwei
Zentner schwere Tiere dann in den Netzen sind und man zieht die Netze hoch, dann
können die natürlich reißen, außerdem werden sie natürlich schon im Wasser
verstopft und die Fänglichkeit für Fische lässt nach und das ist natürlich für die
Fischerei in Japan eine erhebliche Einbuße.
Autor:
Die Wurzelmundquallen sind in China begehrt, weil sie weniger Wasser als ihre
europäischen Artgenossen enthalten, dafür aber mehr Eiweiß. Getrocknet und
später gekocht, sind sie eine beliebte Beilage zu vielen Gerichten. Auch weil diese
Art für den Menschen unbedenklich ist. Im Gegensatz zu den Würfelquallen in
Australien, den Seewespen. Sie gelten als die giftigsten Quallen der Welt, obwohl
ihr englischer Name „Boxjelly“ eher verharmlosend klingt:
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O-Ton 5 - Gerd Jarms:
Diese Quallen haben an vier Ecken jeweils so 15 Tentakel, die jeweils bis zu zwei
Meter lang werden und einer alleine langt, um einen erwachsenen Menschen
umzubringen, d. h. sie können auf einen Schlag 60 Menschen locker umbringen,
aber wir haben ja selber Schuld: Warum gehen wir da baden? Wir gehören da nicht
hin.
Autor:
Wobei einheimische Erwachsene, die Aboriginals, Gewässer mit den gefährlichen
Quallen meiden. Menschen zählen auch gar nicht zum Beuteschema der Quallen.
Unklar ist, warum sie in die Ufernähe kommen und wo sie sich sonst mit Vorliebe
aufhalten. Von sich aus würden Quallen nie Schwimmer angreifen, sondern
verteidigen sich nur, wenn jemand ihnen zu nahe kommt. Zum Beispiel tobende
Kinder von Eingeborenen, denen sie nicht mehr ausweichen können. Für die
Quallen normalerweise kein Problem, denn auch sie sind gute Schwimmer und
haben Augen:
O-Ton 6 - Gerd Jarms:
Mit denen sie Sie erkennen können auf 1,50 Meter etwa, und drehen dann ab, und
wenn sie diese schwarzen Menschen dort hineingehen sehen, hauen die ab. Die
können aktiv ihren Ort auswählen, wo sie hinwollen. Die patrouillieren die Strände
auf und ab und können dann eben hell und dunkel und gewisse Formen
unterscheiden. Sie haben vier mal sechs Augen und davon sind zwei Linsenaugen,
so wie Sie haben und ich hab, auch mit einer nervösen Verschaltung, nicht so
kompliziert. Sonst wären die Quallen auch schon ausgestorben. Das ist alles sehr
einfach aufgebaut, aber sehr effektiv.
Atmo 4: Meeresrauschen
Autor:
Quallen gibt es schon seit rund 670 Millionen Jahren auf unserem Planeten. Der
Mensch betrat erst vor 4,5 Millionen Jahren die Bühne irdischen Lebens.
Majestätisch gleiten die Quallen durch die Ozeane, wie Fallschirme, die in Zeitlupe
durch Rückstoßbewegungen vorwärts kommen. Sie durchmischen das Wasser,
sorgen sogar dafür, dass tiefere Schichten nach oben dringen. Der relativ einfache
Bauplan der grazilen, gallertartigen Organismen ist wahrscheinlich der Grund für
ihre lange Existenz im nassen Element, vermutet der Kieler Fischereibiologe
Thorsten Reusch:
O-Ton 7 - Thorsten Reusch:
Allerdings muss man immer aufpassen, auch wenn die vor 600 Millionen Jahren so
aussahen. Das einzige, was wir wissen von denen vor 600 Millionen Jahren, ist die
Morphologie, die Form. Kann sein, dass die eine ganz andere Physiologie hatten,
dass da also unheimlich viel passiert ist an ihren Stoffwechselleistungen. Die
Morphologie ist gleich geblieben.
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Autor:
Rund 1000 verschiedene Quallenarten sind bekannt. Sie zählen zu den
Nesseltieren. Die Biologen differenzieren sie nach ihren Lebensstadien. Wie Raupe
und Schmetterling gibt es Polypen und Medusen. Fast alle Quallen produzieren Gift,
wenn auch in unterschiedlicher Dosierung. Das geschieht in den langen Tentakeln,
die mit Nesselzellen gefüllt sind. Sie sind über die Fangarme verstreut und bilden
ein giftiges Sekret. Sobald diese Zellen berührt werden, platzen die Nesselkapseln
im Inneren der Zelle mit einem Druck von 150 bar auf, das ist das 70- bis 80-fache
des Luftdrucks im Autoreifen. Dann schießen sie einen Nesselfaden blitzartig nach
außen. Es gibt kaum eine schnellere Reaktion im gesamten Tierreich, betont
Quallenexperte Gerd Jarms.
Der Giftcocktail wird freigesetzt, und der hat es in sich:
O-Ton 8 - Gerd Jarms:
Diesen Giftcocktail, den brauchen die Tiere, um sich zu verteidigen, aber sie
brauchen ihn auch, um Beute zu erwerben. Und je nach Größe der Beute richtet
sich die Giftstärke. Die Ohrenqualle z. B. frisst ganz kleines Plankton oder kleinste
Fischlarven, die braucht nicht soviel Gift, während die Würfelquallen von der
australischen Nordküste eben auch große, kräftige Garnelen und auch Fische
fressen, und dazu brauchen sie natürlich ein sehr viel stärkeres Gift, was diese
Beutetiere sofort lähmt. Denn stellen sie sich mal in dieser filigranen Struktur einer
Qualle eine zappelnde Garnele vor. Das zerreißt die Meduse. Also muss sie sofort
tot sein.
Autor:
Der Wissenschaftsautor Frank Schätzing hat es kommen sehen. In seinem 2004
erschienenen Buch „Der Schwarm“ beschwört er eine von Teilen der Meeresfauna
verursachte Apokalypse herauf: Wale verschwinden spurlos, um bald darauf - von
einer gallertartigen Masse überzogen - tot wieder aufzutauchen. Der peruanische
Fischer Ucanan wird auf hoher See Opfer eines vermeintlichen Schwarms
Goldmakrelen. Vor rund zwei Jahren wurde aus der Fiktion plötzlich Realität, als ein
riesiger Schwarm Leuchtquallen zweimal in die Käfige einer nordirischen Lachsfarm
eindrang. Die Medusen waren durch die Meeresströmung heran geschwemmt
worden. Sie ließen das Meer tiefrot leuchten und 100.000 Lachse verendeten an
giftigen Stichen oder am Stress. Jede Hilfe für die Zuchtfische kam zu spät. Ein
Schutz vor solchen Ereignissen sei nicht möglich, sagt Gerd Jarms, der mit Kollegen
in einem Forschungsprojekt geeignete Abwehrmaßnahmen analysiert hatte:
O-Ton 9 - Gerd Jarms:
Weil selbst kleinste abgerissene Teile von Tentakeln immer noch die Nesselwirkung
zeigen. Das merken Sie auch, wenn Sie am Strand spazieren gehen und treten da
in eine Feuerqualle, die da schon einige Stunden liegt. Dann nesselt die immer
noch, und so ist es da auch. Wenn also die Netze von so einem Quallenschwarm
angeströmt werden, dann reißen auch Tentakel ab, die dann durch die Maschen
durchkommen und sich dann mit dem Atemwasser in den Kiemen der Fische
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festsetzen und dabei führt es zu Vernesselungen der Kiemen und das führt
wiederum dazu, dass die Fische nicht genug Sauerstoff kriegen und dann gehen sie
zugrunde.
Autor:
Bei Menschen verursachen die Leuchtquallen schmerzhafte Verbrennungen. Sie
treten nicht nur in britischen und irischen Gewässern massenhaft auf. Auch im
westlichen Mittelmeer haben sie sich zu einer regelrechten Plage entwickelt. Davon
kann Régis Gallego aus Karlsruhe ein Lied singen. Der deutsch-französische
Hobbyforscher, der einst Jacques Cousteau traf, hat aus persönlichem Interesse an
vielen Schiffsreisen mit Wissenschaftlern teilgenommen. Er ist beunruhigt über die
starke Vermehrung der Quallen:
O-Ton 10 - Régis Gallego:
Der Ursprung von dem Ganzen hat stattgefunden zwischen der Küste von Indien bis
an die Küsten von Japan, weil man kann das nicht mehr Ozean oder Meer nennen.
Das ist eine richtige Kloake. Da kann nichts mehr leben, nichts mehr, außer Quallen,
und die haben sich so vermehrt, dass jetzt man kann die überall auf der Welt finden.
Autor:
Régis Gallego beruft sich auf Zahlen aus einer internationalen Erhebung. Danach
gab es 1982 in den Weltmeeren19,5 Milliarden Quallen, in diesem Jahr sollen es
rund 29 Milliarden sein. Den größten Schaden richte die Wurzelmundqualle an, die
aus China stammt und nach Japan verdriftet ist. Besonders diese Art hat einen
Riesenappetit auf Plankton:
O-Ton 11 - Régis Gallego:
Eine von diesen Quallen kann in einer Nacht die Menge von einem olympischen
Schwimmbad leerfressen. Das heißt, im Moment wir haben die Tatsache, dass
diese Quallen eine Fläche so groß wie Baden-Württemberg auf einer Höhe von 500
Metern leerfressen, und zwar jeden Tag.
Autor:
Als Hauptursache für das prächtige Gedeihen der Quallen sieht Régis Gallego die
Meeresverschmutzung, und damit hat er nicht Unrecht. Doch dies sei nur ein Grund
von vielen, erklärt der Kieler Biologe Thorsten Reusch. Ein großes Problem für ihn
ist die Überdüngung. Sie entsteht, wenn Abwässer aus Haushalt und Landwirtschaft
im Meerwasser Nährstoffe bilden, die mehr Plankton als üblich wachsen lassen.
Hinzu kommt die Überfischung. Wenn weniger Fische das Plankton und damit auch
die Quallen fressen, gibt es paradiesische Verhältnisse für die Quallen selbst. Als
Beispiel für diesen doppelten Einfluss nennt Reusch den Limfjord an der Nordspitze
von Jütland in Dänemark:
O-Ton 12 - Thorsten Reusch:
Wo das so aussieht, dass das gesamte Ökosystem sozusagen in einen anderen
Status, nämlich in einen Quallenstatus, umgeschnappt ist. Das ist wahrscheinlich
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das beste Beispiel hier aus der Nähe, und zwar ist es so, dass dort der Limfjord
eben wirklich leergefischt wurde, die Fischerei aber seit Jahren nicht wieder
zunimmt, vermutlich weil jetzt sehr hohe Quallendichten eben aus der Ohrenqualle,
aber auch aus der eingeschleppten Rippenqualle das Zooplankton vertilgen, und
dieses Zooplankton, was ja das zweite Glied in der Nahrungskette ist, fehlt dann den
Fischen. Also da ist es jetzt zu einer Konkurrenzverschiebung gekommen, die
vermutlich ausgelöst wurde durch Überfischung.
Atmo 5: Arbeit an Bord
Autor:
Die Wissenschaftler beobachten mit Sorge die Entwicklung in anderen
Meeresgebieten und Buchten wie z. B. der Kieler Förde. Dort kontrolliert die
Arbeitsgruppe von Jamileh Javid regelmäßig die Quallenbestände. Die Forscherin
will vor allem wissen, ob die eingewanderte Rippenqualle die ortsansässige
Ohrenqualle verdrängt. Mit Hilfe der Wasserproben sind die Forscher dem
Fortpflanzungsverhalten und jahreszeitlichen Einflüssen auf der Spur:
O-Ton 13 - Jamileh Javid:
Wir haben gesehen, dass diese Art sich immer im Spätsommer vermehrt hat,
manchmal 15fach höher als eine Woche vorher, in ganz, ganz kleinem Raum,
bedeutet, die legen tausende Eier über Nacht pro Individuum, das wiederholt sich
immer jedes Jahr. Die Rippenqualle legt die planktischen Eier, werden nach
ungefähr einem Tag geschlüpft und die werden groß sein, und werden nochmal Eier
produzieren, aber wir wissen wirklich nicht, wie lange ein Individuum lebt.
Atmo 6: Wasserbewegungen
Autor:
Für das übermächtige Vordringen der Quallen machen die Experten immer wieder
die Temperaturerhöhung in den Ozeanen infolge des Klimawandels verantwortlich.
Dafür spricht zum Beispiel die Ausbreitung von südlichen Quallenarten in mehr
nördlich gelegenen Gebieten. Doch noch ist unklar, wie stark dieser Faktor zu
Buche schlägt. Quallenforscher Gerd Jarms glaubt, dass ein anderer vom
Menschen verursachter Grund viel negativer ins Gewicht fällt - die zunehmende
Bautätigkeit im Meer:
O-Ton 14 - Gerd Jarms:
Die Polypen, die festsitzenden Stadien haben sehr viel mehr
Siedlungsmöglichkeiten, die können auf Schlamm oder Sandboden nicht siedeln,
sondern die brauchen so genanntes Hartsubstrat, also Mauern, Pfähle, Steine,
Steilküsten, und da können die siedeln, und diese Siedlungsmöglichkeiten
vermehren wir im Moment durch Jachthäfen, durch Windanlagen, durch Bohrinseln.
Überall da können sich diese Polypen wunderbar ansiedeln, d. h. also, die
Grundausstattung mit festsitzenden Tieren ist wesentlich höher. Die produzieren
natürlich dann auch mehr von den beweglichen Stadien von den Quallen.
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Autor:
Von denen wiederum mehr groß werden können. Denn die natürlichen Feinde der
Quallen - Wale, Schildkröten, Mondfische und viele andere Fischarten - wurden
stark dezimiert. Ein Teufelskreis, der durch die zusätzliche Nahrung aus dem
Plankton noch angeheizt wird.
O-Ton 15 - Gerd Jarms:
Wir haben also mehr Plankton, und die Fische haben wir ja dezimiert. Die fressen
das nicht mehr, die Konkurrenz ist weg. Da können die Quallen sich so richtig
gütlich tun, und es werden immer mehr dann groß, und außerdem, diese
Strobilation, so nennt sich das Abschnüren der Jungquallen, ist temperaturabhängig
und wir haben Versuche gemacht. Ein Anstieg der Temperaturen führt auch zu
vermehrten Strobilationsraten bei einigen Arten, so dass dort nochmal wieder die
Menge erhöht wird.
Autor:
Die festsitzenden Quallen, die Polypen, und die beweglichen Stadien, die Medusen,
haben unterschiedliche Aufgaben. Die Medusen transportieren eigentlich nur die
Eier und Spermien. Aus den befruchteten Eiern entstehen kleine Larven. Sie suchen
einen geeigneten Untergrund. Ist der gefunden, dann siedeln sich die Larven an.
Bald entsteht ein Polyp. Er ist völlig ungeschlechtlich:
O-Ton 16 - Gerd Jarms:
Der frisst und frisst, und kann sich asexuell vermehren durch Ausläuferbildung und
sowas Teilung, und wenn die Bedingungen gut sind, der Ernährungszustand gut ist,
die Temperatur hinhaut und alles passt, dann schnürt er die kleinen Quallen ab. Ein
Polyp bis zu 20 Stück, und wenn Sie da so ein paar Millionen Polypen auf einen
Quadratmeter haben, dann können Sie sich vorstellen, welche ungeheure
Produktion dort einsetzt. Die beweglichen Stadien, diese kleinen Larven, die zu den
geschlechtsreifen Medusen heranwachsen, gehen ja im Herbst wieder ein, während
die Polypen, wenn sie ihre kleinen Medusen auf die Reise geschickt haben, wieder
wachsen, wieder fressen, und das nächste Jahr das wieder tun. Das heißt, sie sind
potenziell unsterblich. Wenn sie nicht gefressen werden, leben sie noch heute.
Autor:
Trotz der massenhaften Vermehrung der Quallen auch in Europa warnt Gerd Jarms
vor einer allgemeinen Hysterie. Für den Menschen seien die hier heimischen Arten
auf keinen Fall tödlich, allenfalls unangenehm. Trotzdem tauchen Meldungen über
Quallenplagen regelmäßig vor allem im Sommer auf, wenn Badende mit ihnen in
Kontakt kommen oder größere Ansammlungen der Tiere im Wasser erblicken.
Jarms plädiert dafür, den Ekel zu überwinden und einmal die Nähe zu einer Qualle
zu suchen. Er schildert ein eigenes Erlebnis aus dem Mittelmeer vor der Küste von
Kreta:
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O-Ton 17 - Gerd Jarms:
Plötzlich kreischten die Badenden auf und rannten raus. Das hat mich natürlich
interessiert, dann bin ich da hingegangen und das war eine wunderschöne
Spiegelei-Qualle, und die hab‘ ich mir dann angeschaut und dann kamen die Leute
langsam wieder, vorsichtig näherten sie sich diesem gefährlichen Tier an und dann
hab‘ ich sie aufgeklärt, was das ist, und die sind ja wunderhübsch die Tiere. Danach
waren sie dann beruhigt und haben weitergebadet und ich hab‘ das Tier dann auf
Wunsch einzelner Hasenfüße dann doch um die Mole herum in einen kleinen
Gezeitentümpel gesetzt und hab‘ sie nachher dann freigelassen.
Autor:
Quallen treten an Nord- und Ostsee in den Sommermonaten verstärkt auf, wenn die
Wassertemperaturen steigen und sich die Planktonblüten häufen. Quallenalarm ist
zwischen Juni und September häufig der Grund für gesperrte Badestrände.
Während Ohren- und Rippenquallen für Menschen zumeist ungefährlich sind,
können Feuerquallen Reizungen auf der Haut hervorrufen. Nach Ansicht von
Thorsten Reusch neigen viele Menschen bei schönem Wetter in der Badesaison zu
panischen Reaktionen, zu denen oft kein Anlass bestehe:
O-Ton 18 - Thorsten Reusch:
Gefährlich ist keine der Arten. Also es gibt da noch die nesselnden Quallen, die oft
aus der Nordsee herein gespült werden der Gattung ‚cyanea‘, also die kann man
auch sofort unterscheiden. Die sind eher so grünlich oder orange gefärbt und haben
diese langen Tentakel, die die Ohrenquallen nicht haben und wenn sie da als
Allergiker rein schwimmen und mehrere Stiche haben, dann kann das sicherlich mal
sehr unangenehm werden:
Autor:
Was tun, wenn das Gift der Qualle wirkt? Brennender Schmerz, Hautrötungen oder
juckende Ausschläge sind oft erste Anzeichen. Experten raten: erst einmal Ruhe
bewahren, das Tier vorsichtig abschütteln und sich rasch aus dem Wasser begeben.
Allergiker sollten Medikamente wie Antihistaminika einnehmen. Als erste Hilfe gegen
Quallengift dienen an vielen Urlaubsorten Essig, Zitronensaft oder Rasierschaum.
Das helfe nur bedingt und bei bestimmten Arten, warnt Gerd Jarms. Bei der
portugiesischen Galeere z. B. verteile Essig das Nesselgift zusätzlich auf der Haut.
Im Zweifel komme man um einen Arztbesuch nicht herum. Unterm Strich seien die
meisten Begegnungen mit Quallen aber harmlos:
O-Ton 19 - Gerd Jarms:
Weil das Gift der Ohrenqualle für uns nicht spürbar ist oder nur an sehr
empfindlichen Schleimhautstellen, wenn wir sie also in unsere Badehose rein
lassen, dann könnte man sie spüren, auch in den Augen könnte man sie spüren. Es
gibt andere, die so genannten Feuerquallen, und dieses Gift spüren wir schon. Es
führt dann zu Rötungen und dann gibt es eben noch sehr viel giftigere Tiere, wir
sprachen von den nordaustralischen oder auch malayischen Würfelquallen. Die
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haben ein so starkes Gift, dass ein erwachsener, gesunder Mensch, durchtrainiert,
innerhalb von fünf Minuten tot ist.
Autor:
Quallen gefährden nicht nur Menschen, sondern auch die Wirtschaft. Ihre dichten
Vorkommen können zum Beispiel Kühlwassersysteme von Schiffen und
Wassereinläufe von Fabriken oder Reaktoranlagen verstopfen. Unvorstellbare
Auswirkungen bei einem Organismus, der bis zu 99 Prozent aus Wasser besteht:
O-Ton 20 - Gerd Jarms:
Bei den großen Wurzelmundquallen ist das eher knorpelig das Ganze, und ich rate
jedem doch mal, diese Tiere anzufassen. Es gibt nichts, was glatter ist und dann
mal draufdrücken auf diese Glocke und dann merken sie, wie elastisch und dennoch
fest dieses ganze Gewebe ist, und damit können diese Einläufe verstopft werden,
und das führt dann zu technischen Problemen.
Autor:
In jüngster Zeit geht kaum ein internationaler Kongress von Meeresbiologen zu
Ende, ohne dass nicht über die Massenphänomene der Quallen diskutiert worden
wäre. Die „Jellyfication“, die Überwucherung der Ozeane mit Medusen, ist längst ein
fester Begriff unter Wissenschaftlern. Wobei eine zentrale Frage ist, welche Rolle
der Klimawandel spielt. Er könnte das Vordringen der Quallen begünstigen. Die
Folgen für das Ökosystem sind noch gar nicht absehbar, meint Thorsten Reusch:
O-Ton 21 - Thorsten Reusch:
Die Konsequenz ist vor allem, dass es wahrscheinlich dann auf längere Zeit keine
guten Fischereierträge mehr gibt. Ganz unmittelbar betrifft es den Menschen.
Ansonsten kann es natürlich sein, wenn großflächig solche QuallenMassenvorkommen absterben, dass man dann auch am Boden, wenn die anfangen
zu verwesen, großflächig Sauerstoffmangel hat, also man kann diese
Quallenschwärme bis in die Tiefsee finden. Da gibt‘s aus dem Mittelmeer wirklich
massenhaft Vorkommen von gelatinösem Plankton, was dann abgestorben und
runter gesunken ist.
Autor:
In der Kieler Bucht sollen Quallen in einzelnen Jahren die Hälfte des Bestandes an
Heringslarven vernichtet haben. Wie oft sich dieses Szenario künftig wiederholt und
ob sich die Quallen weiter ausdehnen, darüber trauen sich die Wissenschaftler
keine Aussage zu. Die Quallenforschung steht noch am Anfang, auch weil sich
lange Zeit niemand dafür zuständig fühlte. Denn die Fischereibiologen hatten meist
nur die Fische im Auge, die Planktonforscher fühlten sich von den Quallen gestört.
So fehlen der Wissenschaft vor allem noch lange Zeitreihen, die einen Vergleich
über die tatsächliche Entwicklung der Medusen erlauben. Es passt durchaus ins
Bild, wenn Meeresbiologin Jamileh Javid bei einer ihrer wöchentlichen Ausfahrten
gar keine Quallen findet:
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Atmo 1: Wasserplätschern
O-Ton 22 - Jamileh Javid:
Ich sehe gerade nichts, ich guck‘ mal, was da drin ist, ja. Falls die Larven da sind
oder ganz kleine Qualle, dann müssen wir im Labor nochmal genau untersuchen. Es
gibt eine Studie in Rostock, die genau gesehen haben, dass die Arten im Vergleich
mit 70er Jahre sind mehr geworden, aber es variiert sich Jahr zu Jahr.
Autor:
Régis Gallego, der Hobbyforscher aus Karlsruhe, glaubt, dass Quallen eines Tages
die Herrschaft in den Meeren übernehmen, wenn sie sich weiterhin in dem Tempo
verbreiten wie bisher. Das halten Meeresbiologen wie Gerd Jarms und Thorsten
Reusch für unwahrscheinlich. Auch wenn sie den Zustand mancherorts bedenklich
finden. Die Ozeane seien für die Quallen einfach zu groß, um dort eine Übermacht
zu gewinnen. Problematisch sei die Massenentwicklung in den Randmeeren:
O-Ton 23 - Thorsten Reusch:
Die Quallen kriegt man nicht mehr weg. Die sind jetzt da. Also das ist absolut
absurd, anzunehmen, dass es irgendein Ausrottungsprogramm sinnvollerweise
geben könnte. Das heißt, man muss dann an den anderen Variablen drehen, die
man steuern kann, und das wäre beispielsweise die Fischerei.
Autor:
Nur wenn sich die Fischerei künftig zurückhält, gibt es wieder mehr Fressfeinde, die
die Quallen in Schach halten. Statt über Quallen zu jammern, könnten Menschen sie
auch stärker als bisher nutzen. Eine Möglichkeit ist, sie zu essen, wie in China und
Thailand heute schon üblich. Die Alternative wäre, Quallen als Rohstofflieferanten
für Arzneimittel und Kosmetika zu verwenden. Nachdem einige Wirkstoffe in der
Wundbehandlung bereits eingesetzt werden, will eine Kieler Firma in Kürze die
ersten Produkte zur Hautpflege auf den Markt bringen. Christian Koch, einer der
Geschäftsführer, schwört dabei auf Quallen aus dem Mittelmeer:
O-Ton 24 - Christian Koch:
In erster Linie geht es uns um das Protein Kollagen, das Stützgerüst für Haut,
Knochen und Organe. Die Eigenschaft von Kollagen, Wasser zu binden, ist seit
langem bekannt. Die Quallen werden gesalzen und damit auch getrocknet, das
Kollagen wird gefällt. Das muss zentrifugiert werden und am Ende des Prozesses
hat man ein hochkonzentriertes Kollagenpellet, das dann zu einer einprozentigen
Kollagen-Lösung für die Kosmetik wieder verdünnt wird. Der Schirm, das Oberteil
der Qualle, wird verarbeitet und enthält gleich verteilt Kollagenstrukturen.
Autor:
Auch als Knorpelersatz für das Knie kommen Substanzen aus der Qualle in Frage.
Mediziner von der Kieler Universitätsklinik wollen wissen, warum Quallen fast nie
krank werden. Sie erforschen Entzündungen auf dünnen Hautschichten und
möchten diese besser in den Griff bekommen. Bisher ist völlig unklar, warum die nur
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aus zwei Schleimhäuten bestehenden Quallen nicht von Bakterien und Keimen
infiziert werden. Der Mensch könnte am Ende von den Quallen nicht nur profitieren,
sondern von ihnen auch etwas lernen, meint Gerd Jarms. Zum Beispiel, was ihre
Überlebensstrategie im Meer über so einen langen Zeitraum ausmacht:
O-Ton 25 - Gerd Jarms:
Wir können lernen, dass auch einfache Lösungen zum Ziel führen, denn diese
Quallen haben ja für die Probleme des Lebens auf diesem Erdball offenbar eine
passende Lösung gefunden. Sonst hätten sie nicht 650 Millionen Jahre überlebt,
aber ich glaube, eh wir die gesamten Geheimnisse gelöst haben, die die Quallen so
bergen, ist der Mensch schon ausgestorben.
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