Prophylaxedialog Sonderausgabe Erosion

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Sonderausgabe Erosion
PROPHYLAXEdialog
Zeitschrift für Oralprävention in der Praxis
Erosion und Zahnabnutzung
Prävalenz der Zahnabnutzung
Befund, Diagnose, Risikofaktoren
Prävention und Therapie
Impressum / Inhalt / Editorial
Editorial
Herausgeber (V.i.S.d.P.):
Gebro Pharma GmbH
Bahnhofbichl 13 · 6391 Fieberbrunn
Sehr geehrte Leserin,
sehr geehrter Leser,
GABA International AG
Grabetsmattweg · 4106 Therwil · Schweiz
Medizinisch-wissenschaftliche Abteilung:
Dipl.-Biochem. Bärbel Kiene
mit einem Problem mussten
sich unsere Urahnen offenbar
nicht herumschlagen: mit erosiven Zahnhartsubstanzdefekten.
Internet:
Sowohl historische als auch
prähistorische Schädelfunde lassen keine Hinweise auf Erosion
erkennen, weshalb man diese Form des Verlustes von
Zahnhartsubstanz auch als „moderne“ Erkrankung
bezeichnen kann.
www.gaba.at
Die Meinung der Autoren muss nicht in jedem
Fall der Meinung des Herausgebers entsprechen.
Nachdruck und auszugsweise Veröffentlichung
ist bei Quellenangabe gestattet.
Hauptverantwortlich dafür ist die steigende Exposition gegenüber Säuren in Nahrungsmitteln als Folge
unserer modernen Ernährungsgewohnheiten, welche
das Milieu in der Mundhöhle nachteilig beeinflussen.
Zinnreiche Schicht auf einer in situ
getragenen Zahnschmelzprobe nach
regelmäßiger Anwendung von elmex
EROSIONSSCHUTZ Zahnspülung
Ätiologische, pathogenetische und diagnostische
Aspekte der Erosion werden in dieser Sonderausgabe
von einer Reihe von Experten ausführlich beleuchtet.
Hochinteressant der Beitrag über die anthropologische
Sichtweise von Erosion und Zahnabnutzung!
(Rasterelektronen-Mikroskopie)
Inhalt
elmex EROSIONSSCHUTZ wirksam gegen Dentinund Schmelzerosion
Erosion und Zahnabnutzung –
Eine anthropologische Sichtweise
Dr. John A. Kaidonis, Adelaide, Australien
4
Was unterscheidet erosive Zahnhartsubstanzdefekte
und Zahnkaries?
Prof. Dr. Thomas Attin, Zürich, Schweiz
7
Prävalenz der Zahnabnutzung
Prof. David Bartlett, London, Großbritannien
02
3
9
Die Sonderausgabe „Erosion“ des PROPHYLAXEdialogs ist zusammen mit den Literaturzitaten auch
online unter www.gaba.com zu finden.
Wir wünschen viel Spaß beim Lesen!
Dentale Erosionen: Befund, Diagnose, Risikofaktoren
Prof. Dr. Adrian Lussi, Bern, Schweiz
13
Risikofaktoren und Leitlinien für die Risikoabklärung
Dr. Annette Wiegand, Zürich, Schweiz
17
Methodik von Untersuchungen zur Zahnerosion
Prof. Dr. Marie-Charlotte Huysmans, Nimwegen,
Niederlande
19
Ernährung und Erosion
Dr. Gerta van Oost, Dormagen
23
Essstörungen und der Kauapparat
Dr. Ulrich Cuntz, Dr. Wolfgang Niepmann, Prien
26
Prävention und Therapie säurebedingter Zahnhartsubstanzverluste (Erosionen)
Prof. Dr. Carolina Ganss, Dr. Nadine Schlüter, Gießen
31
Erosionsbekämpfung im Aufwind!
34
Integration der elmex EROSIONSSCHUTZ Zahnspülung in die Sekundärprophylaxe von Erosionen
36
Sonderausgabe 2011
Uns freut ganz besonders, dass wir Ihnen mit
der elmex EROSIONSSCHUTZ Zahnspülung ein neues
Produkt anbieten können, welches vor Zahnschmelzabbau durch Säureangriffe schützt. Die Wirkung wurde
klinisch erfolgreich getestet. Eine kurze Darstellung
der klinischen Prüfung finden Sie gleich am Beginn des
Sonderdrucks.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. med. Reinhold Unterwurzacher
Scientific Affairs Gebro Pharma
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
elmex EROSIONSSCHUTZ wirksam gegen Schmelzund Dentinerosion
In-situ-Studie belegt: Anwendung der Kombination
Zinnchlorid und Aminfluorid erfolgreich gegen
Erosion
Erosive Zahnhartsubstanzdefekte entstehen durch
das chronische Einwirken von Säuren nicht bakteriellen
Ursprungs auf die Zahnoberfläche. Diese Säuren stammen entweder aus einer säurereichen Ernährung
(exogen) oder aus dem Magen (endogen), z.B. bei
Refluxerkrankungen. Während exogene Säureangriffe
sich durch Änderung der Ernährungsgewohnheiten teilweise reduzieren lassen, sind die Zähne den Attacken
endogener Säuren weitgehend schutzlos ausgeliefert.
Die Prävention
erosiver Zahnschäden
liegt bislang im
Wesentlichen in der
frühzeitigen und
differenzialdiagnostisch korrekten
Erkennung von
Erosionsfrühstadien
sowie der Information
und individuellen
Beratung des Patienten. Bei exogen verursachten Erosionsdefekten kann dem
weiteren Fortschreiten des Zahnhartsubstanzverlustes meist nur durch Anpassung der Ernährungsgewohnheiten vorgebeugt werden.
Die ersten Anzeichen erosiver Zerstörung sind für
den Patienten nur schwer erkennbar. „Abrundungen“
von Inzisalkanten und Fissuren sowie zunehmende
Transluzenz der Inzisalkanten sind Ergebnisse eines
beginnenden Schmelzverlustes. Später folgen dellenförmige Vertiefungen und flächiger Verlust mit Dentinbeteiligung. Histologisch lassen sich die Oberflächendefekte mit einem typischen Ätzmuster und lokal reduzierter Mikrohärte beschreiben. Sie unterscheiden sich
daher klar von einer initialen Karies, bei der die Demineralisation unterhalb einer pseudo-intakten Deckschicht erfolgt. Weitere Stadien der säurebedingten
Erosion sind Mineralverlust im Bereich des peritubulären Dentins und schließlich die Erweiterung der
Dentintubuli unter Abbau des intertubulären Dentins.
Diese Defektstruktur ist nicht mehr regenerierbar.
Symptomatische Maßnahmen zur Verhinderung des
Verlustes der Zahnhartsubstanz basieren auf der Abscheidung schwer löslicher, meist mineralischer Präzipitate auf der Zahnoberfläche. Dies erfolgt in der Regel
durch die Anwendung einer Zahnspülung, welche die
abzuscheidenden Substanzen in löslicher Form enthält.
Die Wirksamkeit des Mundhygieneprodukts wird dabei
ganz entscheidend von den eingesetzten polyvalenten
Metall-Ionen, wie Zinn oder Titan, und von der Art der
Fluoridverbindung bestimmt.
Prof. Dr. Carolina Ganss und ihr Team von der Poliklinik für Zahnerhaltung und Präventive Zahnheilkunde
der Justus-Liebig-Universität in Gießen konnten nun
zeigen, dass die Kombination aus Zinnchlorid und
Aminfluorid, formuliert in einer Zahnspül-Lösung (elmex
EROSIONSSCHUTZ), einen sehr wirkungsvollen Schutz
gegen säurebedingte Erosionen bildet. Im Gegensatz
zu titanhaltigen Formulierungen bleibt diese Schutzwirkung auch bei starker Säureeinwirkung unbeeinträchtigt bestehen.
Die Autoren schlagen einen plausiblen Wirkmechanismus dieser Erosionsinhibitoren vor, bei dem sich
zunächst ein amorphes, zinnreiches Präzipitat auf der
Zahnoberfläche ablagert, das unter erosiver Säureeinwirkung schließlich zur Einlagerung von schwer löslicher, zinnhaltiger Mineralsubstanz in die oberste
Schicht der Zahnoberfläche führt. Für die In-situ-Studie
wurden Schmelzproben mehrfach pro Tag minutenlang
mit Zitronensäure behandelt. Im Vergleich zu Placeboproben konnte gezeigt werden, dass der Verlust der
Schmelzsubstanz nach einmal täglichem Spülen mit
Zinnchlorid und Aminfluorid-Lösung um 67 % (vgl. 19 %
für Natriumfluorid) reduziert wird. Der Dentinverlust
konnte in analogen Experimenten ebenfalls signifikant
um 47 % verringert werden.
Somit schützt die neue
elmex EROSIONSSCHUTZ
Zahnspülung mit ihrer
Wirkstoffkombination aus
Zinnchlorid und Aminfluorid effektiv vor
säurebedingten Zahnerosionen.
Im Gegensatz zur Karies führen kausale und symptomatische Maßnahmen bei Erosionsdefekten generell zu
einem Stillstand, sodass nur dann invasive Therapien
vonnöten sind, wenn bereits ästhetische oder funktionelle Beeinträchtigungen bestehen.
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe 2011
30
Sonderausgabe Erosion
Erosion und Zahnabnutzung –
Eine anthropologische Sichtweise
Dr. John A. Kaidonis, School of Dentistry, University of Adelaide, Australien
Einführung
Die anthropologische Untersuchung zahlreicher
Jäger-und-Sammler-Populationen (beispielsweise australische Aborigines) hat die Zahnabnutzung auf normale physiologische Prozesse zurückgeführt, die sich aus
der Funktion ergeben. Das Kauen von Nahrungsmitteln
ist die häufigste funktionelle Aktivität, bei der die abrasive Wirkung der Nahrung weitgehend für Ausmaß
und Muster der beobachteten Abnutzung verantwortlich ist (Kaifu et al. 2003). Darüber hinaus ist die Verwendung der Zähne als Werkzeug eine weit verbreitete
Aktivität, die ebenfalls zum Zahnverschleiß beiträgt
(Molnar 1972). Anthropologen haben außerdem das
Argument vorgetragen, dass auch wenn sich die Zähne
abnutzen, sie nicht nur während des gesamten Lebens
funktional bleiben, sondern sich das gesamte stomatognathe System als Folge der Abnutzung verändert oder
anpasst, was auf einen dynamischen kraniofazialen
Komplex hindeutet (Kaifu et al. 2003; Richards 1985).
Dieser anthropologische Ansatz steht im Gegensatz zu
der Prämisse, dass nur ein gerade durchbrochener Zahn
die ideale funktionale Form aufweist.
In diesem dynamischen Prozess, bei dem sich die
Höhe der Höcker verringert, verbreitert sich das „tropfenförmige“ Kaumuster (Barrett 1977) mit einem assoziierten Umbau (Remodelling) der Fossa glenoidalis
(Richards 1984). Hierbei findet als physiologischer
Prozess eine fortlaufende Eruption der Zähne statt, um
die Abnutzung auszugleichen. Das Zusammenwirken
von Abnutzungsrate und kontinuierlicher Eruption bestimmt die okklusale vertikale Dimension. Diese Änderung der Zahnform wird in der modernen Zahnheilkunde als ein Kontinuum beschrieben, das von der
Eckzahnführung über die Gruppenfunktion bis zu einer
flachen Okklusalebene mit anteriorem Kantenbiss
reicht.
Darüber hinaus gibt es auch eine direkte Beziehung
zwischen der okklusalen Belastung (beim energischen
Kauen), der interproximalen Abnutzung und der Verringerung der Zahnbogenlänge, die sich aus der mesialen Migration der Zähne ergibt (Abb. 1). Anthropologen
haben das Argument vorgebracht, dass diese Verringerung der Bogenlänge zum Teil für die Eruption der
dritten Molaren ohne Impaktion verantwortlich ist, wie
an Skeletten von Aborigines zu sehen ist (Begg 1954).
Interessanterweise ist bei in der Gegenwart lebenden
Aborigines das gleiche Ausmaß einer dritten Impaktion
der Molare festzustellen wie bei der europäischstämmigen Bevölkerung, was sich auf die relativ betrachtet
niedrigere Abnutzungsrate zurückführen lässt, die sich
aus dem Verzehr weicher, verarbeiteter Lebensmittel
ergibt.
04
Sonderausgabe 2011
Obwohl Anthropologen im vergangenen Jahrhundert die Begriffe Attrition, Abrasion und selbst Erosion
synonym zur Beschreibung der abrasiven Wirkung von
Lebensmitteln verwendet haben, handelt es sich bei
diesen Begriffen um verschiedene, deutlich ausgeprägte Mechanismen, die Dentalforscher erst kürzlich definiert haben. Attrition und Abrasion sind Folge des
mechanischen Effekts auf Zahnoberflächen, während es
sich bei der Erosion um eine chemische Interaktion handelt. Die verwirrende Frage lautet: Wie ist Erosion in
das Gesamtparadigma einzuordnen?
Abb. 1:
Starke Abrasion und
interproximale Abnutzung am ersten
und zweiten Molar
des Milchgebisses
eines australischen
Aborigine-Kindes
(vorzeitliche
Population)
Abb. 2:
Facetten mit ausgeprägten Rändern
am zweiten Molar
auf der rechten
Seite des Unterkiefers eines
australischen
Ureinwohners aus
einer vorzeitlichen
Population
Eine Übersicht der Abnutzungsmechanismen
Attrition wird durch den Kontakt zwischen Zähnen
verursacht, wodurch die Zähne abgeschliffen werden.
Dieser Prozess, an dem keine Nahrung beteiligt ist, ist
durch die Bildung einer Abrasionsfacette (Abb. 2) gekennzeichnet, die in der Regel als ebene Fläche mit
deutlich abgegrenzten Rändern ausgebildet ist (Every
1972). Jede Facette verfügt im gegenüberliegenden
Zahnbogen über ein passendes Gegenstück. Bei der
Exposition des Dentins wird die Facette allmählich
ohne Bildung von Dellen oder Vertiefungen (Scooping)
abgenutzt (Kaidonis 2007). Die Prävalenz der Attrition
variiert sehr stark in der Literatur. Im Allgemeinen basieren die Studien, die von niedrigen Abrasionsniveaus
berichten, oft auf subjektiven Erhebungen. Studien hin-
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
gegen, die auf der Häufigkeit einer Facettenbildung
basieren, belegen ein überwiegend gemeinsames Verhaltensmuster. Sowohl Studien über die Häufigkeit
einer Facettenbildung, die an Skeletten vorzeitlicher
Aborigines-Populationen (Kaidonis et al. 1993) durchgeführt wurden, als auch Studien mit Patienten, die
nicht zur Volksgruppe der Aborigines gehören und die
zufällig in einer allgemeinen zahnärztlichen Praxis in
Süd-Australien (Kaidonis 2007) ausgewählt wurden,
zeigen eine Prävalenz von mehr als 90 %. Interessanterweise weisen auch vergleichende Studien an ausgestorbenen und noch existierenden Spezies auf eine
Facettenbildung hin.
Eine Abrasion tritt dann auf, wenn exogenes (d.h.
körperfremdes) Material unter Anwendung von Kraft
auf die Zahnoberflächen einwirkt (Every 1972). Zum
exogenen Material zählen nicht nur die Nahrung, sondern auch Fremdkörper (z.B. Zahnstocher, Zahnbürste,
Pfeifenstiele usw.), die alle ein charakteristisches Abnutzungsmuster des Gebisses verursachen. Im Gegensatz zu einer gut ausgeprägten Zahnfacette führt das
Kauen von Lebensmitteln zur Bildung eines Abrasionsbereiches, der nicht „anatomisch spezifisch“ ist und in
dem die Nahrung in Abhängigkeit von ihrer Konsistenz
an beliebigen Stellen der okklusalen und inzisalen
Oberflächen einwirken kann, bis sich durch die Exposition Dellen oder Vertiefungen im weicheren Dentin
bilden (Abb. 3). Das derartig mit Vertiefungen versehene Dentin ist nicht empfindlich, da durch die mechanische Wirkung eine Schmierschicht erzeugt wird, die die
Zahnkanälchen verschließt. Interessanterweise bleiben
die Dellen je nach Ernährung im Verhältnis zur Schmelzumgebung relativ flach (Bell et al. 1998).
Abb. 3:
allem Pflanzenfressern, dokumentiert. Das bedeutet,
dass die Funktionalität auch dann erhalten bleibt, wenn
die Abnutzung zunimmt.
Die Erosion ergibt sich aus der Auflösung des Zahngewebes (z.B. durch Säure) ohne Vorhandensein von
Plaque (Yip et al. 2006). Obwohl Säuren in Abhängigkeit von ihrem Ursprung (z.B. intrinsisch oder extrinsisch) verschiedene Erosionsmuster bilden, erscheint
die betroffene Fläche normalerweise mit glänzender
Oberfläche und einem Verlust an mikroanatomischen
Eigenschaften. Genau wie bei der Abrasion bilden sich
durch die Exposition Vertiefungen im Dentin. Dentin,
das mit den durch Säuren verursachten Vertiefungen
versehen ist, ist häufig empfindlich, da die Zahnkanälchen offen liegen und sich die Dellen im Dentin durch
die Säureeinwirkung noch weiter vertiefen.
Im Gegensatz zur mechanischen Abnutzung scheint
es sich bei der Erosion um eine moderne Erkrankung zu
handeln (Abb. 4).
Historische Perspektive
ATTRITION
ABRASION
EROSION
Heute
~ 2 mµ
Jäger / Sammler
Landwirtschaft
Industrie
Evidenz für die
Abrasion und die
Bildung von Vertiefungen im Dentin
eines Gebisses eines
australischen
Ureinwohners
(vorzeitliche
Population)
Abb. 4: Allgemeine Darstellung der drei Abnutzungsmechanismen aus historischer Perspektive als Diagramm. Attrition
scheint heutzutage genauso prävalent zu sein wie in früheren
Populationen, während Abrasion in Wohlstandsgesellschaften
aufgrund der stärkeren Verarbeitung von Nahrungsmitteln in
weitaus geringerem Maße auftritt. Erosion – in der Vergangenheit nicht signifikant – ist zu einem größeren Problem in der
heutigen Bevölkerung geworden.
Man kann argumentieren, dass die mechanische
Abnutzung in dem Moment begann, in dem die Evolution den ersten Zahn hervorbrachte, und seitdem ein
Auslesekriterium bildet, das die Entwicklung der Zähne
beinahe aller Spezies beeinflusst hat. Zähne haben
Möglichkeiten entwickelt, die Abnutzung auszugleichen (z.B. durch kontinuierliche Eruption), während die
physiologischen Eigenschaften und die anatomische
Beziehung von Zahnschmelz und Dentin auch dann für
eine effiziente Aufbereitung der Nahrung sorgen, wenn
sich die Zähne abnutzen. Wie dies im Einzelnen geschieht, ist nicht Ziel dieses Aufsatzes, jedoch erfüllen
die exponierten Zahnschmelzränder, die aus der Dellenbildung im Dentin resultieren, einen funktionalen Zweck
(Smith & Savage 1959; Every 1972; Kaidonis et al. 1992)
und wurden bei vielen verschiedenen Spezies, vor
Bis heute gibt es keinerlei Hinweise, die bei
Skelettüberresten von Jäger-und-Sammler-Populationen (z.B. Aborigines in Australien, alte amerikanische
Schädelfunde sowie historische und prähistorische
europäische Populationen) auf eine Erosion hindeuten
(Aubry et al. 2003; Aaron 2004). Es ist anzunehmen,
dass bei den Jägern und Sammlern Wasser das am
häufigsten konsumierte Getränk gewesen ist. Eine
Exposition gegenüber Säuren aus Nahrungsmitteln hat
mit großer Sicherheit stattgefunden, jedoch war diese
Exposition von den Jahreszeiten abhängig und daher
nur vorübergehend. Darüber hinaus trägt die natürliche
reminalisierende Schutzwirkung des Speichels, zusammen mit den vorhandenen Biofilmen auf der Zahnoberfläche, dazu bei, die Auswirkungen von Säuren abzumildern. Bei den Humanpopulationen hat sich die
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe 2011
50
Sonderausgabe Erosion
Exposition gegenüber Säuren graduell mit dem Aufkommen der Landwirtschaft erhöht, vor allem im Mittelalter, in dem Techniken zum Fermentieren von Lebensmitteln entwickelt wurden. In den heutigen modernen
Gesellschaften hat jedoch die Exposition gegenüber
Säuren stark zugenommen, was zu einem Ungleichgewicht im Milieu des Mundraums geführt hat.
Hinzu kommt, dass nicht-kariöse zervikale Läsionen,
die gemeinhin in der Literatur beschrieben werden, bis
zum jetzigen Zeitpunkt nicht für frühe Humanpopulationen belegt worden sind. Jüngste Daten zeigen, dass
sich die Bildung derartiger Läsionen auf eine Kombination von Erosion und einer durch Zahnbürsten induzierten Abrasion (Nguyen et al. 2008) zurückführen lässt,
was erneut das Modell stützt, dass die Erosion bei vorzeitlichen Populationen keine signifikante Rolle spielte
(Abb. 5). Darüber hinaus hinterfragen die schweren
okklusalen Belastungen, die mit der ausgedehnten
abrasiven Abnutzung assoziiert werden, die für diese
Jäger-und-Sammler-Gesellschaften dokumentiert sind,
das Konzept der Abfraktion, das besagt, dass sich die
keilförmigen nicht-kariösen zervikalen Läsionen aus der
Flexion der Zähne unter Belastung ergeben.
Physiologische versus pathologische
Abnutzung
Obwohl die Abnutzung der Zähne als Folge einer
mechanischen Wirkung als physiologischer Prozess
beschrieben wurde, gibt es Momente, in denen der
Arzt einem pathologischen oralen Zustand gegenüber
steht. Aus klinischer Perspektive betrachtet, ist die
Entscheidung für einen operativen Eingriff subjektiv,
die davon abhängt, ob die beobachtete Abnutzung im
Vergleich zum Alter einen eher physiologischen oder
pathologischen Charakter aufweist (Richards et al.
2003). Zwar gibt es aus anthropologischer Sicht starke
Anzeichen, die darauf hindeuten, dass selbst stark
abgenutzte Zähne (als Folge mechanischer Wirkung)
während des ganzen Lebens funktional bleiben, jedoch
werden aus ästhetischen Gründen voreilig chirurgische
Eingriffe unternommen. Es kann darüber gestritten werden, ob dieser Vorgang als legitim betrachtet werden
kann, wenn es sich um eine Bitte des Patienten handelt.
Der Begriff der Ästhetik variiert zwischen den Kulturen
und Zeiten und ist in der heutigen Zeit von wesentlicher
Bedeutung, selbst wenn er stark vom „Hochglanzlächeln“ der Titelblätter geprägt ist.
Es ist angeraten, die verschleißinduzierenden Aktivitäten von Patienten mit physiologischer Abnutzung
longitudinal zu überwachen (Kaidonis 2007). Allerdings
muss erneut bestätigt werden, dass obwohl eine zwar
noch sehr geringe, jedoch aktive Erosion korrekt aus
einer präventiven, nicht-operativen Perspektive behandelt werden kann, dies nicht dazu beiträgt, die erosive
Wirkung auf die Zähne in eine physiologische zu verwandeln.
Zusammenfassung
Abb. 5: Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme der
Dentinoberfläche einer keilförmigen Läsion eines Patienten.
Die horizontalen Schrammen sind Evidenz einer mechanischen
Belastung.
Die Wechselwirkung zwischen den Abnutzungsmechanismen variiert zwischen verschiedenen Populationen und Individuen. Die Wechselwirkung zwischen
Attrition und Abrasion wurde in Australien bei
Aborigine-Populationen belegt, die in der Wüste leben
(Kaidonis et al. 1992). Obwohl die heutigen Wohlstandsgesellschaften weichere, stärker verarbeitete und
daher weniger abrasiv wirkende Lebensmittel verzehren, ist die Wechselwirkung von Abrieb und Erosion
weithin anerkannt. Jedoch müssen sich Ärzte der Tatsache bewusst sein, dass selbst eine geringe Abrasion
in einem von Erosion gekennzeichneten Milieu die allgemeine Abnutzung verstärken kann. Daher ist der
Begriff „erosive Abnutzung“, der die Erosion mit überlagerter mechanischer Abrasion betont, durchaus angemessen.
06
Sonderausgabe 2011
Mechanische Wirkungen haben sich lange vor dem
Aufkommen der Landwirtschaft und der aktuellen
Kultur auf die Zähne von Populationen ausgewirkt, die
als Jäger und Sammler leben. Im Laufe der Evolution
haben die menschlichen Zähne (genau wie die anderer
Spezies) Methoden dahingehend entwickelt, die natürliche Abnutzung zum Vorteil zu nutzen oder auszugleichen und dabei noch funktional zu bleiben. Darüber
hinaus ändern sich die kraniofazialen Strukturen entsprechend der funktionalen Belastung. Im Gegensatz
hierzu steht, dass Zähne zwar seit Jahrtausenden ebenfalls Säuren ausgesetzt sind, die in der Nahrung enthalten sind, jedoch die Schutzwirkungen des Mundraums
die Erosion in den vergangenen Populationen seltener
und daher unbedeutender haben werden lassen. Allerdings überfordert die häufige Exposition gegenüber
starken Säuren in unseren modernen Kulturen unser
Mundmilieu stark, so dass sich das Gleichgewicht in
Richtung einer pathologischen Schädigung der Zähne
neigt.
Dr. John A. Kaidonis
School of Dentistry · University of Adelaide
North TCE · 5000 Adelaide · Australien
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
Was unterscheidet erosive Zahnhartsubstanzdefekte
und Zahnkaries?
Prof. Dr. Thomas Attin, Universität Zürich, Schweiz
Ätiologie von Zahnerosionen und
Karies
aus im Bereich von pH 2,2 liegen (Lussi et al. 2005). Ein
hoher Anteil an Kalzium und/oder Phosphat sowie die
Anwesenheit von Fluorid verringern das erosive
Potenzial einer derartigen Noxe (Attin et al. 2003;
Caglar et al. 2006). Die von den Säuren freigesetzten
Protonen reagieren mit dem Karbonat und/oder Phosphat der Schmelzapatite, destabilisieren somit die
Schmelzkristalle und führen zum Herauslösen von Zahnmineral (Featherstone & Lussi 2006). Das so herausgelöste Kalzium und Phosphat wird in die Umgebungslösung freigesetzt und sozusagen verschluckt.
Erosionen werden als oberflächlicher, durch chemische Prozesse hervorgerufener Zahnhartsubstanzverlust
definiert, der ohne Beteiligung von Mikroorganismen
entsteht (Imfeld 1996). Erosionen entwickeln sich unter
dem Einfluss von Säuren oder chelatbildenden Substanzen, die extrinsischer (z.B. Nahrung) oder intrinsischer (z.B. Magensäure) Herkunft sein können. Der
damit verbundene Zahnhartsubstanzverlust tritt oftmals
als schüsselförmige, nicht verfärbte, flache Vertiefung
mit abgerundeten Begrenzungen auf. Er kann je nach
Ätiologie der Läsion sowohl auf oralen als auch auf
vestibulären freien Zahnoberflächen beobachtet werden. In seltenen Fällen können die Läsionen auch subgingival liegen (Balanko & Jordan 1990).
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Ge
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Ver
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lte
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g.
Zudem gilt es zu bedenken, dass der Speichel üblicherweise eine an Apatit (d.h. Kalzium/Phosphat) übersättigte Lösung darstellt. Diese Übersättigung ist u.a.
abhängig vom Kalzium-, Phosphat- und Fluoridgehalt
des Speichels sowie vom pH-Wert. Der kritische Umgebungs-pH-Wert, unterhalb dessen eine Untersättigung des Speichels an Zahnhartsubstanz und damit
Ätiologiekomplex zur Entstehung von Erosionen
eine Tendenz zum Herauslösen von Zahnmineral vor(nach Lussi et al. 2005)
liegt, beträgt für Schmelz ca. 5,5 und für Dentin ca. 6,5.
Nach Trinken einer 1%igen Zitronensäure, kann es bis
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u
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n
z
g
Er
zu einer Absenkung des pH-Wertes auf pH 3 auf
der Zahnoberfläche kommen (Millward et al. 1997).
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Die pH-Wert-Absenkung durch die erosive Noxe
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führt zu einer Untersättigung in Bezug auf die
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verschiedenen Apatitformen des Zahnes und
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Ess-,
Trinkgewohnheiten
F
unterstützt damit das Herauslösen von
Kalzium und Phosphat. So kommt es bereits
Zahnreinigung
Reflux/Erbrechen
bei einem 2-mal täglichen erosiven Angriff
von 90 Sekunden mit einem ErfrischungsMedikamente
Weichgewebe
getränk (pH 2,9; ohne Bürsten) innerhalb
von 21 Tagen zu einem Zahnschmelzverlust
Speichel
Pellikel
Zeit
von gut 1 µm Dicke (Attin et al. 2001).
Zahn
Zahn
Zusätzlich zu diesem direkten Säureangriff
Säuretyp(pK)
Adhäsion
können bestimmte Säuren (u.a. Zitronensäure, Milchsäure, Weinsäure, Oxalsäure)
pH
Phosphat
Kalzium in einem Chelatkomplex binden
Pufferung
Fluorid
und somit die Untersättigung des Umgebungsmilieus an Kalzium noch verstärken,
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Kalzium
aber
auch auf der Oberfläche des Schmelzes
e
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präzipitieren (Hannig et al. 2005). Ein solches
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Präzipitat kann durchaus auch einen temporär
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Abb. 1
schützenden Effekt haben.
gibt einen
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Zahnkaries wird durch Säuren ausgelöst, die von
Überblick
h ä f tig u n g
Bakterien produziert werden, die im dentalen Biofilm
über die ver(Plaque) auf der Zahnoberfläche anhaften. Bei den aus
schiedenen Faktoren,
niedermolekularen Polysacchariden produzierten Säudie das Entstehen einer Erosion beeinflussen können.
ren handelt es sich um zum Teil schwache Säuren, wie
So begünstigen saure Nahrungsmittel mit einer hohen
Milchsäure, Essigsäure oder Propionsäure. Durch diese
Pufferkapazität, einem niedrigen pH-Wert oder einem
bakterielle Stoffwechselleistung sinkt der pH-Wert in
hohen Anteil an freier, titrierbarer Säure die Ausbildung
der dentalen Plaque z.B. nach Zufuhr von Saccharoseeiner Erosion. Der pH-Wert mancher Nahrungsmittel,
lösung für einen Zeitraum von ca. 15 Minuten von
insbesondere von sauren Getränken, kann dabei durch-
heit
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Ke
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G ew
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe 2011
70
Sonderausgabe Erosion
ursprünglich ca. pH 7 auf bis zu pH 4 ab (Imfeld 1983).
Die bereits in der Plaque dissoziierten Säuren führen zu
interprismatischen Auflösungserscheinungen an der
Zahnschmelzoberfläche (Arends & Christoffersen 1986).
Diese frühe initiale Läsion ist durchaus mit dem
Erscheinungsbild einer Erosion vergleichbar. Außerdem
entsteht ein Konzentrationsgradient, der dazu führt,
dass die schwachen Säuren in den Zahnschmelz diffundieren und dort dissoziieren (Hellwig et al. 2007). Die
freigesetzten H+-Ionen greifen die Schmelzkristalle an,
so dass die Mineralkomponenten der Zahnhartsubstanz
herausgelöst werden. Diese Komponenten diffundieren
dann in der interprismatischen wässrigen Hülle des
Schmelzes entsprechend ihrem Konzentrationsgradienten in Richtung Zahnoberfläche. Zur Zahnoberfläche hin
nehmen aber die Diffusionsgeschwindigkeit und der
Konzentrationsgradient ab. Daher kommt es zu einer
Präzipitation von Kalzium und Phosphat und zur Neubildung von Kristallen.
Dadurch entsteht die sogenannte pseudointakte
Oberflächenschicht der initialen Kariesläsion. Diese
Schicht ist poröser als gesunder Schmelz und erleichtert daher das weitere Einwandern von Säuren in den
Zahnschmelz. Wird diese pseudointakte Schicht zerstört, können Mikroorganismen bis in das Dentin einwandern. Durch proteolytische Enzyme der Bakterien
werden auch die organischen Anteile im Schmelz und
Dentin zerstört. Daraus resultiert, dass im Dentin eine
Nekrose entsteht. Zusätzlich führt die Abwehrleistung
der Odontoblasten zu weiteren Zonenbildungen im
kariös veränderten Dentin, wie z.B. dead tracts, sklerotischem Dentin etc.
Histomorphologie von
Erosionsschäden und Karies
Bei der Schmelzerosion ist im histologischen Schliffpräparat deutlich der entstandene Oberflächenverlust
zu erkennen (Abb. 2). Darunter befindet sich eine
Schmelzzone, die demineralisiert und erweicht ist und
bei mechanischem Einfluss leicht abgetragen werden
kann (Attin et al. 1997).
Abb. 2: Polarisationsmikroskopisches Schliffpräparat einer
Schmelzerosion
08
Sonderausgabe 2011
Dies bedeutet, dass sich der gesamte Säureschaden
aus der vollständig verloren gegangenen Schicht und
der noch verbliebenen erweichten Zone zusammensetzt. Bereits nach Einwirken von Salzsäure mit pH 2,3
ist diese Zone ca. 500 nm dick (Wiegand et al. 2007).
Die Tiefe dieser Demineralisation ist von der Art der
zugeführten Säure und der Dauer der Einwirkzeit
abhängig. Bei längeren Einwirkzeiten einer Säure wird
diese wenig abrasionsresistente Zone allerdings nicht
mehr in jedem Fall wesentlich dicker (Lippert et al.
2004). Jedoch nimmt der gesamte Säureschaden bei
längerer Einwirkzeit dennoch zu, da die Dicke der vollständig verloren gegangenen Schicht zunimmt. In der
rasterelektronischen Aufsicht zeigt sich die Oberfläche
der Schmelzerosion als angeätzter Bereich mit deutlicher Darstellung der Prismenstruktur (Abb. 3).
Abb. 3:
Rasterelektronenmikroskopische
Aufnahme einer
Zahnschmelzoberfläche nach
Erosion
Bei einer Erosion im Dentin zeigt sich ebenfalls
eine Herauslösung von Mineral und eine Erweichung
der Oberfläche. Allerdings wird das Kollagen des
Dentins durch die i.d.R. kurz einwirkende Säure nicht
angegriffen (Ganss et al. 2004). So ergeben sich z.B. bei
einer Attacke mit Salzsäure zwei Zonen im erodierten
Dentin: 1. eine vollständig demineralisierte Zone mit
freigelegtem organischem Anteil und 2. eine teilweise
demineralisierte Zone, an die sich darunterliegend das
gesunde Dentin anschließt. Nach einem mehrmaligen
Angriff mit Salzsäure (pH 1,6) sind diese Zonen jeweils
ca. 50 µm dick (Schlüter et al. 2007b). Es wird diskutiert,
ob das freigelegte Kollagen an der Oberfläche einen
Schutz für das darunterliegende Dentin vor einem weiteren Säureschaden bzw. vor mechanischen Einflüssen
darstellt (Schlüter et al. 2007a).
Die initiale Schmelzkaries (Abb. 4), bei der noch
keine Kavitation vorliegt, stellt sich histologisch als eine
mehrschichtige Läsion dar, die bis zu 150 –200 µm tief
sein kann (Silverstone 1975). Es zeigen sich im Polarisationsmikroskop je nach Imbibitionsmedium bis zu
4 Zonen: 1. eine oberflächlich gelegene, pseudointakte
Schicht, 2. der darunterliegende Läsionskörper, 3. eine
dunkle Zone und 4. eine zum gesunden Dentin hin
gelegene transluzente Zone. Das Porenvolumen in den
jeweiligen Schichten ist unterschiedlich groß. So beträgt es in der ersten und dritten Zone ca. 5 % und im
Läsionskörper ca. 25 %. Gesunder Schmelz hat ein
Porenvolumen von ca. 0,1%.
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
Aus kristallographischen Untersuchungen ist bekannt, dass die erste und dritte Zone durch Remineralisationsprozesse entstehen (siehe vor). Umgekehrt
verhält es sich in der zweiten und vierten Zone, in
denen Demineralisationsprozesse das typische Bild verursachen. Im Aufsichtpräparat wird die Zunahme der
Poren an der Oberfläche deutlich.
Prävalenz der
Zahnabnutzung
Prof. David Bartlett, BDS, PhD, MRD, FDS,
FDSRCS, London, Great Britain
Einführung
Abb. 4: Polarisationsmikroskopisches Schliffpräparat einer
Schmelzkaries
Auch die Dentinkaries stellt sich als mehrschichtige
Läsion dar (Abb. 5). Ihre Schichtung ist auf der einen
Seite durch die proteolytische Aktivität und Säureproduktion der eingewanderten Bakterien und auf der
anderen Seite durch die Abwehrleistungen des PulpaDentin-Komplexes bestimmt. Ohne Behandlung schreitet die Dentinläsion weiter fort und erreicht dann i.d.R.
die Pulpa.
Abb. 5:
Rasterelektronenmikroskopische
Aufnahme einer
Zahnschmelzoberfläche mit
initialer Karies
Eine Erosion ist also in erster Linie ein Oberflächenphänomen, auch wenn ein gewisser Tiefeneffekt im
Schmelz und vor allem im Dentin beobachtet werden
kann. Der Säureangriff führt zu einem zentripetalwärts
gerichteten Substanzverlust. Die kariöse Läsion ist
neben verschiedenen Oberflächenerscheinungen vor
allem ein Tiefenphänomen, bei dem unter einer zum
Teil intakten Oberfläche eine Demineralisation der
anorganischen Bestandteile und/oder Degradation der
organischen Anteile dominiert.
Prof. Dr. Thomas Attin
Klinik für Präventivzahnmedizin, Parodontologie
und Kariologie · Universität Zürich
Plattenstraße 11 · 8032 Zürich · Schweiz
PROPHYLAXEdialog
Es ist oft zu hören, dass die Prävalenz von Zahnabnutzung und -erosion zunimmt – doch was bedeutet
das genau? Zunächst gibt es einige Fragen zu klären,
die mit Definitionen und deren Interpretation in verschiedenen Ländern in Zusammenhang stehen. Es steht
fest, dass Säureerosion die Folge einer nicht-bakteriellen Auflösung von Zahnschmelz und Dentin ist, dass es
sich bei Attrition um die Abnutzung aufeinandertreffender Zähne handelt und bei der Abrasion der Zahn auf
andere Oberflächen trifft (Smith & Knight 1984a). Weniger klar ist die Bewertung eines bestimmten Zahns und
die anschließende Klassifizierung der Zahnabnutzung
anhand des Erscheinungsbildes der Läsion. Dies hat
wesentliche Auswirkungen, insbesondere beim Vergleich der Prävalenzdaten aus verschiedenen Ländern.
In Nordamerika wird die Rolle der Erosion bei der
Zahnabnutzung weniger gut verstanden bzw. eingeschätzt als in Europa (Bartlett et al. 1999). Doch auch
innerhalb Europas variiert die Interpretation dessen,
was unter Zahnerosion zu verstehen ist. In manchen
Ländern werden Läsionen durch Abnutzung im zervikalen Bereich als grundlegendes Erosionsphänomen eingeordnet, während in anderen Ländern der Abrasion
eine höhere Bedeutung zugemessen wird. Dies stellt
an sich kein Problem dar, sofern die Methoden zur
Bewertung der Zahnabnutzung sich nicht hinsichtlich
der Ätiologie unterscheiden. Es gibt jedoch eine Reihe
von Indizes, mit denen bestimmte Zahnregionen bzw.
-oberflächen gemessen werden können (z.B. palatinale
Flächen der oberen Schneidezähne und okklusale
Flächen der unteren Backenzähne) und mit deren Hilfe
Daten zur Prävalenz ermittelt werden können.
Die einzige zuverlässige Methode zur Messung von
Veränderungen an Zähnen bei großen Populationen
sind Indizes zur Zahnabnutzung. Bei den meisten
Indizes werden Veränderungen des anatomischen Erscheinungsbildes von Zähnen verwendet, um das Ausmaß der Abnutzung zu protokollieren. Manche Indizes
messen die Abnutzung jeder Oberfläche jedes Zahns
(Smith & Knight 1984b), andere wiederum verwenden
einen bestimmten Situs (O'Brien 1993) oder eine spezifische Oberfläche (Dahl et al. 1989). Andere Studien
dokumentieren eher die Prävalenz der Erosion als die
der Zahnabnutzung (Johansson et al. 1993). Das Problem liegt in der Erstellung einer Diagnose der Ätiologie und der anschließenden Verwendung eines
Indexes, der andere Ursachen der Zahnabnutzung
unberücksichtigt lässt. Vor allem ist es klinisch sehr
anspruchsvoll, die Ätiologie anhand des Erscheinungs-
Sonderausgabe 2011
90
Sonderausgabe Erosion
bildes einer Läsion zu diagnostizieren, ohne eine umfassende ernährungsbezogene und zahnmedizinische
Anamnese zu erstellen (Kidd & Smith 1993; Bartlett &
Smith 2000). In den meisten Fällen stellen Veränderungen der Zahnanatomie durch Abnutzung eine Verbindung aus Erosion, Abrasion und Attrition dar, und es
lässt sich nur schwer einschätzen, welcher dieser
Faktoren der wichtigste ist. Im Allgemeinen fährt man
mit einem nicht-spezifischen Vorgehen besser, wobei
ein Index zur Protokollierung von Veränderungen eingesetzt wird und die Ergebnisse anschließend in einer
Analyse der Risikofaktoren verwendet werden, um die
Ursache zu identifizieren.
Eine weitere wichtige Frage ist, was genau unter
Prävalenz zu verstehen ist. Das Oxford Dictionary definiert „prävalent“ (prevalent) als „weit verbreitet; von
breitem Ausmaß oder verbreitet auftretend; allgemein
gebräuchlich oder akzeptiert“. Doch was bedeutet dies
im Zusammenhang mit Zahnabnutzung? Die Prävalenz
von Zahnkaries wird üblicherweise anhand der Parameter des DMFT-Werts (Decayed, Missing, Filled Teeth:
„[kariös] zerstörte, fehlende, gefüllte Zähne“) gemessen. Anschließend kann die Prävalenz der Erkrankung
in verschiedenen Ländern und geografischen Regionen
verglichen werden, sofern in allen betreffenden Bereichen dieselben Bewertungsmaßstäbe für Karies verwendet werden. Obwohl die Prävalenz gefüllter Zähne
im Ergebnis auf eine kariöse Zerstörung hindeutet, gibt
es weitere Gründe für die Restauration von Zähnen, z.B.
abgenutzte Zähne. Trotz der Komplexität des DMFTIndexes enthält er keine allgemeine Definition von Zahnabnutzung und -erosion.
Welche wesentliche Bewertung gibt es, die die
Prävalenz sowohl von Zahnabnutzung als auch von
Zahnerosion berücksichtigt? Ist es der prozentuale
Anteil der freiliegenden Dentinoberflächen oder der
am häufigsten abgenutzte Zahn bzw. Zahnsitus? Eine
naheliegende Möglichkeit könnte der prozentuale
Anteil des freiliegenden Dentins in einer Population
sein. Unter der Voraussetzung, dass Forscher ähnliche
bzw. vergleichbare Indizes verwenden, besteht die
Möglichkeit, Prävalenzen miteinander zu vergleichen.
Der Zahnabnutzungsindex TWI (Tooth Wear Index) von
Smith & Knight wird von verschiedenen Forschern in
aller Welt sehr häufig verwendet und ist vielleicht
der verbreitetste Index. Er erfasst Veränderungen der
anatomischen Struktur von Zähnen, wird auf jeden Zahn
angewandt und ist unabhängig von der Ätiologie.
Dabei werden die Zähne in vier Regionen eingeteilt:
zervikal, bukkal, okklusal/inzisal und lingual/palatinal.
Andere Indizes erfassen auch das Ausmaß und den
Schweregrad der Dentinexposition. Es sollte also möglich sein, die komplexeren Indizes auf einfachere
Indizes herunterzubrechen, um somit Vergleiche zu
ermöglichen. Es wurde erst kürzlich ein neuer Index
entwickelt, der einfach zu verwenden ist und zur erneuten Analyse von Scores zur Zahnabnutzung verwendet
werden kann. Der BEWE-Index (Basic Erosion Wear:
„grundlegende Erosion/Abnutzung“) hat das Potenzial
einer breiten Akzeptanz durch verschiedene Forscher.
10
Sonderausgabe 2011
Es kann nützlich sein, den prozentualen Anteil des
freiliegenden Dentins innerhalb einer bestimmten
Population zu kennen; die Auswirkung von Zahnabnutzung auf den Zahnschmelz bleibt hierbei jedoch
unberücksichtigt. Wenn Dentin freiliegt, muss auch der
darüberliegende Zahnschmelz abgenutzt worden sein.
Viele Indizes beziehen das Ergebnis der Erfassung im
Wesentlichen darauf, in welchem Ausmaß das Dentin
betroffen ist, während die Auswirkungen auf den Zahnschmelz häufig vernachlässigt werden. Vom Standpunkt
eines präventiven Konzepts aus gesehen, muss das Ziel
darin bestehen, die Abnutzung des Zahnschmelzes zu
verhindern. Aus diesem Grund ist auch die Schädigung
des Zahnschmelzes in einem gewissen Maße zu berücksichtigen. Veränderungen der Oberfläche des Zahnschmelzes aufgrund von Zahnabnutzung oder -erosion
können jedoch von einem normalen Erscheinungsbild
schwer zu unterscheiden sein.
In den letzten 20 Jahren sind eine Reihe von Studien
durchgeführt worden, in denen die Prävalenz von Zahnabnutzung in verschiedenen Populationen evaluiert
wurde. Die allermeisten dieser Prävalenzstudien bezogen sich jedoch auf Kinder und Jugendliche, da
diese Gruppen leichter erforschbar und die Probanden
leichter zu rekrutieren sind. Studien an Erwachsenen
dagegen werden aufgrund der schwierigeren Rekrutierung weniger häufig durchgeführt. Eine Gruppe, aus
der Probanden für Studien an Erwachsenen problemlos
rekrutiert werden können, sind Angehörige des Militärs,
zu denen bereits mehrere Studien vorliegen (Johansson
et al. 1996). Im Rahmen einer der ersten an Erwachsenen durchgeführten Studien wurden Patienten einer
allgemeinen zahnärztlichen Praxis rekrutiert. Zur Bestimmung des Schweregrades der Abnutzung wurde
jedoch ein bestimmtes Verhältnis verwendet, wobei
dieses Verfahren in den meisten darauffolgenden Studien nicht mehr genutzt wurde.
Prävalenz von Zahnabnutzung
und -erosion im Milchgebiss
Die meisten Studien zur Zahnabnutzung bei Kindern
stammen aus Europa (Jones & Nunn 1995; Al-Malik et
al. 2002; Wiegand et al. 2006). Millward et al. (1994)
führten eine Studie an 178 vierjährigen Kindern aus
Birmingham (Großbritannien) durch und zeigten auf,
dass bei immerhin 17 % freiliegendes Dentin festzustellen war. Die Ergebnisse dieser Studie gehören zu
den höchsten Prozentwerten, die in den untersuchten
Regionen festgestellt wurden. Die Autoren belegten,
dass fast die Hälfte der Probanden gewisse Anzeichen
von Zahnabnutzung aufwiesen, wobei die am häufigsten betroffene Zahnoberfläche die palatinale/linguale
Oberfläche der oberen Schneidezähne ist. Wenn eine
Abnutzung in einem derartig hohen Ausmaße zu beobachten ist, kann das Ergebnis fast als normal betrachtet
werden.
Eine andere, in Saudi-Arabien an 987 Kindern im
Vorschulalter durchgeführte Studie zeigte bei 31% der
Probanden ein gewisses Ausmaß an Zahnabnutzung
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
und bei 13 % freiliegendes Dentin. Allerdings waren die
Messungen im Rahmen dieser Studie auf die oberen
primären Schneidezähne beschränkt. Eine Studie
größeren Umfangs in China, bei der 1.949 Kinder im
Alter von 3 bis 5 Jahren untersucht wurden, zeigte bei
nur 5,7 % der Probanden Anzeichen von Abnutzung
(Luo et al. 2005). Es stellt sich die schwierige Frage,
warum solche Unterschiede zwischen geografischen
Bereichen zu beobachten sind. Sie spiegeln möglicherweise den sozioökonomischen Stand unterschiedlicher
Nationen wider.
Prävalenz von Zahnabnutzung
und -erosion bei Jugendlichen
Es liegen wesentlich mehr Studien zum Mischgebiss
von Schulkindern vor. Wie im Falle des Milchgebisses in
den größer angelegten Studien, wurden häufig bestimmte Zähne und Zahnregionen verwendet, um die
Erkrankung insgesamt einzuschätzen. Eine Gruppe von
Forschern bestimmte anhand von Studienmodellen von
1.000 Elfjährigen die erosive Abnutzung und dokumentierte diese auf den Zahnoberflächen von 70 % der
Probanden. Bei 26,4 % wurde eine hohe Inzidenz einer
erosiven Abnutzung mit fortgeschrittenen Läsionen
festgestellt (Ganss et al. 2001). Bei einer kleineren
Probandengruppe von 210 Elf- bis Vierzehnjährigen
ergab sich ein geringeres Ausmaß an Zerstörung, mit
freiliegendem Dentin bei weniger als 2 % (Bartlett et al.
1998).
Der Unterschied zwischen diesen Studien bestand
darin, dass in der zweiten Studie die Involvierung des
Dentins als Maßstab für den Fortschritt der Abnutzung
verwendet wurde, während in der ersteren Studie Form
und Tiefe der Läsion ausschlaggebend waren. Ein
weiterer signifikanter Unterschied bestand darin, dass
laut der Studie von Bartlett et al. die palatinalen Oberflächen die am häufigsten abgenutzten Oberflächen
waren, während Ganss et al. die okklusalen und inzisalen Flächen nennen. Die Ursachen dieses Unterschieds sind noch nicht geklärt. Es mag sich um geografische Unterschiede zwischen Populationen handeln,
was innerhalb Europas jedoch schwer verständlich ist.
Eine andere Möglichkeit wäre, dass von den Forschern
Indizes mit unterschiedlichem Schwerpunkt verwendet
werden. Wenn eine Gruppe die Erosion dokumentiert,
müssen dabei nicht unbedingt die Auswirkungen von
Abrasion oder Attrition erfasst werden. Um die Auswirkungen der Zahnabnutzung in einer bestimmten
Population umfassend zu bewerten, müssen die Auswirkungen von Veränderungen an der Zahnoberfläche
aufgrund nicht-kariogener Ursachen erfasst werden.
Nachdem dies geschehen ist, kann die Ätiologie in
Angriff genommen werden.
Die größeren Studien beziehen sich zumeist auf die
Auswirkungen von Zahnabnutzung an bestimmten
Stellen. So dokumentieren Truin et al. (2005) die
Prävalenz von Erosion in einer Gruppe 12-jähriger
Kinder in Den Haag (Niederlande). Die Untersuchung
beschränkte sich auf die palatinalen Oberflächen der
PROPHYLAXEdialog
Schneide- und Eckzähne und der okklusalen Oberflächen der ersten Molare. Bei 59,7 % der Probanden
wurde eine Abnutzung festgestellt, bei 2,7 % war das
Dentin betroffen. Milosevic et al. (1994) stellten bei
30 % von 1.035 Vierzehnjährigen in Liverpool (England)
freiliegendes Dentin fest. Ihre Studie berücksichtigte
alle Zahnoberflächen, wobei die am häufigsten betroffenen Oberflächen die Inzisalkanten der oberen und
unteren Schneidezähne waren. Bei einer Studie desselben Teams fand eine Rekrutierung und Auswahl mit
mehreren Schwerpunkten statt. Diese Studie zeigte mit
fast 50 % eine noch höhere Prävalenz freiliegenden
Dentins (Bardsley et al. 2004).
Diese Ergebnisse wurden von anderen Studien in
England bestätigt. Al Dlaigan et al. (2001) stellten freiliegendes Dentin bei 51% der Probanden fest, in
schwerwiegendem Ausmaß jedoch bei nur 2 %. Laut
der Studie von Dugmore et al. (2004) war das Dentin in
weitaus geringerem Ausmaß betroffen, nämlich bei nur
2 % von 1.753 Zwölfjährigen. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum derartig große Schwankungen der
Betroffenheit des Dentins in so vielen Studien zu beobachten ist. In zahlreichen Folgestudien wurden die inzisalen Flächen nicht in der vergleichenden Analyse
berücksichtigt. Das wichtigste Ergebnis ist vielleicht die
Tatsache, dass sich eine gravierende Exposition des
Dentins in den meisten Studien um 2 % bewegt.
Eine Reihe von Studien belegt ferner geschlechtsspezifische Unterschiede. So wurde in den meisten
Studien eine häufigere Inzidenz bei männlichen Probanden festgestellt (van Rijkom et al. 2002). Eine Studie
jüngeren Datums kam zu dem Schluss, dass mit zunehmendem Alter eine steigende Tendenz zur Abnutzung
besteht (Jaeggi & Lussi 2006). Darüber hinaus beeinflussen sowohl Ernährungsgewohnheiten als auch
gastroösophagealer Reflux und der sozioökonomische
Status die Prävalenz einer erosiven Zahnabnutzung.
Prävalenz von Zahnabnutzung
und -erosion bei Erwachsenen
Es liegen vergleichsweise wenige Studien zu Erwachsenen vor, was vermutlich auf die mit der Rekrutierung und Auswahl von Probanden verbundenen
Schwierigkeiten zurückzuführen ist. Kinder und Jugendliche sind schulpflichtig und können daher leicht für
Studien rekrutiert werden. Außerdem kann der sozioökonomische Status durch Verwendung spezifischer
Auswahlkritierien in Erwägung gezogen werden. Bei
Erwachsenen ab 18 Jahren gestaltet sich die Untersuchung jedoch schwieriger. Erwachsene, die mit bestimmten Institutionen in Verbindung stehen (z.B.
Angehörige des Militärs), bieten sich für Untersuchungen an und stellen willkommene Probandenpopulationen dar. So stellten Johansson et al. bei Angehörigen
des schwedischen Militärs eine Abnutzung im okklusalen und inzisalen Bereich fest sowie bei 28 % der
Probanden eine Erosion der Zähne des Oberkiefers.
Lussi et al. (1991) stellten freiliegendes Dentin bei 10 %
von 391 Probanden fest. Im Gegensatz zu zahlreichen
Sonderausgabe 2011
11
Sonderausgabe Erosion
anderen Studien wurde von diesem Forscherteam freiliegendes Dentin häufiger an den bukkalen/fazialen als
an den palatinalen/lingualen Flächen dokumentiert.
Die bislang größte Studie wurde an 10.827 extrahierten Zähnen durchgeführt, wobei an 13 bis 21% der
Zähne eine Abnutzung festzustellen war. Diese Studie
ist in Bezug auf das Mundmilieu jedoch nicht relevant
genug (Sognnaes et al. 1972). Xhonga & Valdmanis
(1986) untersuchten 527 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Probanden im Alter von 14 bis 88 Jahren. Laut
den Autoren lag die Prävalenz in den USA bei ca. 25 %.
Das Dentin dagegen war vergleichsweise selten betroffen (4 %). Im Rahmen der größten klinischen Studie in
einer allgemeinen zahnärztlichen Praxis, die an 1.007
Erwachsenen im Alter von 18 bis 88 Jahren durchgeführt wurde, wurden bei fast 5 % der Probanden pathologische Abnutzungsniveaus ermittelt. Im Gegensatz
zu allen anderen Studien fasste das Forscherteam in
diesem Fall verschiedene Altersgruppen zusammen
und ging von subjektiven Schätzwerten der zu erwartenden Abnutzung bei den 1.007 Probanden aus. Die
Probanden mit Zahnabnutzung größeren Ausmaßes
wurden als pathologische Fälle eingestuft. Das so ermittelte allgemeine Ergebnis von 5 % der Probanden,
bei denen die Zahnabnutzung das gewöhnliche Ausmaß überschreitet, scheint mit den Ergebnissen anderer Studien gut vergleichbar zu sein.
In letzter Zeit wurde der Begriff des pathologischen
Niveaus diskutiert. Obwohl es sich um ein praktisches
und emotionales Prinzip handelt, ist seine Bedeutung
nicht so leicht zu definieren. Verschiedene Forscher,
Gesundheitsfunktionäre und Patienten interpretieren
die Daten unterschiedlich, je nach subjektiver Einschätzung der Zahnabnutzung. Patienten sehen auch in
geringem Maße freiliegendes Dentin aufgrund des entsprechenden Erscheinungsbildes der Zähne als pathologisch an. Gesundheitsfunktionäre wiederum gehen
u.U. von einem größeren Ausmaß aus aufgrund der
finanziellen Konsequenzen, die mit der Behandlung
einer Erkrankung verbunden sind, die 50 % einer
Bevölkerung betreffen kann. Der Begriff der pathologischen Zahnabnutzung ist daher nicht besonders hilfreich, da er gewöhnlich auf einer individuellen, subjektiven Interpretation basiert. Eine vielleicht bessere
Einschätzung der Auswirkungen von Zahnabnutzung
und -erosion in der Bevölkerung ist durch den „prozentualen Anteil des freiliegenden Dentins“ gegeben.
Die Evidenz deutet in hohem Maße darauf hin, dass
die meisten Menschen von Zahnabnutzung und -erosion betroffen sind, wobei diese Phänomene glücklicherweise nur bei einem Teil der Bevölkerung ein
schwerwiegendes Ausmaß erreichen.
Abb. 1 zeigt erosive Läsionen an den palatinalen Oberflächen
der oberen Schneidezähne, verursacht durch häufigen Konsum
von Getränken auf Fruchtsaftbasis.
Abb. 2: Die hier abgebildete Attrition ist durch ständiges
Zähneknirschen und Zusammenbeißen der Zähne über einen
Zeitraum von vielen Jahren entstanden. Die von der Kaumuskulatur ausgeübten Kräfte können sehr große Schäden an
den Zähnen anrichten.
Zusammenfassung
Zahnabnutzung und -erosion stellen Probleme für
die moderne Zahnmedizin dar. Patienten nehmen ihr
Erscheinungsbild zunehmend wichtiger und möchten
den Alterungsprozess hinauszögern. Dies schließt auch
die Zähne mit ein. Dabei liegt eine relativ starke
Evidenz dafür vor, dass es sich bei Zahnabnutzung um
ein altersbedingtes Phänomen handelt, das weit verbreitet ist. Für Zahnärzte bedeutet dies, dass eine frühzeitige Diagnose und Prävention für das Wohlbefinden
ihrer Patienten von entscheidender Bedeutung ist.
12
Sonderausgabe 2011
Abb. 3 zeigt eine typische Verschleißläsion am Zahnhals im
Oberkieferbereich. Die Ätiologie dieser Läsion ist ungewiss;
manche Wissenschaftler/Prüfärzte halten sie für eine Abrasion,
andere für eine Erosion. Die meisten sind jedoch der Ansicht,
dass es sich dabei um eine Kombination aus Erosion und
Abrasion handelt.
Prof. David Bartlett
Floor 25, Guy's Dental Hospital
London Bridge · London SE1 9RT · Großbritannien
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
Dentale Erosionen: Befund, Diagnose, Risikofaktoren
Prof. Dr. Adrian Lussi, Klinik für Zahnerhaltung, Universität Bern, Schweiz
Einleitung
Diese Übersichtsarbeit geht auf das klinische
Erscheinungsbild und die Risikofaktoren für die Entstehung dentaler Erosionen ein. Die Zahnerosion wird
definiert als oberflächlicher Zahnhartsubstanzverlust,
verursacht durch einen chemischen Prozess ohne
Bakterienbeteiligung (Zipkin & McClure 1949). Der
Erosionsprozess kann in zwei Stadien eingeteilt werden:
In der Anfangsphase findet man als Folge einer partiellen Demineralisation eine Erweichung der Zahnoberfläche. In diesem Stadium ist eine Remineralisation
möglich, da die noch vorhandenen Schmelzanteile als
Gerüst dienen, in welches wieder Mineralien eingelagert werden können. In einem zweiten, fortgeschrittenen Stadium sind die Strukturen der oberflächlichen
Schmelzschichten vollständig zerstört und weggelöst.
Eine Remineralisation dieser Schmelzanteile ist nicht
mehr möglich. Es kann hingegen zu einer Remineralisation der tieferen, noch nicht total zerstörten, aber
erweichten Zahnhartsubstanzanteile kommen. In der
Regel besteht in der Mundhöhle ein Gleichgewicht
zwischen De- und Remineralisationsvorgängen. Falls
die Säureeinwirkung gegenüber den Reparationsvorgängen überwiegt, kommt es zur klinischen Manifestation von dentalen Erosionen. Der Zahnhartsubstanzverlust wird beschleunigt, wenn zusätzlich abrasive
und/oder attritive Prozesse vorhanden sind. Dieser
Artikel behandelt zuerst die Diagnostik der Erosion und
geht dann auf die Risikofaktoren ein. Ferner wird ein
einfacher Screening-Index besprochen.
Klinisches Erscheinungsbild
In der initialen Phase wird der Schmelz flächenhaft
demineralisiert, wobei klinisch keine Erweichung der
Oberfläche feststellbar ist. Fortgeschrittene Erosionen
können bis ins Dentin reichen. Vestibuläre Erosionen
zeigen im Anfangsstadium eine seidenglänzende,
später eine eingedellte und gestufte Oberfläche. Am
marginalen Kronenrand persistiert eine Schmelzleiste.
Die Erhaltung dieser Schmelzleiste kann einerseits
erklärt werden durch Plaque-Rückstände, welche eine
Diffusionsbarriere gegen den Säureangriff bilden,
andererseits durch den Sulkus-Fluid, der zur Neutralisation der Säuren im Gingivabereich führt (Lussi et al.
2004). Erosionen im Okklusalbereich führen zu abgerundeten, eingedellten Höckern mit z.T. Defekten bis
ins Dentin (Abb. 1). Typisch sind Füllungsränder, die
über die benachbarte Zahnhartsubstanz hinausragen.
Eine flächenhafte Entkalkung der Zahnhartsubstanz ist
charakteristisch für palatinale Erosionen. Um die Progression der Erosion zu erfassen, sollten periodisch
Fotos oder Modelle angefertigt werden. Die Abbildungen 1–6 zeigen typische Bilder dentaler Erosionen.
PROPHYLAXEdialog
Abb. 1: Zahn 46 mit Eindellungen auf den bukkalen Höckern.
Ansonsten ist die Zahnmorphologie gut erkennbar. Die beginnenden Erosionen entsprechen BEWE Grad 1.
Abb. 2: Patient mit generalisierten Erosionen. Zahn 37 mit
okklusalen Erosionen BEWE Grad 3. Die Morphologie ist praktisch vollständig verloren gegangen. Die Fissuren sind nicht
mehr erkennbar. Ätiologie: Gastroösophagealer Reflux.
Abb. 3: Seitenansicht der Zähne 43 bis 45 mit beginnenden
Erosionen BEWE Grad 1. Die Oberfläche erscheint seidenglänzend. Leichte Eindellung bei Zahn 44 vestibulär erkenbar.
Abb. 4: Zahn 21 mit BEWE Grad 3 labial. Die Oberflächenstruktur ist verloren gegangen. Gegen zervikal ist das Dentin
freigelegt und eine persistierende Schmelzleiste ist sichtbar.
Ätiologie: Häufiger Konsum von Früchten und Fruchtsäften.
Abb. 5: Zahn 43 mit Eindellung vestibulär, welche sich oberhalb der Schmelz-Zement-Grenze befindet. Eine persistierende Schmelzleiste ist erkennbar. Bei Zahn 44 überragt die
Amalgamfüllung die benachbarte Zahnsubstanz. Da weniger
als die Hälfte der Zahnoberfläche betroffen ist, entspricht dies
BEWE Grad 2. Ätiologie: Konsum von ca. 1 kg Äpfeln pro Tag.
Sonderausgabe 2011
13
Sonderausgabe Erosion
Risikofaktoren
Faktoren auf der Ernährungsseite
(vgl. Seite 7)
Schon sehr lange ist bekannt, dass saure Nahrungsmittel und Getränke die Zahnhartsubstanz erweichen
können. Der Anteil von Softdrinks und Fruchtsäften am
totalen Getränkekonsum nimmt in Europa stetig zu und
liegt bei über 50 % des Konsums von nicht alkoholischen Getränken. Die Erosivität eines Getränkes oder
Nahrungsmittels wird durch mehrere Faktoren bestimmt. So können Getränke und Nahrungsmittel trotz
ähnlicher pH-Werte ein unterschiedliches erosives
Potenzial aufweisen. Je größer die Pufferkapazität eines
Getränkes oder Nahrungsmittels ist, desto länger wird
es dauern, bis der pH-Wert durch den Speichel erhöht
werden kann. Der Kalzium- und Phosphatgehalt eines
Getränkes oder Nahrungsmittels ist sehr wichtig.
Immersion von Schmelzproben in einem kalziumangereicherten, im Handel erhältlichen Orangensaft zeigte
keine Erweichung der Schmelzoberfläche. Dieser Orangensaft (pH 4) kann auch erosionsgefährdeten Patienten empfohlen werden.
Joghurt ist ein anderes Beispiel für ein Nahrungsmittel, das trotz des tiefen pH-Wertes (pH ~4) nicht zu
Erosionen führt. Dieser Sachverhalt ist auf die hohe
Konzentration von Kalzium und Phosphat zurückzuführen, was eine Übersättigung dieser Ionen bezüglich
der Zahnhartsubstanz bewirkt. In Orangen-Joghurt
eingelegte Schmelzproben zeigten eine Erhärtung
der Schmelzoberfläche. Im Unterschied dazu zeigte
Orangensaft eine starke Erweichung der Schmelzhärte
(–209 Knoop Härtegrade) (Lussi & Jaeggi 2006). Die
Unbedenklichkeit von Mineralwasser bezüglich Erosionen wurde auch in anderen Untersuchungen festgestellt (Parry et al. 2001).
Neben den bereits besprochenen Eigenschaften
von erosiven Nahrungsmitteln und Getränken gibt es
noch andere Faktoren, die in vivo einen Einfluss auf die
Entstehung von dentalen Erosionen haben. So können
z.B. die Chelator-Eigenschaften von Säuren den Erosionsprozess beeinflussen; einerseits durch Interaktion
mit dem Speichel, andererseits direkt durch Zahnhartsubstanzauflösung. Bis zu 32 % des Speichelkalziums
kann in einem Kalzium-Chelator-Komplex der Zitronensäure gebunden werden (Meurman & Ten Cate 1996).
Faktoren auf der Patientenseite
(vgl. Seite 7)
Die Art der Aufnahme der erosiven Nahrungsmittel
oder Getränke (schluckweise, saugend, mit/ohne
Trinkhalm) bestimmen die Dauer sowie die Lokalisation
des Säureangriffs und damit das Erscheinungsbild der
Erosionen (Millward et al. 1997; Edwards et al. 1998;
Johansson et al. 2004). Die Häufigkeit und Dauer von
Säureangriffen sind von entscheidender Bedeutung für
die Zahnhartsubstanzzerstörung und damit auch für das
Ergreifen von Prophylaxemaßnahmen. Der Kontakt der
Zähne mit Säuren während der Nacht kann infolge der
verminderten Speichelproduktion ebenfalls zu Erosionen führen. So kommt es z.B. durch die Aufnahme
14
Sonderausgabe 2011
von säurehaltigen, süßen Getränken, welche manche
Kleinkinder dauernd während der Nacht aus ihren
Schoppen trinken, neben der Kariesbildung zu massiven erosiven Zahnhartsubstanzdestruktionen. Ebenso
ist eine nachts getragene Schiene bei Refluxpatienten
kontraindiziert, da die Kontaktzeit der Magensäure mit
den Zähnen wegen der nicht überall dichten Schiene
verlängert wird.
Andere Risikofaktoren auf der Patientenseite sind
Anorexia und Bulimia nervosa mit häufigem Erbrechen
sowie chronische Magen-Darm-Störungen mit Reflux.
Abb. 6:
Patientin mit gastro-ösophagealem Reflux. Die Erosionen
beginnen typischerweise
palatinal. Bei den Zähnen 22
und 23 liegt auf der ganzen
palatinalen Zahnfläche das
Dentin frei (BEWE Grad 3).
Die Prävalenz von Bulimia nervosa bei 18- bis 35jährigen Frauen in den westlichen Industriestaaten ist
relativ hoch (5 %) und immer noch ansteigend (Cooper
et al. 1987). Die meisten Patienten, die unter Anorexia
nervosa leiden, sind 12- bis 20-jährig. Die Prävalenz der
Anorexia beträgt in dieser Altersgruppe 2 % (Diagnostic
and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM-III-R).
Die Diagnosestellung ist bei stark untergewichtigen
Anorexiepatienten oft nicht schwierig. Die Bulimiepatienten behalten in der Regel ihr Normgewicht, so
dass bis zur Erkennung ihrer Krankheit häufig mehrere
Jahre vergehen können. Das chronische Erbrechen
führt in der Regel zu Erosionen im Bereich der okklusalen und oralen Zahnoberflächen der Oberkieferzähne,
insbesondere im Bereich der Inzisiven (Hellström 1977;
Scheutzel 1992; Jones & Cleaton-Jones 1989; Milosevic
& Slade 1989; Robb et al. 1995).
Orale und okklusale Erosionen im Bereich der Oberkieferzähne, eine zum Teil schmerzhafte, metabolisch
bedingte Vergrößerung der Parotis und manchmal der
submandibulären Speicheldrüsen, Xerostomie, Erytheme im Bereich der Rachen- und Gaumenschleimhaut
sowie schmerzhafte Rötung und Schwellung der Lippen
mit Schuppung und Rhagadenbildung sind häufige
Symptome bei Bulimiepatienten (Abrams & Ruff 1986).
Das Auftreten dieser Krankheitszeichen und eine entsprechende Gesundheits- und Ernährungsanamnese
sollten beim Zahnarzt den Verdacht auf eine Bulimieerkrankung wecken. Oft ist der Zahnarzt die erste ärztliche Person, die die Bulimie erkennt. Aber auch gastroösophagealer Reflux mit Regurgitation während des
Schlafes kann zu gravierenden erosiven Läsionen
führen. Diese Patienten bemerken ihr Leiden oft erst,
wenn aufgrund fortgeschrittener Erosionen thermosensible Zähne vorhanden sind. Andere Symptome sind
Magenschmerzen, Brennen im Ösophagus-/RachenBereich und Säuregefühl in der Mundhöhle.
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
Ein weiterer sehr wichtiger Faktor ist der Speichel.
Einige schützende Eigenschaften des Speichels bei
einem Säureangriff sind: Säureverdünnung, Säureabbau, Säureneutralisation, Verminderung der Schmelzauflösung durch das Vorhandensein von Kalzium- und
Phosphat-Ionen im Speichel, Remineralisation und
Pellikelbildung (Zero & Lussi 2000; Järvinen et al. 1991;
Meurman et al. 1994; Lussi & Schaffner 2000; Eisenburger et al. 2001; Feagin et al. 1969; Gedalia et al.
1991; Zero et al. 1994). Eine unterschiedlich ausgeprägte Pellikelbildung im Bereich des Zahnbogens
könnte verantwortlich sein für die unterschiedliche
Verteilung der Erosionen (Amaechi et al. 1999). Zähne
mit dicker Pellikelbildung (UK-Zähne lingual) wiesen im
Versuch (Lagerung der Zähne während zwei Stunden in
Orangensaft) eine geringere Erosionsbildung, Zähne
mit dünner Pellikelbildung (OK-Frontzähne palatinal)
eine hohe Erosionsbildung auf. Zudem ist die Clearance von Säure im Unterkiefer besser.
Risikoabklärung und Prävention
Sobald Erosionen klinisch festgestellt werden oder
Anzeichen für ein erhöhtes Erosionsrisiko vorhanden
sind, sollte beim Patienten eine genaue Risikoabklärung durchgeführt werden. Die von Bartlett, Ganss
und Lussi (Bartlett et al. 2008) kürzlich vorgestellte
Kurzuntersuchung (BEWE = Basic Erosive Wear Examination) eignet sich gut, das Risiko für Erosionen zu
quantifizieren.
Die BEWE ermöglicht eine Beurteilung der Säureschäden eines Gebisses mit wenig Zeitaufwand. Sie ist
einfach zu erlernen und unterstützt den Untersucher bei
der Planung des weiteren Managements des Patienten.
Alle Zähne, außer den 3. Molaren, werden jeweils vestibulär, okklusal und palatinal auf Säureschäden untersucht. Erosive Defekte einer Zahnfläche werden in vier
Schweregrade eingeteilt (Tab. 1): kein Zahnhartsubstanzverlust (0), beginnender Verlust der Oberflächenstruktur (1), ausgeprägter Substanzverlust (2) und
schwerer Verlust von Zahnhartsubstanz (3). Pro Sextant
wird der höchste Wert notiert (Tab. 2).
Grad
0
Kein Zahnhartsubstanzverlust
1
Beginnender Verlust der Oberflächenstruktur
2*
Ausgeprägter Verlust von Zahnhartsubstanz;
< 50 % der Oberfläche
3*
Schwerer Verlust von Zahnhartsubstanz;
>
_ 50 % der Oberfläche
Tab. 1: Die Grunduntersuchung für dentale Erosionen –
Beurteilungskriterien
* Beim Grad 2 und 3 ist oft Dentin exponiert.
BEWE Erfassung
Höchster Grad
1. Sextant (17–14)
Höchster Grad
2. Sextant (13 – 23)
Höchster Grad
3. Sextant (24 – 27)
Höchster Grad
4. Sextant (37– 34)
Höchster Grad
5. Sextant (33 – 43)
Höchster Grad
Summe
6. Sextant (44 – 47)
Tab. 2: Die Grunduntersuchung für dentale Erosionen – Grade
PROPHYLAXEdialog
Die Summe dieser Werte definiert den Schweregrad
der Säureschäden und ergibt eine Empfehlung für das
weitere Management des Patienten (Tab. 3).
Auf die Beurteilung Schmelzverlust/Dentinexposition wird im Prinzip verzichtet. Einerseits ist diese
Beurteilung schwierig und andererseits korreliert ein
Dentinbefall nicht in allen Fällen mit dem Schweregrad
eines Defektes, da die Schmelzschicht nicht überall
gleich dick ist. Im Zahnhalsbereich oder im Bereich von
Vertiefungen wird das Dentin viel schneller exponiert.
Mit dem Verzicht wird eine Fehlerquelle bei der Beurteilung eliminiert, dies erleichtert den Vergleich der
Daten verschiedener Untersucher. Zudem kann dieser
Index sowohl am Patienten selbst, wie auch an Modellen oder Fotos angewendet werden.
Das Wiederholungsintervall der BEWE ist abhängig
vom Schweregrad, von ätiologischen Faktoren und sonstigen individuellen Risikofaktoren. Bei Patienten, die
intrinsischen oder häufig und/oder stark erosiven extrinsischen Säuren ausgesetzt sind, sollte eine Wiederholung halbjährlich erfolgen. In anderen Fällen reicht
ein Intervall von 12 Monaten oder mehr (vgl. Tab. 3).
Die anderen schon besprochenen Faktoren sollten
ebenfalls untersucht und gewertet werden. Ein ausführliches Gespräch mit dem Patienten kann über die Ätiologie der Erosionen Aufschluss geben. Häufig genügt
eine Befragung nicht, da der Patient sich seines SäureInputs oft nicht bewusst ist. Es kann angebracht sein,
verschiedene Parameter genau zu untersuchen. So ist
es wichtig, die Ernährung während einiger Tage vom
Patienten detailliert aufschreiben zu lassen. Es interessiert, wann, was und wie viel an potenziell erosiven
Nahrungsmitteln und Getränken eingenommen wurde
(Haupt- und Zwischenmahlzeiten). Eine Speichelanalyse
(Fließrate, Pufferkapazität) sollte bei Erosionspatienten
immer durchgeführt werden. Aufgrund dieser Angaben
lassen sich schließlich konkrete Prophylaxeratschläge
ableiten (Tab. 4).
Bei endogener Säurebelastung, wie sie bei
Anorexia/Bulimia nervosa oder gastroösophagealem
Reflux vorkommt, muss eine kausale systemische
Therapie eingeleitet werden. Anorexie- und Bulimiepatienten benötigen eine psychologische oder psychiatrische Betreuung. Bei Refluxpatienten steht eine
genaue Abklärung der Ursache mit anschließender
Behandlung (medikamentös oder operativ) im Vordergrund.
Es ist sinnvoll, bei Patienten mit aktiven erosiven
Läsionen eine adäquate Zahnhygiene zu instruieren:
Der Erosionspatient muss informiert werden, dass er
die Zähne nicht unmittelbar nach der Säureexposition
reinigt. Man darf dabei nicht vergessen, dass Karies
immer noch das Hauptproblem darstellt. Für die Prophylaxe der Karies muss sofort nach dem Essen gereinigt werden. Es ist wichtig, dass eine Fachperson
individuell optimale Prophylaxeratschläge gibt. Nur so
kann gewährleistet werden, dass die adäquaten Prophylaxeschritte eingeleitet und weitergeführt werden.
Sonderausgabe 2011
15
Sonderausgabe Erosion
Schweregrad
der Erosionen
Summe aller
Sextanten
Keine Erosionen
<
_2
Management
• Aufklärung und Überwachung
• Wiederholung der BEWE alle 3 Jahre
Wenig Erosionen
3–8
• Mundhygieneinstruktion, Ernährungsabklärung und Beratung, Aufklärung
und Überwachung
• Wiederholung der BEWE alle 2 Jahre
Ausgeprägte
Erosionen
9 –13
• Mundhygieneinstruktion, Ernährungsabklärung und Beratung, Bestimmung
des ätiologischen Hauptfaktors und Eliminierung der Säureeinwirkung
• Empfehlung von Fluoridierungsmaßnahmen oder anderen Strategien zur
Erhöhung der Widerstandsfähigkeit der Zahnhartsubstanz
• Wenn möglich restaurative Maßnahmen vermeiden. Momentane Situation
mit Studienmodellen, Silikonabformungen und Fotos festhalten.
• Wiederholung der BEWE alle 6 –12 Monate
Schwere Erosionen
>
_ 14
• Mundhygieneinstruktion, Ernährungsabklärung und Beratung, Bestimmung
des ätiologischen Hauptfaktors und Eliminierung der Säureeinwirkung
• Empfehlung von Fluoridierungsmaßnahmen oder anderen Strategien zur
Erhöhung der Widerstandsfähigkeit der Zahnhartsubstanz
• Wenn möglich restaurative Maßnahmen vermeiden. Momentane Situation
mit Studienmodellen, Silikonabformungen und Fotos festhalten.
• Spezielle Betreuung bei schnellem Fortschreiten der Erosionen.
Gegebenenfalls restaurative Maßnahmen in Betracht ziehen.
• Wiederholung der BEWE alle 6 –12 Monate
Tab. 3: Risikogruppen mit Empfehlung zur weiteren Betreuung. Bei den Empfehlungen zum Management der Patienten handelt es sich nicht um Richtlinien,
da diesbezüglich die Meinungen von Experten stark voneinander abweichen.
Lokal:
• Steuerung des Säurekonsums:
– Konsum von säurehaltigen Lebensmitteln
wenn möglich reduzieren und auf möglichst
wenige (Haupt-)Mahlzeiten beschränken
• Steuerung der Säureeinwirkungsdauer:
– Getränke rasch trinken
– Nach Säurekonsum mit Wasser oder niedrig
konzentrierter Fluoridlösung spülen
– Nach Säureeinwirkung/-konsum zahnschonende Kaugummis zur Stimulierung
der Speichelfließrate verwenden
• Steuerung der Zahnhygiene:
– Zahnreinigung nicht unmittelbar nach
Säureexposition
– Weiche Zahnbürsten
– Schwach abrasive Zahnpasten
– Fluoridhaltige Zahnpasten
– Zahnschonende Bürsttechnik
– Regelmäßig, während einiger Minuten,
höher konzentrierte (leicht saure) Fluoride
applizieren
Systemisch: • Einleitung einer kausalen Therapie bei
endogener Säurebelastung:
– Verdacht auf Reflux: Überweisung an
Gastroenterologen
– Anorexie-/Bulimie-Patienten: Psychologische
oder psychiatrische Betreuung veranlassen
Tab. 4: Präventive Maßnahmen. Die folgenden Ratschläge gelten für
Patienten, die bereits unter Erosionen der Zahnhartsubstanz leiden oder
die ein erhöhtes Erosionsrisiko aufweisen.
16
Sonderausgabe 2011
In jedem Fall soll eine schwach abrasive Zahnpaste,
eine weiche Zahnbürste und eine schonende Bürsttechnik angewendet werden.
Zusammenfassung
Diese Übersichtsarbeit geht auf die multifaktorielle
Ätiologie der Erosionen ein. Im Detail werden das klinische Erscheinungsbild und Risikofaktoren für die
Entstehung beschrieben und es wird eine neue einfache Methode zur Erfassung der Zahnhartsubstanz
(BEWE) beschrieben. Sie ist einfach durchzuführen, da
sie sich vom Prozedere her an die parodontale
Grunduntersuchung anlehnt. Wichtig ist es zu unterscheiden, ob es sich bei einer Läsion primär um einen
erosiven oder einen abrasiven Prozess handelt.
Anamnese, Befund und richtige Diagnostik sind auch
hier unabdingbare Voraussetzungen für eine adäquate
Prävention und Therapie. Die Diätanamnese kann Aufschluss über die Ernährungsgewohnheiten oder Nahrungsmittelergänzungen geben. Weitere Abklärungen
wie die Bestimmung der Fließrate, des pH-Werts und
der Pufferkapazität des Speichels sind für die Erfassung
des Erosionsrisikos der Patienten von Bedeutung (Lussi
2006).
Prof. Dr. Adrian Lussi
Klinik für Zahnerhaltung · Universität Bern
Freiburgstraße 7 · 3010 Bern · Schweiz
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
Risikofaktoren und Leitlinien für die Risikoabklärung
Dr. Annette Wiegand, Universität Zürich, Schweiz
Die Identifikation potenzieller Risikofaktoren für das
Auftreten dentaler Erosionen ist notwendig, um geeignete Prophylaxemaßnahmen bzw. eine ursachenbezogene Therapie einzuleiten. Erosionen werden durch
extrinsische (z.B. Getränke, Ernährung) oder intrinsische
(z.B. Magensäure) Säureeinwirkung verursacht, wobei
das Ausmaß der erosiven Demineralisation durch verschiedene (Wirts-)Faktoren, wie z.B. Speichelparameter,
moduliert wird. Neben der Darstellung der Risikofaktoren geht der folgende Beitrag auch auf verschiedene
Allgemeinerkrankungen ein, die mit einem gehäuften
Auftreten von Erosionen assoziiert sind.
Exogene Risikofaktoren
zeigen ein erhöhtes Risiko für die Entstehung von dentalen Erosionen (Chikte et al. 2005). Schließlich konnten
auch bei Profi-Schwimmern vermehrt Erosionen beobachtet werden (Centerwall et al. 1986), wobei besonders unsachgemäß gechlortes Wasser (niedriger pHWert) das Risiko für Erosionen zu erhöhen scheint
(Gabai et al. 1988).
Heute stellen die ernährungsbedingten Läsionen
vermutlich die häufigste Form der extrinsisch verursachten Erosionen dar, so dass besonders bei Vorliegen
von Erosionen an den vestibulären Flächen der Oberkieferfrontzähne (Abb. 1) an eine dietätisch ausgelöste
Erosion gedacht werden sollte.
Dentale Erosionen sind häufig diätetisch verursacht
und spiegeln den häufigen Konsum saurer Nahrungsmittel und Getränke wider. Ein erhöhter Verzehr von
Erfrischungs- oder Sportgetränken bzw. Zitrusfrüchten
kann z.B. besonders bei Sportlern oder gesundheitsbewussten Patienten beobachtet werden. Auch essgestörte Patienten weisen häufig ein verändertes Diätmuster (z.B. hoher Konsum von Light-Softdrinks, Zufuhr
von Essig) auf.
Die Erosivität eines Getränkes oder Nahrungsmittels
ist von der Konsumhäufigkeit und -art (z.B. Trinkgewohnheiten wie schluckweises Trinken, Saugen mit dem
Strohhalm, intraorales Spülen mit dem Getränk) abhängig (Zero & Lussi 2006). Ferner wird das erosive
Potenzial auch durch den pH-Wert, den Gehalt an
titrierbarer Säure, die Pufferkapazität und die Mineralkonzentration des Agens bestimmt (Lussi & Jaeggi
2006). Für weitere Informationen zum Zusammenhang
von Ernährung und Erosionen wird an dieser Stelle auf
den Beitrag von Frau Dr. van Oost verwiesen.
Neben den ernährungsbedingten Risikofaktoren
können auch saure Medikamente, wie z.B. Acetylsalicylsäure oder Vitamin C, das Risiko für dentale Erosionen erhöhen, besonders wenn sie regelmäßig eingenommen und in Form von Kautabletten zugeführt
werden (Hellwig & Lussi 2006; Hannig & Albers 1993).
Die früher häufiger aufgetretenen berufsbedingten
Erosionen sind heute nicht zuletzt aufgrund geeigneter
Arbeitsschutzmaßnahmen selten zu beobachten. In verschiedenen Studien konnte jedoch nachgewiesen
werden, dass – besonders bei fehlenden Arbeitschutzmaßnahmen – bestimmte Industriearbeiter (z.B. in
Munitions- oder Galvanisierungsfabriken) ein erhöhtes
Risiko für Erosionen aufweisen, da sie vermehrt Säuren
oder säurehaltigen Dämpfen ausgesetzt sind (Wiegand
& Attin 2007). Auch professionelle Weintester, die über
längere Zeit häufig Weinverkostungen durchführen,
PROPHYLAXEdialog
Abb. 1: Vestibulär lokalisierte Erosionen der Oberkieferfrontzähne, ausgelöst durch extrinsische Säureexposition
Endogene Risikofaktoren
Endogene Erosionen werden durch das häufige
Auftreten von Magensäure bzw. saurem Mageninhalt in
der Mundhöhle ausgelöst und werden daher besonders
bei Patienten mit Bulimia oder Anorexia nervosa,
Alkoholabusus oder Refluxerkrankungen beobachtet
(Bartlett 2006).
Die Prävalenz von Essstörungen wird mit 0,5 – 3%
angegeben, wobei in der Regel junge Frauen zwischen
15 und 25 Jahren betroffen sind Das chronische
Erbrechen führt zu Erosionen im Bereich der okklusalen
und oralen Zahnoberflächen. In verschiedenen Studien
konnte nachgewiesen werden, dass diese Patientengruppe ein signifikant häufigeres Auftreten von nichtkariösen Zahnhartsubstanzdefekten aufweist (Robb et
al. 1991; Milosevic & Slade 1989). Zusätzlich wird bei
Patienten mit Essstörungen häufig auch eine Oligosialie
festgestellt, die als Folge der allgemeinen Dehydration
durch Gewichtsabnahme oder als Nebenwirkung einer
Medikation mit Psychopharmaka auftritt und das Auftreten von Erosionen begünstigt (siehe „Modifizierende
Wirtsfaktoren“) (Imfeld & Imfeld 2005).
Sonderausgabe 2011
17
Sonderausgabe Erosion
Chronischer Alkoholabusus geht ebenfalls mit häufigem Erbrechen einher und kann gastroösophagealen
Reflux auslösen, so dass das Risiko für die Ausbildung
erosiver Defekte erhöht wird. Robb & Smith (1990) und
Hede (1996) konnten eine erhöhte Prävalenz dentaler
Erosionen bei alkoholabhängigen Patienten gegenüber
gesunden Kontrollen beobachten.
Während Essstörungen und Alkoholabusus in der
Regel bei Jugendlichen und/oder Erwachsenen beobachtet werden, können Refluxerkrankungen schon im
Kindesalter auftreten und Erosionen auslösen (Abb. 2)
(Ersin et al. 2006).
Abb. 2: Erosionen im Milchgebiss
Reflux-induzierte Erosionen bleiben oft lange Zeit
unbemerkt und werden dem Patienten erst bewusst,
wenn schmerzhafte Hypersensibilitäten auftreten. Der
Schweregrad der Refluxerkrankung scheint dabei mit
dem Ausmaß der Erosion zu korrelieren (Moazzez et al.
2004; Meurman et al. 1994).
Bei den endogeninduzierten Erosionen sollte bedacht werden, dass der Zahnarzt aufgrund des klinischen Bildes (palatinal/lingual und okklusal lokalisierte
Erosionen, Abb. 3) häufig als Erster eine Verdachtsdiagnose stellen kann und dann ggf. auch eine weiterführende allgemeinmedizinische Abklärung einleiten
sollte.
Abb. 3: Endogeninduzierte Erosionen im Oberkiefer
18
Sonderausgabe 2011
Modifizierende Wirtsfaktoren
Die Entstehung von Erosionen wird neben der Art,
Häufigkeit und Frequenz der Säureexposition von verschiedenen modifizierenden Wirtsfaktoren bestimmt.
Eine besondere Rolle kommt dabei dem Speichel zu.
Während eines Säureangriffs wirkt der Speichel in Form
der Pellikel und durch Säureverdünnung und -neutralisation schützend auf den Zahn. Nach dem Säureangriff
verfügt der Speichel durch die Bereitstellung von Mineralien zur Einlagerung in die demineralisierte Oberfläche über ein reparatives Potenzial (Hara et al. 2006).
Verschiedene Allgemeinerkrankungen (Erkrankungen
der Speicheldrüsen, Radiatio im Kopf-Hals-Bereich,
Sjögren-Syndrom, Diabetes mellitus, chronische
Niereninsuffizienz) und Nebenwirkungen bestimmter
Medikationen (Psychopharmaka, Anticholinergika, Antihistaminika, Antiemetika, Antiparkinsonpräparate, Drogenabusus) (Tredwin et al. 2005) gehen mit einer
Reduktion der Speichelsekretion einher und tragen
somit zu einem erhöhten Risiko für Erosionen bei.
Erosive Zahnhartsubstanzverluste gehen mit einer
Erweichung der Zahnoberfläche einher, die mit einer
verringerten Resistenz gegen mechanische Einflüsse
assoziiert ist (Attin et al. 1997). Folglich können erosiv
demineralisierte Schmelz- und Dentinoberflächen durch
abrasive Reize (z.B. Zähnebürsten, Nahrungszerkleinerung) weiter geschädigt werden. Exzessives Zähnebürsten unmittelbar nach Säurekontakt oder die
Verwendung einer stark abrasiven Zahnpasta können
somit das Voranschreiten der Läsion fördern.
Risikoabklärung
Eine frühzeitige diagnostische Abklärung nichtkariöser Zahnhartsubstanzdefekte ist notwendig, um
geeignete Prophylaxemaßnahmen einzuleiten und eine
invasive Therapie (z.B. Füllungstherapie) zu vermeiden
oder hinauszuzögern. Daher sollte der Zahnarzt im
Rahmen der Befundaufnahme bereits initialen Läsionen
Beachtung schenken. Zur Analyse potenzieller Risikofaktoren ist zunächst eine genaue Anamnese durchzuführen (siehe Tabelle). Im Rahmen dieser Befragung
kann der Patient auch gebeten werden, ein sog.
Ernährungstagebuch zu führen, um potenzielle erosive
Lebensmittel und Getränke zu identifizieren.
Das Auftreten von Erosionen, die aufgrund der klinischen Lokalisation (palatinal/lingual) an das Vorliegen
einer gastrointestinalen Erkrankung oder einer Essstörung denken lassen, macht eine ätiologische Abklärung in allgemeinmedizinischer bzw. psychologischer
Betreuung notwendig. Um die Funktion der Speicheldrüsen zu überprüfen, sollte ferner ein Speicheltest
durchgeführt werden, in dem neben der Speichelfließrate und dem pH-Wert auch die Pufferkapazität
bestimmt wird. Schließlich empfiehlt sich auch die
Dokumentation der bestehenden Defekte (Erosionsindex, Fotos und/oder Modelle), um eine mögliche
Progression der Läsionen zu verfolgen.
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
Ernährung
Häufigkeit und Frequenz des Konsums erosiver Getränke
(Fruchtsäfte, Softdrinks, Sportgetränke, Alcopops) und Nahrungsmittel
(Zitrusfrüchte, Essiggurken, Bonbons, Salatdressing), ggf. Ernährungstagebuch
Allgemeinerkrankungen
Gastrointestinale Störungen (Reflux)
Essstörungen
Alkoholabusus
Erkrankungen, die die Speicheldrüsenfunktion beeinträchtigen
Erkrankungen der Speicheldrüsen
Radiatio im Kopf-Hals-Bereich
Sjögren-Syndrom
Diabetes mellitus
Chronische Niereninsuffizienz
Medikation
Saure Medikamente (Acetylsalicylsäure, Vitamin C)
Reduktion der Speichelsekretion als Nebenwirkung von
– Psychopharmaka
– Anticholinergika
– Antihistaminika
– Antiemetika
– Antiparkinsonpräparaten
– Drogenabusus
Verhalten / Umfeld
Berufsbedingte Säureexposition
Sport (Schwimmbad, erhöhter Konsum erosiver Sportgetränke)
Anamnestische Faktoren für die Abklärung erosiver Defekte
Dr. Annette Wiegand
Klinik für Präventivzahnmedizin, Parodontologie
und Kariologie · Universität Zürich
Plattenstraße 11 · 8032 Zürich · Schweiz
Methodik von Untersuchungen zur Zahnerosion
Prof. Dr. Marie-Charlotte Huysmans, UMC St-Radboud, Nimwegen, Niederlande
Einleitung
Beim Vergleich von Zahnerosion und Zahnkaries fällt
auf, dass die Erosionsforschung ein relativ neues
Gebiet mit noch dementsprechend lückenhafter Datenlage ist. In diesem noch recht unerforschten Bereich
führen einzelne Untersuchungen daher zwar zu einem
ganz erheblichen Erkenntnisgewinn, im klinischen
Praxisalltag umsetzbare Rückschlüsse lassen sich daraus
allerdings nur bedingt ziehen.
Klinische Studien
Bislang konzentrierten sich die meisten klinischen
Studien zur Zahnerosion vor allem auf die Prävalenz und
Risikofaktoren dieser Zahnkrankheit.
PROPHYLAXEdialog
Die Ergebnisse von epidemiologischen Untersuchungen und Fall-Kontroll-Studien hängen ganz entscheidend von der zur Diagnose der Zahnerosion eingesetzten Methodik ab. Hier sollen nur einige der
Probleme herausgegriffen werden, die sich aus einer
hohen Variabilität der zur Diagnosestellung verwendeten Methoden zwangsläufig ergeben.
In der Literatur werden für die Prävalenz der Zahnerosion höchst unterschiedliche Zahlen angegeben.
Diese große Schwankungsbreite ist sicherlich zumindest teilweise auf Unterschiede bei den angelegten
diagnostischen Kriterien zurückzuführen. So wurde die
Prävalenz von Dentinerosionen in zwei in Großbritannien durchgeführten Untersuchungen bei 14-Jährigen
mit 9 % (Dugmore & Rock 2004) bzw. 53 % (Bardsley et
al. 2004) angegeben. Ein offensichtlicher Unterschied
Sonderausgabe 2011
19
Sonderausgabe Erosion
zwischen den beiden Studien bestand beispielsweise
darin, dass in letzterer auch die Inzisalkanten der
Schneidezähne mitberücksichtigt wurden. Es ist sicher
nicht ganz unstrittig, ob die Abtragung der Schneidekanten wirklich ein zuverlässiger Indikator für die Zahnerosion ist oder nicht eher auf Abkauung im Sinne der
Abrasion zurückzuführen ist.
Im Rahmen von Längsschnittstudien bietet sich die
Möglichkeit, einen eventuell vorhandenen Zusammenhang zwischen vorbestehenden Risikofaktoren und der
Erosionsinzidenz zu dokumentieren. Beim Nachweis
einer positiven Korrelation wäre ein ursächlicher Zusammenhang plausibler. Dies erfolgte für das Vorliegen
bestimmter Risikofaktoren im Alter von 12 Jahren und
den Erosionsnachweis im Alter von 14 Jahren (Dugmore
& Rock 2004).
Es ist zwar davon auszugehen, dass künftig auch im
Bereich Vorbeugung und Behandlung von Zahnerosionen randomisierte kontrollierte Studien durchgeführt
werden, allerdings lassen sich viele Aspekte der Zahnerosion aus praktischen und ethischen Erwägungen in
vivo entweder gar nicht untersuchen oder erfordern
umfangreiche vorklinische Vorarbeiten. So ist eine
Prüfung des erosiven Potenzials von Softdrinks an
menschlichen Probanden ethisch nicht vertretbar, da
der damit einhergehende Gewebeverlust irreversibel
wäre. Das gleiche gilt für die Anwendung vorbeugender Behandlungen, bevor deren wahrscheinliche Wirksamkeit nachgewiesen ist. Für diesen Zweck wurde eine
ganze Reihe von Labor- und In-situ-Modellen entwickelt.
Untersuchungen an Modellen
Mit Hilfe von Modellen soll die Wirklichkeit vereinfacht abgebildet werden, um so wichtige Parameter
unter kontrollierten Bedingungen gezielt untersuchen
zu können. Dabei muss stets ein Kompromiss zwischen
Kontrolle (mit der Gefahr einer Übersimplifizierung) und
klinischer Relevanz der dabei erhobenen Daten eingegangen werden. Denn jede Vereinfachung des tatsächlichen Sachverhalts läuft unweigerlich Gefahr, die Übertragbarkeit auf die klinische Situation zu erschweren
bzw. einzuschränken. Bei Untersuchungen zur Zahnerosion kommt noch erschwerend hinzu, dass die für
die klinische Relevanz entscheidenden Parameter letztendlich noch gar nicht bekannt sind. Zudem wissen wir
nicht, ob die gerade untersuchte Variable unter klinischen Bedingungen nicht möglicherweise mit einer der
im Modell nicht berücksichtigten (Einfluss-)Größen in
Wechselwirkung tritt.
Zur Untersuchung des erosiven Potenzials von Softdrinks beispielsweise wird in der Regel ein stark vereinfachtes Modell herangezogen: Man lässt ganz einfach
Softdrinks im Reagenzglas auf Zahnschmelzproben einwirken (Abb. 1). Nur sehr selten enthält das Modell
noch zusätzlich Pellikel (auf der Zahnoberfläche gebildeter Niederschlag aus Speicheleiweiß und Epithelabschilferungen). Man geht demnach von vornherein
davon aus, dass die Schutzwirkung des Pellikels bei
20
Sonderausgabe 2011
allen Softdrinks gleich ist – die Abstufung des erosiven
Potenzials davon also unbeeinflusst bleibt. Aufgrund
begrenzter zeitlicher und finanzieller Ressourcen ist es
aber unvermeidlich, dass man zunächst mit stark vereinfachten Modellen arbeitet und erst danach gezielte
Fragestellungen anhand komplexerer Modelle untersucht. Die abschließende Validierung kann im letzten
Schritt immer erst in klinischen Studien erfolgen.
Abb. 1: Einfacher Test auf erosives Potenzial: eingebettete
bovine Zahnschmelzprobe, die im Reagenzglas gegenüber
1 ml Softdrink exponiert wird. Anschließend wird die Herauslösung von Kalzium aus dem Schmelz atomabsorptionsspektroskopisch (AAS) gemessen.
An Modellen wurden bislang im Wesentlichen drei
Aspekte der Zahnerosion untersucht:
1. Abklärung des erosiven Potenzials
Wie erosiv sind beispielsweise verschiedene Getränke?
2. Untersuchung prophylaktischer Behandlungen
Welche vorbeugende Wirkung entfalten bestimmte
Behandlungen?
3. Untersuchung der zugrunde liegenden
pathologischen Prozesse
Was geschieht mit den Zahngeweben während der
Exposition gegenüber potenziell erosiven Substanzen?
Vor einer näheren Besprechung der drei genannten
Untersuchungsgebiete und deren spezifischer Methodik gilt es, vorab noch eine grundlegende Frage zu
klären: Was für ein Gewebe ist für die Untersuchungen
eigentlich zu verwenden?
Wahl geeigneter Gewebe
In Untersuchungen zur Zahnerosion wird am häufigsten Zahnschmelz eingesetzt – wahrscheinlich deshalb, weil dieser einerseits das im klinisch-pathologischen Prozess zuerst betroffene Gewebe darstellt und
andererseits relativ einfach zu untersuchen ist. Im Zuge
des Erosionsvorgangs werden Gewebeschichten „ausgewaschen“, wobei eine erweichte oberste Schicht entsteht. Diese wird bei manchen Erosionsmessungen
(chemische und mikroradiographische Methoden) mitberücksichtigt, bei anderen (Profilometrie) hingegen
nicht, so dass die Messmethode die Ergebnisse beeinflussen kann (Barbour & Rees 2004).
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
Die Verwendung von bovinem Zahnschmelz als
Modell des menschlichen Zahnschmelzes ist in der
Kariesforschung breit anerkannt (Featherstone & Mellberg 1981). In vitro zeigte sich, dass boviner Zahnschmelz erosionsanfälliger und gegenüber einer Kombination aus Erosion und Abrasion empfindlicher ist
(Attin et al. 2007). Außerdem reagiert boviner Schmelz
auf Fluoridbehandlungen möglicherweise etwas anders
als humaner (Hove et al. 2007). In einer vor kurzem
in situ durchgeführten Erosionsstudie wiesen beide
Gewebe aber sehr ähnliche Reaktionsmuster gegenüber verschiedenen Behandlungen auf (Rios et al.
2006).
In Untersuchungen mit längerer Expositionsdauer
finden hingegen eher Techniken Anwendung, mit
denen das Ausmaß des Verlusts der Oberflächenschicht
mit oder ohne gleichzeitige Erweichung gemessen
wird, nämlich die Profilometrie, die Bestimmung des
Gewichtsverlusts sowie die Mikroradiographie (Barbour
et al. 2006; Jensdottir et al. 2005). Die klinische Relevanz der verschiedenen Methoden ist zwar nur unzureichend belegt, doch korrelieren die Daten bei kurzer und langer Exposition allem Anschein nach gut
(Barbour et al. 2006).
Das weniger häufig eingesetzte Dentin ist komplexer aufgebaut und daher schwieriger zu untersuchen. In letzter Zeit wurde klar, dass der Erosionsprozess im Dentin anders abläuft als im Schmelz und
daher anders untersucht werden muss. In saurem Milieu
werden Mineralien aus dem Dentin „ausgewaschen“,
während die organische Matrix davon relativ unbeeinflusst bleibt. Diese organische Matrix hat aber einen
Einfluss auf das Fortschreiten des Erosionsgeschehens,
indem sie einerseits eine Diffusionsbarriere bildet und
andererseits als möglicher Remineralisationsort fungiert
(Ganss et al. 2004b).
Diese Faktoren wurden in Untersuchungen mit längerer Säureeinwirkung mit und ohne enzymatische Entfernung der Matrixschicht beobachtet. Bislang nicht
geklärt ist, wie diese Vorgänge unter klinischen Bedingungen ablaufen. Auf jeden Fall ist zu beachten, dass
die Matrixschicht – wie auch schon die erweichte
Schmelzschicht – profilometrische Messungen sowohl
bei der taktilen als auch bei der berührungslosen
Profilometrie stören kann (Ganss et al. 2007b), und zwar
einerseits vorhersagbar (indem sie im Profil miterfasst
wird) und andererseits aber auch in weniger gut vorhersagbarer Weise (indem sie beispielsweise durch Trocknung während der Vermessung schrumpft oder weil die
Eindringtiefe des Stylus nicht bekannt ist).
Untersuchung des erosiven
Potenzials
Die zur Untersuchung des erosiven Potenzials
von Getränken, Arzneimitteln und anderen Substanzen
herangezogenen Methoden unterscheiden sich ganz
erheblich. So zeigte sich in einer aktuellen Studie, dass
bei Getränken sowohl die Messmethode (chemisch versus profilometrisch) als auch der Expositionsmodus
(wiederholte kleine Mengen versus eine einzige große
Menge des jeweiligen Getränks) den erhaltenen Messwert des erosiven Potenzials beeinflussen kann (Jager
et al. 2008). In der Literatur reichen die Expositionszeiten von Minuten (Lussi et al. 1995) bis Stunden
(Jensdottir et al. 2005). In Untersuchungen mit kürzeren
Einwirkzeiten kommen eher Messmethoden zum Einsatz, bei denen die Zahnschmelzerweichung als Zielgröße dient, nämlich die Bestimmung der Oberflächenmikrohärte oder auch die Nanoindentation (Abb. 2)
(Barbour et al. 2006).
PROPHYLAXEdialog
µm
Abb. 2: Atomkraftmikroskopische Aufnahme der Nanoindentation in erodiertem Zahnschmelz (mit freundlicher
Genehmigung von M. E. Barbour)
Bei weiteren Expositionsparametern handelt es sich
nachweislich um Einflussgrößen der Erosion, nämlich
u.a. bei der Temperatur und der Flussrate der Prüfflüssigkeit (Shellis et al. 2005; Barbour et al. 2006).
Ganz offensichtlich besteht in diesem Bereich die
Notwendigkeit zur Standardisierung der Methodik.
Derzeit ist die Datenlage für jede einzelne Methode
jedoch begrenzt. Aus einem Vergleich zwischen der
Exposition in vitro und in situ konnte geschlossen
werden, dass die Erosion in situ deutlich langsamer
voranschreitet. Dementsprechend könnte auch unter
klinischen Bedingungen mit einem langsameren Fortschreiten des Erosionsprozesses gerechnet werden. In
derselben Studie ergaben sich auch Anhaltspunkte
dafür, dass sich In-situ-Ergebnisse anhand von In-vitroUntersuchungen nicht besonders zuverlässig vorhersagen lassen (Hunter et al. 2003).
Untersuchung prophylaktischer
Behandlungen
Auch auf diesem Gebiet kamen bislang sehr unterschiedliche Methoden zum Einsatz, wobei diese häufig
von den vorgesehenen Behandlungsmodalitäten abhingen. Für Behandlungsmöglichkeiten, die zur häufigen häuslichen Anwendung vorgesehen sind, werden
entweder Versuche mit einmaliger Einwirkung oder in
Sonderausgabe 2011
21
Sonderausgabe Erosion
Zyklen durchgeführte Schemata mit häufigen Behandlungen durchgeführt (Hove et al. 2007; Lennon et al.
2006). Für professionelle Behandlungen, wie z.B. die
Auftragung von Zahnlacken, erfolgt in der Regel ein
zyklischer Anwendungsmodus, mit dem auch untersucht werden soll, wie lange die Behandlungswirkung
anhält (Vieira et al. 2005). Hier gestaltet sich die
Abschätzung der klinischen Relevanz der einzelnen
Methoden noch schwieriger. So könnten Unterschiede
bei den Ergebnissen, wie z.B. keine Wirkung versus
ausgeprägte Wirkung von TiF4-Lösungen oder Pellikel,
u.a. auch auf Unterschiede bei der jeweils gewählten
Methodik, wie z.B. Speichelstimulation versus keine
Speichelstimulation, sowie bei dem Applikationsmodus
und der Dauer der Fluoridbehandlung, zurückzuführen
sein (Wiegand et al. in Druck). In letzter Zeit zeigte
sich in einigen in situ durchgeführten Untersuchungen
(Abb. 3), dass eine intensive Fluoridierung mit sauren
Fluoridpräparaten möglicherweise wirksamer ist als
nach den Befunden aus In-vitro-Studien zu erwarten
gewesen wäre (Ganss et al. 2004a; Hove et al. 2008).
Klinische Beobachtungen weisen allerdings auf eine
erhöhte Anfälligkeit von Dentin gegenüber erosiver
Abtragung hin (Bell et al. 1998). Daraus kann geschlossen werden, dass diese Schicht möglicherweise mechanisch und/oder enzymatisch abgetragen wird.
Abb. 4: Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme einer
bovinen Zahnschmelzprobe nach 5-minütiger Einwirkung von
Zitronensäure. Erweichte Schicht ca. 3 µm unterhalb der
Oberfläche.
Abb. 3: Palatinalvorrichtung mit Zahnschmelzproben, wie sie
bei In-situ-Untersuchungen verwendet wird
Untersuchung der zugrunde
liegenden pathologischen Prozesse
Im Rahmen von Studien in den beiden anderen
genannten Gebieten werden häufig gleichzeitig auch
Aspekte der Erosionspathologie mituntersucht. Von
zentraler Bedeutung sind dabei die Bildung einer erweichten Schicht im Zahnschmelz (Abb. 4) bzw. einer
Kollagenmatrixschicht im Dentin und der Zusammenhang mit der nachfolgenden mechanischen Abtragung,
wie z.B. beim Zähneputzen.
Nach den Befunden einiger In-vitro-Untersuchungen erodiert Dentin langsamer als Zahnschmelz
(Schlüter et al. 2007; Wetton et al. 2007). Zurückgeführt wurde dies auf die Bildung der als Diffusionsbarriere fungierenden Matrixschicht.
22
Sonderausgabe 2011
Zwar wurde die Anfälligkeit der erweichten Schmelzschicht in vitro gezeigt (Davis & Winter 1980), doch ist
die Bedeutung des (Zeitpunkts des) Zähneputzens
unter klinischen Bedingungen unklar (Ganss et al.
2007a; Vieira et al. 2007). Zum Einfluss des Putzens auf
Dentin nach erfolgter Erosion liegen ebenfalls unterschiedliche Literaturangaben vor (Attin et al. 2004;
Ganss et al. 2007b). Wiederum können viele verschiedene Parameter des Versuchsaufbaus für die Variabilität der Ergebnisse verantwortlich sein, u.a. die Messmethode.
Fazit
Labormodelle können einen wertvollen Beitrag zum
Verständnis des Erosionsprozesses und zur Untersuchung einer großen Zahl von Parametern leisten. Die
Verwendung unterschiedlicher Methoden hat zwar
unseren Erkenntnisstand erweitert, im Interesse der
Vergleichbarkeit wäre aber eine Einigung auf eine
gewisse Standardisierung erforderlich. Bei der Übertragung der in vitro erhaltenen Daten auf die klinische
Situation ist erhebliche Vorsicht angebracht. Die endgültige Validierung muss zunächst in In-situ-Modellen
und schließlich in klinischen Studien erfolgen.
Prof. Dr. Marie-Charlotte Huysmans
UMC St-Radboud · Faculteit Medische Wetenschapen
Postbus 9101 · 6500 HB Nijmegen · Niederlande
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
Ernährung und Erosion
Dr. Gerta van Oost, Dormagen
Einleitung
Eine vollwertige, den aktuellen Empfehlungen entsprechende Ernährung enthält reichlich pflanzliche
Lebensmittel. Saure naturbelassene Lebensmittel, z.B.
Obst, sind Bestandteil einer gesunden Kost. Die Alltagsernährungs- und Trinkgewohnheiten weichen jedoch – mitunter in guter Absicht – von einer ausgewogenen Kostzusammenstellung ab. Darüber hinaus
nehmen in zunehmendem Maße säure-, insbesondere
zitronen- und phosphorsäurehaltige Erfrischungsgetränke im alltäglichen Speiseplan einen festen Platz
ein. Solche Ernährungs- und Trinkgewohnheiten sind
ausschlaggebend für die Zunahme zahnschmelzauflösender Folgeschäden.
Empfehlungen für eine
ausgewogene Ernährung
Ausgewogen und gesund ist eine abwechslungsreiche Ernährung, die sowohl pflanzliche als auch tierische Lebensmittel enthält. Die aid-Ernährungspyramide
weist den Weg (Auswertungs- und Informationsdienst
für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten e.V., aid
[Hrsg.]). Die Darstellung der Pyramide basiert auf den
wissenschaftlichen Empfehlungen der DACH-Referenzwerte (Deutsche Gesellschaft für Ernährung [DGE],
Österreichische Gesellschaft für Ernährung [ÖGE],
Schweizerische Gesellschaft für Ernährungsforschung
[SGE], Schweizerische Vereinigung für Ernährung [SGV]:
D-A-CH – Referenzwerte für Nährstoffzufuhr, Umschau/
Braus, Frankfurt 2000).
Die aid-Ernährungspyramide
Sieben essenzielle Lebensmittelgruppen (Wasser,
Gemüse, Obst, Getreide, Milch(-Produkte), „Fleisch/
Fisch/Eier“, Öle) gehören zu einer ausgewogenen
Ernährung. In der Pyramide sind sie verteilt auf fünf
Ebenen, die sechste ist die Ebene der „Extras“, der
Ausnahmen. Die Untermalung mit den Ampelfarben
Grün, Gelb, Rot macht die Darstellung leicht verständlich und selbsterklärend. Die Länge der sechs Ebenen
symbolisiert die mengenmäßige Gewichtung der
Lebensmittel.
Aktuelle wissenschaftliche Studien zeigen eindrucksvoll die präventive Wirkung eines hohen Gemüse- und Obstverzehrs gegenüber Herz-KreislaufErkrankungen (Deutsche Gesellschaft für Ernährung
e.V. 2007). Die Kampagne „5-am-Tag“, fünf Portionen
Gemüse und Obst, erhält somit ihre Berechtigung.
Die Berücksichtigung von sog. Extras im obersten
Segment der Pyramide darf nicht fehlgedeutet werden
als Empfehlung; sie deutet an, was und wie viel (wenig)
an Süßigkeiten, Snacks, Softdrinks und alkoholischen
Getränken tolerabel ist – auf das rechte Maß kommt
es an!
Von oralprophylaktischer Seite ist eine ergänzende
Betrachtung sinnvoll, um das „five a day“-Motto, wie es
in den USA lautet, tatsächlich zu einer rundherum prophylaktischen Maßnahme werden zu lassen. Ein großer
Teil der empfohlenen Lebensmittel enthält Säuren.
Deshalb beachte man die Gewichtung: Gemüse zu
Obst im Verhältnis 3 zu 2. Säfte als Ersatz für Obst sollten nur die Ausnahme sein.
Die wichtigsten in Lebensmitteln enthaltenen Säuren sind Apfelsäure, Ascorbinsäure, Brenztraubensäure,
Essigsäure, Fumarsäure, Kohlensäure, Milchsäure, Oxalsäure, Weinsäure und Zitronensäure. Letztere – nicht zu
verwechseln mit Ascorbinsäure – hat im Vergleich zu
anderen Säuren eine besonders starke erosive Wirkung
(Attin 1999).
Extras: Knabbereien,
Süßes, fette Snacks, Alkohol
Fette und Öle
Milch und Milchprodukte,
Fisch, Fleisch, Wurst, Eier
Brot, Getreide
und Beilagen
Gemüse, Salat
und Obst
Getränke
© aid infodienst e.V., Idee: Sonja Mannhardt
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe 2011
23
Sonderausgabe Erosion
Die folgende Tabelle zeigt Beispiele säurehaltiger
Lebensmittel und Getränke sowie deren geschmacksgebende Säuren. Es sollte berücksichtigt werden, dass
saure Nahrungsmittel einen erhöhten Speichelfluss auslösen (Attin 1999), insbesondere wenn sie gründlich
gekaut werden. Damit werden die Säuren zum Teil
durch den Speichel neutralisiert und beschleunigt
„abgeschluckt“ – ein Pluspunkt für den „Apfel“. Ein
weiterer Grund, Frischobst zu essen statt den entsprechenden Saft zu trinken, liegt in der Tatsache, dass
z.B. für einen Liter Orangensaft über 20 Orangen, für
einen Liter Apfelsaft 25 bis 30 Äpfel gepresst werden
müssen – ein nicht zu unterschätzender Aspekt bei der
zunehmenden Überernährung in der Bevölkerung.
Säuren sind DIE geschmacksgebende Komponente
in Erfrischungsgetränken. Tabelle 2 zeigt den Säuregrad
der verschiedenen Getränke; pH-Werte von unter 3 bis
4 sind bei diesen Getränken die Regel.
pH-Werte in Getränken
Fruchtsäfte (z.B. Apfel-, Aprikosen-, Birnen
Grapefruit-, Kirsch-, Orangen-, Traubensaft)
Zitronensaft
3,0 bis 3,7
Gemüsesäfte (Karotten-, Tomatensaft)
4,0 bis 4,2
Limonaden
2,5 bis 3,5
Erfrischungsgetränke
(z.B. Cola-Getränke, Limonaden,
auch in der „light“-Form)
2,6 bis 3,0
2,7 bis 3,0
Säurehaltige
Lebensmittel
und Getränke
Beispiele
Maßgebliche
geschmacksgebende Säure
Kernobst
und entspr. Getränke
Zitrusfrüchte
und entspr. Getränke
Apfel, Birne
Apfelsäure
Isotonische (Sport-)Getränke
3,0 bis 3,7
Apfelsine,
Pampelmuse
Zitronensäure
Aromatisierte Wässer
(z.B. Mineralwasser mit Zitrone)
ca. 3,3
Tomate
Möhre
Rhabarber
Zitronensäure
Apfelsäure
Zitronen-, Apfel-,
Oxalsäure
Eistee
3,8 bis 3,9
Mineralwasser mit Kohlensäure
ca. 5,5
Sauer eingelegte
Gemüse
Gewürzgurken
Rote Bete
Essigsäure
Trinkwasser
lt. Trinkwasserverordnung
ca. 7,0
6,5 bis 9,5
Milchsäurevergorenes Gemüse
Trinkmilch
6,6 bis 6,8
Sauerkraut
Milchsäure
Apfelessig
Weinessig
Essigsäure
Schwarzer Tee
6,5 bis 7,0
Kaffee
5,2 bis 5,6
Sauermilchprodukte
Jogurt
Kefir, Dickmilch
Milchsäure
Süßigkeiten/Süßwaren
Saure Bonbons
Geleebonbons
Weingummi
Zitronensäure
Weinsäure
Gemüse
und Gemüsesäfte
Essig
Eistee
Cola-Getränke
Limonaden,
Limonadenkonzentrat
Energy- und
Wellnessdrinks,
Isotonische Sportgetränke
Früchtetee
Kombucha
Brottrunk, Kwass
Obstessig-Drink
Mineralwasser
Zitronensäure
Phosphorsäure
Zitronensäure
Zitronensäure
(Apfel-)Essigsäure
Zitronen-, Apfelsäure
Milch-, Essigsäure,
Milchsäure
Essigsäure
Kohlensäure
Lebensrealität: Supermarkt
Ein Blick in Super- und Getränkemärkte zeigt folgendes Bild: Unter den Getränken dominiert ein reichhaltiges Angebot von 100 bis 200 (je nach Größe des
Marktes) verschiedenen Säften, Fruchtnektaren, Fruchtsaftgetränken, Iso- und Wellnessdrinks, Eistee, aromatisierten Wässern, alkoholhaltigen und alkoholfreien
Erfrischungsgetränken in den unterschiedlichsten Abpackungen (200 bis 1.500 ml).
24
Sonderausgabe 2011
Neuestes Produkt in der Gruppe „Obst“ sind sog.
Smoothies, pürierte Früchte. Diese Produkte sind differenziert zu bewerten: Grundsätzlich positiv ist – insbesondere für Menschen mit Kaubehinderungen – das
appetitanregende und bequeme Angebot, mehr Obst
zu verzehren. Kritisch ist anzumerken: Pürierte Früchte
brauchen keinen Kauapparat mehr! Bei der Zusammensetzung beachte man, dass komplette Früchte,
wenn möglich mit Schale, verwendet werden. Fruchtkonzentrate als Zutat sind zu bemängeln. Durch das
Konzentrieren verringert sich der natürliche Wassergehalt und der Zuckeranteil erhöht sich. Smoothies, in
kleinsten Mengen zwischendurch gegessen, haben ein
zu beachtendes erosives Risiko.
Lebens-, Einkaufs- und
Ernährungsalltag
Der bewusste Blick in die Alltagspraxis des Essens
und Trinkens ist im Rahmen der Prophylaxe unerlässlich!
Beispiel 1: Der Einkaufswagen eines „gesundheitsbewussten“ Menschen: Orangensaft, Apfelsaft, Multivitaminsaft, verschiedene Früchtetees, Mineralwasser
„mit Geschmack“, Orangen, Zitronen (neben Müsliriegeln, Sesamknusperstangen etc.) – alles „für die
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
Gesundheit“. Hier wird deutlich, dass diese Personengruppe über die Kehrseite und den Umgang mit gesunden, säurehaltigen Lebensmitteln aufgeklärt werden
muss. Der Genuss saurer Nahrungsmittel kann zu Zahnerosionen führen. Nicht nur Fruchtsäfte können zu
Säureschäden führen, sondern auch der häufige Genuss
von Cola-Getränken und Limonaden, Tee mit Zitrone,
Eistee, Obstessig-Drinks etc.
Beispiel 2: Ein typischer Tagesablauf eines jungen
Auszubildenden (Tabelle unten) macht deutlich, dass
Erfrischungsgetränke wie Cola, Limonade und Säfte,
über den Tag verteilt zwischen den Mahlzeiten, zum
Alltag gehören.
Tagesprotokoll eines 17-Jährigen
07.00
Aufstehen
07.15
Zähneputzen
1 Zigarette
1 Dose Cola
07.45
Arbeitsbeginn
10.00
Frühstückspause
1
1
1
1
12.30
Mittagspause
1 Portion Pommes
1 Bratwurst
Ketchup und Mayonnaise
1 Dose Cola
1 Dose Limonade
1 Zigarette
14.30
Kaffeepause
(und zwischendurch)
16.00
Arbeitsende
Bounty
Fruchtjoghurt
Dose Limonade
Zigarette
2 Zigaretten
2 Dosen Cola light
16.15
2 Butterbrote
2 Glas Apfelsaft
19.00
1
2
1
3
23.00
große Pizza
Glas Orangensaft
Glas Cola
Zigaretten
Bad, Zähneputzen, ins Bett
In diesem Beispiel wird die Ernährungspyramide auf
den Kopf gestellt: Süße (und saure) Getränke nehmen
Platz 1 ein; Wasser fehlt völlig. Die Zahl der Säureimpulse aus Erfrischungsgetränken zwischendurch ist
beträchtlich.
Beispiel 3: Alternative Ernährungsformen wie z.B.
vegetarische oder veganische Kost, auch Rohkostformen, Trennkost, Sonnenkost oder „Fit for life“ beinhalten oft die Empfehlung, bis zum Mittag ausschließlich Obst zu essen oder Fruchtsäfte zu trinken. Im
Allgemeinen haben vegetarisch betonte Kostformen
ernährungsphysiologische Vorteile. Man übersieht
jedoch dabei, dass diese so vermeintlich gesunde
Ernährung nicht zu unterschätzende Risiken für die
Zahngesundheit hat.
PROPHYLAXEdialog
Beispiel 4: Bei Sportlern, gleichgültig ob im Freizeit- oder Leistungssport, Fitnessstudio oder Verein,
sind Elektrolytgetränke, sog. Isodrinks, während des
Trainings und danach üblich. Gerade bei geringem
Speichelfluss – und das ist der Fall, wenn Sportler stark
schwitzen oder zu wenig trinken – ist die Pufferwirkung
des Speichels stark reduziert und der pH-Wert bleibt
längere Zeit niedrig. Wenn zusätzlich „gegen den
trockenen Mund“ Zitronenscheiben ausgelutscht
werden, um den Speichelfluss anzuregen, wird die
Zahnschädigung besonders fatal.
Beispiel 5: Ein bis heute nicht ausgemerztes Problem ist die nächtliche Gabe von Säften an Säuglinge
und Kleinkinder zur Beruhigung. Nachdem „Zuckertee“ in Verruf gekommen ist, gibt es – als vermeintlich
bessere Alternative – nachts häufig „gesunde“ Fruchtsäfte. Beim Schlaf in der Nacht hält der pH-Abfall in
der Mundhöhle jedoch besonders lange an, da der
Speichelfluss in dieser Zeit physiologisch gering ist.
Beispiel 6: Das Trinken aus „Nuckelflaschen“ ist
„in“ – selbst noch bei Schulkindern und Jugendlichen.
Der Verschluss vieler Erfrischungsgetränke besteht –
ebenso wie bei wiederverwendbaren Flaschen – aus
einem „Saugnuckelkopf“ und verführt zum Trinken in
kurzen Zeitabständen.
Das Ernährungstagebuch – ein
Instrument bei der Ursachenfindung
Die Ursache von Erosionsdefekten lässt sich durch
ein einfaches Anamnesegespräch oft nicht eindeutig
finden. Die Methode der Wahl ist in solchen Fällen das
Führen eines Ernährungstagebuchs. Über eine Woche
sollte jeder Bissen und jeder Schluck mit Uhrzeit der
Nahrungsaufnahme aufgeschrieben werden. Nur so
werden auch kleinste Mengen, die der Patient selber
für unbedeutend hält, bewusst. Patienten unterschätzen in der Regel die Säuremengen aus Obstsäften und
Getränken.
Ebenso wertvoll kann die Information sein, WIE ein
Patient isst und trinkt. Wer den Saft gern im Mund
behält und zwischen den Zähnen hindurch drückt, sollte
darauf aufmerksam gemacht werden, dass derartige
Säureattacken Spuren hinterlassen.
Aktuelle Studienergebnisse
Lussi & Jaeggi (2006) konnten nachweisen, dass mit
Kalzium und Phosphat angereicherte Säfte, gleichgültig ob Erfrischungs- oder Sportgetränke, eine deutlich geringere erosive Wirkung zeigen als Getränke
ohne diesen Zusatz.
Bei Milch- und Sauermilchprodukten (Joghurt mit
und ohne Fruchtzusatz, Buttermilch, Molke) wurde
keine schmelzauflösende Wirkung gefunden, im
Gegenteil, sie entfalten einen positiven Effekt auf die
Zahnoberfläche. Der Grund ist die natürlicherweise mit
Kalzium und Phosphat gesättigte „Lösung“ in Milchprodukten.
Sonderausgabe 2011
25
Sonderausgabe Erosion
Insgesamt spielen bei der Beurteilung der erosiven
Wirkung von Lebensmitteln und Getränken neben dem
pH-Wert, die tritrierbare Säure, der Kalzium-, Phosphatund evtl. der Fluoridgehalt eine Rolle. Zudem sind individuelle biologische Faktoren wie Speichelfließrate,
Speichelpufferkapazität, anatomische Gegebenheiten
sowie Fragen des Lebensstils, der Ess- und Trinkgewohnheiten (siehe vor) von Bedeutung. Sie beeinflussen die Entstehung erosiver Zahndefekte in unterschiedlichem Maße.
Präventive Maßnahmen
Zu einer ausgewogenen Ernährung gehören neutrale, saure und alkalische Lebensmittel. Zu den neutralen
und alkalischen Lebensmitteln zählen Wasser, Milch,
Käse, Eier, Gemüse, Hülsenfrüchte, Kartoffeln, Getreide, Nüsse. Joghurts und andere Sauermilchprodukte
haben hinsichtlich der Zahngesundheit keinen negativen, sondern einen positiven Effekt. Durch eine Anreicherung mit Kalzium und Phosphat lässt sich die erosive
Wirkung von sauren Getränken deutlich verringern.
In verschiedenen Untersuchungen konnte gezeigt
werden, dass sich nach dem Verzehr von gereiftem
Käse der pH-Wert des Zahnbelags erhöhte und somit
kein kariogener Säureangriff stattgefunden hat (Kashket
& DePaola 2002; van Oost 2003).
Die wichtigsten zusammenfassenden Empfehlungen
zur Prävention erosiver Zahnschäden sind:
W Den Verzehr säurehaltiger Getränke reduzieren und
auf wenige Mahlzeiten beschränken.
W Keine sauren Erfrischungsgetränke vor dem Zubettgehen oder während der Nacht!
W Frischobst essen statt Obstsaft trinken. Das Kauen
regt den Speichelfluss an und wirkt dem Säureangriff entgegen.
W Wenn Zwischenmahlzeiten, dann eignen sich
Lebensmittel wie Nüsse, Rohkost, Joghurt, Buttermilch oder Brot mit Käse. Empfehlenswerte Getränke sind Wasser, Kaffee, Schwarzer Tee, Kräutertee.
W Nach dem Verzehr saurer Getränke und Speisen
nicht die Zähne putzen. Entweder gründliche Neutralisation mit Wasser, dem ein halber Teelöffel
Natron beigegeben werden kann, oder mit einem
Schluck Milch den Mund durchspülen – oder mit
dem Zähneputzen warten.
Eine genussvolle und zahnschonende Alternative
zeigen uns die Franzosen: Sie beschließen eine Mahlzeit mit Käse.
Dr. Gerta van Oost
Meerbuscher Straße 45a · 41540 Dormagen
Ernährungsmedizinische
Kommunikation und Beratung
26
Sonderausgabe 2011
Essstörungen und der
Kauapparat
Dr. Ulrich Cuntz, Dr. Wolfgang Niepmann,
Prien
Formen von Essstörungen
Essstörungen gab und gibt es, soweit wir das wissen, in allen Kulturen und zu allen Zeiten. Allerdings
nimmt in den heutigen westlichen Gesellschaften, in
denen Essen im Überfluss vorhanden ist und in denen
die kulturell üblichen Mahlzeitenstrukturen immer mehr
in Auflösung begriffen sind, die Häufigkeit von Essstörungen deutlich zu, und gleichzeitig werden auch
die gesundheitlichen Folgen der Essstörungen für die
Bevölkerung immer gravierender. Essstörungen haben
dabei ein Spektrum von schlechten Angewohnheiten
ohne wesentliche Beeinträchtigung von Befinden und
körperlicher Integrität bis hin zu lebensbedrohlichen
Krankheitsbildern wie bei der hochgradigen Anorexia
nervosa. Neben der Anorexia nervosa ist auch die
Bulimia nervosa von klinischer Relevanz.
Durch die abnormen Essgewohnheiten kann der
Zahnapparat in vielen Fällen ganz erheblich geschädigt
werden. Für den Zahnarzt sind deswegen Kenntnisse
dieser Krankheitsbilder essenziell. Für die Therapie und
Prophylaxe bei den damit verbundenen Zahnschäden
ist auch die Normalisierung des Essverhaltens eine
wesentliche Voraussetzung. Zudem kommt dem
Zahnarzt eine wichtige Rolle in der Früherkennung dieser Störungen zu.
Die Beschreibung der Bulimia nervosa als eigenständiges Krankheitsbild erfolgte erst im Jahr 1979
durch den englischen Psychiater Gerald Russell. Die
Bezeichnung „Bulimia“ wurde aus dem Griechischen
abgeleitet und bedeutet soviel wie „Stierhunger“.
Kennzeichnend für die Störung sind Essanfälle, bei
denen sehr viel mehr, als eine normale Person bei einer
Mahlzeit essen würde, innerhalb kurzer Zeit gegessen
wird und dabei das Gefühl entsteht, keine Kontrolle
mehr über das Essverhalten zu haben.
Das zweite wichtige Merkmal dieser Störung sind
gegensteuernde Maßnahmen wie Erbrechen, Einnahme von Laxantien oder Diuretika (beim sog. PurgingTypus) oder Fasten und übermäßige körperliche
Aktivität. Im Gegensatz zu dem, was der Ausdruck
„Bulimia“ suggeriert, ist der Hunger der Patientin in der
Regel nicht übermäßig ausgeprägt, und viele Patienten
nehmen durch das gestörte Essverhalten tendenziell
ab. Figur und Gewicht sind für die Betroffenen von
ganz entscheidender Bedeutung für das Selbstwertgefühl, und es ist charakteristisch, dass eine Gewichtsabnahme intendiert wird.
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
Diagnostische Kriterien nach DSM IV * (ICD ** 10 F50.0)
Anorexia nervosa
Restriktiver Typ
Bulimischer Typ
Bulimia nervosa
Gewicht wird soweit reduziert, dass es weniger als 85% des zu erwartenden
Gewichtes beträgt
Gewicht ist leicht untergewichtig,
normalgewichtig oder auch übergewichtig
Ausgeprägte Ängste vor Gewichtszunahme
Gegensteuerndes Verhalten: Fasten oder
übermäßige körperliche Aktivität
Störung der Wahrnehmung der eigenen Figur, übertriebener Einfluss
des Körpergewichtes auf das Selbstbewusstsein
Übertriebener Einfluss von Figur und
Gewicht auf das Selbstwertgefühl
Bei Frauen nach der Menarche liegt Amenorrhoe vor
Normale Regelblutung
Keine Essanfälle
Regelmäßige Essanfälle
Regelmäßige Essanfälle mit dem Gefühl
von Kontrollverlust
Kein „Purgingverhalten“
Purgingverhalten: Erbrechen, Missbrauch
von Laxantien oder Diuretika
Beim „purging Typus“: Regelmäßiges
Erbrechen, Gebrauch von Laxantien oder
Diuretika
** DSM IV = Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen
** ICD10 F50.0 = Internationale statistische Klassifikationen der Krankheiten
Tab. 1: Übersicht über die diagnostischen Kriterien von Anorexia und Bulimia nervosa
Die Anorexia nervosa ist gekennzeichnet durch ein
krankhaft niedriges Gewicht, das willentlich herbeigeführt wurde. Als diagnostische Grenze gilt dabei ein
Gewicht von und 85 % dessen, was aufgrund von Alter
und Körpergröße zu erwarten wäre. Es besteht eine
ausgeprägte Furcht vor Gewichtszunahme. Die Körperwahrnehmung ist charakteristisch verzerrt, so dass der
eigene bedrohliche körperliche Zustand nicht wirklich
wahrgenommen wird. Bei Frauen im gebärfähigen Alter
besteht Amenorrhoe als Zeichen der Unterernährung.
Man unterscheidet zwei Typen der Anorexia nervosa: Beim restriktiven Typus wird das Gewicht im
Wesentlichen durch zu geringe Nahrungsaufnahme
niedrig gehalten, bei einem Teil der Patienten kommt
übermäßige körperliche Betätigung hinzu. Beim sog.
„bulimischen Typus“ treten ähnlich wie bei der Bulimia
nervosa Essanfälle auf und es werden als gegensteuerndes Verhalten Erbrechen, Laxantien oder Diuretika
eingesetzt. Die gravierendsten Folgen für die Zähne
treten dabei wie bei der Bulimia nervosa durch das rezidivierende Erbrechen ein.
Epidemiologie
Anorexia nervosa und Bulimia nervosa sind im
Hinblick auf die Gesamtbevölkerung vergleichsweise
selten. Allerdings gibt es Bevölkerungsgruppen, in
denen beide Essstörungen erheblich häufiger und ein
ernst zu nehmendes gesundheitliches Problem sind.
Auch wenn die Anorexia nervosa wohl in allen
Kulturen und in allen Jahrhunderten auftritt, treten
Essstörungen ganz gehäuft in bestimmten Subgruppen
auf:
PROPHYLAXEdialog
W Essstörungen sind bei Frauen um mehr als den
Faktor 10 häufiger als bei Männern.
W Essstörungen treten gehäuft in den westlichen
Kulturen auf.
W Essstörungen sind sehr viel häufiger in den Altersgruppen zwischen 15 und 35. Der früher verwendete Ausdruck Pubertätsmagersucht ist irreführend, da
die Erkrankung durchaus nicht nur während der
Pubertät auftritt, allerdings ist der Erstbeginn sehr
häufig während der ersten Jahre der Pubertät.
Die Bulimia nervosa beginnt im Durchschnitt einige
Jahre später als die Anorexia nervosa.
W Die weiße Bevölkerung in den USA ist wesentlich
häufiger betroffen als die schwarze Bevölkerung.
Dies spricht auch für ethnische Einflussfaktoren.
W Die Konkordanzraten bei eineiigen Zwillingen sind
wesentlich höher als bei zweieiigen Zwillingen. Dies
spricht für einen erheblichen genetischen Einfluss.
Insgesamt dürfte die Prävalenz der Anorexia nervosa bei jungen Frauen bei etwa 0,5 % liegen und für die
Bulimia nervosa etwa doppelt so hoch sein.
Man geht heute davon aus, dass die Häufung von
Essstörungen bei jungen Frauen der westlichen Kulturen sehr stark mit dem ausgeprägten Schlankheitsideal
in den betreffenden Gesellschaften zusammenhängt.
Die Bulimia nervosa entsteht im Spannungsfeld
zwischen Nahrungsüberangebot, einer häufigen Veranlagung zu höherem Körpergewicht und den gleichzeitig von der Gesellschaft vorgegebenen, in den letzten 40 Jahren zunehmend strengen Gewichtsnormen.
Insofern verwundert es nicht, dass die Bulimia nervosa
bis in die 90er Jahre immer häufiger wurde. Dagegen
Sonderausgabe 2011
27
Sonderausgabe Erosion
scheint die Anorexia nervosa weniger an die jeweiligen
Trends des aktuell vorgegebenen Schlankheitsideals
gebunden zu sein.
Bei allen Menschen, bei denen ein besonders niedriges Gewicht eine große Rolle spielt, besteht auch
ein hohes Risiko, an einer Anorexia nervosa oder einer
Bulimia nervosa zu erkranken, z.B. gilt dies für Balletttänzer/innen, für Jockeys, für Skispringer oder Models.
Körperliche Folgen
Die abnormen Essgewohnheiten bei der Anorexia
nervosa und der Bulimia nervosa führen über verschiedene Mechanismen zu teils gravierenden körperlichen
Schädigungen. Zu diesen Mechanismen zählen die
Essanfälle, die einseitigen Ernährungsgewohnheiten,
das Erbrechen, der Missbrauch von Diuretika oder
Laxantien und das Untergewicht. Daraus geht hervor,
dass das Schädigungsmuster sich je nach Ausprägung
der einzelnen Mechanismen bei den Essstörungen
unterscheidet. Die hiermit verbundenen körperlichen
Vorgänge sind zahlreich. Es werden im Folgenden
diejenigen Veränderungen beschrieben, die für den
Kauapparat von Bedeutung sind.
Essstörungen versetzen den Körper in einen latenten oder manifesten Zustand des Energie- und Substratmangels. Als unmittelbare Folge hieraus ergibt sich
eine hormonelle und endokrine Reaktion, die katabole
Prozesse der Energiebereitstellung begünstigt. Dies
umfasst beispielsweise die vermehrte Katecholaminausschüttung und die vermehrte Kortisolfreisetzung.
Die Folgen hieraus sind die Behinderung von Aufbauund Regenerationsvorgängen. Die Neu- und Umbildung von kurzlebigen Zellreihen wird erschwert. Dies
zeigt sich beispielsweise in einer häufig aufzufindenden
Leukopenie bei den Patienten. Generell sind aber auch
die Schleimhäute, die einen raschen Zelldurchsatz aufweisen, hiervon betroffen.
Dagegen werden bei Frauen die regenerativen
Funktionen zurückgefahren, der Körper kann hierdurch
künstlich in die Wechseljahre versetzt werden.
Zahnschäden
Die häufigste Schädigung der Zähne bei der
Anorexia und der Bulimia nervosa entsteht durch
Säureeinwirkung auf die Zähne. Durch die Regurgitation von Mageninhalt beim Erbrechen wird der kritische pH-Wert von 5,5 deutlich unterschritten und führt
hierdurch zunächst zur Schädigung des Zahnschmelzes,
später auch des Dentins. Deutliche klinische Symptome
von Zahnerosionen, die durch häufiges Erbrechen hervorgerufen werden, können meist erst nach ein bis zwei
Jahren beobachtet werden. Es finden sich dann vor
allem an den palatinalen und okklusalen Zahnflächen im
Oberkiefer ausgeprägte Zahnhartsubstanzverluste von
Schmelz und Dentin, die auch als Perimylolysis bezeichnet werden (Abb. 1).
Abb. 1: Ausgeprägte Perimylolyse der palatinalen und
okklusalen Zahnflächen im Oberkiefer
Die typischen Erosionen bei Essstörungen haben
eine weiche, glasige Oberfläche. Diese können mit
einer Exposition des Dentins bzw. der Pulpa, starken
Hypersensitivitäten, einem Dünnerwerden der Inzisalkanten und letztendlich mit einem Verlust der vertikalen
Dimension der Kiefer zueinander einhergehen. Der progrediente Zahnhartsubstanzverlust kann dazu führen,
dass Ränder von Restaurationen über das Zahnniveau
erhoben sind (Abb. 2).
Hypercortisolismus, Substratmangel, Vitamin-DMangel und die beschriebenen hormonellen Umstellungen führen in der sensiblen Phase des Knochenaufbaus zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr zu einer
verminderten Mineralisation des Knochens. In der
Regel führt dies zu einer klinisch manifesten Osteoporose nach längeren Jahren der Mangelernährung,
wobei die Ursache hierfür in diesen sensiblen Jahren
gelegt wird. In späteren Jahren kann hierdurch in
Einzelfällen auch der Zahnhalteapparat beeinträchtigt
werden.
Abb. 2: Erhabene Füllungsränder neben okklusalen Erosionen
28
Sonderausgabe 2011
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
Häufig putzen sich die Patienten nach dem Erbrechen die Zähne. Beim Zähnebürsten wird die durch
die Säuren erweichte Zahnoberfläche verstärkt abgetragen, so dass der Zahnhartsubstanzverlust dadurch zusätzlich beschleunigt wird.
Vestibuläre Erosionen an den Zähnen in Verbindung
mit Essstörungen finden sich bei solchen Patienten,
deren Ernährung durch extrinsische Erosionsfaktoren,
wie z.B. übermäßigen Genuss von Zitrusfrüchten, einseitig gestaltet ist. Solche Nahrungsbestandteile werden häufig genutzt, um das Hungergefühl zu stillen
(Abb. 3).
Abb. 3: Vestibuläre Erosionen durch extrinsische Säureexposition bei Anorexia nervosa
Patienten mit Bulimie weisen darüber hinaus eine
höhere Kariesprävalenz auf. Für die erhöhte Kariesprävalenz werden die übermäßige Aufnahme fermentierbarer Kohlenhydrate während der Essphasen und
ein verminderter Speichelfluss diskutiert. Darüber
hinaus sinkt während des Fastens die Phosphatkonzentration im Speichel und es ist eine vermehrte Plaquebildung zu beobachten. Dadurch wird der durch den
Säureangriff demineralisierte Schmelz empfindlicher
gegenüber kariogenen Noxen.
Verbunden mit der bei der Anorexia nervosa regelmäßig vorhandenen Depression wird häufig die Zahnpflege vernachlässigt, was auch bei dieser Form von
Essstörung dem Entstehen von kariösen Läsionen Vorschub leistet.
Durch rezidivierendes Erbrechen, aber auch durch
Diuretika- und Laxantienabusus wird die Speichelproduktion reduziert. Die daraus resultierende Xerostomie findet sich aber auch im Rahmen von hochgradiger Anorexie und bei Einnahme von Antidepressiva,
insbesondere bei solchen mit trizyklischer Struktur.
Durch die starke vagale Stimulation findet sich bei
rezidivierendem Erbrechen regelhaft eine deutliche
Vergrößerung der Glandula parotis und der Gl. sublingualis, die in aller Regel schmerzfrei ist. Die damit verbundene sichtbare Schwellung der Ohrspeicheldrüse
wird von manchen der Patienten als entstellend
empfunden. In den meisten Fällen verschwindet diese
sichtbare Schwellung der Speicheldrüsen nach länger
dauerndem Einstellen des Erbrechens.
PROPHYLAXEdialog
Prophylaxe
Der optimale präventive Schutz vor einer Zahnerosion ist die Vermeidung des Zahnkontaktes mit erosiven Noxen, wie säurehaltigen Getränken und Speisen.
Optimal wäre das Einstellen des Erbrechens. In vielen
Fällen wird dies erst unter psychotherapeutischer
Behandlung erreicht werden. So lange das abnorme
Essverhalten bestehen bleibt, sollte der Zahnapparat
geschützt werden.
Nach dem Erbrechen kommt es zu einer kurzzeitigen Absenkung des pH-Wertes auf den Zahnoberflächen, insbesondere der palatinalen Flächen der oberen Frontzähne. Daher ist der Hinweis besonders wichtig, die Zähne nicht unmittelbar nach einer Säureeinwirkung zu putzen, sondern den Mund mit Wasser
auszuspülen. Darüber hinaus wird das Ausspülen des
Mundes mit säureneutralisierenden Flüssigkeiten wie
z.B. Natriumbikarbonat, Backpulver oder Antacida
empfohlen, die zuvor in Wasser gelöst werden, um so
eine Erhöhung des pH-Wertes und eine Abpufferung
von Säuren im Mund zu erzielen.
Einen weiteren chemischen Schutz der Zähne kann
der Patient z.B. durch Kauen von zuckerfreien Kaugummis erreichen. Durch das Kaugummikauen wird der
Speichelfluss angeregt, wodurch auch die Pufferkapazität des Speichels erhöht wird.
Regelmäßiges Bürsten mit fluoridhaltigen Gelen
und/oder das Auftragen von natriumfluoridhaltigen
Lacken (Letzteres als zahnärztliche Maßnahme) erhöhen
die Erosionsresistenz des Schmelzes. Dazu trägt auch
die tägliche Mundhygiene mit fluoridhaltigen Zahnpasten und Zahnspülungen bei. Die Wiedererhärtung von
erosiv erweichtem Zahnschmelz kann darüber hinaus
durch den Konsum von Milch oder Käse beschleunigt
werden.
Ferner ist Patienten mit Zahnerosionen eine Bürsttechnik mit geringem Anpressdruck, eine weiche Zahnbürste oder die Verwendung druckkalibrierter elektrischer Zahnbürsten anzuraten.
Mechanischer Schutz kann erreicht werden durch
Versiegelung der Zahnoberflächen oder durch die
sicherlich schwierig zu realisierende Empfehlung,
während einer Säureeinwirkung eine zahnbedeckende
Kunstoffschiene zum Schutz der Zähne zu tragen. Bei
größeren Zahnhartsubstanzdefekten sind konservierende oder prothetische Maßnahmen zum Schutz der
Zähne und Wiederherstellung der Kaufunktion indiziert.
Eine Vermeidung der erosiven Noxen beruht auf der
therapeutisch begleiteten Normalisierung des Essverhaltens.
Sonderausgabe 2011
29
Sonderausgabe Erosion
Früherkennung von Essstörungen
Die Betroffenen sprechen in der Regel nur sehr
ungern über das gestörte Essverhalten. Essanfälle und
Erbrechen bleiben ein schamhaft gehütetes Geheimnis. Dem Zahnarzt bietet sich bei der routinemäßigen
oralen Untersuchung die Möglichkeit zur Früherkennung von Essstörungen und damit auch zur Thematisierung eines Tabuthemas. Hierzu sollte er auf die
typischen Folgeerscheinungen des gestörten Essverhaltens achten.
Erosionen auf den oralen Zahnoberflächen, insbesondere auf den palatinalen Flächen der Frontzähne,
deuten auf eine Schädigung der Zahnsubstanz durch
intrinsische Faktoren wie die Regurgitation von Magensäure.
Symptome
Orale und okklusale
Erosionen
Perimyloloyse
Schädigungsmechanismus
Regurgitation von Säure,
rezidivierendes Erbrechen
Restriktive
Anorexia
nervosa
Beidseitige Schwellung der Ohrspeicheldrüsen,
Mundtrockenheit, Zungenbrennen und marginale
Parodontitis, Kehlkopfreizungen geben differentialdiagnostisch Hinweise auf Essstörungen. Solche Zeichen
sollten Anlass dafür geben, die Ernährungsgewohnheiten und das Essverhalten anamnestisch zu betrachten. Für den Erhalt des Zahnapparates ist es von entscheidender Bedeutung, inwieweit es dem Zahnarzt
gelingt, das Essverhalten zu thematisieren, das Problem
darzustellen und zur Normalisierung des Essverhaltens
zu motivieren.
Dr. Ulrich Cuntz
Klinik Roseneck
Am Roseneck 6 · 83209 Prien
Bulimische
Anorexia
nervosa
Bulimia
nervosa
Prophylaxe
–
+
+
Nach dem Erbrechen Mund mit
Wasser oder neutralisierenden
Flüssigkeiten spülen,
die Zähne nicht direkt bürsten,
topische Fluoridapplikation,
Normalisierung des Essverhaltens
Zahnhypersensibilität
Vestibuläre Erosionen
Abnorme Essgewohnheiten,
säurehaltige Speisen und
Getränke
(+)
(+)
–
Topische Fluoridapplikation,
Normalisierung des Essverhaltens
Karies
Schlechte Zahnhygiene,
abnorme Essgewohnheiten
(+)
(+)
(+)
Topische Fluoridapplikation,
Normalisierung des Essverhaltens
Marginale
Parodontitis
Schlechte Zahnhygiene,
Säureexposition
–
+
(+)
Verbesserte Zahnpflege,
Normalisierung des Essverhaltens
Parotishypertrophie
Vagale Stimulation bei
rezidivierendem Erbrechen
–
+
+
Normalisierung des Essverhaltens
Laxantien-, Diuretikaabusus
–
+
+
Kachexie
+
+
–
Antidepressive Pharmaka
(+)
(+)
(+)
Ausschaltung der Noxen,
zuckerfreie Kaugummis,
Gewichtszunahme,
Überprüfung der Medikation
Xerostomie
Tab. 2: Übersicht über Schädigungen des Kauapparates bei Essstörungen
– = selten / (+) = gehäuft / + = regelhaft
Extrinsische Faktoren, die eine Entstehung von
erosiven Zahndefekten begünstigen, können Umwelteinflüsse wie abnorme Ernährungsgewohnheiten,
Medikamente oder der Lebensstil einer Person sein.
Zahnerosionen, die durch extrinsische Faktoren ausgelöst werden, führen überwiegend zu einem Verlust an
Zahnhartsubstanz im Bereich der vestibulären Flächen
der Oberkieferfrontzähne.
Bei der restriktiven Anorexia nervosa wird der
Zahnhartsubstanzverlust vornehmlich durch diätetisch
zugeführte Säuren hervorgerufen. Die Zahnhartsubstanzdefekte finden sich bei diesen Patienten vornehmlich an den vestibulären Flächen der Zähne.
30
Sonderausgabe 2011
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
Prävention und Therapie säurebedingter Zahnhartsubstanzverluste (Erosionen)
Prof. Dr. Carolina Ganss, Dr. Nadine Schlüter, Justus-Liebig-Universität Gießen
Erosionen (Abb. 1) entstehen durch die chronische
Einwirkung von Säuren nicht-bakterieller Genese auf
plaquefreie Zahnoberflächen, sofern Untersättigung in
Bezug auf Zahnmineral besteht. Säuren können entweder exogen, beispielsweise beim Verzehr saurer
Nahrungsmittel und Getränke, oder endogen durch
Magensäure auf die Zahnhartsubstanzen einwirken.
Abhängig von der individuellen Prädisposition werden
säurebedingte Zahnhartsubstanzverluste erst bei häufiger chronischer Einwirkung über einen längeren Zeitraum klinisch manifest.
Abb. 1: Generalisierte schwere säurebedingte Zahnhartsubstanzverluste mit flächenhafter Exposition des Dentins bei
einem 30-jährigen männlichen Patienten, der jahrelang
3- bis 5-mal täglich Erfrischungsgetränke genossen hatte
Die Primärprävention sollte allgemein in einer angemessenen Information über Ursachen und Vermeidung
erosiver Zahnschäden im Rahmen der etablierten
Präventionsstrategien und individueller Beratung bestehen. Weitergehende bevölkerungsbezogene Maßnahmen sind abhängig von der Prävalenz erosiver
Zahnhartsubstanzverluste und sollten daher länderspezifisch diskutiert werden. Die Sekundärprävention
umfasst vor allem die frühzeitige und differenzialdiagnostisch richtige Erkennung der Frühstadien von
Erosionen im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen
und individuell abgestimmte kausale Maßnahmen.
Zum besseren Verständnis von Präventions- und
Therapiestrategien sei im Folgenden kurz die Pathogenese und Ultrastruktur von Erosionen beschrieben.
Im Schmelz kommt es bei einer erosiven Demineralisierung zu einem zentripetalen Substanzverlust, der
sich bei anhaltender Säureexposition als klinisch sichtbarer Oberflächendefekt manifestiert. Auf der erodierten Schmelzoberfläche findet sich eine teilweise
demineralisierte Zone mit verminderter Mikrohärte
PROPHYLAXEdialog
(Lussi et al. 1995), die ultrastrukturell mehr oder weniger einem klassischen Ätzmuster entspricht (Meurman
& Frank 1991) (Abb. 2).
Abb. 2:
Typisches Ätzmuster im Schmelz
nach Erosion mit
Zitronensäure
Damit unterscheidet sich die Ultrastruktur einer
Schmelzerosion grundsätzlich von der einer initialen
Schmelzkaries, bei welcher die Zone der größten
Demineralisation unterhalb einer pseudo-intakten
Deckschicht liegt (Thylstrup & Fejerskov 1994). Im
Dentin kommt es nach kurzzeitigen Säureeinwirkungen
zuerst zum Mineralverlust im Bereich des peritubulären
Dentins und bei längerer Einwirkzeit zur Vergrößerung
der Dentintubuli mit Demineralisation des intertubulären Dentins (Noack 1989; Meurman et al. 1991).
Im Gegensatz zur Karies, die ab einem bestimmten
Stadium in der Regel immer einer invasiven Therapie
bedarf, kommen säurebedingte Zahnhartsubstanzdefekte unabhängig von ihrer Ausprägung zum Stillstand, wenn hinreichende kausale oder symptomatische Maßnahmen ergriffen werden. In der Regel ist
dann auch keine restaurative Behandlung notwendig,
es sei denn, es bestehen ästhetische oder funktionelle
Beeinträchtigungen.
Die kausale Therapie von säurebedingten Zahnhartsubstanzdefekten beginnt mit der Identifikation der
Säurequelle. Dazu gehört ein anamnestisches Gespräch, das Fragen nach exogener und endogener
Säureexposition einschließt. Zusätzlich kann ein offenes
Ernährungsprotokoll (Lussi 1996) in vielen Fällen weitere Hinweise in Bezug auf Menge, Art und Häufigkeit
von Säureeinwirkungen aus der Nahrung geben. Im Fall
von exogenen Säureeinwirkungen besteht die kausale
Therapie in der Veränderung der Verzehrgewohnheiten,
was oftmals nicht unbedingt großer Verhaltensänderungen bedarf. So kann beispielsweise neben der Verringerung der Verzehrhäufigkeit auf wenig erosive
Getränke zurückgegriffen werden.
Sonderausgabe 2011
31
Sonderausgabe Erosion
Sowohl In-vitro- als auch In-situ-Studien haben gezeigt, dass allein der Zusatz von Kalzium das erosive
Potenzial von Getränken erheblich reduzieren kann
(Hughes et al. 1999a; 1999b). Obst kann zusammen mit
Milchprodukten verzehrt werden. Im Falle von endogenen Säureeinwirkungen kann ärztliche Behandlung
angezeigt sein (z.B. bei Refluxerkrankungen), oftmals ist
eine ursächliche Therapie jedoch schwierig. So können
beispielsweise Essstörungen mit chronischem Erbrechen trotz therapeutischer Bemühungen jahrelang
bestehen. In diesen Fällen sind ebenso wie bei ungeklärter Säureexposition symptomatische Maßnahmen
notwendig.
Allgemein wurden deshalb Fluoridierungsempfehlungen gegeben, die zu möglichst ausgeprägten CaF2ähnlichen Präzipitaten führen, beispielsweise in Form
von sog. Intensivfluoridierungen. Dabei sollen Gele mit
hoher Fluoridkonzentration (Arzneimittel) und/oder
Mundspül-Lösungen in Ergänzung zu einer Fluoridzahnpaste möglichst häufig angewendet werden (Schmidt
et al. 2003; Ganss 2005; Wiegand & Attin 2003; Ganss
et al. 2007). Ein solcher Therapieansatz bedeutet
jedoch einen erheblichen organisatorischen und finanziellen Aufwand. Zur längeren therapeutischen Anwendung sind solche Empfehlungen daher nur begrenzt
und für präventive Maßnahmen nicht geeignet.
Symptomatische Maßnahmen zielen darauf ab, die
Zahnoberfläche so zu modifizieren, dass die erosive
Demineralisation und damit auch der Verlust an Mikrohärte verhindert wird.
Bislang wurden vor allem die aus der Kariologie
bekannten und allgemein in Mundhygieneprodukten
am häufigsten enthaltenen Fluoridverbindungen Natriumfluorid, Aminfluorid oder Natriummonofluorphosphat untersucht. Neuere Studien zeigen aber, dass die
Wirksamkeit von Fluoriden im Rahmen von Erosionen
wesentlich durch die Art der Fluoridverbindung
bestimmt wird. Besonders deutlich wird die unterschiedliche Wirksamkeit verschiedener Fluoridverbindungen, wenn Zubereitungen gleichen pH-Werts und
gleicher Konzentration miteinander verglichen werden
(Schlüter et al. 2007; Ganss et al. 2008). So konnte
gezeigt werden, dass erosive Mineralverluste zumindest unter milden Bedingungen durch Zinnfluorid- oder
Zinnfluorid/Aminfluorid-Lösungen nahezu verhindert
werden können, während Natriumfluorid- oder Aminfluorid/Natriumfluorid-Lösungen wesentlich weniger
wirksam zu sein scheinen.
Dafür sind Substanzen geeignet, die zu schwer löslichen mineralischen Präzipitaten in oder auf der Zahnoberfläche führen oder dauerhafte Beschichtungen
bilden. Als nicht mineralische Beschichtung ist die
Applikation von Dentinadhäsiven diskutiert worden
(Azzopardi et al. 2004; Sundaram et al. 2007). Diese
Maßnahme ist als Akutmaßnahme geeignet. Da zu
erwarten ist, dass diese Beschichtungen zumindest mittelfristig abradieren, dürfte deren Schutzwirkung jedoch zeitlich begrenzt sein.
Mineralische Präzipitate sind allgemein aus übersättigten Kalzium/Phosphat-Lösungen zu erwarten. Daher
wird oft empfohlen, nicht direkt nach einer Säureeinwirkung zu putzen, sondern die „Remineralisation“
der Zahnoberflächen abzuwarten. Solche Empfehlungen wurden von Laborstudien mit gesättigten/übersättigen Kalzium/Phosphat-Lösungen abgeleitet. Im Fall
von erodiertem Schmelz ist unter Mundbedingungen
aber weder eine relevante Steigerung der Mikrohärte
nachgewiesen worden (Collys et al. 1991; 1993), noch
konnte die Präzipitation von Mineral gezeigt werden
(Garberoglio & Cozzani 1979; Allin et al. 1985). Diesen
Befunden entsprechen auch die Ergebnissen von Insitu-Studien, die nur einen geringen Effekt von Wartezeiten zwischen erosiver Demineralisation und Bürsten
gezeigt haben (Jaeggi & Lussi 1999; Attin et al. 2001;
Ganss et al. 2007). Eine Veränderung der Mundhygienegewohnheiten ist deswegen abgesehen von
unzureichender Plaquekontrolle nur im Falle traumatischer Putztechniken oder extremer Säureeinwirkungen
sinnvoll.
Mineralische Präzipitate können aber durch die
lokale Anwendung von Fluoriden erzeugt werden. Je
nach Darreichungsform entstehen dabei mehr oder
weniger ausgeprägte CaF2-ähnliche Deckschichten, die
jedoch relativ leicht säurelöslich sind. Über die Effektivität dieser Maßnahmen sind widersprüchliche Einschätzungen in der Literatur publiziert (Wiegand & Attin
2003), manche Autoren zweifeln den Sinn von Fluoridierungsmaßnahmen zur Therapie von Erosionen überhaupt an (ten Cate et al. 2003).
32
Sonderausgabe 2011
Ein bislang neues Ergebnis ist, dass auch eine Zinnchloridlösung ohne Fluorid eine Wirksamkeit zeigt, die
in der Größenordnung einer Natriumfluoridlösung
liegt. Elektronenoptische Untersuchungen haben ergeben, dass sich nach Anwendung zinnhaltiger Lösungen offenbar relativ säureresistente Präzipitate bilden
(Ganss et al. 2008). Gegenwärtig werden daher Fluoridverbindungen mit polyvalenten Metallionen als potenzielle Erosionsinhibitoren untersucht. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang Titan und Zinn
(Ganss et al. 2006; Hove et al. 2007; Magalhaes et al.
2008; Wiegand et al. 2008).
Titanfluorid ist in Form verschiedener Zubereitungen auch in Kombination mit anderen Fluoridverbindungen untersucht worden. Für experimentelle Lösungen, die als Mundspül-Lösung zur täglichen Anwendung formuliert sind, hat sich unter eher milden
erosiven Bedingungen und häufigen Applikationen
eine gute Wirksamkeit gezeigt, die sich aber unter
stärker erosiven Säureeinwirkungen und klinisch relevanten Anwendungsbedingungen nicht bestätigt hat
(Schlüter et al. 2009a). Dagegen hat derselbe Versuch mit einer Zinnchlorid/Aminfluorid/NatriumfluoridLösung eine sehr gute Effektivität gezeigt. Entsprechende experimentelle Lösungen zeigten selbst unter
starken erosiven Bedingungen, wie sie bei Patienten
mit sehr häufigen Säureexpositionen bei bestimmten
Kostformen oder bei Personen mit chronischem
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
Erbrechen im Rahmen von Essstörungen vorkommen
können, eine gute Wirksamkeit. Zinnchlorid/Aminfluorid/Natriumfluorid-Lösungen waren auch signifikant
effektiver als eine Zinnfluorid/Aminfluorid-Lösung.
In einem In-situ-Versuch, in dem Schmelzproben für
6x5 Minuten mit Zitronensäure erodiert wurden, konnte
die Anwendung einer Zinnchlorid/Aminfluorid/Natriumfluorid-Spül-Lösung für 1x30 Sekunden täglich den
Substanzverlust bei Schmelz um 67 % reduzieren, während durch Spülen mit einer Natriumfluorid-Lösung nur
eine Reduktion von 19 % erzielt werden konnte (Abb. 3).
Substanzverlust (µm)
40
Abschließend kann festgehalten werden, dass es
bei der symptomatischen Therapie von Erosionen mit
Fluoriden offenbar wesentlich auf die Fluoridverbindung ankommt. Gegenwärtig sind offensichtlich Präparate mit Zinnchlorid/Aminfluorid/Natriumfluorid die
wirksamsten Erosionsinhibitoren.
Die Therapie von säurebedingten Zahnhartsubstanzverlusten lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
Diagnose „Erosion“ sorgfältig klären (Differenzialdiagnose Attrition, Abrasion oder keilförmiger Defekt!).
Wenn erhärtet:
W Anamnese zur Identifikation der Säureexposition
W Kausale Maßnahmen je nach Art der Säureeinwirkung (Ernährungsumstellung, internistische Therapie, Psychotherapie)
30
20
Falls kausale Maßnahmen nicht möglich bzw. ausreichend sind oder unterstützend:
10
0
28,2
22,8
9,3
Placebo
NaF
SnCI/AmF/NaF
Abb. 3: Substanzverlust (arithmetischer Mittelwert mit
Standardabweichung) im Schmelz in situ. Die Versuchslösungen waren eine Natriumfluorid-Lösung (NaF; 500 ppm F aus
NaF) und eine Zinnchlorid/Aminfluorid/Natriumfluorid-Lösung
(SnCl/AmF/NaF: 500 ppm F aus AmF und NaF; 800 ppm Sn
aus SnCl2). Die Placebolösung enthielt keine Wirkstoffe.
Erste Untersuchungen zum Wirkungsmechanismus
solcher Zinnchlorid/Aminfluorid/Natriumfluorid-Lösungen lassen vermuten, dass sich unter neutralen Bedingungen ein amorphes zinnreiches Präzipitat auf
den Zahnoberflächen ablagert. Wenn erosive Säureeinwirkungen stattfinden, kommt es zu komplexen
Demineralisierungs- und Repräzipitationsvorgängen,
die schließlich zur Einlagerung von schwer löslichen
zinnhaltigen Verbindungen in die oberste Schicht der
Zahnoberfläche führen (Schlüter et al. 2009b).
PROPHYLAXEdialog
W Symptomatische Maßnahmen mit einem wirksamen
(zinnhaltigen) Produkt
W Mundhygienemaßnahmen nur bei traumatischer
Putztechnik oder extremer Säureexposition verändern
Zur Beurteilung des Therapieerfolgs:
W Fotos oder gute Situationsmodelle im Abstand
von 6 bis 12 Monaten
Restaurative Maßnahmen nur bei sehr ausgeprägten Substanzverlusten, Funktionsstörungen oder deutlichen ästhetischen Beeinträchtigungen, vorher Erosionen möglichst zum Stillstand bringen.
Prof. Dr. Carolina Ganss
Poliklinik für Zahnerhaltung und
Präventive Zahnheilkunde
Justus-Liebig-Universität
Schlangenzahl 14 · 35392 Gießen
Sonderausgabe 2011
33
Erosionsbekämpfung
im Aufwind!
Es war ein spannendes Jahr für alle, die sich für die
Diagnostik und Behandlung von Zahnerosion interessieren. Nehmen wir das GABA Symposium „Diagnosis,
Risk Assessment and Therapy of Erosion“ bei der PEF
IADR Tagung in London (www.gaba.com/PEFLondon),
konnte man wahrlich nicht übersehen, dass sich das
einst so unterschätzte Thema Erosionsforschung zu
einem multidisziplinären Fachgebiet von Forschung
und klinischer Anwendung entwickelt hat. An dem
Symposium nahmen 200 Besucher teil, welche, geht
man von der lebhaften Diskussion am Ende aus, großes
Interesse daran hatten, dass dem Thema Erosion mehr
öffentliche Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Es herrscht allgemeine Einigkeit darüber, dass
Erosion sehr sorgfältig von anderen Erscheinungsbildern der Zahnabnutzung unterschieden werden
muss. Die Fakten, die von Dr. John Kaidonis aus seinen Studien zur Zahnabnutzung bei australischen
Aborigines präsentiert wurden, untermalten die unterschiedlichen Abnutzungsmechanismen. Die übermäßige Abnutzung der Zähne durch Zahn-auf-Zahn-Kontakt
in Abwesenheit von Nahrungsmitteln, Attrition genannt, ist im Wesentlichen eine Konsequenz des Zähneknirschens. Im Gegensatz dazu werden die Zähne bei
der Abrasion durch externe Einwirkung abgenutzt, sei
es durch Kauen auf Nahrung oder Anwendung harter
Materialien, wie z.B. Zahnstocher oder -bürste. Starke
Abrasion ist von einer Freilegung des Dentins begleitet, welches deutliche Zeichen der Erweichung zeigt.
Erosion ist schließlich die Auflösung der Zahnhartsubstanz (Schmelz und Dentin) durch Einwirkung von
Säuren.
Von einem anthropologischen Standpunkt aus
betrachtet gibt es für jede dieser drei Abnutzungsmechanismen eine goldene Zeit. Die Untersuchung
historischer und prähistorischer Skelette führt zu dem
Schluss, dass Erosion eine Erscheinung unserer modernen Zeit ist. In früheren Zeiten tranken die Menschen
Wasser und keine säurehaltigen Softdrinks. Darüber
hinaus waren die durch Nahrung unvermeidlichen
Säureattacken wohl immer zeitlich begrenzt, weil die
meisten Nahrungsmittel nur saisonal verfügbar waren.
Seit der Einführung der Lebensmittelkonservierung
durch Säuern nahmen die Säureangriffe jedoch auch
nur leicht zu, während wir heute unsere Zähne oft den
Säureattacken unserer Nahrungsmittel aussetzen. Die
Zähne werden häufig den erosiven Säuren, die z.B. in
Softdrinks enthalten sind, ausgesetzt, was zu einer
generellen Erweichung der Zahnhartsubstanz führt. Die
heute verbesserte tägliche Zahnhygiene kehrt sich
dann vom Wohl ins Übel: Mechanische Abrasion durch
das Bürsten der Zähne ist auf dem Vormarsch. In der
Vergangenheit war die Abrasion der Zähne zwar sehr
weit verbreitet, aber die so entstehenden Zahnstrukturen behielten ihre Funktion bei. Die Schäden
erosiver Prozesse lassen sich nur in sehr geringem
Umfang funktionserhaltend kompensieren.
Die Prävalenz von Erosion wurde schließlich von
Prof. David Bartlett angesprochen, der darlegte, dass
die enormen Unterschiede der Erosionsprävalenz ein
Ergebnis unterschiedlicher Definitionen sei. In Nordamerika wird im Zusammenhang mit genereller Zahnabnutzung der Erosion bei Weitem nicht die gleiche
Bedeutung zugemessen wie in Europa. Selbst innerhalb
der europäischen Länder gibt es kein Standardverfahren, nach dem Zahnabnutzung im Allgemeinen
und Erosion im Besonderen einheitlich klassifiziert würden. Sogenannte tooth wear indices erscheinen da als
die einzig verlässliche Methode, Zahnabnutzung bei
großen Patientengruppen oder gar ganzen Bevölkerungen zu quantifizieren. Manche betrachten die Abnutzung an allen Zähnen, während andere sich auf ausgewählte Bereiche oder Oberflächen beziehen. Ohne
eine detaillierte Dokumentation von Zahnabnutzung
sowie auch Ernährungsgewohnheiten der Patienten ist
es extrem schwierig, die Ätiologie von Zahnabnutzung
zu untersuchen.
John Kaidonis
Prof. David Bartlett
34
Sonderausgabe 2011
PROPHYLAXEdialog
Sonderausgabe Erosion
In jedem Land entwickeln die Zahnärzte individuelle
Konzepte für Diagnose und Behandlung, sodass letztendlich die Daten über Prävalenz und Vorkommen von
Zahnerosion nicht vergleichbar sind. Somit ist die
Erstellug von Statistiken enorm erschwert. Aus diesem
Grund wurde ein deutlicher und dringender Appell an
die Community gerichtet, ein geeignetes Tool für die
Diagnose von Erosionsschäden zu entwickeln. Ein sinnvolles Tool sollte leichte Handhabbarkeit, genaue Erfassung des Schweregrads sowie weitgehende Vergleichbarkeit bieten. Die Information, die man aus
einem vernünftigen Protokoll erhielte, wären nicht nur
die Basis notwendiger Statistiken, sondern auch geeignet, die zeitliche Entwicklung von Erosionsvorkommen
zu beobachten.
Insgesamt herrschte Einigkeit darüber, dass ein allgemeiner Bedarf für die Einführung eines standardisierten, epidemiologischen Erfassungssystems besteht,
welches auch zeitliche Entwicklungen zu beobachten
hilft. Weitere notwendige Bestandteile dieses Erfassungssystems sollten Informationen über Ernährungsgewohnheiten, psychologische Faktoren, allgemeinen
Gesundheitsstatus sowie eine Bewertunge der Speichelflussrate beinhalten. Die klare Identifizierung von
Risikofaktoren, ob sie nun durch Krankheit oder durch
Lebensgewohnheiten bedingt sein mögen, sollte einen
weiteren Schwerpunkt darstellen, um eine detaillierte
Aufklärung der Patienten und eventuell restaurative
Behandlung bzw. Überweisung an einen Spezialisten
anzuschließen.
Eine mögliche Antwort auf diesen Appell stellt der
von Prof. Adrian Lussi präsentierte, sogenannte BEWE
Index (Basic Erosive Wear Examination) dar. Dieser
Index erleichtert die Einordnung einzelner Säureschäden der Zähne sowie die Quantifizierung des
Erosionsrisikos.
Prof. Carolina Ganss stellte im Zusammenhang mit
therapeutischen Maßnahmen für Patienten mit Erosionsschäden ihre neuesten Fallstudien vor. Hierbei
zeigte sich, dass Intensivfluoridierung von Patienten mit
hohem Erosionsrisiko als alleinige Maßnahme nicht ausreicht, um die Erosion zum Stillstand zu bringen. Der
potenzielle Nutzen von Metall-Ionen wurde als ein
Ansatz präsentiert, Erosionsschädigungen zu stoppen.
In diesem Zusammenhang wurde die Vermutung geäußert, dass Zinn-Ionen hierbei eine besonders hohe
Effizienz zeigen.
Prof. Adrian Lussi
Der BEWE Index wurde vom Publikum allgemein
begrüßt und der Wunsch nach einer raschen Implementierung in so vielen Praxen wie möglich geäußert,
um seine Anwendbarkeit beurteilen zu können.
Insbesondere die Frage, ob noch Modifikationen am
BEWE Index nötig sind, sollte bald geklärt werden. In
diesem Zusammenhang wurde die Frage, ob man die
Bedeutung einer Dentinbeteiligung in das Protokoll
übernehmen sollte, kontroves diskutiert. Prof. Nigel
Pitts schlug daraufhin eine mögliche Lösung vor: Der
BEWE Index sollte in die CORE EXAMINATION der
WHO übernommen werden, wobei hier ein Hinweis auf
eine mögliche Beteiligung des Dentins angebracht
werden sollte.
PROPHYLAXEdialog
Prof. Carolina Ganss
Wir danken allen Beteiligten für ihr Interesse und
Engagement.
Sonderausgabe 2011
35
Sonderausgabe Erosion
Integration der elmex EROSIONSSCHUTZ Zahnspülung
in die Sekundärprophylaxe von Erosionen
Erosion des Zahnschmelzes ist ein weit verbreitetes
Problem, hervorgerufen durch Säureexposition der
Zähne, sei es durch exogene oder endogene Ursachen.
Gerade weil sich die resultierenden, irreversiblen
Schäden an der Zahnhartsubstanz in schweren Fällen
oft nur durch restaurative Maßnahmen versorgen lassen, sollten eine frühzeitige Diagnose, verbunden mit
einer gründlichen Aufklärung des Patienten und einem
individuellen Therapieplan Grundlage jeder Behandlung sein, um ein Voranschreiten der Schädigungen
zu vermeiden und so den Schädigungsgrad weitestgehend zu limitieren.
Die Basis einer umfassenden Anamnese stellt das
so genannte Basic Erosive Wear Examination(BEWE)Bewertungssystem dar. Dieser in der Praxis leicht einsetzbare Index hilft dem Zahnarzt, das Ausmaß der
Erosion nicht nur zu erkennen, sondern er ermöglicht
auch die Einordnung in Kategorien, die erste Hinweise
auf die Anfälligkeit des Patienten für Erosion geben.
Für die einzelnen Kategorien sind von internationalen Experten Therapieempfehlungen entwickelt
worden. Während es bei Werten bis 2 genügt, den
Patienten in die Routineüberwachung und Erhaltungstherapie zu übernehmen (ohne natürlich die Karies- und
Gingivitisprophylaxe zu vernachlässigen), muss bei
Patienten mit einem Wert von über 2 unbedingt eine
systematische Befragung durch ein Mitglied des
zahnärztlichen Teams erfolgen, um die Quelle der
Säureexposition und ggf. weitere Risikofaktoren zu
identifizieren. Während bei Erosionsdefekten exogener
Ursache eine gründliche Ernährungsberatung im Vordergrund steht, kann im Falle endogener Säureangriffe
(z.B. Reflux, Bulimie) auch das Konzil mit entsprechenden Fachärzten vonnöten sein.
BEWE 1– 2: kaum Defekte, keine Anfälligkeit für
Erosionen
BEWE 3 – 8: schwach ausgeprägte Defekte, geringe
Anfälligkeit
BEWE 9 –13: stark ausgeprägte Defekte, mittlere
Anfälligkeit
BEWE über 14: sehr stark ausgeprägte Defekte,
hohe Anfälligkeit
Viele Speisen und Getränke – z.B. Orangensaft – enthalten
erosive Säuren.
Unterstützend zu dieser kausalen Therapie empfiehlt sich in jedem Fall die Anwendung der elmex
EROSIONSSCHUTZ Zahnspülung mit Zinnchlorid und
Aminfluorid, um einer weiteren Schädigung der Zahnsubstanz durch Säureexposition wirkungsvoll vorzubeugen.
36
Sonderausgabe 2011
PROPHYLAXEdialog
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