Philipp Kanzow, Florian J. Wegehaupt, Thomas Attin, Annette Wiegand Ätiologie und Pathogenese erosiver Zahnhartsubstanzdefekte ZAHNERHALTUNG Online-Wissenstest zu diesem Beitrag siehe Seite 1081 Indizes Erosion, säurebedingter Zahnhartsubstanzverlust, intrinsische Säuren, extrinsische Säuren, Ernährung, Refluxerkrankung Zusammenfassung Der Begriff der dentalen Erosion bezeichnet den säurebedingten Zahnhartsubstanzverlust, welcher ohne Mitbeteiligung von Mikroorganismen entsteht. In Abhängigkeit vom Ursprung der Säuren wird zwischen extrinsischen (meistens verursacht durch Säuren in Lebensmitteln) und intrinsischen (verursacht durch körpereigene Säure) Erosionen unterschieden. Das Auftreten und das Ausmaß der erosiven Defekte hängen von verschiedenen Parametern wie z. B. der Ernährung, dem Speichel, (Allgemein-)Erkrankungen und der mechanischen Belastung der Zähne durch Abrasion und Attrition ab. So steigern Ernährungsgewohnheiten mit häufiger Aufnahme saurer Speisen und Getränke, berufsbedingte oder im Rahmen der Freizeitausübung verstärkte Säureexpositionen sowie Medikamente und Erkrankungen, die sich auf die Speichelproduktion auswirken, das Risiko für erosive Zahnhartsubstanzdefekte. Durch eine gründliche Befundaufnahme und eine genaue Anamnese lassen sich die verschiedenen Risikofaktoren erkennen und Möglichkeiten zur Reduktion oder Beseitigung dieser Faktoren aufzeigen. Einleitung Poliklinik für Präventive Zahnmedizin, Parodontologie und Kariologie Zentrum Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde Universitätsmedizin Göttingen Robert-Koch-Straße 40 37075 Göttingen E-Mail: [email protected] Florian J. Wegehaupt Dr. med. dent. Thomas Attin Prof. Dr. med. dent. Klinik für Präventivzahnmedizin, Parodontologie und Kariologie Zentrum für Zahnmedizin der Universität Zürich, Schweiz Annette Wiegand Prof. Dr. med. dent. Dentale Erosionen sind als durch direkte Säureeinwir­ kung auf Zahnoberflächen hervorgerufener, unwider­ ruflicher Verlust von Zahnhartsubstanz definiert9. Die­ ser ist im Anfangsstadium zunächst auf den Schmelz begrenzt und kann im weiteren Verlauf auch das Dentin betreffen. Im fortgeschrittenen Stadium bemerkt der Patient häufig schmerzhafte Hypersensibilitäten sowie ästhetische und funktionelle Einschränkungen. Erosive Defekte sind ätiologisch von primär mechanisch verur­ sachten Defekten wie Abrasionen und Attritionen abzu­ grenzen. Klinisch überlagern sich diese verschiedenen Phänomene jedoch oft und erschweren dann eine ge­ naue Differenzierung. Aufgrund der Genese der erosiven Defekte wird zwischen endogen und exogen induzierten Erosionen unterschieden. Intrinsische Erosionen betreffen häufig Quintessenz 2015;66(9):1013–1017 Philipp Kanzow Dr. med. dent. Poliklinik für Präventive Zahnmedizin, Parodontologie und Kariologie Zentrum Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde Universitätsmedizin Göttingen 1013 ZAHNERHALTUNG Ätiologie und Pathogenese erosiver Zahnhartsubstanzdefekte aufgrund übermäßigen Konsums von Coca-Cola. Deutlich erkennbar ist die überwiegende Lokalisation an den labialen Glattflächen fläche – ähnlich der eines Ätzmusters in der Adhäsiv­ technik – hervorruft. Hierdurch wird die Mikrohärte der oberflächlichen Schicht gesenkt, was die Widerstands­ fähigkeit gegenüber physikalischen Angriffen reduziert. Mit weiterer Progredienz entstehen schließlich groß­ flächige Substanzverluste. Im Dentin bleiben zunächst weiche demineralisierte Anteile der organischen Matrix zurück, die als Diffusionsbarriere tiefer liegende Schich­ ten bis zu einem gewissen Grad schützen können10. Neben der Art, Häufigkeit und Frequenz der Säure­ zufuhr bestimmen modifizierende (Wirts-)Faktoren das Ausmaß und die Progredienz erosiver Defekte. Hierzu zählen vor allem Eigenschaften des Speichels (Fließrate, Pufferkapazität, pH-Wert und Zusammensetzung). Tab. 1 Beispielhafte Auflistung einiger extrinsischer Extrinsische und intrinsische Säurequellen Abb. 1 Patientin mit erosiven Zahnhartsubstanzdefekten Säurequellen Kategorie Beispiele Saure Lebensmittel • Zitrusfrüchte • Salatsaucen • Essig • Wein • Erfrischungsgetränke • Softdrinks Saure Medikamente • Acetylsalicylsäure • Eisentabletten • Vitamin-C-Präparate Berufsbedingte Säure­ exposition • Saure Dämpfe – Batteriefabriken – Munitionsfabriken – Galvanisierungsfabriken • Flüssigkeiten – Weintester – Profischwimmer zunächst palatinale und okklusale Zahnflächen, wäh­ rend extrinsisch ausgelöste Erosionen meist auf den Labialflächen der Frontzähne lokalisiert sind. Klinisch manifestieren sich Erosionen im Anfangsstadium als Verlust der Oberflächenstruktur, wodurch es zu Mulden im Bereich der Höcker oder Glattflächen kommt. Die Säureeinwirkung führt zu einer Auflösung der anorga­ nischen Zahnhartsubstanz, welche eine raue Zahnober­ 1014 Extrinsische Säuren Zu den verschiedenen Ursachen einer extrinsischen Säurezufuhr gehören neben dem Konsum von säure­ haltigen Nahrungsmitteln (Zitrusfrüchte, Erfrischungs­ getränke, Wein, Salatsaucen etc., Abb. 1) die Einnahme saurer Medikamente (z. B. Acetylsalicylsäure, Eisen­ tabletten und Vitamin-C-Präparate) sowie beruflich be­ dingte Säureexpositionen (Tab. 1). Zu Letzteren zählen beispielsweise saure Dämpfe, wie sie in Batterie-, Galvanisierungs- bzw. Munitionsfabriken auftreten, oder saure Flüssigkeiten, denen etwa Profischwimmer und Weintester vermehrt ausgesetzt sind7,8,18,26. Auch bei essgestörten Patienten lässt sich häufig ein erhöhter Konsum von sauren Nahrungsmitteln (wie z. B. Essig) oder säurehaltigen Light-Softdrinks feststellen13,14. Das Ausmaß einer Erosion wird zum einen durch die Erosivität einer Säure (pH-Wert, Pufferkapazität und Mineralkonzentration) bestimmt. Zum anderen haben die Konsumhäufigkeit und -art einen Einfluss auf die Ausprägung einer Erosion. Bestimmte Trinkge­ wohnheiten (schluckweises Trinken, Nutzung eines Strohhalms in direktem Zahnkontakt und intensives Spülen) führen gegenüber einem einmaligen Konsum zu einem länger andauernden Abfall des pH-Wertes in Quintessenz 2015;66(9):1013–1017 ZAHNERHALTUNG Ätiologie und Pathogenese erosiver Zahnhartsubstanzdefekte Abb. 2a und b Patientin mit Bulimie. Die Frontalansicht zeigt in erheblichem Maße verkürzte Inzisalkanten (a), und in der Aufsicht sind Erosionen auf den Palatinalflächen der Oberkieferfrontzähne zu sehen (b) der Mundhöhle16. Järvinen et al.15 haben gezeigt, dass eine mehr als zweimal tägliche Aufnahme von Zitrus­ früchten, das tägliche Trinken von Softdrinks und der wöchentliche Konsum von Essig oder Sportgetränken das Risiko dentaler Erosionen signifikant ansteigen lassen. Das Erosionsrisiko ist ebenfalls erhöht, wenn Kleinkinder zum Einschlafen eine Flasche mit Frucht­ sirup oder Softdrinks bekommen1. Bei diätetisch verursachten Erosionen ist den entspre­ chend disponierten Patienten anzuraten, den Konsum säurehaltiger Speisen und Getränke auf die Haupt­ mahlzeiten zu beschränken. Saure Getränke sollten gekühlt und möglichst rasch konsumiert werden, um ihre Erosivität herabzusetzen2,3. Den Herstellern von sauren Erfrischungs- und Sportgetränken kann empfoh­ len werden, deren erosive Eigenschaften durch einen Austausch von stark demineralisierenden Säuren ge­ gen solche mit niedrigerem erosivem Potenzial sowie den Zusatz von Kalzium-, Phosphat- oder Fluoridionen zu mindern. Auch in Orangensaft lässt sich das erosive Potenzial durch den Zusatz von Kalziumzitrat oder Trikalzi­umphosphat reduzieren. In einer Studie wurde gezeigt, dass eine experimentelle Lösung aus Orangen­ saft und Ca2+-Brausetabletten ein niedrigeres erosives Potenzial aufweist, aber keine negativen Auswirkun­ gen auf den Geschmack hat25. Auch Lebensmittel wie z. B. Joghurt sind bei entsprechend hohem Kalziumund Phosphatgehalt trotz eines niedrigen pH-Wertes nicht erosiv4. Quintessenz 2015;66(9):1013–1017 Staufenbiel et al.23 haben ermittelt, dass Vegetarier signifikant mehr dentale Erosionen als Nichtvegetarier aufweisen. Auffällig war in dieser Patientengruppe ne­ ben dem deutlich häufigeren Konsum von Obst auch der seltenere Gebrauch von fluoridierter Zahnpasta oder fluoridiertem Speisesalz. Ein Vergleich der Erosivität verschiedener extrinsi­ scher Säurequellen ist schwierig, da außer den rein che­ mischen Parametern (pH-Wert, Anteil der freien Säure, Konzentration an Kalzium-, Phosphat- und Fluoridionen) auch die unterschiedliche Anhaftung an der Zahnober­ fläche sowie Ernährungsgewohnheiten (Häufigkeit, Menge, Temperatur etc.) berücksichtigt werden müssen. In einer In-vitro-Untersuchung haben Lussi et al.17 die Erosivität verschiedener Produkte anhand der verän­ derten Oberflächenhärte nach 2-minütiger Einwirkzeit verglichen. Hier zeigte sich, dass Coca-Cola light bei­ spielsweise im Vergleich zu Apfelsaft eine etwa doppelt so hohe Abnahme der Oberflächenhärte verursacht. Intrinsische Säuren Als Auslöser für intrinsische Erosionen fungiert saure Magenflüssigkeit, die in die Mundhöhle übertritt. Dies ist beispielsweise bei der Bulimie (Ess-Brech-Sucht, Abb. 2a und b), bei gastrointestinalen Refluxerkran­ kungen oder beim Alkoholabusus oft der Fall5,20. Essstörungen stellen eine der häufigsten psychoso­ matischen Erkrankungen dar. Vor allem junge Frauen 1015 ZAHNERHALTUNG Ätiologie und Pathogenese erosiver Zahnhartsubstanzdefekte Abb. 3 Palatinal und okklusal lokalisierte Erosionen bei Abb. 4 Patient mit Refluxerkrankung. Deutliche okklusale zwischen 15 und 25 Jahren sind hiervon betroffen (das Verhältnis erkrankter Frauen zu Männern beträgt 10:1). Die Prävalenz ist mit 0,5 bis 3 % relativ hoch13. Im Ver­ gleich zu anorektischen Patientinnen oder Patienten mit anderen Essstörungen treten Erosionen bei buli­ mischen Patientinnen öfter auf, weil diese zum Teil mehrfach täglich erbrechen12. Da Magenflüssigkeit einen pH-Wert um 1 und einen höheren Gehalt an freier Säure als übliche extrinsische Säuren hat, ist ihr erosives Potenzial deutlich größer24. Verstärkend kommt bei essgestörten Patienten hinzu, dass infolge der allge­ meinen Dehydration durch Gewichtsabnahme und/oder als Nebenwirkung eingenommener Psychopharmaka die Entwicklung von dentalen Erosionen durch eine Verminderung des Speichelflusses begünstigt wird. Auch beim gastrointestinalen Reflux (Abb. 3 und 4) kommt es aufgrund einer Fehlfunktion des Ösopha­ gussphinkters zum Übertritt von saurem Mageninhalt in die Mundhöhle. Es besteht ein gut dokumentierter Zusammenhang zwischen dem Auftreten von dentalen Erosionen und Refluxerkrankungen. So wird bei Patien­ ten mit symptomatischen Refluxerkrankungen die Präva­ lenz für dentale Erosionen in der Literatur mit Werten zwischen 17 und 68 % beschrieben. Umgekehrt ließ sich bei 25 bis 83 % aller Patienten mit dentalen Erosionen gastroenterologisch eine Refluxerkrankung nachweisen27. Auch chronischer Alkoholabusus ist oftmals mit häu­ figem Erbrechen verbunden und kann einen gastro­ intestinalen Reflux auslösen. Hinzu kommt, dass Al­ koholiker regelmäßig potenziell erosive alkoholische Getränke konsumieren. In mehreren Studien wurde bei alkoholabhängigen Patienten eine erhöhte Prävalenz dentaler Erosionen beobachtet11,22. Der Ausprägungs­ grad der Erosionen ist dabei vom Schweregrad der Refluxerkrankung abhängig19,21. einer bestehenden Refluxerkrankung 1016 und palatinale erosive Defekte. Auffällig sind die inzwischen erhabenen Füllungen im Front- und Seitenzahnbereich Patienten mit dentalen Erosionen in der zahnärztlichen Praxis Unabdingbar für eine frühzeitige diagnostische Ab­ klärung der Ursache nicht kariöser Zahnhartsubstanz­ defekte ist neben einer gründlichen Befundaufnahme eine genaue Anamnese, um potenzielle Risikofaktoren zu erkennen. Hierzu zählen Fragen nach Ernährungs­ gewohnheiten (Häufigkeit und Frequenz des Konsums erosiver Speisen und Getränke), nach Allgemeiner­ krankungen und Medikamenteneinnahme sowie zum Lebensumfeld (Beruf, Hobbys etc.). Die Genussgewohn­ heiten hinsichtlich erosiver Nahrungsmittel lassen sich beispielsweise durch die Erstellung eines Ernährungs­ tagebuches präzisieren. Bei endogen induzierten erosiven Läsionen, die auf das Vorliegen einer gastrointestinalen Erkrankung oder einer Essstörung hinweisen (orale bzw. okklusale Lo­ kalisation), sollte zur genaueren ätiologischen Abklä­ rung eine weiterführende allgemeinmedizinische bzw. Quintessenz 2015;66(9):1013–1017 ZAHNERHALTUNG Ätiologie und Pathogenese erosiver Zahnhartsubstanzdefekte psychologische Untersuchung erfolgen. Die Funktion der Speicheldrüsen lässt sich durch Speicheltests er­ mitteln, die neben der Speichelfließrate auch den pHWert und die Pufferkapazität bestimmen können. Ge­ rade bei Risikopatienten ist eine intensive zahnärztliche Betreuung notwendig, um die Progression der erosi­ ven Läsionen zu reduzieren. Zusätzlich empfiehlt sich die Dokumentation der Größe erosiver Defekte, um ein mögliches Voranschreiten der Läsionen zu verfolgen. Hierzu bietet sich neben der Erstellung von Fotos und/ oder Modellen auch die Erhebung des BEWE-Index („basic erosive wear examination“) an6. Literatur 1. Al-Malik MI, Holt RD, Bedi R. The relationship between erosion, caries and rampant caries and dietary habits in preschool children in Saudi Arabia. Int J Paediatr Dent 2001;11: 430-439. 2. Amaechi BT, Higham SM, Edgar WM. Factors influencing the development of dental erosion in vitro: enamel type, temperature and exposure time. J Oral Rehabil 1999;26:624-630. 3. Barbour ME, Finke M, Parker DM, Hughes JA, Allen GC, Addy M. The relationship between enamel softening and erosion caused by soft drinks at a range of temperatures. J Dent 2006;34:207-213. 4. Barbour ME, Lussi A. Erosion in relation to nutrition and the environment. Monogr Oral Sci 2014;25:143-154. 5. Bartlett D. Intrinsic causes of erosion. Monogr Oral Sci 2006;20:119-139. 6. Bartlett D, Ganss C, Lussi A. 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