Die Macht der Viren

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Schwerpunkt: Viren
Die Macht der
Viren
Nicht erst seit dem Aufkommen der Schweinegrippe zählt die Virologie
zu den spannendsten Gebieten der Biologie. Von ihren Erkenntnissen
hängt das Überleben von hunderttausenden Menschen ab – jährlich.
Von Hans-Georg Kräusslich
nächst irrtümlich für ein Bakterium gehalten
wurde (es ›mimt eine Mikrobe‹), entspricht
iren sind heute jedem bekannt, nur noch zum Teil der klassischen Definition
doch sie bleiben bedrohlich: So eines Virus. Es ist im Lichtmikroskop sicht­
zum Beispiel durch die »normale« bar, sein Genom ist mit 1,2 Millionen Basen
Grippewelle in jedem Winter, mit größer als das vieler einfacher Bakterien, und
weltweit einer halben Million Toten; noch es verfügt über eine Vielzahl eigener Enzyme
mehr im Vordergrund stehen sie, wenn wie und Signalsysteme.
Inzwischen ist klar, dass es eine Reihe von
im Frühjahr dieses Jahres ein neuer Typ von
Influenza mit pandemischer, also erdumspan­ Viren mit solchen Eigenschaften gibt. Das
nender Ausbreitung auftaucht, derzeit aller­ dem Mimivirus verwandte Mamavirus zeigt
dings zum Glück mit mildem Verlauf (siehe noch größere Komplexität, indem es selbst ein
Virus beherbergt. Sein kleiner Parasit »Sput­
Kasten S. 56/57).
Die winzigen Gebilde sind biologische Sys­ nik« zählt zu einer bis vor Kurzem unbekann­
teme, die sich vermehren können, sie sind da­ ten Klasse von Viren, wobei nur einige seiner
für aber unbedingt von einer Wirtszelle ab­ Gene eine nachweisbare Verwandtschaft mit
hängig. Viren bilden damit die Grenze zwi­ bekannten Virusgenen haben. Sputnik ver­
schen lebendem Organismus und toter Mate­ mehrt sich nur in Amöben, die auch mit dem
rie. Ein Beispiel: Das Poliovirus, der Erreger Mamavirus infiziert sind. Die Aussage, dass
der Kinderlähmung, kann einerseits als ver­ alle Organismen ihre eigenen Viren haben,
mehrungsfähige biologische Einheit beschrie­ können wir ergänzen: Auch Viren können
ben werden, die eine infizierte Zelle in zentra­ ihre eigenen Viren tragen.
Ein anderes Extrem bilden die so genann­
len Funktionen so umprogrammiert, dass die­
se in wenigen Stunden hunderttausende neue ten Polydnaviren bestimmter Wespenarten.
Viren produziert. Es kann andererseits wie Diese Insekten legen ihre Eier in Raupen ab
eine Chemikalie durch die so genannte Sum­ und übertragen dabei virusähnliche Partikel,
menformel C332 652H492 388N98 245O131 196P7501S2340 welche die Immunabwehr der Raupe aus­
beschrieben werden (C = Kohlenstoff, H = schalten. Dabei handelt es sich um Relikte
Wasserstoff, N = Stickstoff, O = Sauerstoff, eines Virus, das sich durch Genaustausch und
P = Phosphor, S = Schwefel). Aus chemisch Koevolution vollkommen an seinen Wirt an­
synthetisierter Erbinformation entstehen nach gepasst hat. Die Gene, die für die Hüllprote­
Einschleusen in Zellen neue vermehrungsfä­ ine des Virus verantwortlich sind, wurden zu
Genen des Wirts. Die Partikel werden in Zel­
hige Polioviren.
Alle Viren stehen zwar an der Grenze zwi­ len der Wespe gebildet und übertragen Erb­
schen belebter und unbelebter Natur. Der information in die Raupe, die für die Ent­
Übergang ist allerdings fließend, wie neu ent­ wicklung der Wespenlarven von Nutzen ist.
deckte Virusarten belegen. So diskutieren For­ Das Virus als eigenständige Vermehrungsein­
scher erneut die Frage »Was ist ein Virus?«, heit existiert hier nicht mehr, sondern ist Teil
die schon längst geklärt schien. Ein Beispiel: des Wirts geworden.
Vor dem Auftreten der »Neuen Grippe«
Der Amöbenparasit Mimivirus, der 2003 aus
dem Wasser von Kühltürmen isoliert und zu­ standen Viren zuletzt 2008 durch den Nobel­
V
In Kürze
r Die noch junge Wissenschaft der Virologie
erschließt Struktur und
Verhalten von Viren, die
sich nur in Wirtszellen
vermehren können. Sie bilden die Grenze zwischen
lebendem Organismus und
toter Materie.
r Die Schweinegrippe
(»Neue Grippe«) hat
bislang knapp 200 Todesopfer gefordert. Manche
Experten fürchten eine
Wiederkehr des Virus im
kommenden Winter –
dann womöglich als
gefährlichere Mutante.
r Trotz großer Fortschrit­te
in der Genomanalyse kennen Forscher nur wenige
der Viren unseres Planeten.
So erwarten Virologen
noch viele Überraschun­
gen: neuartige Seuchen,
aber auch revolutionäre
Anwendun­gen in Medizin
und Technologie.
54 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · August 2009
Corbis / Reuters / Bazuki Muhammad
Medizin & Biologie
preis für Medizin oder Physiologie im Mittel­
punkt des Interesses (siehe Info S. 60). Sie be­
gegnen uns außerdem durch Krankheiten wie
Aids, Ebola und tropische Fieber regelmäßig
in den Schlagzeilen oder als Protagonisten in
Katastrophenfilmen. Dabei wissen wir erst seit
gut 100 Jahren, dass es Viren überhaupt gibt –
die Virologie ist also eine junge Disziplin, die
sich mit ihrem Studienobjekt stetig und rasch
verändert. In den letzten 30 Jahren wurden
über 50 virale Krankheitserreger erstmals be­
schrieben, darunter so bedeutsame wie HIV,
das Hepatitis-C-Virus, das Sars-Coronavirus
­sowie die Erreger der Vogelgrippe. In ihrer
heutigen Form sind viele dieser Virustypen
vermutlich erst in jüngerer Zeit entstanden.
Forscher vermuten, dass die Infektion von
Menschen durch ein Schimpansenvirus vor
gerade einmal 100 Jahren für die heutige ver­
heerende Aidspandemie verantwortlich ist.
Entweder Panik oder Desinteresse
Die meisten der humanpathogenen Viren, die
in den letzten Jahrzehnten entdeckt wurden,
entstanden durch Übertragung eines Vorläu­
fers vom Tier auf den Menschen – mit den
Folgen einer »Zoonose«. Angesichts der uner­
messlichen Zahl viraler Erreger bei allen Arten
ist dieses Potenzial bei Weitem nicht ausge­
schöpft. Es wird also auch in Zukunft mit
neuen Viren als Seuchenerregern zu rechnen
sein. Welche das sind, lässt sich leider nicht
vorhersagen. So können wir zwar aus der Ana­
lyse aller Influenzaviren der Wasservögel oder
Schweine wichtige Erkenntnisse gewinnen.
Sie werden aber nicht die Frage beantworten,
woher das nächste zoonotische Virus kommt.
In der öffentlichen Wahrnehmung von
Seuchenerregern wechseln Phasen der Panik
mit Phasen von Desinteresse ab; es war ja alles
anscheinend doch nicht so schlimm. Eine aus­
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · August 2009
balanciertere Wahrnehmung könnte auch die
politische Bereitschaft erhöhen, Strategien zur
Eindämmung von Pandemien konsequent zu
verfolgen. Es wäre jedoch ein Fehler, sich aus­
schließlich auf Influenza zu konzentrieren.
Auch wenn davon auszugehen ist, dass sich
immer wieder Grippepandemien ereignen
wer­den, ist keineswegs klar, ob ein Influenza­
virus die Ursache der nächsten großen viralen
Bedrohung sein wird. So sind lokale Ausbrü­
che von Infektionen mit den für Menschen
hochpathogenen Nipah- und Hendraviren in
den letzten Jahren in Asien ein Grund zur
Wachsamkeit. Insbesondere Fledermäuse, die
etwa mit anderen Fledertieren ein Fünftel al­
ler Säugetierarten ausmachen und aus bisher
unklaren Gründen viele Virusinfektionen to­
lerieren, ohne selbst zu erkranken, bilden ein
reichhaltiges Reservoir für neue Erkran­
kungen.
Nicht nur Nipah und Hendra, sondern
auch Ebola und SARS gehen wohl auf Fleder­
mäuse als zoonotische Infektionsquelle zu­
rück. Weniger spektakulär, aber genauso be­
deutsam ist die Tatsache, dass sich auch be­
kannte virale Krankheitserreger allmählich
weiter ausbreiten. So hat sich beispielsweise
das West-Nil-Enzephalitis-Virus, seit es 1999
nach New York eingeschleppt wurde, inner­
halb von fünf Jahren über die Staaten des
nord­amerikanischen Kontinents bis zur West­
küste ausgebreitet. Seither traten allein in den
USA etwa 30 000 Erkrankungen und über
1000 Todesfälle auf. Ein weiteres Beispiel ist
das Denguefieber, das seit dem 18. Jahrhun­
dert bekannt ist und als seltene, vergleichswei­
se harmlose Tropenkrankheit galt. Nach dem
Zweiten Weltkrieg hat sich sein Erreger welt­
weit ausgebreitet, so dass heute etwa 2,5 Mil­
liarden Menschen in Risikogebieten leben
und jährlich etwa 50 Millionen infiziert wer­
Kontrolle am Flughafen in
Kuala Lumpur: Das Flughafen­
personal kontrolliert Passa­
giere, die gera­de aus Los
Angeles einreisen, auf Symp­
tome der Schweinegrippe.
Bakterien,
Eukaryoten,
Archaeen
➤ Archaeen, früher auch
Archaebakterien oder
Urbakterien genannt,
bilden neben den Bakterien und den Eukaryoten
eine der drei Domänen,
in die alle zellulären
Lebewesen eingeteilt
werden.
➤ Bakterien und Archaeen
sind Einzeller ohne
Zellkern. Eukaryoten sind
Lebewesen, deren Zellen
einen Zellkern haben. Zu
den Eukaryoten gehören
auch alle vielzelligen
Lebewesen.
➤ Viren, Viroide und
Prionen, die nicht
generell als Lebewesen
eingeordnet werden,
unterliegen einer eige­
nen Klassifikation.
55
Schwerpunkt: Viren
Neues Influenzavirus aus dem Schwein: Wie entwickelt sich die Pandemie?
45
45
10
Januar
Juni
Dezember
Juni
Dezember
1890
1890
1890
1891
1891
März September März September März
1890
1890
1891
1891
1892
Sterblichkeit
normale saisonale Grippeperioden
Seit Jahren wird die Gefahr einer Influenzapandemie disku­
tiert, ausgelöst durch eine neue Erregervariante. Im Zentrum der
Medienöffentlichkeit standen dabei vor allem hochpathogene Vogelgrippeviren vom Typ H5N1, die seit 1998 wiederholt auf Menschen übertragen wurden und häufig zum Tod führten.
Allerdings wird das H5N1-Virus bisher nicht von Mensch zu
Mensch übertragen, eine notwendige Voraussetzung für eine Pandemie. Nun erreicht uns die Bedrohung plötzlich von anderer Seite: Ende März 2009 trat eine neuartige Influenzavariante zunächst in Mexiko und den südwestlichen USA auf und breitete
sich bis zum Frühsommer in über 70 Länder auf allen Kontinenten
aus. Die WHO hat im Juni 2009 die Pandemie ausgerufen. Auch in
Deutschland gibt es hunderte nachgewiesene Erkrankungen, die
meisten davon bei Reisenden, die aus den USA und Mexiko zurückkehrten. Was bedeutet diese Pandemie, und was droht uns
von dem neuen Virus?
Bioterrorismus und
virale Biowaffen
sind zwar eine Bedro­
hung. Aber auch das
pathogene Potenzial
­natürlich vorhandener
­Erreger sollte nicht
unterschätzt werden
56 Kopenhagen, 1918–1919
Sterberate
pro Periode in Prozent
Historische Pande­
miewellen, wie
etwa die Spanische
Grippe von 1918,
zeigen, dass der
Hauptwelle töd­
licher Infektionen
oft eine milde Welle
vorausläuft (rote
Balken).
Sterberate
pro Periode in Prozent
London, 1889–1892
60
35
5
Januar
1918
Mai
Sept.
Januar
Mai
Sept.
1918
1918
1919
1919
1919
März
Juli November März
Juli
1918
1918
1918
1919
1919
Sterblichkeit
normale saisonale Grippeperioden
Der Erreger gehört zwar zu dem seit Langem kursierenden Typ
H1N1, unterscheidet sich jedoch deutlich vom Virus der üblichen
Wintergrippe. Insofern schätzen Fachleute den Immunschutz bei
gegen die normale Grippe geimpften Personen als gering ein. Allerdings sind die Neuraminidase-Inhibitoren wie Tamiflu oder Relenza bisher gut wirksam. Das neue Virus ist wahrscheinlich durch
eine bislang beispiellose Kombination verschiedener Viren im
Schwein entstanden und enthält Anteile von Influenzaviren aus
Vogel, Schwein und Mensch. Vermutlich kursiert der Erreger seit
Längerem im Tier, scheint jedoch erst kürzlich auf den Menschen
übergetreten zu sein.
Dabei ist der Begriff »Schweinegrippe« irreführend, da der Erreger ganz offensichtlich effizient von Mensch zu Mensch übertragen wird; das Schwein spielt hier keine Rolle mehr. Ähnlich der
Vogelgrippe wurden in der Vergangenheit Influenzaviren auch
vom Schwein auf den Menschen übertragen, breiteten sich dann
den. Dengue wurde so zur häufigsten durch
Stechmücken übertragenen Viruserkrankung.
Dies ist einer der Nebeneffekte der Globa­
lisierung, von der Viren profitieren. Erhöhte
Mobilität und große Menschenmassen in Me­
gastädten begünstigen ihre Verbreitung. Zu­
gleich erschließen Veränderungen von Land­
schaft und Klima neue Lebensräume für Viren
und ihre tierischen Überträger. Die Zusam­
menhänge sind komplex und zum Teil ver­
blüffend. So erwies sich eine rätselhafte Epi­
demie von West-Nil-Enzephalitis im Sommer
2007 in Kalifornien als direkte Folge der Im­
mobilienkrise: Verwahrloste Swimmingpools
in von überschuldeten Hausbesitzern verlas­
senen Villenvierteln bildeten ein ideales Bio­
top für die Stechmücke Culex tarsalis, die das
West-Nil-Virus besonders effizient überträgt.
Neben der Ausbreitung bekannter Erreger
können bisher unbekannte Viren, wie vor ei­
nigen Jahren das Sars-Coronavirus, scheinbar
aus dem Nichts auftauchen. Diese Erkrankung
zeigt, dass auch Grundlagenforschung an ei­
gentlich nicht als pathogen bekannten Viren
kein Luxus ist – nicht nur wegen des unmit­
telbaren Erkenntnisgewinns, sondern auch in
Anbetracht einer möglichen zukünftigen Be­
deutung als Infektionserreger. Bioterrorismus
und virale Biowaffen sind zwar ernst zu neh­
mende Bedrohungen, aber das pathogene
Potenzial der natürlich vorhandenen Erreger
sollte deswegen nicht unterschätzt werden.
Konzentriert sich die Forschungsförderung
zu sehr auf Aspekte des Bioterrorismus, wie
in den letzten Jahren in den USA geschehen, so scheint das nicht einmal im Hinblick
auf die möglichen Gefahren gerechtfertigt –
noch gravierender ist jedoch die dadurch
beding­te Vernachlässigung der Grundlagen­
forschung.
Da man in der Anfangszeit der virologi­
schen Forschung die »unsichtbaren« Studien­
objekte nur anhand der von ihnen verursach­
ten Symptome nachweisen konnte, gehörten
zu den ersten beschriebenen Viren Pathogene
von Pflanzen (Tabakmosaikvirus, 1892), Tieren
(Maul- und Klauenseuche, 1898) und Men­
schen (Gelbfieber, 1901). Auch heute spielen
Viren in der öffentlichen Diskussion – und
zunehmend auch in der Forschung – fast aus­
schließlich als Krankheitserreger von Mensch
und Tier eine Rolle.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · August 2009
28
England und Wales, 1968– 1969
29
43
Okt.
Okt.
Okt.
Okt.
Okt.
Okt.
1957 1958 1959 1960 1961 1962
April April April April April April
1958 1959 1960 1961 1962 1963
Sterblichkeit
normale saisonale Grippeperioden
Sterberate
pro Periode in Prozent
Sterberate
pro Periode in Prozent
USA, 1957–1963
85
15
Januar
1968
März
1968
Sterblichkeit
aber nicht weiter aus. Im Gegensatz dazu verbreitet sich der neue
Erreger effizient in der menschlichen Bevölkerung und konnte so
zur ersten Pandemie seit über 40 Jahren führen.
Wie weit das Virus eingedämmt werden kann und wie lange die
Pandemie dauern wird, lässt sich nicht vorhersagen. »Pandemie«
bedeutet lediglich die unkontrollierte Ausbreitung in zahlreichen
Weltregionen, sagt jedoch nichts über die Schwere der Erkrankung oder die Zahl der Todesfälle aus. Hier sieht die Situation bisher relativ harmlos aus. Die meisten Infektionen mit dem neuen
Virus verlaufen vergleichsweise milde, meist weniger schwer als
die saisonale Grippe. Die bisher beobachteten Todesfälle betrafen
überwiegend Menschen, die bereits an anderen Krankheiten litten,
und scheinen ebenfalls weniger häufig als bei normaler Grippe.
Die gute Nachricht im Moment ist also, dass trotz pandemischer Ausbreitung vorläufig keine dramatische Situation mit
Dabei wissen wir, dass die Beschränkung
auf Krankheitserreger der Vielfalt der Viren
bei Weitem nicht gerecht wird. Mit moleku­
larbiologischen Methoden können wir syste­
matisch nach Viren suchen und auch solche
charakterisieren, die keine erkennbare Beein­
trächtigung des Wirts verursachen oder die
sich im Labor nicht kultivieren lassen. Im
letzten Jahrhundert wurden viele tausende Vi­
ren entdeckt – bei allen untersuchten Arten
von Lebewesen, bis hin zu Bakterien (dort
Bakteriophagen genannt) und Archaeen (sie­
he Info S. 55). Dabei erwiesen sie sich zwar
auch als Verursacher von Infektionskrank­
heiten, häufig aber als weit gehend harmlose
Schmarotzer und manchmal möglicherweise
sogar als Nützlinge.
Virenjagd im Straßenstaub
In ihrer Gesamtheit stellen Viren die größte
Unbekannte unseres Lebensraums dar. So sind
Viren (insbesondere Bakteriophagen) die häu­
figste biologische Einheit im Meer. Untersu­
chungen der gesamten erfassbaren Erbinfor­
mation in verschiedenen Meeresregionen, so
genannte Metagenome (siehe Info S. 58),
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · August 2009
Spektrum der Wissenschaft / Buske-Grafik,
nach: Mark Miller et al., N. Engl. J. Med. 2009
Medizin & Biologie
Mai
1968
September Januar
Mai
1968
1969
1969
Juli
November
März
1968
1968
1969
normale saisonale Grippeperioden
Die gelben Balken
zeigen jeweils die
Phasen der norma­
len Wintergrippe.
Massen von Grippetoten zu erwarten ist. Leider lässt sich die
Entwicklung von Influenzaviren notorisch schlecht vorhersagen.
Eine Veränderung des Erregers, ein Austausch der Erbinforma­
tion mit anderen Influenzaviren ist möglich und könnte zu einer
höheren Pathogenität führen. Wachsamkeit und genaue Beob­
achtung des Erregers sind daher unbedingt notwendig. Ebenso
ist die Herstellung eines Impfstoffs gegen den neuen Erreger
sinnvoll.
Das darf aber keinesfalls zu Lasten der Impfung gegen die saisonale Grippe gehen, an der jährlich weltweit zwischen einer viertel und einer halben Million Menschen sterben. Nicht gegen deren
Erreger zu impfen, würde ein höheres medizinisches Risiko bedeuten und gleichzeitig die Voraussetzungen für den genetischen
Austausch zwischen der neuen Variante und anderen Influenzastämmen verbessern, somit also auch auf diese Weise das Risiko
erhöhen.
zeigten eine größere Vielfalt an Viren als für
jede andere Gruppe irdischer Organismen.
Techniken wie die Polymerase-Kettenreaktion
und die Hochdurchsatz-Sequenzierung er­
möglichen es, sich dieser Vielfalt anzunähern.
Nicht nur in der Tiefsee und in heißen
Quellen, in der Sahara oder 200 Meter unter
der Erdoberfläche, auch im Zebrahaus des
Zoos, im Kuhstall oder unter jedem Rosen­
strauch lassen sich unbekannte Viruswelten
entdecken. Man schätzt, dass derzeit erst
0,0002 Prozent der weltweit existierenden
Phagengenome bekannt sind. Im Phage Hunter Project der Pittsburgh University jagten
Schüler Bakteriophagen in Erde, Straßenstaub
oder Kompost. Diese zufällige Auswahl er­
brachte zu einem großen Teil komplett neue
Virusgene, die mit keiner bekannten viralen
Gensequenz vergleichbar waren. Zudem lie­
ßen die Daten darauf schließen, dass die Pha­
gen Teile ihres Genoms stückweise austau­
schen, neu zusammensetzen (rekombinieren)
und darüber hinaus ihre Erbinformation mit
derjenigen des Wirts vermischen.
Geschätzt gibt es etwa 1031 BakteriophagenPartikel auf der Erde, wobei pro Sekunde etwa
Systembiologie
Die Systembiologie versucht, biologische Organismen in ihrer Gesamtheit zu
verstehen. Das Ziel ist, ein
integriertes Bild aller regulatorischen Prozesse über
alle Ebenen, vom Genom
über das Proteom zu den
Organellen bis hin zum Verhalten und zur Biomechanik
des Gesamtorganismus zu
bekommen. Wesentliche
Methoden zu diesem Zweck
stammen aus der System­
theorie und ihren Teilgebieten. Da aber die mathematisch-analytische Seite der
Systembiologie nicht perfekt
ist, kommen als Forschungsmethoden häufig Computersimulationen und Heuristi­
ken zum Einsatz.
57
Corbis / MedNet / Michael Freeman
Schwerpunkt: Viren
Das Hepatitis-B-Virus ist Ursache einer
der weltweit häufigsten Virusinfektionen.
Metagenomik
Die Metagenomik beschreibt
die gesamte Geninformation einer Viruspopulation
(oder anderer Mikroorganismen), die in einem bestimm­
ten Lebensraum existiert.
Bei den untersuchten Lebensräumen kann es sich
zum Beispiel um Bodenproben aus einem bestimmten
Biotop, um die Tiefsee, aber
auch um den menschlichen
Darm handeln.
Entscheidend ist, dass die
DNA- oder RNA-Sequenz­
informationen ohne selekti­
ve Anreicherungsverfahren
direkt aus der Probe gewonnen werden und damit der
dort ursprünglich vorhande­
nen Verteilung entsprechen.
Moderne Methoden ermög­
lichen die parallele Analyse
vieler tausender einzelner
Genfragmente – innerhalb
weniger Stunden können so
etwa 500 000 Basenpaare
genetischer Information
entschlüsselt werden.
Datenbankvergleiche helfen,
die gewonnenen Informa­
tionen zu klassifizieren und
bekannten Organismen
zuzuordnen – ein Großteil
der erhaltenen Sequenzen
ist jedoch völlig neuartig.
Da dieses Verfahren keine
Anreicherung der Viren über
Kultivierungsmethoden erfordert, ergibt sich ein unverfälschtes und vollständiges Bild einer komplexen
Population.
58 1024 neue Partikel produziert werden. Der weit­
aus größte Teil dieser Viren dürfte infolge von
Fehlern in der Replikation oder Rekombina­
tion nicht vermehrungsfähig sein, die anderen
bereichern jedoch die genetische Vielfalt im­
mer weiter. Mit jeder neuen Infektion wächst
die Zahl der Rekombinationsereignisse, und
dies vermutlich seit drei Milliarden Jahren.
Das genetische Reservoir der Virosphäre –
der Gesamtheit aller Viren – enthält somit ein
enormes evolutionäres Potenzial, das durch Re­
kombination und Gentransfer die Evolution
vorantreibt. Zahllose neuartige Proteine oder
Proteinvarianten bieten gewaltige und weit ge­
hend unausgeschöpfte Möglichkeiten für die
nutzbringende Anwendung. Vor diesem Hin­
tergrund und angesichts der Bedeutung von
Viren für die Biologie jenseits ihrer Rolle als
Krankheitserreger erscheint die weit gehende
Beschränkung der Virusforschung in Deutsch­
land auf medizinische Einrichtungen an Uni­
versitäten zu einseitig und falsch. Forschung
an bisher noch unbekannten Viren und die
Nutzung der dort beobachteten erwünschten
Eigenschaften versprechen auch wissenschaft­
lichen und wirtschaftlichen Nutzen. Virologie
sollte daher neben der Medizin auch in den
Biowissenschaften und in der außeruniversi­
tären Forschung stärker verankert sein.
Es leuchtet ein, dass eine so häufige und
vielfältige »Lebensform« unsere Ökosysteme
mitgestaltet und einen erheblichen Beitrag zu
deren Funktionieren leistet. So spielen Viren
vermutlich eine wesentliche Rolle bei der Re­
gulation des Kohlenstoff-, Stickstoff- und
Phosphatkreislaufs. So genannte lytische Vi­
ren, deren Vermehrung mit dem Tod ihrer
Wirtszelle verbunden ist, sollen für das Ab­
sterben von bis zu 80 Prozent der Mikroorga­
nismen in Tiefseesedimenten verantwortlich
sein; ebenso für deren Regeneration, wobei
die »Leichenreste« anderen Mikroben als
Nährstoffquelle dienen. Diese wiederum ma­
chen etwa ein Zehntel der lebenden Biomasse
unseres Planeten aus. Dabei werden jährlich
über 600 Millionen Tonnen Kohlenstoff in
den Kreislauf der Tiefsee zurückgeführt. Das
belegt, wie Viren Ökosysteme entscheidend
beeinflussen können.
Eine überraschende Perspektive eröffnen
neuere Untersuchungen an Herpesviren, die
hauptsächlich als Lippen- und Genitalherpes
bekannt sind. Ein krank machender Erreger
kann hier nicht nur global, sondern direkt für
den infizierten Wirt Vorteile bringen.
Herpesviren können beim Menschen ver­
schiedene Infektionskrankheiten auslösen –
von lästigen Lippenbläschen über Windpo­
cken und Pfeiffersches Drüsenfieber bis hin
zur schweren Schädigung von Neugeborenen
oder einer tödlichen Gehirnentzündung. Cha­
rakteristisch für Mitglieder dieser Virusfamilie
ist, dass sie nach der Infektion einen dauer­
haften Ruhezustand im Organismus des Wirts
einnehmen, die so genannte Latenz; da sie
sehr weit verbreitet sind, trägt praktisch jeder
Erwachsene verschiedene latente Herpesviren
in sich. Jahre nach der Erstinfektion können
diese erneut aktiviert werden, zum Teil wieder
begleitet von unangenehmen bis schweren
Krankheitssymptomen wie etwa der Gürtel­
rose – ganz offensichtlich unvorteilhaft für
uns. Forschungen an einem Mäuse-Herpes­
virus haben jedoch eine überraschende »Ne­
benwirkung« des Erregers aufgezeigt: das Im­
munsys­tem von latent infizierten Mäusen war
deutlich aktiviert. Mäuse mit schlummernden
Herpes­viren konnten dadurch verschiedene
Bakterien – etwa den Pesterreger Yersinia –
besser abwehren als gesunde Mäuse.
Demnach könnten wir von diesen ansons­
ten schädlichen und unerwünschten latenten
Viren sogar profitieren. Die Symbiose mit ei­
nigen dieser Erreger bildet möglicherweise ei­
nen Stützpfeiler unseres Immunsystems. Das
ändert nichts an der Tatsache, dass es äußerst
sinnvoll und unbedingt notwendig ist, mög­
lichst viele Menschen gegen gefährliche Krank­
heitserreger zu impfen und einzelne Pathogene
ganz auszurotten. Dies gelang in den 1970er
Jahren durch die Pockenimpfung und wird
derzeit für Polio- und Masernvirus angestrebt.
Eine völlige Ausrottung aller Viren unserer
Spezies – aus heutiger Sicht ohnehin nicht vor­
stellbar – würde jedoch nicht nur in die Evo­
lution generell, sondern womöglich auch in
die Entwicklung und Funktion des Immunsys­
tems des einzelnen Menschen eingreifen.
Erkenntnisse der Paläovirologie
Virologie ist eine vergleichsweise junge Diszi­
plin – der erste einschlägige Lehrstuhl an ei­
ner deutschen Universität wurde 1964 in Gie­
ßen etabliert. Viren dagegen sind vermutlich
genauso alt wie ihre jeweiligen Wirte und
spielten in deren Evolution eine entscheiden­
de Rolle. Spannende Erkenntnisse hierzu lie­
fert die Paläovirologie. Da ein Virusgenom
viel kleiner und viel besser verstanden ist als
das eines Dinosauriers, ist der virologische
»Jurassic Park« heute schon Realität: Viren aus
früheren Zeiten können im Labor »wiederbe­
lebt« werden. Dies hat 2005 nach der Rekon­
struktion des Erregers der Spanischen Grippe
aus konservierten Patientenproben zu einer
heftigen Diskussion geführt.
Einerseits birgt die Erweckung eines ausge­
storbenen Seuchenerregers offensichtlich Si­
cherheitsrisiken, die sehr genau kontrolliert
werden müssen. Andererseits lässt sich nur
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · August 2009
Medizin & Biologie
Influenzavirus – ein variables Ziel für das Immunsystem
Neuraminidase
N2
Antigen-Drift
Antigen-Shift
plötzliche starke
Veränderungen der
Hüllproteine durch
Reassortment
=> Pandemie möglich
Hämagglutinin
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · August 2009
N2
H2
durch solche Untersuchungen verstehen, was
dieses Virus so gefährlich machte. »Fossilien«
noch wesentlich älterer Viren sind Teil des
Genoms eines jeden Säugetiers. Retroviren, zu
denen auch das Humane Immundefizienz-Vi­
rus HIV gehört, bauen ihre Erbinformation
in das Genom der Wirtszelle ein, wo es als
fester Bestandteil an die Tochterzellen – und
bei Infektion von Keimzellen an die nachfol­
gende Generation – weitergegeben wird.
Auch wenn das virale Genom durch Muta­
tion unbrauchbar wird, bleibt es so über Jahr­
tausende konserviert. Im Lauf der Evolution
haben sich im Erbgut aller Arten unzählige
solcher viralen Elemente angesammelt, die
mit dem Wirt evolvieren und dessen Entwick­
lung beeinflussen. Durch sie können Gene
zerstört oder aktiviert oder Genabschnitte neu
gemischt werden. So glauben Forscher, dass
die verstärkte Sekretion des Enzyms Amylase
im Speichel (nützlich, um die Stärkemoleküle
im Getreide zu verdauen, und somit für die
Entwicklung einer Ackerbaukultur) auf Retro­
viren zurückzuführen ist. Relikte retroviraler
Erbinformation machen knapp zehn Prozent
unseres eigenen Genoms aus. Weitere 30 Pro­
zent existieren dank eines Enzyms der Retro­
viren. Kürzlich konnte sogar ein viele hun­
derttausend Jahre altes menschliches Retrovi­
rus rekonstruiert und im Labor vermehrt wer­
den; es gab Aufschluss über die Entwicklung
eines angeborenen menschlichen Abwehrme­
chanismus.
Für alle Viren gilt, dass sie für ihre Ver­
mehrung auf eine Wirtszelle angewiesen sind
und deren Funktionen nutzen oder verän­
Spektrum der Wissenschaft, nach: H.-G. Kraeusslich und B. Müller
ständige kleinere
Veränderungen der
Hüllproteine durch
Mutation
=> Epidemie möglich
N1
H3
H3
dern. Diese Tatsache erschwert die Entwick­
lung von Substanzen, die Viren bekämpfen.
Nach ersten zufällig entdeckten solcher Stoffe
hat sich die Forschung in den letzten 20 Jah­
ren vor allem auf virale Enzyme konzentriert.
Viele verfügbare Virostatika hemmen zum
Beispiel gezielt eine vom Virus mitgebrachte
Polymerase, welche die Vermehrung der Erb­
information der Viren bewirkt. Die For­
schung führte zu über 20 Wirkstoffen gegen
spezifische Enzyme des HI-Virus. Sie bilden
heute die Grundlage der erfolgreichen Thera­
pie von Aidspatienten. Andere Wirkstoffe
wurden gegen Enzyme von Herpes- und In­
fluenzaviren entwickelt und stehen – wie im
Fall des Hepatitis-C-Virus HCV – kurz vor
der Markteinführung. Bei allen Erfolgen hat
diese Strategie jedoch grundsätzlich Grenzen.
Die meisten Viren verfügen nämlich nur über
eine kleine Anzahl von Schlüsselenzymen, die
sich mit antiviralen Wirkstoffen attackieren
lassen. Auch müssen diese Medikamente im­
mer speziell für den jeweiligen Erreger entwi­
ckelt werden, so dass uns keine Breitbandviro­
statika (analog zu den Breitbandantibiotika)
zur Verfügung stehen. Und, vielleicht die
größte Schwierigkeit: Virusgenome verändern
sich sehr schnell, weswegen sich rasch Resis­
ten­zen entwickeln.
Vor diesem Hintergrund suchten Forscher
nach neuen Möglichkeiten, in den Zellen be­
stimmte Funktionen zu hemmen, ohne die
sich das jeweilige Virus nicht vermehren
kann. Auch wollten sie darin Moleküle auf­
spüren, die von mehreren Virusfamilien be­
nötigt werden. Wirkstoffe, die so in das zellu­
Cynthia Goldsmith
Zwei verschiedene Mecha­
nismen tragen dazu bei, dass
sich die Oberfläche von In­
fluenzaviren laufend verändert. Fehler beim Kopieren
der Erbinformation bewirken,
dass die Oberflächenproteine
Hämagglutinin und Neura­
mini­dase vom Immunsystem
nicht gut erkannt werden
(Antigen-Drift). Außerdem
können zwei Influenzaviren,
die die gleiche Zelle befallen,
Teile ihrer Erbinformation
un­tereinander austauschen.
So können Virustypen mit
veränderter Oberfläche entstehen (Antigen-Shift).
Influenzaviren
Die Influenza, auch echte
Grippe genannt, ist eine
durch Viren aus den Gattun­
gen Influenzavirus A oder B
ausgelöste Infektionskrankheit bei Menschen, anderen
Säugetieren sowie Vögeln.
Influenzaviren sind gekennzeichnet durch die Oberflächenproteine Hämagglutinin
(»H«) und Neuraminidase
(»N«). Bisher sind vom HProtein des Influenza-A-Virus 16 Subtypen identifiziert
worden, vom N-Protein sind
neun Varianten bekannt. Das
seit Jahren kursierende gefährliche Vogelgrippevirus
hat den Typ H5N1, der Erreger der Spanischen Grippe
von 1918/19 hatte, wie der
jetzige Erreger der Neuen
Grippe, den Typ H1N1.
59
Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg
Schwerpunkt: Viren
Nobelpreis
für die Virologie
Für Entdeckungen aus der
Virologie wurde insgesamt
22-mal der Nobelpreis verliehen, zuletzt im Jahr 2008
an Françoise Barré-Sinoussi
und Luc Montagnier für die
Entdeckung von HIV sowie
an Harald zur Hausen (oben)
für die Entdeckung bestimmter Papillomviren, die
ursächlich an der Entstehung ver­schiedener Krebsarten beteiligt sind.
läre Geschehen eingreifen können, hätten
zwei Vorzüge:
➤ Sie würden das Problem der raschen An­
passung des Erregers umgehen.
➤ Sie würden nicht nur gegen ein Virus, son­
dern möglicherweise gegen eine ganze Grup­
pe wirken – und vielleicht sogar gegen neu
auftretende, bisher noch unbekannte Viren.
Das setzt natürlich die genaue Kenntnis der
wesentlichen Wirtsfaktoren voraus, die sich Vi­
ren zu Nutze machen. Hier steht die Forschung
erst am Anfang. So ist derzeit mit einem Wirk­
stoff, der den Zugang von HIV zur Zelle blo­
ckiert, indem er ein Protein auf deren Oberflä­
che bindet und vor dem Erreger verbirgt, erst
ein gegen zelluläre Funktionen gerichteter an­
tiviraler Wirkstoff zugelassen. Eine Substanz,
die das für die Vermehrung des HCV notwen­
dige Zellprotein Cyclophilin hemmt, durch­
läuft zurzeit die klinischen Prüfung.
In der Vergangenheit wurden einzelne zel­
luläre Faktoren, die für eine bestimmte Funk­
tion eines Erregers eine Rolle spielten, eher
zufällig oder anhand ihrer direkten Wechsel­
wirkung mit viralen Proteinen entdeckt. Mit
neuen Ansätzen der Systembiologie wird da­
gegen die gesamte genetische Ausstattung der
Wirtszelle auf ihre Bedeutung für die Virus­
vermehrung überprüft (siehe Info S. 57).
Warum das HI-Virus nur Menschen befällt
Das angeborene Immunsystem, das zunehmend als wichtiger Faktor in der
Kontrolle von Infektionserkrankungen erkannt wird, wurde von Viren mit geformt. Ein Teil der angeborenen Abwehr ist wohl darauf angelegt, Retrovirus­
infektionen zu kontrollieren. So genannte Restriktionsfaktoren, die unabhängig
von einer Infektion in Zellen vorliegen, greifen dazu gezielt ganz bestimmte
Funktionen eines Retrovirus an. So gibt es zum Beispiel in Rhesusaffenzellen
den Faktor TRIM5, der eine Infektion mit HIV verhindert.
Zunächst erscheint rätselhaft, wieso Zellen schon viele Jahrtausende vor der
Entstehung von HIV ein schützendes Protein dagegen entwickelt haben sollten.
Eine mögliche Erklärung liefert die Paläovirologie: Das Genom von Schimpansen und Gorillas enthält über 100 defekte Kopien eines drei bis vier Millionen
Jahre alten Retrovirus, von dem wir verschont blieben, obwohl unsere Vorfahren mit dem Virus in Kontakt gekommen sein müssen. Schutz vor diesem Virus
verleiht eine menschliche Variante von TRIM5, die sich möglicherweise zur Abwehr dieses Erregers entwickelt hat. Leider bewirkt die evolutionäre Spezialisierung der menschlichen TRIM5-Proteine offenbar, dass diese eine Infektion
mit neuzeitlichen Retroviren wie HIV nicht eindämmen können.
Es ist zwar vorstellbar, dass sich menschliche Restriktionsfaktoren durch
den Selektionsdruck der tödlichen Erkrankung an das HI-Virus anpassen und so
im Lauf der Evolution eine natürliche Resistenz ausbilden. Da sich solche Vorgänge über viele Generationen entwickeln, hilft uns das aktuell wenig. Darüber
hinaus wird heute der Einfluss pathogener Infektionserreger auf die natürliche
Evolution durch medizinische und kulturelle Entwicklungen – wie Prävention,
Therapie oder Impfung – weit gehend außer Kraft gesetzt. Die Ziele der angeborenen Abwehr zeigen uns jedoch natürliche Schwachstellen des Erregers, die
man möglicherweise therapeutisch ausnutzen kann.
60 Hier geht es nicht um eine neue Modefor­
schung. Mit ihrem Blick auf das ganze Ge­
schehen einer Zelle versucht die Systembiolo­
gie vielmehr mit interdisziplinären Methoden
zwischen Molekularbiologie und Bioinforma­
tik neue Zugänge zu den komplexen Prozes­
sen zu gewinnen. Viele meiner Kollegen und
ich sehen darin eine neue Chance, schweren
Erkrankungen zu begegnen. Der Systemansatz
trägt bereits erste Früchte: Forscher konnten
in Laborversuchen jeweils mehrere hundert
zelluläre Gene identifizieren, die für die Ver­
mehrung bestimmter Viren eine Rolle spielen:
so bei HIV, HCV, dem Influenza- sowie dem
West-Nil-Virus. Die Analysen beschränken
sich nicht auf die Rolle der proteinkodieren­
den Gene der Wirtszelle. Auch die erst in
jüngster Zeit entdeckten regulatorischen mi­
kro-RNAs scheinen in einigen Fällen die Vi­
rusvermehrung zu beeinflussen und werden
dementsprechend systematisch untersucht.
Viren und zelluläre Netzwerke
Was geschieht mit dieser Unmenge von Mess­
daten? Hier kommen die Bioinformatiker ins
Spiel. Mit Hilfe schneller Rechner und Spezi­
alsoftware pflügen sie sich durch die Datenge­
birge und ordnen die gefundenen Gene zellu­
lären Funktionskreisen zu. Diese können
dann systematisch auf ihre Bedeutung für den
jeweiligen Erreger getestet und als Ziele für
antivirale Medikamente ins Auge gefasst wer­
den. Viele Viren nutzen ähnliche Wege, um
in Zellen einzudringen oder sie zu verlassen.
Das Potenzial scheint für Breitbandvirostatika
also durchaus real. Dabei muss man – wie bei
allen zellulären Zielen – damit rechnen, dass
Zellen geschädigt werden und Nebenwir­
kungen auftreten. Trotz großer Hoffnungen
in diese Verfahren werden sich Erfolge nicht
über Nacht einstellen. Langfristig aber kön­
nen wir durchaus mit völlig neuartigen, anti­
viralen Medikamenten rechnen.
Umgekehrt lassen sich Viren auch als Werk­
zeug zur Untersuchung zellulärer Netzwerke
einsetzen. Die von Viren für ihre Vermehrung
genutzten zellulären Funktionen sind in kom­
plexen Netzwerken organisiert, sowohl inner­
halb der Zelle wie auch im Zell- und Gewebe­
verband. Die molekulare Wirkungsweise zellu­
lärer Netzwerke lässt sich also verstehen, in­
dem man die Funktionen untersucht, auf die
Viren zugreifen. Durch systematisches Aus­
schalten einzelner zellulärer Gene kann deren
Einfluss auf die Virusvermehrung getestet wer­
den. So gewinnt man riesige Datenmengen,
die anschließend mit Methoden der Bioinfor­
matik ausgewertet werden und die Grundlage
für die mathematische Modellierung und Si­
mulation biologischer Prozesse liefern.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · August 2009
Medizin & Biologie
Neben diesen Fortschritten im Kleinsten
steht auch unser Verständnis der Virusinfek­
tion im lebenden Organismus, in vivo, und in
der Population vor neuen Erkenntnissen.
Selbst unter gut kontrollierten Bedingungen
mit identischen Erregern und genetisch ho­
mogenen Mäusen variiert die Virusmenge im
Blut verschiedener Tiere um mehrere Größen­
ordnungen.
Offensichtlich wird der Infektionsverlauf
nicht nur durch reproduzierbare molekulare
Interaktionen definiert, sondern auch durch
zufällige Ereignisse moduliert. Neue Tier­
modelle und prospektive Untersuchungen des
Infektionsverlaufs am Menschen bieten einen
Zugang zu diesen Fragen, doch erst der Ein­
satz der mathematischen Modellierung und
Simulation kann ein Verständnis des kom­
plexen Infektionsgeschehens in vivo ermög­
lichen.
Auch die gezielte Nutzung viraler Prinzi­
pien steht heute noch ganz am Anfang. Hier­
bei stehen besonders zwei Fähigkeiten der Vi­
ren im Vordergrund:
➤ die selbsttätige Organisation von einfachen
Bausteinen in sehr regelmäßige Nanostruk­
turen;
➤ die Verpackung von spezifischer gene­
tischer Information und deren gezielte Ein­
schleusung in eine Zelle.
Damit bieten Viren ideale Eigenschaften
für die sich entwickelnden Disziplinen der
Nanotechnologie und der Synthetischen Bio­
logie. Verschiedene Anwendungen sind vor­
stellbar, etwa die Erzeugung regelmäßiger Na­
nostrukturen aus umweltfreundlichem Pro­
tein- oder Nukleinsäurematerial. Außerdem
könnten Nanopartikel als Container etwa zur
Verpackung von Medikamenten dienen.
Die Merkmale von Viruspartikeln lassen
sich zudem mit Standardverfahren gezielt oder
durch Evolution im Reagenzglas verändern.
Ein Beispiel ist die Oberflächenladung der Vi­
ren. In Experimenten wurden Bakteriophagen
so modifiziert, dass sie Metalle auf ihrer Ober­
fläche binden und als Nanodrähte oder als
Windungen in winzigen Batterien eingesetzt
werden können. Die Erzeugung künstlicher
Viren dagegen gehört zu den Technologien,
die teilweise umstritten sind und deren Ent­
wicklung diskutiert werden muss. Sollte es zu­
künftig möglich werden, Viren mit definier­
ten Eigenschaften nach einen Baukastenprin­
zip zu konstruieren, würde dies schließlich
auch bedrohliche Anwendungen wie Biowaf­
fen erschließen.
Natürlich geht es den Virologen um sinn­
volle Anwendungen, etwa in der so genann­
ten somatischen Gentherapie. Dabei würden
synthetische Viren ausschließlich eine spezi­
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · August 2009
elle erwünschte Eigenschaft auf einen ganz
bestimmten Zelltyp eines Patienten übertra­
gen, nicht aber auf die Geschlechtszellen –
­somit würden die eingeschleusten Gene nicht
weitervererbt. In der Impfstoffentwicklung
wird eine vereinfachte Form künstlicher Viren
bereits erfolgreich eingesetzt: die Impfstoffe
gegen Hepatitis B und Papillomvirus-Infek­
tionen.
Dabei handelt es sich um virusähnliche
Partikel, die aus gentechnisch hergestellten
Hüllproteinen der betreffenden Viren zusam­
mengesetzt sind. Das Verfahren ist sicher: Da
diese Kunstgebilde keinerlei Erbinformation
des Erregers enthalten, können sie sich nicht
vermehren und keinesfalls eine virusbedingte
Erkrankung auslösen.
Wie also sieht die Zukunft der jungen
Wissenschaft Virologie aus? Sie entwickelt
sich mit den Erregern und mit dem Spektrum
der Disziplinen, die ihr neue Methoden und
wissenschaftliche Ansätze zur Verfügung stel­
len. Gleichzeitig bereichert die Erforschung
der Viren unsere biologische Erkenntnis durch
deren enorme Vielfalt. Viren zeigen uns, wie
man komplexe biologische Probleme mit ein­
fachen Mitteln löst.
Trotz der atemberaubenden Fortschritte in
der Genomanalyse sind wir weit davon ent­
fernt, alle Viren unseres Planeten zu kennen.
Wir werden noch viele Überraschungen erle­
ben: unbekannte Seuchen, grundlegende Er­
kenntnisse in der Biologie, revolutionäre me­
dizinische und technologische Anwendungen.
Sie werden unser Bild von der belebten Natur
bereichern und neues Licht auf die rätselhafte
Entstehung des Lebens auf der Erde werfen.
Die winzigen Viren werden noch für lange
Zeit die großen Unbekannten bleiben.
Hans-Georg Kräusslich ist Professor für Virologie und Direktor der
Abteilung Virologie am Hygiene-­
Institut der Universität Heidelberg.
Er ist Sprecher des Sonderforschungsbereichs »Kontrolle tropi­
scher Infektionskrankheiten«, des
DFG-Schwerpunktprogramms
»Dynamik zellulärer Membranen
und ihre Ausnutzung durch Viren«
sowie des Exzellenzclusters
»Cellular Networks«. Er ist Mitglied
der Deutschen Akademie der
Naturforscher Leopoldina und der
Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Müller, B., Kräusslich, H.-G.:
Wo bleibt die nächste Pandemie?
Spektrum der Wissenschaft 4/2008,
S. 78 – 82.
Weblinks zu diesem Thema
finden Sie unter www.spektrum.de/
artikel/999552.
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