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Wolfgang Neumann
Das Jenseits im Diesseits
Die Heiligen im volkstümlichen Islam
und die islamische Mystik
I.
Der berühmte Mystiker Hallaj, erzählt man, hob einst die Hand
gen Himmel, zog sie wieder zurück und hielt – zur Verwunderung
der Umstehenden – einen Apfel in der Hand. Er bot den Apfel
seinen Begleitern an. Man betrachtete ihn ergriffen. „Da ist ja ein
Wurm drin“, meinte einer erstaunt. „Das ist so“, sagte Hallaj,
„weil er beim Übergang vom Reich des Ewigen in das Reich des
Vergänglichen etwas von der Verderblichkeit des letzteren angenommen hat.“ Und man bewunderte noch mehr die Antwort als
das Wunder selbst. (Dermenghem 1954:12)
Was in dieser humorvoll skeptischen Anekdote zur Sprache
kommt, soll hier ebenfalls Thema sein: Jenseits und Diesseits in
ihrer wechselseitigen Beziehung, Heilige und Mystiker als Mittler
zwischen diesen Bereichen.
Von der Heiligenverehrung im Islam ausgehend, werden wir zu
alten, fast universell verbreiteten kosmologischen Vorstellungen
gelangen und von da den Bogen zu Jenseitsvorstellungen in der
islamischen Mystik schlagen, die uns gewissermaßen ein Erklärungsmodell für die beschriebenen Anschauungen liefern.
II.
Die dem Islam eigentümliche Perspektive, unter der er das Verhältnis Gott und Welt, Jenseits und Diesseits betrachtet, zeigt sich
bereits im „Zeugnis“ (shahadah), dem ersten der sogenannten
„fünf Pfeiler“ (arkan) des Glaubens. Es besteht eigentlich aus
zwei Teilen, zwei Aussagen. Das erste Zeugnis, die erste Shaha-
1
dah lautet: „Es gibt keine Gottheit außer Gott“ (La illaha illa
Llah). Der zweite Satz, die zweite Shahadah fügt hinzu: „Muhammad ist der Gesandte Gottes“ (Muhammadun rasulu Llah).
Mit der ersten Shahadah wird die Einzigkeit Gottes betont,
seine Unvergleichlichkeit. Diese „Entrückung“ (tanzih) Gottes,
seine Jenseitigkeit, hat zur Folge, dass die Welt im Angesicht
Gottes ihre vermeintliche Selbstständigkeit verliert: „Und rufe
nicht neben Gott eine andere Gottheit an. Es gibt keine Gottheit
außer Ihm. Alle Dinge vergehen außer Seinem Angesicht. Ihm ist
das Gericht, und zu Ihm kehrt ihr zurück.“ (Koran, Sure 28: 88)
Der unbedingten Transzendenz entspricht als Gegenstück die
Immanenz, das Hineinwirken Gottes in die Welt und seine Gegenwart in ihr. Darauf bezieht sich das zweite Zeugnis. Muhammad ist eine Verbindung zwischen Gott und der Welt. Er ist der
Gesandte, dem in der „Nacht der Macht“ (Sure 97) der Koran
erstmals offenbart wurde; er ist das Instrument, dessen sich Gott
bediente, um in die Welt hineinzuwirken. Eine Verbindung aber
nicht nur von oben nach unten: Der Abwärtsbewegung der Offenbarung entsprechen im umgekehrten Sinne die Geschehnisse während der „Nachtfahrt“, die Muhammad in Begleitung des Erzengels Gabriel von Mekka nach Jerusalem und von dort in den
Himmel unternahm.
Muhammad hat seine Vermittlerrolle mit bescheidenen Worten
beschrieben: „Nicht spreche ich zu euch: Bei mir sind Gottes
Schätze, und nicht: Ich weiß das Verborgene. Auch spreche ich
nicht zu euch: Ich bin ein Engel; ich folge nur dem, was mir geoffenbart wurde.“ (Sure 6:50) Oder: „Ich vermag nichts über das,
was mir frommt oder schadet, es sei denn wie Gott will.“ (Sure
7:188) Und an anderer Stelle: „Preis meinem Herrn! Bin ich mehr
als ein Mensch, ein Gesandter?“ (Sure 17:93)
In dieser Haltung, Gott alle Macht zuzuschreiben, drückt sich
die Grundeinstellung des Islam aus, der der Bedeutung des Wortes
Islam nach ja „Ergebenheit, Unterwerfung“ unter Gott ist.
2
Andererseits ist der Prophet ein Erwählter und hebt sich dadurch von den anderen Menschen ab. In ihm wirkt der offenbarende Aspekt Gottes in einer solch vollkommenen Weise, dass auch
die vorangegangenen Propheten deutlich hinter ihm zurückstehen.
Ihre Botschaften enthalten nach muslimischer Auffassung nur
Teile der ganzen Wahrheit, Muhammad aber stellt die ursprüngliche, abrahamische Religion wieder her. Er ist das Siegel (khatam)
der Propheten (Sure 33:40), d.h. derjenige, der die Reihe der Propheten zum Abschluss bringt. Nach ihm ist keine Offenbarung im
strengen Sinne mehr möglich.
Die große Verehrung, die dem Propheten innerhalb der muslimischen Glaubenswelt entgegengebracht wird und ihn zum ersten
und höchsten Heiligen macht, versteht sich daher von selbst. Er ist
das große Vorbild. Die Sunna, die „Gewohnheit“ des Propheten
gilt als Maß der Lebensführung, und früh schon wurde das Grab
Muhammads in Medina zur zweitwichtigsten Wallfahrtsstätte
nach der Kaaba; man glaubt, dort sei der Segen des Propheten in
besonderem Maße präsent.1
Letztlich führte die Höherstellung des Propheten und seine
Beleihung mit wunderbaren und magischen Eigenschaften zur
Identifizierung Muhammads mit dem ersten Intellekt, dem „allheitlichen Menschen“ (al-insan al-kamil). Nach einer Überlieferung soll Muhammad gesagt haben: „Ich war bereits ein Prophet,
als Adam zwischen Lehm und Wasser war.“ (Izutsu 1966: 228;
Wensinck 1916: 21)
Am nachhaltigsten wirkten solche Anschauungen in der islamischen Mystik, so z.B. im berühmten Gebet auf den Propheten des
Ibn Mashish (gest. 1228), in den Werken Ibn Arabis (1165-1240)
1
Auch den Haaren des Propheten und seinen Kleidern sagt man besondere Segenskräfte nach. Von Khalid Ibn al-Walid wird z.B. berichtet, er habe sich, wenn
er in den Krieg zog, Haare des Propheten in seine Mütze gesteckt, um sich unverwundbar zu machen. Von Mu‘awiya I. heißt es, er habe sich in einem Gewand
des Propheten begraben lassen und außerdem verfügt, man solle ihm Haare des
Propheten in Nasenlöcher, Ohren und Mund stecken. (Goldziher 1971:358)
3
und Abd al-Karim al-Jilis (1366-1410), der in seinem Buch AlInsan al-Kamil schrieb:
„Der allheitliche Mensch ist der Pol (qutb), um den sich die Sphären der Existenz drehen, von der ersten bis zur letzten. Und er ist
eins, solange die Existenz dauert. Er hat verschiedene Formen und
erscheint in verschiedenen Kulten, so dass er verschiedene Namen
erhält. Sein eigentlicher Name ist Muhammad ... In jedem Zeitalter trägt er einen Namen, der seiner Erscheinung in diesem Zeitalter entspricht.“ (Trimingham 1971: 163; Burckhardt 1953: 23)
III.
Wenn auch nach muslimischem Glauben die Reihe der möglichen
Propheten mit Muhammad zu einem Abschluss gekommen ist, ist
doch die Notwendigkeit einer weiteren Vermittlung zwischen
„Himmel“ und „Erde“ damit nicht aufgehoben. Da alle Geschehnisse letztlich von „oben“ bestimmt werden, wendet man sich an
diejenigen, die mit dem oberen Seinsbereich in Verbindung stehen
und dessen positive Macht übermitteln können, und dies sind nach
einer im Islam weit verbreiteten Auffassung die Heiligen.2
Die Heiligen sind in ihrem Wirken auf das Vorbild Muhammad, des höchsten Heiligen, ausgerichtet. Diese Verknüpfung mit
der Person des Propheten Muhammad erscheint um so bedeutsamer, als des öfteren von orientalistischer Seite eingewendet wurde,
die Popularität der Heiligen im Islam sei eigentlich ein unislamischer Wesenszug, der dem Nachdruck, der im Islam auf die
Transzendenz Gottes gelegt werde, entgegenstünde. Auch innerhalb des Islam gab und gibt es übrigens eine starke puritanische
Opposition gegen die Heiligenverehrung.
2
Das allgemeine Wort für „Heiliger“ ist wali; es leitet sich von wala, nahesein,
und waliya, herrschen, verwalten, jemanden verteidigen, her. Im gewöhnlichen
Sprachgebrauch bedeutet es Freund, Wohltäter.
4
Es ist allerdings richtig, dass die Form der Heiligenverehrung
im Wesentlichen präislamischen Ursprungs ist; dasselbe gilt aber
auch von der Kaaba, und man würde wohl kaum sagen, dass die
mit ihr verknüpften Riten dem Geist des Islam widersprechen.
Der Prophet wirkt im Glauben seiner Anhänger nicht nur als
geistiges Vorbild nach, an dem sich die Lebensführung und die
Tugenden der Heiligen orientieren. Die Wertschätzung, die man
Muhammad entgegenbringt, hat sich auch auf seine Nachkommen
übertragen, und man ist der Auffassung, der Segen, die Barakah,
mit der ihn Gott auszeichnete, habe sich, mehr oder minder stark,
auf sie vererbt. Man gibt einem solchen leiblichen Nachkommen
des Propheten den Beinamen Sharif, Edler. Ein Sharif hat in sich
also so etwas wie einen Abglanz der Heiligkeit Muhammads. Dies
allein genügt allerdings nicht, um aus ihm einen Heiligen zu machen; man ist aber eher geneigt, unter den Nachkommen des Propheten Heilige zu vermuten als unter „gewöhnlichen“ Leuten.
Umgekehrt besteht die Tendenz, einem allgemein anerkannten
Heiligen eine verwandtschaftliche Beziehung mit Muhammad
zuzuschreiben, um seinen Anspruch auf Heiligkeit auf diese Weise
sozusagen „offiziell“ abzusichern.
Den Heiligen wird gewöhnlich die Fähigkeit zugeschrieben,
Wunder zu tun. Sie bestehen u.a. darin, Kranke zu heilen, sich in
verschiedene Gestalten zu verwandeln, durch die Luft zu fliegen,
auf dem Wasser zu wandeln, Gedanken zu 1esen, es regnen zu
lassen, an zwei Orten zugleich zu sein usw., je unwahrscheinlicher
desto besser. Niemand ist im Übrigen gezwungen, an solche Wunder zu glauben. Neben einer extremen Vorliebe für das Wunderbare gibt es auch einen gewissen Skeptizismus, wie z.B. in der eingangs erwähnten Anekdote über Hallaj. „Wichtig ist nicht das
Wunder, sondern die Anekdote, die erzählerische Ausformung, die
zugleich ein Kunstwerk und eine Anspielung auf eine höhere Realität ist.“ (Dermenghem 1954:12)
Man kann zwischen Heiligen von nur lokaler Bedeutung, solchen, die bestimmten Berufsgruppen zugehören und allgemein
5
verehrten unterscheiden. In jedem Fall wird man Heiliger nicht
durch eine offizielle Heiligsprechung, sondern durch die spontane
Verehrung des Volkes, die sich denen zuwendet, die in seinen
Augen ein besonders frommes Leben führen. So haben viele Asketen, die sich von der Welt zurückzogen, oder solche, die das
Haupt einer sufischen Bruderschaft waren, den Heiligenstatus
erlangt. Auch die im Heiligen Krieg Gefallenen werden oft als
Heilige verehrt. Im Koran (Sure 2:154) heißt es über sie: „Sagt
nicht von denen, die auf dem Weg Gottes erschlagen wurden: Sie
sind tot! Nein! Sie sind lebend, aber ihr nehmt sie nicht wahr.“
Dies gilt von allen toten Heiligen: Sie sind auf geheimnisvolle
Weise lebendig und wirken aus ihrem Grab heraus. Man glaubt
deshalb auch, dass der Körper des Heiligen im Grab nicht verwese
und dass die Kräfte des Heiligen nach dem Tod eher zunehmen als
abnehmen. (Goldziher 1971, II: 323; Trimingham 1965: 141)
Im Unterschied zu den toten Heiligen können lebende Heilige
natürlich ein aktive Rolle im sozialen und politischen Leben spielen, und diese war früher von beträchtlicher Bedeutung.3 Vor allem wirkten sie vermittelnd und ausgleichend. Sie konnten dies,
weil sie als Zeugen einer überirdischen Instanz den Frieden, die
Gerechtigkeit und das Gleichgewicht verkörpern. Innerhalb ihrer
Wirkungssphäre, d.h. vor allem: innerhalb des Gebietes des Heiligtums, wo die Nachkommen des Ahnenheiligen oftmals wohnen,
werden sozusagen die Gesetze des Kampfes und des Widerspruchs
außer Kraft gesetzt.
Das Heiligtum ist deshalb der Ort, wo alle Waffen schweigen.
Es werden dort Streitfälle mit Hilfe der moralischen Autorität der
Heiligen geschlichtet, die Führer der verschiedenen Stammeseinheiten gewählt, Schwüre getätigt und Bündnisse geschlossen. Zum
Heiligtum flüchtet der Übeltäter und der Verfolgte, denn dort findet er ein Asyl, wobei die Sicherheit des Asyls allerdings von der
3
Siehe Dermenghem 1954, Geertz 1988, Gellner 1969, 1973, 1985.
6
Bedeutung des Heiligtums abhängt. Des weiteren gilt das Heiligtum als sicherer Aufbewahrungsort von Wertsachen.
Die Schutzfunktion hat sich auch auf den magischen Bereich
übertragen; so gibt es die Sitte, abgeschnittene Haare, Nägel und
ausgefallene Zähne beim Heiligtum zu deponieren, um sie dadurch
der Manipulierbarkeit durch Zauberer zu entziehen. (Trimingham
1965: 144)
Heiliger und Heiligtum sind in ihrer Wirkungsmächtigkeit
weitgehend austauschbar. Das Heiligtum stellt gewissermaßen im
Raum das dar, was der Heilige in der Zeit ausdrückt. Als heilige
Orte gelten Stellen, an denen der Heilige sich länger aufhielt, vielleicht auch nur rastete oder einfach jemandem im Traum erschien,
hauptsächlich aber seine Grabstätte. Die am weitesten verbreitete
Art des Grabbaus ist die Qubbah, ein Gebäude aus einem würfelförmigen Unterbau und einer sphärischen Kuppel als Dach, die
zusammen die Vereinigung von Himmel und Erde versinnbildlichen. (Westermarck 1926, I: 51ff; Burckhardt 1976: 93ff) Am
heiligen Ort wie auch in der Person des Heiligen ist sozusagen ein
Stück Himmel auf die Erde gekommen.
Diese Gegenwart des Himmels äußert sich im Segen, der Barakah, die zu erlangen sich die Gläubigen den Offenbarungen des
Heiligen vor allem nähern; denn ohne den Segen können die primärsten Lebensbedürfnisse wie die nach Nahrung, Gesundheit und
Nachkommenschaft nicht befriedigt werden.
Die Barakah ist nicht allein am Heiligtum anwesend, dort ist
sie nur besonders wirksam und konzentriert. Barakah ist etwas,
das alle Dinge durchströmt.4 Sie ist eine Kraft, die sowohl positiv
als auch negativ wirken kann. Wenn derjenige, der die Kraft erhält, ihr nicht gewachsen ist, kann sie ihn zerstören. Von einer
reinen Naturkraft unterscheidet sich die Barakah aber dadurch,
dass sie mit einer transzendenten Quelle in Verbindung steht und
4
Ausführliche Darstellung des Konzepts der Barakah bei Westermarck 1926,
1973 und Chelhod 1955.
7
letztendlich doch positiv wirkt, nämlich schöpferisch, vermehrend,
fruchtbarkeitsfördernd.
Dieser Aspekt zeigt sich in vielen Lebensbereichen; z.B. lässt
die Barakah die Früchte des Feldes wachsen; sie ist in ihnen gespeichert und zwar besonders im Samen und auch in dem Teil des
Getreides, den man noch eine Weile auf dem Feld stehen lässt,
damit sich die Barakah auf die Pflanzen des nächsten Jahres überträgt. In Olivenöl und Butter ist die Barakah so stark, dass sich
beide gelegentlich sogar von selbst vermehren. Auch Tiere wie
Pferde, Schafe, Kamele usw. sind Träger der Segenskraft.
Die Barakah ist auch für die menschliche Fruchtbarkeit verantwortlich; einer Frau, die Zwillinge gebiert, wird besonders viel
Barakah nachgesagt. Man trennt im Volksglauben im Übrigen
nicht zwischen menschlicher, pflanzlicher oder tierischer Fruchtbarkeit. Sie wird vielmehr als ein einheitliches Prinzip aufgefasst.
Die Barakah ist durch Berührung, Speichel, gemeinsames Essen oder auch durch einfachen Aufenthalt an einem heiligen Ort
übertragbar. Diese heiligen Orte haben Barakah nicht nur aufgrund
ihrer Assoziation mit einem Heiligen, sondern auch durch gewisse
Eigentümlichkeiten des Ortes selbst, durch die sie auf sinnbildliche Weise mit der Quelle aller Barakah verbunden sind.
In der folgenden Beschreibung der in einem serbischen Heiligtum vollzogenen Riten finden wir fast alle Elemente zusammen:
„Bei dem flachen Stein an der Säule stehend, betet der Bittsteller
um das, was er am meisten ersehnt und umarmt danach den Stein
so, dass sich seine Fingerspitzen berühren. ... Der Pilger ... füllt
nun ein Gefäß mit Wasser aus einer Quelle nahe bei dem Schrein
... und nimmt seinen Weg durch ein kleines, dorniges Wäldchen
einen Hügel hinauf, auf dem sich das muslimische Heiligengrab
innerhalb einer hölzernen Einzäunung befindet. Über dem Grabstein wächst ein dorniger Baum, an dem farbige Stoffetzen hängen
von kranken Pilgern dort angebracht ... In der Mitte des Grabes
befindet sich ein Loch, in das das Wasser aus der heiligen Quelle
8
geschüttet und mit der heiligen Erde vermischt wird. Davon trinkt
der Wallfahrer dreimal und schmiert dreimal etwas davon auf
seine Stirn.“ Dann umkreist er dreimal das Grab und küsst dabei
jedesmal den Kopf- und Fußstein des Grabes und berührt ihn mit
der Stirn. Nach der Opferung eines Tieres begibt sich der Pilger
wieder zu dem Schrein am Fuße des Hügels, wo eines seiner Kleidungsstücke um die heilige Säule gewickelt wird. Der Pilger verbringt dann die Nacht in Sichtweite des Steines, um dessen segnende Einflüsse auf sich wirken zu lassen. (Von Grunebaum 1976:
79f)
In der Beschreibung kommen als wichtige Kennzeichen des Heiligtums vor: das Grab, der Berg, der Baum, der Stein, die Quelle
und die Säule. Es fehlt nur die Höhle, um die Reihe der typischen
Merkmale zu vervollständigen. Nicht jedes Heiligtum vereinigt in
seinem Bereich all diese Elemente, doch gibt es kaum eines, bei
dem sich nicht wenigstens eines dieser Merkmale fände.
Im Folgenden nun einige Beispiele für diese Merkmale von
heiligen Stätten:
Auf einem Berg südlich von Tanger befindet sich das Grab des
Sidi Habib. Der Berg ist, so heißt es, zugleich der Ort, wo sich die
Heiligen von Ost und West treffen. (Westermarck 1926, I: 82)
Man sagt: „Wo sind die Heiligen? Sie sind auf den Bergen. Sie
wachen. Sie überblicken ihr Land, ohne es mit Füßen zu betreten.
Sobald sie eine Ungerechtigkeit bemerken, bemühen sie sich, sie
wieder gutzumachen.“ (Dermenghem 1954: 18) Auf dem Berg
Tigudern in Marokko befindet sich das Grab der Lalla Hajja. Leute, die sie besuchen, nehmen nichts zu essen mit, denn sie werden
dort auf wunderbare Weise genährt. (Westermarck 1926, I: 82)
Das Bild der Höhle ergänzt auf natürlich Weise das des Berges.
Oft ist eine Höhle das Grab eines Heiligen oder bezeichnet den
Ort, an den er sich zur Besinnung zurückzog. In eine Höhle hatte
sich Muhammad zurückgezogen, als ihm zum erstenmal der Koran
offenbart wurde. Erwähnt sei auch die 18. Sure des Korans, deren
9
Überschrift „Die Höhle“ sich auf die Siebenschläfer von Ephesus
bezieht, deren Geschick in dieser Sure erörtert wird. Man hat die
Sure die „Apokalypse des Islam“ genannt; es geht in ihr aber nicht
nur um ein endzeitliches Geschehen, sondern auch generell um
das Hereinbrechen einer göttlichen Zeit in die „natürliche“ Zeit,
und umgekehrt um das Heraustreten aus der natürlichen Zeit in die
göttliche; der Ort dieses Geschehen ist eben die Höhle.
Bäume als Zeichen des Heiligtums finden sich oft auf den Gipfeln der Berge. Ihr Wachstum gilt als Ausdruck der Macht des
Heiligen. (Goldziher 1971, II:310) Es gibt Bäume, die durch ihr
Grünen oder Austrocknen die An- oder Abwesenheit des Heiligen
anzeigen. (Dermenghem 1954: 138) Manchmal werden die Heiligen unter Bäumen begraben (Trimingham 1965: 142); auf jeden
Fall aber enthält der Baum ebenso wie der Heilige große Fruchtbarkeitskräfte. In Marokko fertigen Frauen, die sich Kinder wünschen, aus Tuch eine Wiege an, legen einen Stein hinein und hängen die Wiege an den Baum beim Heiligenschrein. (Westermarck
1973: 124) Man versucht auch, das Wachstum des Getreides günstig zu beeinflussen, indem man Körner an Bäumen befestigt.
(Westermarck 1926, I: 66ff) Von einem Baum bei Aleppo wird
berichtet: „Ein solcher Baum ..ist der Bitt-Altar der Wüste. Wenn
eine Frau sich ein Kind wünscht, wenn ein Bauer Regen wünscht
oder die Genesung eines kranken Pferdes oder Kamels u. dgl. m.,
so geht er zum... (Baum), reißt einen Fetzen von seinem Gewande
und hängt ihn auf einen Dorn des Baumes, oder wenn er von seinem zerfetzten Hemde keine Fetzen mehr sparen kann, nimmt er
einen Stein und deponiert ihn zu Füßen des ... (Baumes) oder
sucht ihn irgendwo zwischen den Zweigen zu befestigen.“ Von
einem anderen Baum heißt es, „dass der Samen dieses Baumes aus
dem Himmel gekommen sei. Darum sei er auch dem Propheten
geweiht, der diesem Baum von Zeit zu Zeit im Dunkel der Nacht
einen Besuch macht.“ Bei Mekka befand sich einst ein Baum an
dem, „70 Propheten die Nabelschnur abgeschnitten worden sei“.
(Goldziher 1971, II: 350f)
10
Was nun die Säule betrifft, so ist sie im Grunde nichts anderes
als ein künstlich gefertigter Baum und wie dieser der Ort spiritueller Einflüsse. In der Husainmoschee in Kairo gibt es eine Säule,
die nach dem Heiligen al-Badawi benannt ist, weil der nach dem
Volksglauben bei seinen häufigen Besuchen der Moschee vor
dieser Säule zu stehen pflegte. Die Säule wird als sehr heilig angesehen, man küßt sie und spricht die Fatiha, die erste Sure des Koran, vor ihr. (Goldziher 1971, II: 339)
In Analogie zur Säule steht der Stock; dieser ist sozusagen eine
bewegliche Säule. Typisch ist die Geschichte von Heiligen, die die
Nacht bei einer Quelle verbringen und neben sich einen Stock in
die Erde stecken. Am nächsten Morgen, wenn sie ihren Weg fortsetzen und ihren Stock nehmen wollen, ist er festgewachsen und
hat ausgetrieben. Oder der Heilige zieht mit seinen Schülern durch
unwirtliche Gegenden und steckt an einem Punkt seiner Wanderung seinen Wunderstab in die Erde, worauf dann Wasser aus der
Erde quillt und eine üppige Vegetation in der Wüste entsteht. In
einer solchen Oase wird dann die Zawiya (das heilige Zentrum)
des Heiligen gegründet. (Goldziher 1971, II: 294) Die fruchtbarkeitsspendende Funktion des Stabes wird auch deutlich in der
einstigen Gewohnheit von Frauen, in der Moschee von Koukou in
der Großen Kabylei den Stab des Sidi Ali in einem Loch hinundherzubewegen. (Dermenghem 1954: 128)
Dass Steine ebenfalls fruchtbarkeitsfördernd sind, ist aus dem
Vorangehenden teilweise schon deutlich geworden. Oft findet sich
bei dem Grab des Heiligen ein Stein, mit dem man sich zu diesem
Zweck den Genitalbereich reibt und den man auch benutzt um
eine trockene Waschung durchzuführen. (Dermenghem 1954: 122)
Es gibt auch Steinbänke, auf denen sich eine Frau, die schwanger
werden will, ausstreckt. Verbreitet sind Felsen mit einem Loch
oder einem gegrabenen Durchschlupf an der Unterseite. Kranke,
die wieder gesund werden wollen, oder Frauen, die sich Kinder
wünschen, müssen mehrmals durch die Öffnung kriechen. Kinder,
die ihren Eltern nicht gehorcht haben, Verfluchte und Sünder kön-
11
nen nicht hindurchkriechen und bleiben stecken. Die Vorstellung
von Durchgängen zwischen Steinen bzw. Felsen, in denen die
Unreinen und Sünder steckenbleiben, ist sehr populär. (Westermarck 1926, I: 68ff) Goldziher erwähnt einige solcher „gefährlichen Passagen“:
„Man kennt den ... (Glauben), der sich an ein Säulenpaar der
‘Amr-Moschee in Alt-Kairo (nächst des nördl. Tores) knüpft; nur
Rechtgläubige können durch den Raum zwischen demselben
durchschlüpfen ... Auch die Tür der Qubba des Imam ash-Shafi‘i
in der Qarafa öffnet sich nur rechtgläubigen Personen. Beim Grabe des heiligen ‘Abd as-Salam in Tanger befindet sich eine runde
Platte aus weißem Marmor, der sogenannte ‚Stein des Sprunges‘.
Der Wallfahrer, der über diesen Stein mit einem Satz zu springen
im Stande ist, wird als Gesegneter Gottes betrachtet; die Gottlosen
fallen darauf hin oder berühren ihn mit dem Fuße. In der Nähe
befindet sich auch der ‚Felsen des Fluches der Mutter‘, eine enge
Spalte, welche senkrecht in eine unergründliche Tiefe mündet.
Wer durch diese Spalte durchkommt, wird mit besonderen Gnaden
bedacht, vor dem Ruchlosen aber schließt sich der Felsen, und er
bleibt in demselben gefangen, bis er durch Gebet und mystische
Formeln befreit wird.“ (Goldziher 1971, II: 408ff)
Wasser ist ebenfalls eine fruchtbarmachende, segensreiche Kraft,
gleich ob es aus einem Brunnen5, einer Quelle, einem Fluss, einem
Wasserfall oder aus dem Meer stammt. Man wäscht sich damit,
trinkt es, lässt es über den Körper rinnen und erhält so seinen Segen. „Manche Gewässer erhalten ihre heilige Kraft dadurch, dass
man sie einmal im Jahr mit dem Wasser vom Brunnen Zamzam
aus Mekka vermischt. Solche Wasser sollen angeblich am 10.
5
Vor seiner Himmelsreise lag Muhammad schlafend in der Kaaba. Da kamen
Engel, öffneten seine Brust und wuschen alle Zweifel und Fehler, die sie in ihm
fanden, mit dem Wasser des Zamzam-Brunnens, der sich neben der Kaaba befindet, hinweg. (Vgl. Porter 1974: 72f)
12
Muharram, dem Todestag Husains überfließen ... Eine andere in
ganz Palästina verbreitete Ansicht geht dahin, dass umgekehrt die
Quelle vom Brunnen Zamzam am 10. Muharram überfließt und
sich mit allen Quellen in den islamischen Ländern mischt, so dass
jeder Muslim Gelegenheit hat, Wasser vom Brunnen Zamzam zu
trinken.“ (Kriss 1960, I: 21)
Durch den heiligen Ort wird auch das himmlische Wasser, der
Regen beeinflusst: „Als einst die Medinenser durch das Ausbleiben des Regens dem Hunger ausgesetzt waren, riet ihnen Aisha
(die Witwe des Propheten), am Grabe des Propheten eine gen
Himmel gerichtete Öffnung anzubringen ... Kaum war der Rat der
klugen Frau befolgt, da regnete es bereits in Strömen, das Gras
sproßte frisch hervor, der Viehstand gedieh.“ (Goldziher 1971, II:
313) Die Macht der Heiligen über den Regen bestätigt auch der
persische Sufi Hujwiri (gest. 1072): Gott „hat die Heiligen zu Regenten. des Universums gemacht ... Durch ihren Segen fällt der
Regen vom Himmel, durch die Reinheit ihres Lebens sprießen die
Pflanzen aus der Erde, und durch ihren geistigen Einfluß siegen
die Muslime über die Ungläubigen.“ (Hujwiri 1911: 213)
IV.
Die Heiligen bzw. die Heiligtümer sind die „Punkte“ in der Welt,
wo alle Wohltaten und positiven Kräfte des Himmels in die Welt
strömen. Es ist der eigentliche Zweck aller mit dem Heiligtum
verbundenen Pilgerfahrten, Feste, Opfer und Gelübde, sich dieser
zu versichern.
Die Kraft, die vom heiligen Zentrum ausstrahlt, ist sozusagen
das Positive an sich, weil sie existenzverleihend ist und den Dingen, auf die sie einwirkt, etwas von dem Unbegrenzten mitgibt,
von dem sie herkommt. Die Berührung mit der Barakah hebt den
Mangel auf, vernichtet das Vermindernde, Teilende, letztlich auf
das Nichts Hinzielende. Die Barakah ist eine Macht, die den ganzen Kosmos erhält.
13
Wie wir gesehen haben, ist die Barakah an manchen „Orten“ besonders stark. Der Typus solcher Orte ist nichts dem Islam Eigentümliches: Es gab bereits vor dem Aufkommen des Islam, und es
gibt außerhalb seines Bereichs, heilige Orte, die die gleichen
Merkmale aufweisen.
Zahlreiche muslimische Heiligtümer liegen an Stellen, von
denen man aus alten Berichten oder durch bauliche Zeugnisse
weiß, dass sie früher anderen Religionen ebenfalls als Wallfahrtsstätten dienten. Manchmal deutet schon der Name eines toten Heiligen darauf hin, dass hier der Ort den Heiligen schuf und nicht
umgekehrt, etwa wenn Heilige "Frau Olivenbaum" oder "Shaikh
Säule" heißen. (Goldziher 1971, II: 352)
Besonders deutlich tritt der religionsübergreifende Charakter
des Heiligtums hervor, wenn Angehörige verschiedener Religionen denselben Ort als heilig verehren. Es sei hier nur ein Beispiel
angeführt, das uns zugleich zu einigen erklärenden Bemerkungen
führen wird.
In der islamischen Welt genießt die Gestalt des Khadir bzw.
Khidr besondere Achtung. Eines seiner Hauptheiligtümer befindet
sich auf einer Insel des Indus in der Nähe von Bakhar, wo er von
Muslims und Hindus gleichermaßen verehrt wird. (Coomaraswamy 1934) Oft wird der Heilige mit dem Fluss selbst identifiziert;
man stellt ihn sich als in Grün gekleideten Mann vor, der auf einem Fisch reitet. Khidr ist ein unsterbliches Wesen; er hat Macht
über den Regen, die Seeleute rufen ihn an, wenn das Meer tobt,
und wo er hintritt, grünt die Erde. Wir treffen hier also wieder auf
die vertraute Fruchtbarkeitssymbolik.
Khidr wird gelegentlich mit dem biblischen Propheten Elia
identifiziert oder tritt zusammen mit ihm auf. Beide sind unsterbliche Wesen und „verborgene“ Heilige. Khidr ist, in der Charakterisierung Louis Massignons, „jener geheimnisvolle Unbekannte, der
uns im Verlauf einer plötzlichen und sehr kurzen Erscheinung in
Berührung mit dem göttlichen Geheimnis der Prädestination, der
Quelle des ewigen Lebens, treten lässt.“ (Massignon 1969: 86) Er
14
ist der „Bewahrer“, der den unsterblichen Kern des Menschen
über die Schranken von Zeit und Raum trägt.6
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Khidr seine
Unsterblichkeit durch das Untertauchen im Wasser des Lebens
erlangte, das im Mittelpunkt der Erde fließt. Zum Bild der Lebensquelle gehören nämlich noch eine Reihe anderer Vorstellungen, die zusammengenommen ein kosmologisches Modell ergeben, das wir, mit Variationen, weltweit antreffen können. Wenn
wir nun im folgenden einige Züge dieses Modells aufzählen, wird
auffallen, dass der Idealtypus des Heiligtums nichts anderes als
eine Abbildung davon im kleinen ist.
Merkmale des Weltaufbaus7 sind u.a. solche:
•
•
•
•
Die Erde wurde von ihrer Mitte, dem Nabel, aus geschaffen
und wird von der Mitte her in ihrer Existenz erhalten. Der Nabel der Erde wird oft durch einen heiligen Stein gekennzeichnet.
Von der Mitte her wird die Nahrung über die Erde verteilt.
Die Mitte ist der Ort des Überflusses, der Unsterblichkeit, des
Friedens und der Harmonie; mit anderen Worten: hier liegt
das Paradies.
Die Mitte ist zugleich die Stelle der Verbindung von Unterwelt, Erde und Himmel. Diese Verbindung läuft entlang einer
Achse.
6
Er ist auch jene mysteriöse Person, die in der bereits erwähnten Sure „Die
Höhle“ dem entsetzten Propheten Mose zur bedingungslosen Hinnahme des
göttlichen Willens bewegt, dessen verborgene Gründe sich erst im Nachhinein
enthüllen.
Die „Auferstehung“, die die Siebenschläfer nach ihrem „Todesschlaf“ im
göttlichen Zwischenreich der „Höhle“ erleben, und die in derselben Sure berichtete Episode vom Bau der Schutzmauer gegen die am Ende der Zeiten hereinbrechenden Gog und Magog stehen nicht zufällig in Nachbarschaft zum Treffen von
Mose und Khidr am „Wasser des Lebens“.
7
Siehe Wensinck 1916, 1919, 1921; Coomarasmamy 31989.
15
•
•
•
•
Die Achse hat oft die Form eines Baumes, einer Säule oder
eines Berges bzw. einer Kombination dieser Formen.
Die Segenskräfte des Göttlichen, d.h. vor allem: die Fruchtbarkeitskräfte, wirken von oben diese Achse entlang in die
Welt hinein.
Umgekehrt nehmen die Menschen an dieser Mitte Kontakt mit
dem jenseitigen Bereich auf, sei es in Form von Opfern oder
Himmels- und Unterweltreisen. Der Übergang kann aber nur
von starken und reinen Seelen vollzogen werden. Diese müssen oft eine „gefährliche Passage“, die aus zusammenprallenden Felsen, einer schmalen Brücke o.ä. besteht, überwinden.
In der Mitte der Erde befindet sich eine Quelle oder ein See,
der mit der Unterwelt verbunden ist.
Nach muslimischer Auffassung steht die Kaaba genau in der Mitte
der Erde. Der Schwarze Stein bezeichnet also den Nabel der Erde.
Die vielen anderen Heiligtümer, die ebenfalls Merkmale der Mitte
aufweisen, sind demnach nur sekundäre Ableitungen des ursprünglichen Zentrums.8 Sie erfüllen aber wie dieses die Aufgabe,
den „Segen des Himmels“ auf der Erde auszubreiten. Ganz im
Einklang damit steht die Ansicht, dass eine Pilgerfahrt zu einem
Heiligtum unter gewissen Umständen die große Pilgerfahrt nach
Mekka ersetzen könne.
So wie das Heiligtum ist auch der Heilige selbst ein Sinnbild
der Mitte. Er wird deshalb mitunter direkt Qutb, Pol, Achse, genannt. Es bestehen aber im Verhältnis der Heiligen untereinander
dieselben Beziehungen wie bei den Heiligtümern: Jeder Heilige
stellt für seine Anhänger eine Mitte dar, weil er die Barakah überträgt; die wahre Mitte kann sich jedoch nur in einem Heiligen
manifestieren, von dem die anderen Heiligen wie sekundäre Spiegelungen sind.
8
Siehe das oben über die Wasser des Zamzam-Brunnens gesagte.
16
Der oberste Heilige ist der „Pol seines Zeitalters“ (qutb zamanihi). Er bildet die Spitze der unsichtbaren Hierarchie der Heiligen. Man glaubt, dass von seiner Existenz die Existenz der Erde
abhängt. Ihm untergeordnet sind die vier „Pfeiler“ (awtad), die in
den vier Himmelsgegenden wohnen und dem „Pol“ die schadhaften Stellen angeben, damit er sie ausbessern kann.9 Es folgen weiter Gruppen von sieben, vierzig, dreihundert Heiligen usw. (Trimingham 1971: 162ff)
Es ist aber klar, dass kein Heiliger je im Rang über dem Propheten Muhammad stehen kann. Selbst die „Pole“ (aqtab) sind
letztlich Manifestationen des einen Logos, der „Wirklichkeit Muhammads“ (al-haqiqat al-muhammadiyya) oder des „muhammadanischen Lichts“ (an-nûr al-muhammady).
Der Mystiker Ibn Arabi hat, ganz der inneren Logik der Symbole folgend, Muhammad mit dem Weltbaum, der Weltachse
identifiziert. Der muhammadanische Geist ist nach ihm die Essenz
des Weltbaumes, die Quelle, aus der das begrenzte Sein entspringt. Als Samen des Weltbaumes ist Muhammad, so Ibn Arabi,
die „Wirklichkeit der Wirklichkeiten“, dessen innere Realität; als
Frucht des Baumes ist er der geschichtliche Prophet, die höchste
Manifestation des „allheitlichen Menschen“. (Ibn Arabi 1959:
137ff)
V.
Resümieren wir das bisher Gesagte: Unsere diesseitige Welt ist
vom Jenseits getrennt, wird aber zugleich von diesem bestimmt.
Diese Bestimmung unseres Seinsbereichs erfolgt, wie die von
jedem anderen Seinsbereich auch, von dessen Mitte her, dem Pol
(Qutb), in dem die Möglichkeiten der betreffenden Seinsordnung
synthetisch zusammengefasst sind und in sie „hineinströmen“.
9
Vgl. den bereits erwähnten Bau der Schutzmauer, von der in Sure 18 berichtet
wird.
17
In der islamischen Mystik wird dieser metaphysische Ort auch
Barzakh10 genannt, was man mit „Schranke, Scheidewand, Isthmus (d.h. enger Durchgang)“ übersetzen könnte. In der islamischen Theologie bezeichnet der Begriff Barzakh den Zwischenzustand nach dem Tod bis zur Auferstehung am Jüngsten Tag. In der
islamischen Mystik hat er, wie gesagt, die allgemeine Bedeutung
eines „Mittlers“ zwischen zwei Seinsbereichen. Er kann auch einen Seinsbereich als solchen bezeichnen, insofern dieser zwischen
einem oberen und unteren „vermittelt“. So wäre etwa der seelische
Bereich der Mittler zwischen der Körperwelt und der Welt des
Geistes. Der Barzakh ist von „unten“ gesehen eine Scheidewand,
von „oben“ gesehen ein Mittler zwischen beiden Welten.
Für diese Auffassung gibt es übrigens eine sehr anschauliche
Sinnbildlichkeit im Hinblick auf den Koran. Nach einer Überlieferung soll Muhammad gesagt haben: „Alles, was im Koran offenbart worden ist, ist in der Fatihah (der ersten Sure) enthalten. Alles
von der Fatihah ist in der Eingangsformel Bismi Llahi r-Rahmani
r-Rahim (‚Im Namen Gottes, des Allbarmherzigen, des Erbarmers‘) enthalten. Alles davon ist im Buchstaben Ba (mit dem der
Satz beginnt), und dieser ist enthalten im Punkt unter dem Ba.“
(Vgl. Lings 1971:148ff.) Mit anderen Worten: Der gesamte Koran
ist in einem einzigen Ursprungspunkt enthalten.11
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Ausdrücke „Pol“
(qutb) und Barzakh synonym sind. Der große Kenner der islamischen Mystik, Titus Burckhardt, erläutert dies näher: Man könnte
den Barzakh mit ... „einem Prisma vergleichen, welches das ungeteilte Licht einer höheren Welt in die verschiedenen Farben einer
unteren Welt zerlegt, oder einer Linse, welche die Strahlen, die
10
Vgl. Koran, Suren 25: 53; 55: 20.
Der Punkt unter dem Bogen des Buchstabens Ba ist gewissermaßen der
Nabel, der in sich alle Möglichkeiten enthält, die der Koran als geschlossene
Welt zur Gänze entfaltet, die Gabelung über dem Punkt die graphische Darstellung der Gesamtheit eines Seinsbereichs.
11
18
von oben kommen, sammelt und sie durch einen einzigen Inversionspunkt filtert. Der Barzakh ist folglich nur insoweit eine
Schranke, als er selbst der Ansatzpunkt einer trennenden Sehweise
ist, in deren Sicht er als eine Grenze erscheint. Hier besteht übrigens eine Analogie mit dem, was man im körperlichen Auge als
den ‚blinden Fleck‘ bezeichnet, nämlich die Stelle, wo der Sehnerv in das Auge eintritt.“ (Burckhardt 1992: 195)
Diese Doppel- und gleichsam prismatische Funktion des Übergangs zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen einer Welt und
einer anderen, wird deutlich, wenn wir uns noch einmal der ersten
Shahadah zuwenden:
Man unterteilt die Shahadah La ilaha illa Llah gewöhnlich in
zwei Teile: Der erste Teil La ilaha, „Kein Gott“, wird an-nafi, die
Verneinung genannt, der zweite Teil illa Llah, „wenn nicht Gott“,
al-ithbat, die Bejahung.
Der erste Teil, die Verneinung, bezieht sich auf die Schöpfung,
die kein selbständiges Sein besitzt, sondern ganz und gar vor ihrem göttlichen Ursprung abhängt, für den der zweite Teil, die Bejahung, steht.
Das Wort La, „kein“, entspricht der Schöpfung an sich, für sich
betrachtet. Ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit wird „verneint“. Das Diesseits ist aber nicht reine Illusion, sondern hat eine
relative Existenz. Alles Positive und Gute im Diesseits kommt von
Gott, muss notwendigerweise Gott zugeschrieben werden, der, wie
es im Koran heißt (Sure 57, 3), auch der „Äußere“ ist. Dies wird
durch das Wort ilaha, „Gottheit“ ausgedrückt.
Im zweiten Teil der Formel, der Bejahung, illa Llah, bezeichnet das Wort illa, „wenn nicht Gott“, den Logos, die im absoluten
Sein enthaltenen Möglichkeiten zur Kundgebung, Entäußerung,
Schöpfung, und das Wort Allah, „Gott“, das absolute und unendliche Sein an sich.
Die Shahadah drückt also eine Komplementarität im Verhältnis
von Diesseits und Jenseits aus, insofern die Verneinung, die für
das kontingente, relative Sein steht, ein Element von Absolutheit,
19
ausgedrückt durch das Wort ilaha, enthält; die Bejahung aber, die
für das absolute Sein steht, ein Element von Relativität, die Präfiguration der Schöpfung im Göttlichen, ausgedrückt durch das
Wort illa.12
Das Wort illa steht recht eigentlich für den Barzakh, aus dem
das göttliche Sein in die Welt wirkt. Seine Dreh- und Spiegelfunktion wird sinnfällig, wenn man das Wort illa in die zwei Wort
zerlegt, aus denen es sich ursprünglich zusammensetzt, in „wenn“
und la „nicht“. Um noch einmal Titus Burckhardt zu zitieren:
„Wenn man verstanden hat, dass die Partikel in eine bedingte Bejahung ist, weil sie der Gottheit (ilahun, Nominativ von ilaha) die
Wirklichkeit zurückgibt, unter der Voraussetzung, dass diese
nichts anderes ist als die Wirklichkeit Allahs, dann zeigt sich, dass
die Bejahung und die Verneinung im Wort illa in umgekehrter
Reihenfolge zu der Bejahung und der Verneinung enthalten sind,
welche die ganze Formel sozusagen ‚einrahmen‘. ... Der Ausdruck
illa zeigt folglich sehr klar die beiden Funktionen des Barzakh,
einmal die der „nach oben gerichteten“ Vermittlung des Übergangs vom Kundgegebenen zum Nicht-Kundgegebenen, ein
Übergang oder eine Umwandlung, die stets den blinden Punkt
einer Auslöschung oder eines Todes durchläuft, und zum anderen
die, dieser Punkt zu sein, welcher zugleich der Punkt der Umkehr
der Bezogenheiten ist.“ (Burckhardt 1992: 197)
Wir sehen hier, dass der Begriff des Barzakh Tod, Auslöschung, Umwandlung und Auferstehung in einem ganz umfassenden Sinne bezeichnet, der auch das menschliche Schicksal einschließt, wodurch sich das Verständnis des Begriffes als nachtodlicher Aufenthaltsort der Seele in der islamischen Theologie nahtlos mit dem erweiterten Verständnis in der islamischen Mystik
verbindet.
12
Vgl. Schuon 1980: 112-114.
20
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Dieser Aufsatz erschien ursprünglich in:
Bernd Michael Linke (Hg.): Die Welt nach der Welt. Jenseitsmodelle in den Religionen. Frankfurt a. M. 1999, 117-136.
23
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