8. geriatrischer Ernährungstag „ZWISCHEN ESSEN UND ERNÄHRUNG KÖNNEN WELTEN LIEGEN!“ Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Dr. H.P.Willschrei Malteser Krankenhaus St. Josefshospital Krefeld- Uerdingen 9. November 2016 Ätiologie Häufigkeit Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Dysphagie: Definition Jede Störung des Bolusübertritts vom Mund-Rachenraum über den Pharynx in den Ösophagus und des weiteren Transportes durch den Ösophagus in den Magen bezeichnet man als Dysphagie. Dabei wird zwischen der - oralen/pharyngealen- und der - ösophagealen Phase - des Schluckaktes und damit der Dysphagie unterschieden. Treten beim Schlucken zudem Schmerzen auf, liegt zusätzlich eine Odynophagie vor. Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Dysphagie: die 4 Phasen des Schluckaktes orale Vorbereitungsphase orale Transportphase pharyngeale Phase ösophageale Phase Oropharyngeale Dysphagie: Störung des Schluckaktes bis zum Eintritt in den Ösophagus (kombiniert mit Hustenanfällen, Aspiration oder nasaler Regurgitation) Ösophageale Dysphagie: Störung des Schluckaktes im Bereich des Ösophagus (thorakale Schmerzen, Regurgitation, evt. Husten, Aspiration) Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Ätiologie: Dysphagie Gebräuchlichste Einteilung: Nach der Höhenlokalisation bzw. der Schluckphase: • Oropharyngeale Dysphagie • Bis Eintritt in den Ösophagus • Neuromuskläre Erkrankungen: zerebrale Insulte, amyotrophische Lateralsklerose, multiple Sklerose, Myasthenia gravis, Muskeldystrophie, M. Parkinson • Entzündungen und Tumoren im Mund-Rachen-Bereich: Stomatitis, Tonsillitis, Pharyngitis, Abszesse, Geschwülste • Kehlkopferkrankungen: Tuberkulose, Tumoren, übergreifende Schilddrüsenprozesse • Ösophageale Dysphagie. • Störung im Ösophagusbereich • Akut: Verätzungen/Verletzungen des Ösophagus durch Fremdkörper/Tabletten • Chronisch: Ösophagis-Ca, Achalasie, Schatzki-Ring, Hiatushernie, ZenkerDivertikel, Ösophagitis, Sklerodermie, übergreifende Mediastinalprozesse, Aortenbogenaneurysma Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Ätiologie: Neurogene Dysphagien - Apoplex - Neurodegenerative Erkrankungen (z.B. M. Alzheimer) - Erkrankungen der Basalganglien (z.B. M. Parkinson) - Schädelhirntrauma - Tumoren (insbesondere des Hirnstammes) - Vitaminmangelerkrankungen (z.B. Vitamin-B12-Mangel) - Autonome Polyneuropathie (z.B. Diabetes mellitus) Muskuläre Erkrankungen - Entzündliche Muskelerkrankungen (z.B. Polymyositis) - Muskeldystrophien (z.B. okulopharyngeale Muskeldystrophien) - Funktionsstörungen im Bereich der Zunge und Pharynx Andere häufige Ursachen - Medikamenteneinflüsse (z.B. Benzodiazepine, Neuroleptika) Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit GI- Erkrankungen - Mangelnde Speichelbildung - Entzündungen im Bereich des orofazialen Traktes - Zahn-/Prothesenprobleme - Achalasie - Krankheiten des Ösophagus (z.B. Divertikel, Ösophagitis, Stenosen, Karzinome) Weitere Ursachen - Sarkopenie Ätiologie: Dysphagie durch Medikamente Dysphagie als Nebenwirkung von Arzneimitteln unterschätzt! Mögliche Wirkstoffgruppen: 1. Neuroleptika (z.B. Haloperidol, Risperidon, Clozapin, Melperon, Pipamperon) 2. Benzodiazepine (z.B. Lorazepam, Clonazepam, Diazepam) 3. Antidepressiva (z.B. Citalopram, Mirtazepam, Venlafaxibe, Doxepin, Imipramin) 4. Anticholinergika (z.B. Oxytutynin, Propiverin, Scopolamin) 5. Muskelrelaxantien (z.B. Flupirtin, Tizanidin, Baclofen, Pridinol, Tolperison) 6. Antiparkinson-Medikamente (z.B. Levodopa, Cardidopa, Amantadin, Ropinirol) 7. Antihypertensiva (z.B. ACE-Hemmer) 8. Antiepileptika (z.B. Valproat, Carbamazepin, Phenytoin, Levitiracetam, Gabapentin) 9. Antidementiva (Cholinesterasehemmer) 10.Medikamentenindizierte Myopathie (z.B. Analgetika, Kortikosteroide, Lipidsenker) 11.GERD (auslösende Medikamente) B.Marlianii: Medikamentenassoziierte Schluckstörungen. Zur Relevanz der Medikamentenanamnese für die Diagnosik neurogener Dysphagien. Forum Logopädie Heft 4 (28) Juli 2014 Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Medikamenteninduzierte Dysphagien Wirkstoffklassen und ihr „topographisches“ Wirkprofil • Zentral (meist sedierend); Dysphagie auslösend/verstärkend • • • • • Antipsychotika (z.B. Haloperidol, Risperidon, Olanzepin...), Antikonvulsiva, Antidepressiva, Analgetika, Antiemetika) Zentral wirksame Medikamente mit peripherer Nebenwirkung; Xerostomie auslösend • Xerostomie (Diuretika, Opiate, Antipsychotika, Antiarrythmika, Angiotensin-IIRezeptor-Blocker, Alpha-Rezeptor-Blocker) • Husten (ACE-Hemmer) Neuromuskulär wirkende Medikamente; durch Ösophagusmotilitätsstörung oder Tonusreduktion des unteren Ösophagussphinkters eine Myopathie mit Dysphagie auslösend • Systemische Wirkweise: Glukokortikoide, Statine, Nitrate, Kalziumantagonisten • Lokale Wirkweise: Oberflächenanästhetika (Lutschtabl. gegen Halsschmerzen) Lokal-mukosal wirkende Medikamente („(oral) medication-induced esophageal injury“ ; (O)MIEI, „drug-induced esophageal injury“ (DIEI) • Antibiotika, NSAR, Bisphosphonate, Sildenafil, Kalium, Eisenpräparate, Vitamin C Dysphagieassoziierte Medikamente mit unklarem Wirkmechanismus • L-Dopa, Digitalis C.Schwemmle, M.Jungheim, S.Miller, D.Kühm. M.Ptok: Medikamenteninduzierte Dysphagien. Ein Überblick. HNO 2015, 64:504-519 Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Medikamenteninduzierte Dysphagien: welche Fragen, welche Empfehlungen? Fragen bei der Anamneseerhebung: „Bleibt was stecken?“ „Können Sie bestimmte Speisen/Tabletten nicht schlucken?“ „Wie lange brauchen Sie für die Nahrungsaufnahme?“ „Brauchen Sie viel Flüssigkeit zum Schlucken?“ Empfehlungen zur Prävention: Vor und nach dem Tablettenschlucken ausreichend Wasser trinken (>100 ml) Kein Hinlegen für mindestens 5-10 min nach Medikamenteneinnahme Sorgfältiges Einhalten der Herstellerempfehlungen zur Medikamenteneinnahme Tabletten mit Filmbeschichtungen bevorzugen Aufklärung der Patienten über Symptome bei medikamenteninduzierter Ösophagitis Auswählen der „einfachsten“ Darreichungsform (Liquid, Hartkapseln, usw.) C.Schwemmle, M.Jungheim, S.Miller, D.Kühm. M.Ptok: Medikamenteninduzierte Dysphagien. Ein Überblick. HNO 2015, 64:504-519 Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Medikamenteninduzierte Dysphagien „Akute Fehler bei der oropharyngealen Dysphagie lassen sich vermeiden“ Ein Dysphagiemanagement sollte umfassen: • Gezielte Anamneseerhebung • Klinische und apparative Dysphagiediagnostik • Gezielte therapeutische Maßnahmen • Ernährungsmanagement /Kostformanpassung • Medikamentenmanagement • Anwendungsfehler bei oraler Medikamentengabe (unangemessene Veränderungen der Darreichungsformen) • Alternativ: oral-flüssige Arzneimittelformen „Management-Update der DGG-Arbeitsgruppe Dysphagie“ Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Dysphagie und Demenz (Prävalenz 30% bei > 80-Jährigen) Ursachen von Gewichtsverlust bei Demenz früh: Änderung des Essverhaltens R. Wirth Dysphagie entwickelt sich mit zunehmender kognitiver Beeinträchtigung! Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Dysphagie und Demenz 161 demente/hospitalisierte geriatrische Patienten/30 Kontrollpersonen) • Rehabilitative Maßnahmen bei dementen Patienten – da oft keine aktive Mitarbeit möglich – schwierig! (Wenn Therapie – dann frühzeitig beginnen!!!). • Wichtig deshalb eine Veränderung der Nahrungskonsistenz (Andicken von Getränken, Vermeidung von krümmeligen und gemischten Nahrungskonsistenzen). J Am Med Dir Assoc. 2015 Aug 1;16(8):697-701. doi: 10.1016/j.jamda.2015.03.020. Epub 2015 Apr 28. Dysphagia in Dementia: Influence of Dementia Severity and Food Texture on the Prevalence of Aspiration and Latency to Swallow in Hospitalized Geriatric Patients. Rösler A1, Pfeil S2, Lessmann H3, Höder J4, Befahr A3, von Renteln-Kruse W3. Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Dysphagie: (idiopath.) Morbus Parkinson • Ca. 80% aller Parkinson-Patienten entwickeln in einem Krankheitsstadium eine Dysphagie • Mehr als 50% der subjektiv asymptomatischen PD-Patienten zeigen bereits eine oropharyngeale Schluckstörung (bei einer entsprechenden Untersuchungstechnik) • Die Latenz von der Entwicklung erster PD-Symptomatik bis zur Ausbildung einer schweren Dysphagie beträgt ca. 130 Monate • Die zweckmäßigsten Prädiktoren: Hoehn und Yahr Stadium >3, Drooling, Gewichtsverlust/BMI< 20m2, bestehende Demenz Schluckphase Häufige Zeichen oral Repititive Pumpbewegungen der Zunge, orale Retention, posteriores Leaking („premature spillage“), Bolusfragmentierung („peacemeal deglutition“) pharyngeal Residuen in den Sinus piriformes und Valluculae, Aspiration bei ca. 50% der Dysphagiepatienten , somatosensorische Defizite, verminderte spontane Schluckfrequenz ösophageal Verringerte/aufgehobene Peristaltik, multiple simultane Kontraktionen, diff. Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Ösophagusspasmus Warnecke, 2014 Dysphagie und Sarkopenie („sarcopenic dysphagia“) Sarkopenie ist ein unabhängiger Risikofaktor für Dysphagie bei hospitalisierten älteren Menschen. Geriatr Gerontol Int. 2016 Apr;16(4):515-21. Sarcopenia is an independent risk factor of dysphagia in hospitalized older people. Akagi J, Maeda K - beteiligt beim Schluckvorgang mindestens 40 Muskelpaare - Frage: welche Parameter für die Diagnosestellung? - - Ernährung: BMI, Screening (MNA,NRS), FOIS – Schluckfunktion im Alltag; Labor Sarkopenie: Handkraft; Zungenkraft, BIA (FFMI) Alltagsfunktionen: Barthel-Index Dysphagiescreening (EAT-10, Wassertest mit Pulsoximetrie) Anamnese - Interventionen: - Verbesserung der Ernährungssituation (Kalorien und Proteine) - Muskeltraining (Verbesserung der Zungenkraft und Beweglichkeit) - Mundgesundheit fördern Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Presbyphagie: Schluckstörungen im Alter Dysphagie/Presbyphagie stellt in höherem Lebensalter einen unabhängigen Prädiktor für schwerwiegende Komplikationen der und geht mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko der Patienten einher. Konsequenzen: Entwicklung einer Pneumonie (Pneumonierisiko bei Dysphagie verdoppelt) Dysphagie bestimmt den Schweregrad und Verlauf der Infektion bei wegen Pneumonie hospitalisierten geriatrischen Patienten Dysphagie führt zur Mangelernährung: hierdurch körperliche und geistige Leistungsfähigkeit reduziert, Zunahme einer Gebrechlichkeit Schluckstörungen reduzieren Teilhabe an sozialen Aktivitäten: Schluckstörungen sind mit Scham, Depression, soziale Isolation verknüpft > Reduzierte Lebensqualität. Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit (primäre) Presbyphagie: Schluckstörungen im Alter Anatomische und neurophysiologische Veränderungen bei zunehmendem Presyphagie: Lebensalter: altersbedingte Veränderungen führen zu: Sarkopenie: beeinträchtigt die motorische Komponente des Schluckens - Verlängerter oraler Transportphase Veränderungen des Bindegewebes: - VerringertemElastizitätsverlust Zungendruck Veränderungen des Achsenskeletts: Änderung der Körperhaltung und des - Verzögerter Schluckreflextriggerung Schluckaktes- Verzögertes Verschluss des Larynxeinganges Veränderungen von- Sensorik/Sensibilität: Abnahme der KörperfaserVermindertes Schluckvolumen dichte - Vermehrten Residuen Zentrale Steuerung: - altersabhängige Erhöhter Rate anModifikationen Penetrationen >>>>>>>> primäre Presbyphagie (altersphysiologische Veränderungen) • besitzt selbst keinen Krankheitswert • Verändert jedoch die Kompensationsreserve des Schluckaktes (bei Vorliegen von zusätzlichen krankheitsbedingten Störungen kann sich bei Älteren schneller eine schwere Dysphagie entwickeln) Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Primäre und sekundäre Presbyphagie Primäre Presbyphagie Primäre und sekundäre Presbyphagie ( Graphik von R. Dziewas) >>>>>>>>>> sekundäre Presbyphagie • gewinnt in Anbetracht der zunehmenden Alterung unserer Gesellschaft bei gleichzeitig mit dem Lebensalter ansteigender Prävalenz von mit Dysphagien assoziierten Erkrankungen erheblich an Bedeutung. Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Primäre und sekundäre Presbyphagie Primäre Presbyphagie Sarkopenie: beeinträchtigt Motorik Bindegewebe: Elastizitätsverlust Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Achsenskelett: Körperhaltung und Schlucken Sensorik + Sensibilität ZNS altersabh. Modifikationen (sekundäre) Presbyphagie Sekundäre Presbyphagie (mit Krankheitswert) Erkrankungen aus den Fachabteilungen: Neurologie, HNO, Onkologie, Innere, Gastroenterologie, Zahnheilkunde; Multimedikation, Frailty Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Ätiologie Häufigkeit Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Dysphagie: Häufigkeit Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Dysphagie/Presbyphagie: Häufigkeit Clin Interv Aging. 2016; 11: 189–208. Oropharyngeal dysphagia in older persons – from pathophysiology to adequate intervention: a review and summary of an international expert meeting • Ältere Menschen sind sich häufig über das Symptom „Schluckstörung“ nicht bewusst. • Oropharyngeale Dysphagie (OD) findet sich bei 13% der Älteren und bei 51% bei Personen, die in einer Alteneinrichtung wohnen. • Die Prävalenz einer OD ist am höchsten bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen und nimmt mit zunehmendem Alter und bestehender Gebrechlichkeit (Frailty) zu. • Die Prävalenz einer OD beträgt bei den unabhängig lebenden Personen 16% in der Altersgruppe 70-79 Jahre (33% in der Gruppe der ≥ 89-Jährigen). Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Dysphagie/Presbyphagie: Häufigkeit Clin Interv Aging. 2016; 11: 189–208. Oropharyngeal dysphagia in older persons – from pathophysiology to adequate intervention: a review and summary of an international expert meeting • Die Prävalenz einer OD ist bei Krankenhauspatienten nochmals deutlich höher – bis zu 47% der älteren gebrechlichen Patienten mit einer akuten Erkrankung leiden an einer OD. • In Alteneinrichtungen sind mehr als 50% der Personen von einer OD betroffen. entscheidend: Obwohl die oropharyngeale Dysphagie häufig zu lebensbedrohlichen Komplikationen führt, wird sie oft nicht erkannt, untersucht und behandelt! Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit Dysphagie/Presbyphagie: geriatrisches Syndrom Die vier I´s der Altersmedizin - Funktionelle Syndrome als gemeinsame Endstrecke vieler Erkrankungen – - Intellektueller Abbau Immobilität Inkontinenz Instabilität: beeinträchtigtes Gleichgewicht und wiederholte Stürze - Oropharyngeale Dysphagie weit verbreitete klinische Erkrankung, multifaktoriell bedingt, assoziiert mit vielen Komorbiditäten, assoziiert mit schlechter Prognose Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit „Wenn Flüssigkeit geschluckt wird, geht ein Teil zur Lunge, und von dort wird es in die Herzbeutel gefiltert, wo es das fiebernde Herz befeuchtet und kühlt. Der Rest der Flüssigkeit wird als Wasser ausgeatmet.“ Hippokrates, 460 – 370 v. Chr. .......wenn das ´mal so einfach wäre. Dysphagie: Ätiologie und Häufigkeit