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Die Merkur- und Venusphasen bei Giorgione
Frank Keim
Die Merkur- und Venusphasen bei Giorgione
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Abstract (Zusammenfassung)
It will be shown that the subjects of Giorgione’s 1 famous paintings Young Man with
Arrow (Kunsthistorisches Museum, Wien) and Sleeping Venus (Dresden, Gemäldegalerie) are the phases of the planets Mercury and Venus. Beside the Venus there
was a cupido (over-painted today), with a downward showing arrow in his right hand,
and a little bird in the other. These attributes represent the gravity and centrifugal
force, both responsible for the planets’ movement around the sun. The analysis of the
Venus includes Botticelli’s older Venus.
Es wird gezeigt, dass die Themen von Giorgiones berühmten Gemälden Knabe mit
Pfeil (Kunsthistorisches Museum, Wien) und Schlafende Venus (Dresden, Gemäldegalerie) die Phasen der Planeten Merkur und Venus sind. Zu Füßen der Venus saß
ein Cupido (heute übermalt), mit einem nach unten zeigenden Pfeil in der rechten
Hand und einem Vögelchen in der linken. Diese Eigenschaften verkörpern die
Zentripetal- und Zentrifugalkraft, die für die Bewegung der Planeten um die Sonne
verantwortlich sind. Die Analyse der Venus erfolgt unter Einbeziehung der älteren
Venus Botticellis.
1
Giorgio da Castelfranco; c. 1477/8 – 1510 Venice.
2
Die Merkur- und Venusphasen bei Giorgione
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1. Knabe mit Pfeil (um 1508)
Marianne Koos wies in ihren Erläuterungen zu diesem Bild darauf hin, dass „Eros,
der Liebesgott [...] in der Ikonographie des 16. Jahrhunderts als schelmischer blonder
Knabe mit Flügeln, Bogen und Pfeil repräsentiert [ist] und nicht als melancholisch in
sich versunkener Jüngling [...].“ 2 Sie distanzierte sich also von der Deutung des
Knaben als Eros. Auch andere Deutungen der hier dargestellten Person werden
relativiert, falls man von einer astronomischen Konnotation des Gemäldes ausgeht.
Der Dargestellte trägt ein weißes Unterhemd und einen roten Überwurf (Abb. 1a). Er
hält einen Pfeil in der rechten Hand, dessen Befiederung gut erkennbar ist und
dessen Spitze nach unten zeigt. Allein die Art und Weise, wie er den Pfeil hält ist ungewöhnlich. Tatsächlich müssten Zeige- und Mittelfinger nicht in dieser Weise gespreizt werden. Mit der extremen Spreizung muss daher eine besondere Bedeutung
verbunden sein. 3 Die Finger bilden einen Winkel von 45°, das entspricht dem
maximalen Winkelabstand der Venus zur Sonne. Der Ringfinger des Knaben bildet
mit dem unteren Seitenrand einen Winkel von 20°. Diese Gradangabe ist mit dem
maximalen Winkelabstand des Merkur, des innersten Planeten unseres Sonnensystems in Verbindung zu bringen. 4
Der astronomische Sachverhalt ist klar: bei einer Maximal-Elongation eines
inneren Planeten ist von der Erde aus lediglich die Hälfte des von der Sonne
beschienenen Planetenkörpers sichtbar. Man muss am Bild also nachweisen, dass
die hellen bzw. weißen und die roten Bereiche in etwa ausgeglichen sind. Es geht
um den Planetenkörper des Merkur, der hier auf den Oberkörper reduziert ist. Dieser
wurde in vier Bereiche unterteilt (Abb. 1b). Das Gesicht wird nicht in den Vergleich
einbezogen, da es unsinnig wäre, es in irgendeiner Form zu „bedecken“:
(1) Der Brust-Bereich. Es lässt sich ein großes Rechteck mit einer Diagonalen als
Teiler konstruieren. Die Kongruenz der so gewonnenen Dreiecke ist gut erkennbar
(mit einem geringfügigen Mehr an Weiß).
2
Marianne Koos: Katalog-Eintrag Nr. 6, in: Ferino-Pagden, Sylvia; Nepi Scirè, Giovanna
(Hrsg.) (2004): Giorgione – Mythos und Enigma. Eine Ausstellung des Kunsthistorischen
Museums Wien und der Gallerie dell'Accademia Venedig. Kunsthistorisches Museum
23. März bis 11. Juli 2004. Milano: Scira editore, S. 184-187, hier S. 184.
3
Zu beachten ist die feine Krümmung, mit der sich der Zeigefinger an den Pfeil anschmiegt.
4
Im Unterschied zur Venus, die nahezu auf einer Kreisbahn läuft, ist der Winkelabstand des
Merkur zur Sonne starken Schwankungen unterworden. Er hängt davon ab, ob sich der
Planet im Perihel seiner Bahn (sonnennächster Punkt) oder im Aphel (fernster Punkt)
aufhält. Die Schwankungen des Winkelabstands liegen etwa zwischen 17° und 27°.
3
Die Merkur- und Venusphasen bei Giorgione
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(2) Der Halsansatz. Die hellen Bereiche am Halsansatz werden durch den roten
Knoten des Überwurfs (welcher weder vom Rechteck noch vom Oval 5 erfasst ist)
abgedeckt.
(3) Der Schulterbereich. Die linke, helle Schulter (3) und die rechte, bedeckte (3‘)
sind in etwa ausgeglichen. Man muss das kleine Dreieck oberhalb des roten Ovals in
dieses einbeziehen. Auch umschließt das helle Oval (3) einen Teil des dunklen
Hintergrunds - muss also nicht vollständig durch das Rot der Gegenseite abgedeckt
sein.
(4) Der Brustbereich (Rest). Das kleine Rechteck (4) wurde nach links verschoben
und mit 30% Transparenz versehen (4‘). Man sieht, dass es die rechte Hand
vollständig abdeckt.
Nun zum Pfeil. Es sei angemerkt, dass auch der Cupido in der Venus einen Pfeil in
der Hand hält. Das zweite Attribut dort ist das Vögelchen. Mit diesen Attributen sind
offensichtlich „Kräfte“ bezeichnet. Der nach unten zeigende Pfeil des Knaben
repräsentiert die Zentripetal- oder Radialkraft, durch die Massen auf einander
wirken. 6 Bereits Copernicus hatte im Commentariolus (ca. 1507) - lange vor Newton 7 - in bezug auf das Erde-Mond-System die Schwerkraft (gravitas) beschrieben:
„Zweiter Satz: Der Erdmittelpunkt ist nicht der Mittelpunkt der Welt, sondern nur der
der Schwere und des Mondbahnkreises.“ 8- Genau betrachtet, durchquert jener Pfeil
die beiden Winkel, die ja die jeweiligen Maximal-Auslenkungen der Planeten
anzeigen. Er zeigt daher zur Sonne, dem Gravitationszentrum des Merkur wie aller
Planeten. Die Zentripetalkraft allein reicht zur Erklärung von deren Bewegung jedoch
nicht aus. Es muss eine zweite Kraft vorhanden sein, die verhindert, dass sie in die
Sonne stürzen: die Zentrifugal- oder Fliehkraft. Im Knaben mit Pfeil deutet die
5
Das Oval wurde so aufgesetzt, dass die weißen und roten „Einsprengsel“ an den Rändern
in etwa ausgeglichen sind.
6
Streng genommen müsste man von der Gravitation sprechen, die als Zentripetalkraft wirkt.
7
Vgl. Felix Schmeidler: Kommentar zu „De Revolutionibus“, in: Heribert M. Nobis und Menso
Folkerts (Hrsg.) (1998): Nicolaus Copernicus Gesamtausgabe, Band III/1, Berlin: AkademieVerlag, S. 19.
8
Rossmann, Fritz (Hrsg.) (1986): Nikolaus Kopernikus: Erster Entwurf seines Weltsystems
sowie eine Auseinandersetzung Johannes Keplers mit Aristoteles über die Bewegung der
Erde. Nach den Handschriften hrsg., übers. und erl. von Fritz Rossmann. Darmstadt, S. 10.
Natürlich ist die Wirkung der Schwerkraft nicht auf das Erde-Mond-System beschränkt. Der
Entwurf des Copernicus impliziert die universelle Gültigkeit der Gravitation als
Zentripetalkraft, die auf alle Planeten wirkt. Die Schwerkraft (gravitas) ist jedenfalls zu Beginn
der Neuzeit bekannt.
4
Die Merkur- und Venusphasen bei Giorgione
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Befiederung des Pfeils - die aus Vogelfedern gefertigt wurde 9 - auf die nach außen
wirkende Fliehkraft. Noch deutlicher ist das Bild, das der Maler zu ihrer
Veranschaulichung in der Venus wählte: das Vögelchen, das zum Himmel auffliegen
will. Das Zusammenspiel beider Kräfte bewirkt, dass das Flugobjekt auf seiner von
der Natur vorgegebenen Bahn verbleibt. 10
1.1 Rekonstruktion des Datums
Giorgione hatte den Merkur schon seit 1501 beobachtet. 11 Mit den 20°, die er im Bild
anzeigt, wurde ein Hinweis auf eine bestimmte Beobachtung gegeben. Zunächst ist
nämlich unklar, ob eine größte östliche oder westliche Elongation gemeint ist. Das
Haupt des Jünglings ist jedoch nach links geneigt. Die rechte Gesichtshälfte ist
stärker beleuchtet; astronomisch gesehen blickt er über seine Schulter hinweg in
Richtung Erde. Gemeint ist also eine größte westliche Elongation. Im Jahr 1508
kommt allein die größte westliche Elongation vom 11. Oktober in Frage (mit MorgenSichtbarkeit bei 18°). 12 Wesentlich ungünstiger war die Beobachtungssituation am
21. Juni 1508 (ebenfalls maximale westliche Elongation bei 21°).
Richtung
Helligkeit
Scheinbare
Höhe
Entfernung
8°
0.9 AE
Größe
Merkur
O
-0.4 m
6.8“
Sonne
Merkur
-9°
O
-0.4 m
6.8“
Sonne
10°
0.9 AE
-6°
9
Dazu Koos: „Sowohl im Falle der Gemälde Boltraffios als auch demjenigen Giorgiones
kann der vom Knaben hochgehaltene Pfeilschaft, der weniger die Spitze als die Feder
betont, als Allusion auf das Instrument des Poeten, die Schreibfeder [...] betrachtet werden
[...].“ (Literatur wie in Fußnote 2, S. 186).
10
Damit wurden beide Kräfte – lange vor Descartes – in qualitativer Hinsicht beschrieben.
11
Vgl. dazu die überarbeitete Version meines Buchs über die Jupitermonde (noch unveröffentlicht).
12
Die Angaben dazu bei RedShift 6: Merkur größte Elongation W. (18°), 11 Okt 04:43
(Ortszeit), Morgen-Sichtbarkeit, Helligkeit -0.48. Allgemein gilt: die Morgen-Sichtbarkeit ist
optimal, wenn die Ekliptik steil zum Horizont steht, was im Herbst der Fall ist. Dagegen sind
die besten Abend-Sichtbarkeiten im Frühjahr gegeben.- Denkbar und wahrscheinlich ist,
dass Giorgione die Halb-Phase des Merkur mit seinen bescheidenen optischen
Möglichkeiten vielleicht zwar nicht sehen, wohl aber aufgrund der abstraktiven
Rekonstruktion der Planetenbewegung in bezug auf die Erde erschließen konnte: jede
Maximal-Elongation eines inneren Planeten impliziert die Halb-Phase.
5
Die Merkur- und Venusphasen bei Giorgione
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Tabelle 1: Größte westliche Elongation des Merkur und Angaben zur Sonne am 11.
Oktober 1508 um 04:43 Uhr (18°) und später (Zeitpunkt der „Bürgerlichen
Dämmerung“). Standort: Venedig
Was Venus-Elongationen vor der Merkur-Beobachtung angeht, so war am 10.
August 1508 eine größte östliche mit 46° zu verzeichnen (Abend-Sichtbarkeit). 13
Richtung
Helligkeit
Scheinbare
Höhe
Entfernung
8°
0.6 AE
Größe
Venus
SW-W
-4.2 m
24.5“
Sonne
-6°
Tabelle 2: Größte östliche Elongation der Venus und Angaben zur Sonne am 10.
August 1508 um 18:43 Uhr (46°). Standort: Venedig
2. Die Geburt der Venus (Abb. 2)
Botticelli nutzte zur Darstellung der Venus-Phasen ein- und dieselbe Gestalt, die er in
unterschiedlichen Stellungen zeigte. Die Venus, an den Rosenblüten, die von ihr
abfallen unschwer erkennbar, fliegt, samt ihrem Begleiter, den sie eng umschlingt,
von links in den Bildraum herein. Beide Gestalten sind, wie Vögel, mit mächtigen
Schwingen ausgestattet. Sie bildet zur Horizontlinie einen Winkel von 46°, was ihrer
Halb-Phase entspricht (hier der Phasen-Winkel EVS). Der linke Arm und ihre linke
Brust sind nicht bedeckt.
Die Voll-Venus auf der Muschel. Man erkennt den Mittelpunkt des Planeten, den sie
mit der linken Hand berührt (Abb. 2, V‘). Mit der rechten zeigt sie den Winkel von
23.5° für die Ekliptikebene der Erde. Diese liegt mit der Venus (V‘) und der Sonne
(S‘) auf einer Linie – beide sind hier deckungsgleich, wobei die Venus real natürlich
„hinter“ der Sonne steht. Im abstrakten Schema (Blick von oben) liegen die Erde, die
Sonne und die Venus auf einer Linie. Der Phasen-Winkel beträgt 0°. Die Venus hat
– im Unterschied zu Giorgione – die Augen geöffnet. Dies deutet darauf hin, dass der
Mann aus Florenz sie in dieser Phase sehen konnte. Sie dreht ihren Kopf nach
13
Die Angaben bei RedShift 6: Venus größte Elongation Ost (46°), 10 Aug 23:41 (Ortszeit),
Abend-Sichtbarkeit, Helligkeit -4.23.
6
Die Merkur- und Venusphasen bei Giorgione
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rechts, schaut also in Richtung Osten. Die Folge-Phase ist eine größte östliche
Auslenkung.
In der unteren Konjunktion ist die Venus des Medici-Malers mit einem geblümten
weißen Kleid und einem rotem Überwurf angetan. Der Phasen-Winkel liegt bei 180°.
Sie steht auf den Fußspitzen, als wolle sie demnächst entschweben. Auch beginnt
sie, sich der nächsten Elongation annähernd, den Überwurf abzustreifen. Mit dem
ausgestreckten Arm deutet sie die Halb-Phase, die maximal-westliche Auslenkung
bereits an (Winkel S‘‘VE‘, bei 45°). Damit hat der Maler des Quattrocento alle
wichtigen Phasen des zweiten Planeten abgebildet. Die Geburt der Venus lässt sich
am besten von rechts nach links „lesen“. In der unteren Konjunktion ist sie gänzlich
bedeckt, von der Erde aus also unsichtbar. Darauf folgt die westliche Elongation und
dann die Voll-Venus, die ihre Folge-Phase antizipiert. 14
2.1 Die Schlummernde Venus (um 1509/10)
In seinen Notizie von 1525 erwähnte Marcantonio Michiel neben den Drei
Philosophen auch die nackte Venus, die er im Haus des ‘„Girolamo Marcello, in San
Tommaso“‘15 gesehen hatte: ‘„La tela della Venere nuda, che dorme in uno paese
con Cupidine, fu de mano de Zorzo da Castelfranco; ma lo paese e Cupidine furono
finiti da Tiziano.“‘16 Über die Drei Philosophen wurde gesagt, sie seien von
Sebastiano vollendet worden. Ähnlich gilt für die Venus, dass Giorgione offenbar nur
deren Gestalt fertigstellte, während der Rest von Tizian erledigt wurde.
Es geht bei dem Gemälde um etwas Anderes als einen nackten Frauenkörper vor
dem Hintergrund einer lieblichen Landschaft. Die mythologische Gestalt der Göttin
diente dem Astronomen dazu, die wichtigste Phase des Planeten (!) Venus
festzuhalten: die Obere Konjunktion, während die anderen Phasen lediglich angedeutet wurden. Das Bild zeigt eine Voll-Venus, die er, ebenso wie die vier JupiterTrabanten, als Beweis für die Richtigkeit des von ihm propagierten heliozentrischen
Systems angesehen hat (Abb. 3). Sie entspricht dem astronomischen Sachverhalt
der Oberen Konjunktion, wo der Planet „hinter“ der Sonne steht und von der Erde
14
Die Geburt der Venus aus dem Quattrocento dient lediglich als Folie, vor deren Hintergrund die giorgionesken Bilder Knabe mit Pfeil und Schlummernde Venus erläutert werden.
Eine umfassende Besprechung des großformatigen, bis heute unverstandenen Gemäldes
kann an dieser Stelle – natürlich - nicht geleistet werden.
15
Annalisa Perissa Torrini: Dokumente, Quellen, Nachrichten, in: Literatur wie in Fußnote 2,
S. 22.
16
ibid.
7
Die Merkur- und Venusphasen bei Giorgione
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aus nur schwer gesehen werden kann: die Augen der Venus sind geschlossen. 17 Der
Phasenwinkel EVS beträgt 0°. Danach erscheint sie am westlichen Abendhimmel,
ihre nächste Phase ist die größte östliche Elongation. Kurz darauf (sie ist schneller
als die Erde!) kommt sie der Erde am nächsten: der Zeitpunkt der Unteren
Konjunktion.
Voll-Venus = Obere Konjunktion (0°). Die Linie 𝐴𝐸 teilt das Bild recht genau in 2
Hälften. Sie schneidet die Venus im Punkt V = S, der, der Länge wie der Breite nach
als Mittelpunkt ihres Körpers anzusehen ist. In der Oberen Konjunktion liegen die
Erde, die Sonne und die Venus auf einer Linie. Der Planet erreicht den weitesten
Abstand von der Erde, sein Phasen-Winkel beläuft sich auf 0°.
Halb-Venus = Größte östliche Elongation (46°). Die nächste prominente Stellung ist
eine Halb-Phase, die größte östliche Auslenkung. Dabei bezeichnet EV90S den
Phasen-Winkel von 90°. Der Elongations-Winkel SEV90 misst 46° (zusätzlich wurde
der Winkel für 45° eingezeichnet). 18 Dies ist die Halb-Phase oder „Dichotomie“.
Weiter kommt die Venus von der Sonne nicht weg.
Untere Konjunktion. Bei der Unteren Konjunktion kommt der Planet der Erde am
nächsten. Wie bei der Oberen befinden sich alle 3 Himmelskörper auf einer Geraden,
der Winkel beträgt ~180°. Die Venus steht genau zwischen der Erde und der Sonne,
sie ist unsichtbar.- Mit dem roten Polster und der Decke sind lediglich
Bedeckungsutensilien vorhanden, mit denen sie teilweise oder auch vollständig
bedeckt werden kann.
2.2 Die Bedeutung des Cupido
Wie Hans Posse in einem instruktiven Aufsatz dargelegt hat, war bei Giorgione
ursprünglich ein Cupido zu sehen, der zu Füßen der Venus saß. 19 Dieser Cupido
wurde während einer Restaurierung von 1843 bedauerlicherweise durch eine Wiese
17
Dass die Venus am hellen Tage schläft (!), scheint bisher noch niemand besonders aufgefallen zu sein. Der Umstand ist sehr wohl erklärlich, wenn man von einem astronomischen
Tatbestand ausgeht. Offenbar konnte Giorgione das Objekt während dessen oberer
Konjunktion nicht ausmachen.
18
Copernicus schrieb im Commentariolus über die Venus: „Aber in bestimmten Abständen
von der Sonne, die durch Berührungslinien [Tangenten] vom Erdmittelpunkt an den
Kreisumfang gebildet werden, kehrt sie auf beiden Seiten um und überschreitet für unseren
Anblick niemals 48°. Und dies ist das Wichtigste von der Längen-Bewegung der Venus.“
(Literatur wie in Fußnote 8, S. 24).
19
Vgl. Hans Posse: Die Rekonstruktion der Venus mit dem Cupido von Giorgione, in:
Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen. Bd. 52. 1931, S. 29-35.
8
Die Merkur- und Venusphasen bei Giorgione
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übermalt. 20 Außerdem musste das Gemälde wegen seines schlechten Zustands ein
Jahr später auf eine neue Leinwand übertragen werden. 21- Posse beschrieb den von
ihm rekonstruierten Cupido wie folgt: „Dieser Cupido hält mit gestrecktem Arm einen
Pfeil, den er unterhalb der Befiederung mit der rechten Hand umfaßt und dessen
Spitze abwärtsgerichtet ist. Er blickt über die rechte Schulter hinweg aus dem Bild
heraus. Links unterhalb des Kopfes sind die Ansätze der beiden Flügel sichtbar. [...]
Der Putto hält [...] den flügelschlagenden Vogel mit der erhobenen linken Hand an
den Beinen fest.“ 22 Schon bei Botticelli waren die Venus und ihr Partner mit Flügeln
ausstaffiert, die beide als Himmelsobjekte auswiesen. Der geflügelte Cupido
repräsentiert also die Venus selbst, als ein bewegtes Objekt im Raum. Ihm sind zwei
Attribute beigegeben: 1. der nach unten zeigende Pfeil, und 2. das Vögelchen, das in
die Luft auffliegen will. Wie oben erwähnt, verkörpern diese Attribute jene Kräfte, die
den Planeten auf seiner Bahn um die Sonne halten. Selbstverständlich erinnert der
– richtungsgleiche – Pfeil an den Knaben mit Pfeil. Er verkörpert, wie dort, die
Zentripetal- oder Radialkraft. 23 Das Vögelchen hingegen steht für die Fliehkraft. Es
ist bezeichnend, dass sich der Kopf des Cupido auf derselben Höhe wie der
Baumstumpf nahe der Bildmitte befindet; er dürfte die Kreisbahn des Planeten
symbolisieren.
20
Vgl. ibid. S. 32, Anm. 1.
Vgl. ibid. Anm. 2.
22
ibid. S. 35 sowie die "Abb. 5 Rekonstruktion des ursprünglichen Bildes" auf der Seite
http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PPN=PPN523141572_0052&DMDID=dmdlog5&LO
GID=log5&PHYSID=phys41#navi (Der Zugriff auf DigiZeitschriften ist nur von Rechnern von
Einrichtungen aus möglich, die DigiZeitschriften abonniert haben).- Marlies Giebe und vor ihr
der österreichische Kunsthistoriker Karl Oettinger haben die Identifizierung als Vögelchen –
wohl zu Unrecht – attackiert (Vgl. Marlies Giebe: Die „Schlummernde Venus“ von Giorgione
und Tizian, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Beiträge, Berichte
1992. Band 23, S. 93-110, hier S. 108). Demgegenüber muss auf das eminente Zeugnis
Carlo Ridolfis (1594-1658) rekurriert werden, der im Jahre 1648 zu Füßen der Venus einen
‘„Cupido con Angellino in mano [...]“‘ (Karl Oettinger: Die wahre Giorgione-Venus, in:
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien. Wien. 13. 1944, S. 113-139, hier
S. 123), also einen ‚Cupido mit einem Engelchen in der Hand‘ erkannt hatte, als das
Gemälde noch in einem intakten Zustand war. Offenbar erhob er – anders als die gesamte
Kunstgeschichte nach ihm - das „profane“ Vögelchen sogleich in eine religiöse Sphäre. Man
wird zugeben müssen, dass beide Darstellungen – aufgrund der Flügelchen – einander stark
ähneln, Giorgione aber wohl ein Vögelchen meinte. Ohnehin kommt es in unserem
Zusammenhang v.a. auf die von diesem verkörperte, nach außen gerichtete Kraft, die
Fliehkraft an.
23
Das wichtige Bild-Element des Pfeils taucht in beiden Gemälden auf, tritt im Knaben
jedoch stärker in Erscheinung.
21
9
Die Merkur- und Venusphasen bei Giorgione
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2.3 Die astronomischen Daten
In der größten westlichen Elongation sieht man die Venus westlich der Sonne
(Morgen-Sichtbarkeit, wir bzw. die Erde bewegen uns in die Tag-Seite hinein, so
dass sie von uns aus gesehen links, also östlich am Himmel zu sehen ist). Diese
Elongation (mit 46°) fand im fraglichen Zeitraum am 30. Dezember 1508, also im
Winter statt. 7 Monate später trat der Planet in die Obere Konjunktion, hier: am 5.
August 1509, einem Sommer-Tag. Nach weiteren 7 Monaten steht er in seiner maximalen östlichen Elongation (45°): am 18. März 1510 (die Erde dreht sich nach links
zur sonnenabgewandten Seite, so dass Venus westlich erblickt werden kann). Die
Untere Konjunktion fand am 28. Mai 1510 statt.- Giorgione musste nur 7 Monate zur
Maximal-Elongation West addieren, um den Zeitpunkt der Oberen Konjunktion zu
erhalten; dies war ein Sommer-Tag Anfang August, der 5. August 1509. Es ist genau
dieses astronomische Datum, das das Bild der Schlafenden Venus wiedergibt. Zwar
dominiert in der Landschaft durchaus noch das Grün. Aber ein Teil der Wiesen ist –
aufgrund der Trockenheit - bereits am Verblühen, und einige Bäume sind gelb
verfärbt.- Der Versuch, die von unserem Maler prognostizierten Venus-Phasen früher
anzusetzen, erscheint wenig sinnvoll. Im Jahr 1507 fällt die maximale WestElongation auf den 28. Mai, also ins Frühjahr. Logischerweise ist die Obere
Konjunktion im Winter zu erwarten, das genaue Datum war der 3. Januar 1508 – ein
eklatanter Widerspruch zur Sommerzeit des Gemäldes.
3. Fazit
Beide Gemälde behandeln dasselbe Thema, jedoch mit unterschiedlicher Gewichtung. Beim Knaben mit Pfeil steht die Abbildung der Halb-Phase des Merkur im
Vordergrund, die auf den 11. Oktober 1508 datiert wurde. Der mit 20° gemessene
Winkel entspricht dieser Stellung in etwa (real 18°). In das Bild wurde außerdem der
Winkelabstand der Venus integriert, der stets um die 45° beträgt. Bei der
Schlummernden Venus ist es zunächst die Stellung - als Voll-Venus hinter der
Sonne -, die als klarer physikalischer Beweis des Heliozentrismus erkannt wurde.
Auch ihre Halb-Phase wurde malerisch angedeutet. Deutlicher als im Knaben wurde
sie – qua geflügeltem Cupido – als ein Flugobjekt charakterisiert, und es wurden
– qua dessen Attribute – jene Kräfte angesprochen, die den Planeten auf seiner
Bahn halten: die Zentripetal- und die Zentrifugalkraft.
10
Die Merkur- und Venusphasen bei Giorgione
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Hinweise zu den Abbildungen
Abb. 1a/b: Giorgione, Knabe mit Pfeil
Pappelholz, 47 x 42 cm
Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie
URL der Seite: http://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AGiorgione_060.jpg
URL der Datei:
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/63/Giorgione_060.jpg
Abb. 2: Sandro Botticelli, Die Geburt der Venus (ca. 1482-1485)
Tempera auf Holz
Länge: 278,5 cm. Höhe: 172,5 cm
Florenz, Uffizien
URL der Seite:
http://commons.wikimedia.org/wiki/File%3ALa_nascita_di_Venere_(Botticelli).jpg
URL der Datei:
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/47/La_nascita_di_Venere_%28Bott
icelli%29.jpg
Abb. 3: Giorgione und Tizian, Schlummernde Venus
Öl auf Leinwand, 108 x 175 cm
Dresden, Gemäldegalerie
Page URL: http://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AGiorgione_054.jpg
File URL: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2d/Giorgione_054.jpg
11
45°
20°
Abb. 1 a: Giorgione, Knabe mit Pfeil
- Winkelabstände der Planeten Venus und Merkur
2
3'
1
3
4'
4
Abb. 1 b: Giorgione, Knabe mit Pfeil
- Halb-Phase des Merkur
V
23.5°
46°
E (S'')
V'
S'
Abb. 2
45°
S(E')
A
V
S
0°
180°
V90
46°
E
Abb. 3
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