ETHNOLOGIE DES ISLAMS DES NAHEN UND MITTLEREN OSTENS Ibrahim Ankaoglu SENIOREN-UNIVERSITÄT SENIOREN-VOLKSHOCHSCHULE LUZERN 25.04.2013 Gliederung 1. Geographische Eingrenzung 2. Ethnische Gruppen im Nahen und Mittleren Osten 3. Religiöse Etablierungen bis zur Entwicklung des Islam 4. Verbreitung des Islam durch den Propheten Mohammed 5. Entstehung der Hauptrichtungen des Islam 6. Die Geschichte der islamischen Reiche bis zur Neuzeit Reformbewegungen und Erneuerungen im 20 Jh. Geographische Eingrenzung: Begriff des Nahen Ostens und Mittleren Ostens Engerer Sinn: Weiterer Sinn: WESTASIEN LÄNDER NORDAFRIKAS & ZENTRALASIEN Darüberhinaus auch: Vorderer Orient Arabische Welt Mittlere Osten Geographische Eingrenzung des Nahen und Mittleren Ostens Verbindender Faktor: - Der Islam stellt in dieser Region ein verbindender Faktor dar, auch wenn es bedeutende nicht-muslimische Gruppen gibt. - Das Gebiet des Nahen und Mittleren Ostens entspricht der Ausbreitung des Islam am Ende der ersten großen islamischen Expansion um 750. - Der Islam hat sich in dieser Region bereits in frühester Zeit als Religion sowie als Staatswesen ausgebreitet. Frühere historische Einheiten: - Es gab bereits vor dem Islam große historische Einheiten, die mehr oder weniger diesen Raum umspannt haben: das Reich Alexander des Großen das Sassaniden-Reich das Römische Reich das Byzantische Reich - Nach dem Niedergang der frühen islamischen Dynastien deckte das Osmanische Reich einen Großteil der Region ab. - daraus ergeben sich kulturelle Zusammenhänge und Kontinuitäten Das Reich Alexander des Großen, 323 v. Chr. (Quelle: http://www.ucalgary.ca/applied_history/tutor/oldwrld/armies/armyimage/Alexempire.html) Das Römische Reich 116 n. Chr (Quelle: http://www.cit.gu.edu.au/~wiseman/Roman/19Maps.html) Das Byzantische Reich, 565 n. Chr. (Quelle: http://www.cit.gu.edu.au/~wiseman/Roman/19Maps.html) Das Osmanische Reich, 1566-1700 (Quelle: http://www.fsmitha.com/h3/map21-ot.html) Geographische Übereinstimmungen: Der nahe Osten ist der westlichste und mittlere Teil des großen altweltlichen Trockengürtels. - Geologische, tektonische und klimatische Gemeinsamkeiten - Subtropisches Trockenklima - Intensive, agrarische Nutzung des Bodens bereits in frühester Zeit: Beginn der Sesshaftigkeit Domestikation von Getreidesorten und Tierarten Entwicklung der ersten Städte Wirtschaftliche Faktoren: - Handelsrouten, die verbindend wirkten und einen kulturellen Austausch ermöglichten. - Ökonomische Wechselbeziehungen zwischen zwei unterschiedlichen Gruppen: Sesshafte und Nomaden (ökologische Symbiose, Möglichkeit der Spezialisierung und Differenzierung). - Ab dem 15. Jh. hat sich die Situation des Handels in der Region dramatisch verändert: Expansion der europäischen Märkte, die einen direkten Eingriff in die politischen und wirtschaftlichen Geschicke der Länder ausübten. Ethnische Gruppen im Nahen und Mittleren Osten Im Nahen und mittleren Osten gibt es drei Sprachfamilien: - Die afroasiatische Familie - Die Turksprachen (Altaische Familie) - Die iranischen Sprachen (indogermanische Familie) Die afroasiatische Familie: Die afroasiatische Familie: Altägyptisch Tschadisch Semitisch Omotisch Kuschitisch Berber Altägyptische Sprachen Altägyptisch (Hyroglyphenliteratur, Demotisch, Ptolemäisch) Koptisch (ca. 6 bis 8 Mio.) Stele aus Semna mit mittelägyptischer Aufschrift (12. Dynastie) Koptische Inschrift, etwa 3. Jahrhundert n. Chr. Semitische Sprachen (62 Sprachen; 262 Mio. Sprecher) Arabisch Neuaramäisch Hebräisch Amharisch Tigrinya Ausgestorbene Sprachen wie Akkadisch Semitisch (Orange) innerhalb der afroasiatischen Sprachen Kuschitische Sprachen (47 Sprachen; ca. 45 Mio.) Oromo (30 Mio.) Somali (12 Mio.) Sidama (Athiopien) Kamba´ata (Athiopien) Berber Sprachen (auch Tamaziyt; 47 Sprachen; 13,5 Mio) Tuareg (Südalgerien, Mali, Niger) Taschelhit (Südmarokko) Kabylisch (Algerien) Omotische Sprachen (30 Sprachen; 4 Mio Sprecher) Gonga Gimira Mao Ometo Tschadische Sprachen (31 Mio. Sprecher) - 195 genetisch verwandte Sprachen - Verbreitungsgebiet in Niger, Nigeria, Kamerun, Tschad - Bevölkerungsreichste Sprache ist Hausa mit etwa 85 Mio. Sprechern Die türkischen Sprachen: Altaische Sprachfamilie Turksprache (41 Sprachen) Oghusisch: Türkeitürkisch Turkmenisch Azeri Aynallu Gagausisch Kiptschakisch Tatarisch Kasachisch Kirgisisch Karaim Koreanisch-Japanisch (?) Tungusische Sprachen (12 Sprachen) Ewenkisch Nanai Mandju Mongolische Sprachen (14 Sprachen) Burjatisch Oiratisch Uigur Usbek Uigur Tschagatai Sibirisch Jakutisch Dolganisch Linguistische Karte der Türkei Berber Sprachen (Tamaziyt) Iranische Sprachen: Indogermanisch (Indoiranisch) Neuiranische Sprachen (50 Sprachen; etwa 150 Mio) Persisch: Hochpersisch Dari (Afghanistan) Tadschikisch Hazara (Afghanistan) Paschtu (Afghanistan) Kurdische Sprachen Sorani (Türkei, Irak) Kumandschi (Türkei Irak) Südkurdisch (Iran, Irak): Kolyai Garussi Iranische Sprachen: Iranische Sprachen in Iran: Berber Sprachen (Tamaziyt) Religiöse Entwicklungen bis zur Etablierung des Islam - Frühere polytheistische Religionen in der Region waren grundsätzlich pluralistisch und tolerant gegenüber anderen Religionen - Wichtigster Schritt zur Herausbildung des Monotheismus war der Zoroastrianismus: Zarathustra - Judentum: akzeptierte Religion des Buches Viele unterschiedliche jüdische Gemeinden in der islamischen Welt - Christentum: rasche Verbreitung durch Bekehrung Wurde zuerst im römischen Reich verfolgt; anschließend 392 n. Chr. zur Staatsreligion erhoben. Keine grundsätzliche Verbundenheit mit dem Staatswesen. Noch heute unterschiedliche christliche Gemeinden im Nahen Osten wie z. B. die Kopten, die Nestorianer, die Maroniten und die Chaldäer Verbreitung des Islam durch den Propheten Mohammed - Geboren um 570 in Mekka - „Siegel der Propheten“; Mohammed als Gesandter Allahs - Auszug von Mekka nach Medina um 622 (hidschra) - 630 Eroberung Mekkas - 632 starb Mohammed Entwicklung von drei wesentlichen sozialen und politischen Konzepten, die eng miteinander verbunden sind: Khalifa „Stellverteter“, Nachfolger Nachfolger Die Kalifen sahen sich als Stellvertreter und Nachfolger des Propheten in seiner politischen und religiösen Rolle als Oberhaupt der muslimischen Gemeinde In einem Kalifat sind deshalb religiöse sowie politische Führung unmittelbar miteinander verbunden Umma Religiöse Gemeinschaft der Muslime Die Umma steht in Konkurrenz zum in Europa entwickelten Konzept der Nation keine gemeinsame Verwandtschaft, sondern der Glaube stellt die Gemeinschaft in den Vordergrund Dar al-Islam Das Haus des Islam bezeichnet Gebiet, das unter der islamischen Herrschaft steht, das Territorium des islamischen Staatswesens Die ersten Kalifen - Abu Bakr (573-634) Bekämpfung der arabischen Aufständigen (Ridda-Kriege) Als langjähriger Freund des Propheten wurde er neben ihm in Medina beerdigt - Umar ibn al-Khattab (634-644) übernahm auch den Titel „amir al-mu´minin“ (Befehlshaber der Gläubigen) militärische Expansion auf Kosten des Sassaniden- und Byzantischen Reiches. Er wurde 644 aufgrund persönlicher Streitigkeiten von einem persischen Sklaven ermordet. - Uthman ibn Affan (644-656) Weiterführung der Expansion Veranlasste die definitive, bis heute gültige Aufzeichnung des Korans Auch Uthman wurde ermordet, diesmal infolge beginnender innerer Konflikte in der Gemeinschaft - Ali ibn Abi Talib (651-661) Mit der Wahl Ali´s als Kalifen beginnt die Spaltung innerhalb der Umma: Mu´awiya (Stadthalter von Syrien) Ermordung Talibs durch die Kharijiten 661 Entstehung der Dynastie der Ummayaden aus der bereits 660 von Mu´awiya gegründeten Gegenkalifat in Damaskus: Regelung der Nachfolge wurde erblich Die Entstehung der Hauptrichtungen des Islam Die Anhänger Alis akzeptierten das Kalifat Mu´awiyas nicht. Es kam zum Schisma zwischen den Sunniten und der Schi´at Ali. Die Schiiten zogen sich in die Region des heutigen Süd-Irak zurück und sahen in den Söhnen Alis seine legitimen Nachfolger: Hasan verzichtete auf die Nachfolge und sein Bruder Husayn wurde militärisch geschlagen. - Nachfolge im Kalifat wurde erblich - Spaltung der Sunniten und Schiiten - Entstehung der Richtung der Kharijiten - Sunniten bilden den Mainstream in der Folgezeit Die Sunniten - bilden die größte Glaubensrichtung im Islam. Sie werden als „ahl-as-sunna“ (Volk der Traditionen) bezeichnet - Die Bezeichnung Sunniten stammt von dem Wort „sunna“ (die Tradition des Propheten Mohammed) - Die Sunniten stellen in den meisten islamischen Ländern die Mehrheit der Muslime, mit Ausnahme des Iran, Irak, Oman, Libanon, Aserbaidschan sowie Bahrein - Sie lassen sich in vier Rechtsschulen einteilen Karte der Sunniten und Schiiten in der islamischen Welt (grün: Sunniten, rot: Schiiten) Rechtsschulen bei den Sunniten (madhahib) Hanafiten Malikiten Schafi´iten - Abu Hanifa (699- - Malik al-Asbahi - Muhammad ibn 767) (708-795) Idris as-Schafi´i - Seine Schüler: - Nord- und (767-820) Abu Yusuf und Westafrika - Indonesien ash-Schaibani - Türkei, Ägypten, Jordanien, Syrien, Zentralasien Ibaditen Zaiditen - Fünfer-Schiiten im Jemen - Begründet durch Zaid ibn Ali (gestorb. 740), Urenkel des Propheten (Enkel von Husayn) - Einzig übrig gebliebene Zweig der Kharijiten - Begründet durch Abdal ibn-Ibad (gestorben 708) - Oman, Tunesien, Libyen, Tansania Hanbaliten - Ahmad ibn Hanbal (780-855) - Weiterführung durch Ibn-Tamiya (1263-1328) und Abd-al-Wahab (1703-1792) - Saudi-Arabien Wahabiden und Salafisten Berber Sprachen (Tamaziyt) Die Schiiten Imamiten Ismailiten Zayditen Zwölfer Schiiten - 1. Ali - 2. Hasan - 12. Muhammad al Mahdi Entrückung al Mahdi´s und der Glaube an seiner Wiederkehr Siebener Schiiten - 7 Imame - Nach dem Tod des 6. Imam (765) kam es zu Streitigkeiten Fünfer Schiiten - Der fünfte Imam ist Zaid ibn-Ali (Enkel von Husayn) Kharijiten Wurden durch die Ibaditen weitergeführt (siehe bei den Rechtsschulen) Die Geschichte der islamischen Reiche: Die Umayyaden-Dynastie (661-750) - Größte Ausbreitung des islamischen Herrschaftsgebietes Diese Expansion fand im Gegensatz zur späteren Verbreitung kriegerisch statt - Die Hauptstadt wurde von Medina nach Damaskus verlegt - Einführung der dynastischen Erbfolge - Zeichen der Abnutzung und Vernachlässigung islamischer Werte. Eine innere Opposition machte sich bereit, die den islamischen Staatswesen wieder etablieren wollte Abbasiden Karte des Umayyaden-Reiches Die Abbasiden-Dynastie (750-1258) - Verlegung der Hauptstadt nach Bagdad - Blütezeit des Islam: - - Philosophie - Literatur - Wissenschaften (Medizin, Mathematik und Astronomie) Die Ausbeutung und Verschuldung der ländlichen Bevölkerung führte zu vielen Aufständen im Reich. Ab dem 9. Jh. kam es nach und nach zu einer Spaltung des Reiches: - Fatimiden 909 - Umayaden-Kalifat von Cordoba 929 Karte des Abbasiden-Reiches Mongolensturm Eroberung und Zerstörung Bagdads 1258 Die Osmanen Der osmanische Staat (Osmanli Imperatorlugu) existierte faktisch von 1299 bis 1923. - Hauptstadt war seit 1453 Konstantinopel - Neben arabischem Stammland wurde auch europäisches Territorium erobert und verwaltet - Neben territorialer Expansion auch maritime Dominanz im mediterranem Raum - Trennung zwischen Diplomatie und Politik von Religion - Nachdem das osmanische Reich zur Zeit des ersten Weltkrieges untergegangen ist, entstand die heutige Republik Türkei als Nachfolgerstaat Das osmanische Reich Der Nahe und mittlere Osten in der Neuzeit - Seit dem 16. Jahrhundert war der größte Teil der islamischen Welt unter drei Imperien aufgeteilt: Das Moghul-Reich in Indien (seit 1504 bis 1858) Das Reich der Safaviden in Iran (1501-1732) Das osmanische Reich (1299-1923) - Ausrufung der Republik Türkei 1923 hatte auch die Abschaffung des Kalifats zufolge, welches die islamische umma ohne Oberhaupt ließ. - Aufteilung der arabischen Provinzen des osmanischen Reiches in britische und französische Mandatsgebiete - Der Kolonialismus war eine der folgenschwersten Erfahrungen der muslimischen Völker. - Fremdherrschaft, Einbindung in den Welthandel und Modernisierungsprozesse sind unauflösbar miteinander verknüpfte Prozesse, die in den islamischen Gesellschaften unumkehrbare Entwicklungen in Gang gesetzt haben. - Diese Epoche wird in der Literatur zumeist mit der Landung der französischen Revolutionsarmee unter Bonaparte in Ägypten 1798 beginnen: - Algerien unter franz. Kolonialherrschaft bereits ab 1830 - Tunesien ab 1881 - Ägypten unter britisch. Herrschaft ab 1882 - 1907 wurde Iran von Briten und Russen in Einflusszonen aufgeteilt - 1911 besetzten Italiener Libyen - 1912 machte Frankreich Marokko zum Protektorat - Aufteilung Jordaniens, Iraks unter britische und Libanons und Syriens unter französische Mandatsgebiete sowie die Gründung Israels 1948 brachte den Höhepunkt des fremden Einflusses in der islamischen Welt - Zwei radikale Strömungen machten sich bereit: in Britisch-Indien und in Ägypten - Abu l-Ala Maududi (1903-1979) in Pakistan: - Konfrontation mit dem Westen und ihren Werten des Säkularismus und Individualismus, mit dem westlich getrennten Trennung zwischen Glauben und Wissen, zwischen Religion und Staat - Auseinandersetzung mit den Erfahrungen des Kolonialismus - Defensive Haltung gegenüber dem Westen, Aufkommen technologischer und wissenschaftlicher Unterlegenheitsgefühle aufgrund vorgeführter Überlegenheit - Der Islam sei frei von jeglichen entwicklungsgeschichtlichen Vergleichen. Negierung der islamischen Aufklärung - Der Islam als vollendeter Zusammenhang von Glauben und Leben. Allein Gott ist souverän; der Mensch habe in seinem höchsten Streben die Pflicht sich zu unterwerfen – dem unfehlbaren Gesetz Gottes, die Scharia (Lehre der Rebellion und Revolte) - Erweiterung seiner Thesen durch den Ägypter Sayyid Qutb in den 60ern - Hassan al-Banna (1906-1949); Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten, die al-Ihkwan al-Muslimun: - - Erneuerung des Islams (salafiyya) Als moderne, geistige Bewegung: Rückkehr zu den Ursprüngen Der Weg aus der Dekadenz der arabischen und muslimischen Gesellschaften, aus ihrer Schwäche und ihrem Verfall, sollte durch Besinnung auf das Ursprüngliche, auf den reinen, unverfälschten Islam beschritten werden. Ein Islam frei von Interpretationen der Theologen; alle inzwischen hinzugetretenen Schriften werden zurückgewiesen Alleinige Zurückbesinnung auf den Koran und die Sunna Anlehnung an puristische Rechtschulen von Ibn Hanbal (9. Jh.), Ibn-Taimija (13/14 Jh.) und Abd al Wahab (18 Jh.) Ausweitung der Lehre auf einen sozialen Raum; keine Elitenbildung (Massenbewegung) Keine Zurückweisung westlicher Errungenschaften Gegenwärtige Entwicklungen: - Zunehmende Schwächung von extremistischen und islamistischen Bewegungen, welche eine erneute Öffnung der islamischen Welt im Nahen und Mittleren Osten ermöglichen - Mit dem Versiegen der Ölressourcen wird eine wirtschaftliche und politische Neustrukturierung des arabischen Raumes ermöglicht. - Die Türkei als zunehmender regionaler und globaler emerging market. Von der Brücke zwischen Europa und Asien weg zum interkontinentalen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gravitationszentrum Eurasiens Ende Fragen?