ISR+ Entwicklung eines kommunikationsbasierten computergestützten Systems zur Diagnostik der gängigsten psychosomatischen Störungen nach ICD‐10 Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades Dr. phil. am Lehrstuhl für Sprachgebrauch und Therapeutische Kommunikation (Prof. Dr. Hartmut Schröder) an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) vorgelegt von Dipl.‐Math. Laura Cojocaru aus Reschitz / Rumänien im März 2014 1. Berichterstatter: Prof. Dr. Hartmut Schröder 2. Berichterstatter: Prof. Dr. Karin Tritt 2 3 Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit bringt eine interaktive, gestufte, strukturierte computergestütz‐ te Diagnostik aller psychischen Störungen der ICD‐10 auf den Weg: das ICD‐10‐ Symptom‐Rating‐Plus (ISR+). Vereinfacht dargestellt, basiert das Vorgehen auf einer Symptom‐ und Syndrom‐Diagnostik psychischer Beeinträchtigungen durch Anwenden der Syndromskalen des ICD‐10‐Symptom‐Rating (ISR). Hierzu werden dem Kliniker für jedes der erfassten und für den jeweiligen Patienten relevanten Syndrome die ent‐ sprechenden diagnostischen Leitlinien bzw. Kriterien in algorithmischer Form zur Be‐ wertung angeboten, ergänzt durch eine grafische Aufbereitung des individuellen Pati‐ entenratings, wenn ein entsprechendes Patientenrating des Kriteriums vorliegt. Dadurch erhält der Kliniker eine erste unmittelbare Information der Patientensicht bezüglich des zu bewertenden Kriteriums als Ausgangspunkt für seine Entscheidungs‐ findung. Dann wird der Kliniker auf der Basis adaptiven Testens durch die in der Folge notwendigen diagnostischen Entscheidungen geleitet und erhält abschließend einen Vorschlag einer entsprechende(n) F‐Diagnose(n) der ICD‐10; immer werden auch die entsprechenden Ausschlusskriterien der ICD‐10 aufgeführt. Abschließend müssen die vorgeschlagenen Diagnosen bestätigt (bzw. verworfen) und die Hauptdiagnose be‐ stimmt werden. Darüber hinaus erhält der Kliniker eine Auflistung der Symptome, bei denen der Patient eine Belastung angibt und die z. B. für den Arztbrief, den Antrag zur Aufnahme einer Richtlinientherapie oder beim Entlassungsbericht benötigt werden. Das gesamte Softwaresystem besteht aus dem Patientenrating. Dieses umfasst die ursprünglichen 29 ISR‐Items, ergänzt durch mindestens 19 weitere Items (in Abhängigkeit davon, welche zusätzlichen Optionen vom Kliniker gewünscht werden), dem Expertenrating I, das die fünf Syndrome abdeckt, die mit den ISR‐ Syndromskalen erfasst werden, und dem Expertenrating II, mit dessen Hilfe alle bislang noch nicht diagnostizierten psy‐ chischen Syndrome bewertet werden können. 4 Im Rahmen dieser Promotion wurden erstens, der generelle Ablaufplan des Gesamt‐ projekts in detaillierter Form sowie zweitens, die genauen Algorithmen der fünf Syn‐ drommodule des ISR+ für das Expertenrating I entwickelt. Für diese interdisziplinäre, jedoch in erster Linie in der medizinischen Informatik anzu‐ siedelnde Arbeit wurde zuerst der idealtypische Diagnoseprozess bei psychischen Stö‐ rungen analysiert, um den allgemeinen Programmablauf des ISR+ zu entwickeln, was praktische diagnostische Kenntnisse und Erfahrungen in den Bereichen Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie erforderte. Die Ergebnisse dieser Analyse mussten dann zu den Konstruktionsprinzipien der ICD‐10 in Beziehung gesetzt werden. Schließ‐ lich wurde eine Softwarelösung zur Umsetzung konzeptualisiert. Dann wurde die jeweils ökonomischste Gestaltung des diagnostischen Algorithmus für die Modulerstellung der fünf Syndrome ermittelt. Hierzu mussten die jeweiligen Leitli‐ nien bzw. Kriterien für jede einzelne Differenzialdiagnose der ICD‐10 herausgearbeitet und mit denen der übrigen Differenzialdiagnosen des Moduls abgeglichen werden. Da jedes der fünf Module anderen Konstruktionsprinzipien folgte und unterschiedliche diagnostische Entscheidungen verlangte, war eine spezifische Entwicklungsarbeit für jedes Modul notwendig. Diese Problematik drückt sich z. B. in der variierenden Anzahl von Differenzialdiagnosen pro Syndrommodul aus. So mussten beim Zwangsmodul lediglich fünf ICD‐10‐Differenzialdiagnosen berücksichtigt werden, beim Essstörungs‐ modul waren es acht, beim Angstmodul und dem Modul für die somatoformen Stö‐ rungen waren es jeweils 12 und beim Depressionsmodul sogar 27 verschiedene Diffe‐ renzialdiagnosen. Außerdem sollten die unterschiedlichen diagnostischen Kenntnisse verschiedener klinischer Nutzer Berücksichtigung finden; Erfahrene sollten nicht mit redundanten Informationen versorgt werden, relativ unerfahrene Kliniker aber gleich‐ zeitig schnellen Zugang zu den für sie typischerweise erforderlichen Wissenselementen haben. Dies wird erreicht durch Hervorheben der relevanten Kriterien für die Erfahre‐ neren, sozusagen als Erinnerungsanker, in Verbindung mit Informationsbuttons, über die unerfahrenere Kollegen Details abrufen können. Diese Arbeit präsentiert die Er‐ gebnisse dieser Analyseprozesse, den Ablaufplan des ISR+ und die fünf Syndrommodu‐ le des Expertenratings I. 5 INHALTSVERZEICHNIS Zusammenfassung ...................................................................................................... 4 1 Einleitung ...................................................................................................... 7 1.1 Hintergrund ........................................................................................................ 9 1.2 Wissenschaftlicher Kontext .............................................................................. 11 1.3 Anforderungsprofil ........................................................................................... 21 1.4 Fragestellung .................................................................................................... 21 2 Methodik und Design des Systems .............................................................. 25 2.1 Design des kompletten Diagnosesystems ........................................................ 27 2.2 Vorbedingungen zur Durchführung des ISR+ ................................................... 28 2.3 Design des ISR und ISR+ ................................................................................... 31 2.4 Design der störungsspezifischen Algorithmen ................................................. 38 3 Einzelmodule der Syndrome ....................................................................... 42 3.1 Depressive Störungen ...................................................................................... 42 3.2 Angststörungen ................................................................................................ 68 3.3 Zwangsstörung ................................................................................................. 89 3.4 Somatoforme Störungen .................................................................................. 98 3.5 Essstörungen .................................................................................................. 114 4 Diskussion ................................................................................................. 128 5 Ausblick .................................................................................................... 141 6 Literaturverzeichnis .................................................................................. 145 Erklärung ................................................................................................................ 156 6 1 Einleitung Psychische und psychosomatische Krankheiten werden in unserer Gesellschaft unbe‐ stritten häufiger [Barmer Gesundheitsreport, 2009]. Damit verbunden sind neben ei‐ ner humanitären Herausforderung auch eine pekuniäre und eine organisatorische, denn sie sind ein wichtiger Binnenwirtschaftsfaktor. Kosten entstehen in der stationä‐ ren bisektoralen Versorgung (im Krankenhausbereich sind aktuell 54.000 Betten in den Psychiatrien und fast 10.000 Betten in psychosomatischen Krankenhausabteilungen in Betrieb sowie mehr als 16.000 Reha‐Betten in psychosomatisch/psycho‐ therapeutischen Krankenhäusern [Stat. Bundesamt, 2013; Wiegand‐Grefe, 2007]). Mehrbedarf bedeutet gleichzeitig auch mehr Forschung und ein Mehr an Erkenntnis‐ sen. Die Psychiatrie, aber auch die klinische Psychologie und die Psychosomatik haben sich im Sinne der Wissenschaft parallel zu den anderen Disziplinen deutlich wahr‐ nehmbar entwickelt und sind aus deren Schatten herausgetreten [Herzog, 2013]. Die „Decade of the Brain“ [http://www.loc.gov/loc/brain/, abgerufen am 11.05.2014] hat deutliche Spuren hinterlassen. Mit dem Erkenntnisgewinn verändern sich auch die Be‐ handlungskonzepte, was wiederum zu einer Veränderung der Strukturen führt – wie überall in der Medizin. Nach der Zeitenwende in der Krankenhausfinanzierung in Deutschland, dem Einführen des DRG‐Systems [Burgemer, 2004; Rose, 2004; Wilke, 2001], also der Umstieg von tagesgleichen Pflegesätzen zu Fallpauschalen, bei dem die „Psycho‐Fächer“ bisher ausgenommen waren, wird seit 2010 an einem pauschalieren‐ den Entgeltsystem für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen gearbeitet (§ 17d KHG). Die stationäre psychosomatische Therapie steht seit jeher unter besonderer Beobach‐ tung, da die Wirksamkeit psychotherapeutischer Methoden, insbesondere in der Kom‐ bination (multimethodale Therapie) – und das ist das typische stationäre Angebot –, mangels unmittelbar offensichtlicher, allgemein wahrnehmbarer und akzeptierter Ver‐ änderungen – anders als in der Chirurgie und der Inneren Medizin – immer wieder auf dem gesellschaftlichen Prüfstand steht [Heuft, 2003]. Effektive Argumente in der Dis‐ kussion mit den Kostenträgern liefern Qualitätsberichte der Kliniken, die im Kern auf 7 standardisierter Dokumentation, allgemein akzeptierter psychologischer Verlaufsmes‐ sung und Katamnesen basieren und durch ein Benchmarking flankiert werden [Probst, 2009; Tritt, 2003]. Wie schon erwähnt, findet ein gewichtiger Anteil der stationären psychosomatischen Versorgung in den entsprechenden Reha‐Kliniken statt. Hier hat der Kostenträger, der DRV‐Bund, ein immanentes Qualitätssicherungssystem etabliert; die Daten landen beim Kostenträger. Die zweite Institution, die in dem Sektor in wahr‐ nehmbaren Umfang aktiv ist, ist der Initiative einer Gruppe von Klinikleitern und der Fachgesellschaft zu verdanken, die zunächst regional, dann regional flächendeckend und jetzt auch überregional treuhänderisch Daten sammelt und rückmeldet [Heymann, 2003]. Damit gibt es im System eine Situation, wo kostenträger‐unabhängig Versor‐ gungsforschungsdaten generiert werden, die auch zur Steuerung und zur Gestaltung dieser Sektoren des Gesundheitssystems herangezogen werden können. Im Institut für Qualitätsentwicklung in Psychosomatik und Psychotherapie (IQP) sind mittlerweile 150.000 stationäre Behandlungen dokumentiert. Inzwischen gibt es weitere Projekte, die Vergleichbares leisten, z. B. in den Ländern Berlin und Brandenburg; dort unter Federführung der hiesigen Universitätsabteilung und mittlerweile auch im ambulanten Sektor (DGPM‐Doku‐Projekt [Palmowski, 2009], Psy‐Q‐Bay [Steffanowski, 2012]) und im Konsiliarbereich [Söllner, 2005]. Um diese Instrumente wirkungsvoller zu machen, war der erste Schritt die sektorenübergreifende Vereinheitlichung der Variablen und deren Operationalisierungen. Dies ist mit der Synopsis der verschiedenen Basisdoku‐ mentationen (Konsiliarpsychosomatik: CL‐BaDo, ambulante Psychosomatische BaDo, Psychiatrie: DGPPN‐BaDo, Schmerzdokumentation: DGSS‐BaDo, DRV‐BaDo, Psychoso‐ matik: Psy‐BaDo‐PTM, Psychoonkologie: Psycho‐Onko‐BaDo [Tritt, 2011]) auf den Weg gebracht worden. Zentrale Variablen dabei sind natürlich die Diagnosen [1996; Baumann, 1990; Baumann, 1998; Beck, 1962; Bördlein, 2000; Feighner, 1972; Fydrich, Grawe, 1994; Hach, 2003; Hautzinger, 1996; Heuft, 2003; Knappe, 2008] – und hier beginnt das Problem. 8 1.1 Hintergrund Bereits in den 1970er‐Jahren gab es einige multizentrische Studien (z. B. [Stieglitz, 2002]), die zeigten, dass die diagnostische Übereinstimmung durch verschiedene Un‐ tersucher sehr gering ist. Die unterschiedlichen klinischen Einschätzungen wurden un‐ ter anderem darauf zurückgeführt, dass ein Patient z. B. zu zwei verschiedenen Zeit‐ punkten untersucht wurde, in denen er sich in verschiedenen Krankheitszuständen oder in unterschiedlichen Phasen einer Störung befand. Kliniker erhielten zudem nicht nur ungleiche Informationen zur selben Erkrankung (Informationsvarianz), sondern schätzten auch uneinheitlich das Vorhandensein und die Relevanz der vorliegenden Symptome ein (Beobachtungsvarianz). Darüber hinaus verwendeten die Ärzte und Psychologen unterschiedliche diagnostische Kriterien für die Diagnose derselben Stö‐ rung (Kriterienvarianz) [Freyberger, 2007]. Zusammenfassend hat sich also als wesentlich und gut nachweisbar für die unzu‐ reichende Diagnosereliabilität psychischer Störungen die Kriterienvarianz herausge‐ stellt, gefolgt von der Beobachtervarianz [Spitzer, 1974], die durch operationale Diag‐ nosesysteme sowie strukturierte und standardisierte Erhebungsverfahren verbessert werden sollen. Definitionen Der Fachausdruck „Diagnostik“ wird als „systematisches Sammeln und Aufbereiten von Informationen“ verstanden, mit dem Ziel, „Entscheidungen und daraus resultierende Handlungen zu begründen, zu kontrollieren und zu optimieren“ [Uexküll, 2003]. Solche Entscheidungen und Handlungen basieren generell „auf einem komplexen Informati‐ onsverarbeitungsprozess. In diesem Prozess wird häufig auf Regeln, Anleitungen, Algo‐ rithmen usw. zurückgegriffen. Man beurteilt damit psychologisch relevante Charakte‐ ristika von Merkmalsträgern und integriert gegebene Daten zu einem Urteil (Diagnose, Prognose). Als Merkmalsträger können Einzelpersonen, Personengruppen, Institutio‐ nen, Situationen, Gegenstände etc.“ gelten [Jäger, 1999]. Der komplexe Aufgabenbe‐ reich der sinnvollen Informationsakquise für die Diagnostik basiert auf Klassifikations‐ 9 systemen von Störungen, die selbstverständlich eine gewisse Entwicklung und Erpro‐ bung voraussetzen. Solche Systeme beinhalten eine „Einteilung und Anordnung von klinisch bedeutsamen Phänomenen (z. B. Symptomen), die durch gemeinsame Merk‐ male gekennzeichnet sind, in ein nach Klassen eingeteiltes Ordnungssystem (= Klassifi‐ kationssystem), auf dessen Grundlage die Zuordnung von Patienten1 zu einer oder mehrerer vorher definierter Klassen“ [Stieglitz, 2008] erreicht werden kann. Um die komplexe Diagnostik2 abzubilden, ist der Einsatz von Informationstechnologie als Hilfsmittel nicht mehr verzichtbar [Becker, 2006; Cibait, 2006; Lahmann, 2009; Pe‐ ter, 1995; Peters, 1998; Rosenman, 1997; Wittchen, 1998]. Sie wird im diagnostischen Prozess beispielsweise zur Auswahl individuell geeigneter diagnostischer Tests und zur Auswertung und Interpretation der akquirierten Daten genutzt. Jeder Einsatz hat das Ziel, den Kliniker in der Diagnose‐ und Entscheidungsfindung zu unterstützen. Hauptaufgabe dieser Arbeit ist es, ein standardisiertes und komplexes computerge‐ stütztes, wissensbasiertes, medizinisches Diagnosesystem der vom ISR abgedeckten psychischen Erkrankungen unter Berücksichtigung des ökonomischen Aspektes zu entwickeln. Bestimmte Vorbedingungen sollten erfüllt sein, sodass sie leicht in der Routinediagnostik integriert werden können und hierfür ein geringer Zeitaufwand be‐ ansprucht wird. Die hier zu realisierende Lösung wird auf syndrombezogenen Algo‐ rithmen basieren, die durch die diagnostischen Leitlinien und Kriterien der ICD‐10 vor‐ gegeben sind [Dilling: Leitlinien, 2014; DIMDI, 2006]. Hierzu werden die subjektiven Symptomempfindungen des jeweiligen Patienten (Patientenrating) [Tritt, 2008] sowie die des Klinikers (Expertenrating) berücksichtigt. Im Anschluss der Diagnostik soll der Kliniker in der Lage sein, strukturiert die Hauptdi‐ agnose(n) und die Nebendiagnose(n) zu identifizieren. Sie könnten dann z. B. zur Bele‐ gungsplanung, zu Abrechnungszwecken oder zur Erstellung des Arztbriefes leicht ex‐ portiert werden. Interdisziplinäres wissenschaftliches Arbeiten von Ärzten, Psychologen und Informati‐ kern ist somit eine unerlässliche Voraussetzung, um die Komplexität der Diagnostik 1 Die abwechselnd gewählte männliche bzw. weibliche Form steht jeweils pars pro toto, wechselt je nach Kontext und stellt keine Bewertung des jeweils anderen Geschlechts dar. 2 In dieser Arbeit wird die Diagnostik psychischer Erkrankungen behandelt. 10 psychischer und psychosomatischer Erkrankungen nach der ICD‐10 in Algorithmen zu übersetzen, diese inhaltlich und klinisch zu prüfen und zu implementieren. 1.2 Wissenschaftlicher Kontext Für einen Kliniker gibt es verschiedene Erhebungsquellen, wie beispielsweise das diag‐ nostische Gespräch, die unmittelbare Beobachtung des Patienten, die Laborwerte, die Bildgebung, elektrophysiologische Untersuchungen, die Fremdanamnese und die psy‐ chologische Testung, alles unter der Berücksichtigung des Verlaufs, die heute umfas‐ send als multimethodale Diagnostik in der klinischen Praxis etabliert ist [Andrews, 2000; Brähler, 2002; Henkel, 2004; Hautzinger, 1996; Kendell, 1978; Krampen, 1998; Linden, 2003; Margraf, 1994; Mezzich, 1995; Möller, 1998; Müssigbrodt, 2006; Robins, 2004; Saile, 2000; Schneider, 1994; Schneider, 1998; Spitzer, 1975; Spitzer, 1983; Spit‐ zer, 1992; Stieglitz, 2000; Stieglitz, 2002; Stieglitz, 2004; Stieglitz, 2008; Sulz, 1998; WHO, 1993; Williams, 1992; Wittchen, 1991; Wittchen, 1994; Wittchen, 1997]. Wie schon in der Einleitung angedeutet, ist ein Hauptproblem in der Psychosoma‐ tik/Psychotherapie die Qualität der Diagnostik [Mestel, 2005, Möller, 1998; Wirtz, 2002; Wittchen, 1993; Wittchen, 1994a; Saile, 2000]. Zur Auswahl des phänomenologischen Diagnosesystems Heute gibt es weltweit zwei gebräuchliche, sich sehr ähnelnde, deskriptiv aufgestellte diagnostische Klassifikationssysteme, die sich durchgesetzt haben: das von der Ameri‐ can Psychiatric Association (APA) entwickelte Diagnostik and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM‐IV‐System), ein stringentes und konsequent kriterienbezoge‐ nes Diagnosesystem [APA, 2000], und das am weitesten verbreitete ICD‐10‐System der World Health Organisation (WHO), das unter anderem verschiedene differenzielle di‐ agnostische Konzepte und Manuale in verschiedenen Sprachen und für verschiedene klinische Bereiche (z. B. die klinisch‐diagnostischen Leitlinien oder die Forschungskrite‐ 11 rien) zur Verfügung stellt [Dilling: Forschungskriterien, 2011]. Um die grundsätzlichen Prinzipien multiaxialer Diagnostik zu verdeutlichen, werden die Achsen in der Tabelle 1.1.1 zusammengestellt. Hintergrund ist ein mittlerweile komplexeres Verständnis von Krankheit: Patienten mit derselben Diagnose können unterschiedliche psychosoziale Funktionseinschränkungen haben oder sich in abgrenzbaren, beschreibbaren sozialen Situationen befinden. Daneben spielt es erfahrungsgemäß auch eine Rolle, ob weitere körperliche Erkrankungen vorliegen, die einen Einfluss auf die psychische Erkrankung nehmen können, z. B. die psychopharmakologischen Möglichkeiten einschränken, wie z. B. bei kardiologischen Erkrankungen. In diesem Projekt liegt der Fokus ausschließlich auf der Achse Ia der ICD‐10. Konstruktionsprinzipien der Diagnosesysteme Tab. 1.2.1: Darstellung der Achsen der ICD‐10 (entsprechen auch dem DSM) [Stieglitz, 2011] Achse Ia Psychiatrische Diagnosen, Kapitel V der ICD‐10 Achse Ib Somatische Diagnosen, andere Kapitel der ICD‐10 Achse II Psychosoziale Funktionseinschränkungen gemäß der WHO Disability Diagnostic Scale Achse III Besondere psychosoziale Situation, die den Gesundheitszu‐ stand beeinflusst und zur Inanspruchnahme des Gesund‐ heitswesens führt, die sogenannten Z‐Diagnosen. In Deutschland besteht nach dem SGB V, §295, Absatz 1, Satz 2 die Verpflichtung der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte, die Diagnosen nach dem von der World Health Organization (WHO) entwickelten ICD‐10‐GM (German Modifica‐ tion), Version 2013, zu verschlüsseln. Für die Diagnostik psychischer Störungen ist das 12 fünfte Kapitel, das diese in 10 Hauptstörungsgruppen präsentiert, relevant (Tab. 1.2.2) und Basis des ISR, das ICD‐10‐Symptom‐Rating [Tritt, 2008]. Die ICD‐10 unterscheidet zwischen dem Vorhandensein von Symptomen, der klini‐ schen Wertung und den daraus abgeleiteten und operationalisierten diagnostischen Leitlinien, ergänzt durch weitere Kriterien. Für das Vorliegen einer Erkrankung werden entsprechend der entwickelten Expertenleitlinien und ‐kriterien eine Mindestanzahl von psychischen, vegetativen und/oder somatischen Symptomen gefordert sowie das Vorhandensein eines ausgeprägten Leidens oder einer Beeinträchtigung festgelegt [Dilling: Forschungskriterien, 2011]. Tab. 1.2.2: Gliederung des fünften Kapitels der ICD‐10 in den 10 Hauptstörungsgruppen F0 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen F1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen F2 Schizophrenie, schizzotype und wahnhafte Störungen F3 Affektive Störungen F4 Neurotische, Belastungs‐ und somatoforme Störungen F5 Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Fakto‐ ren F6 Persönlichkeits‐ und Verhaltensstörungen F7 Intelligenzminderung F8 Entwicklungsstörungen F9 Verhaltens‐ und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend 13 Diagnostische Strategien Klassisches Vorgehen ist die psychiatrische Exploration. Der Kliniker kennt grundsätz‐ lich die Krankheitsbilder und prüft im Einzelfall mehr oder weniger systematisch die seelische, intellektuelle und kognitive Funktionalität im Gespräch und in der Beobach‐ tung (psychopathologischer Befund). Diese Befunde werden eventuell durch fremd‐ anamnestische Angaben und weitere Möglichkeiten (Labor, Bildgebung) ergänzt [Ebert, 2011]. Die erhobenen Befunde werden mit den idealtypischen, in Lehrbüchern beschriebenen oder anhand systematischer Klassifikationssysteme, wie dem oben be‐ schriebenen Kapitel V der ICD‐10, abgeglichen. Eine Weiterentwicklung sind die Check‐ listen zu einzelnen abgrenzbaren Krankheiten, die die Kriterien im Sinne eines spezifi‐ schen, die Diagnose eingrenzenden Schemata zusammenfassen [Hiller, 1997]. Dieses Vorgehen, ergänzt durch eine klinische Zweitsicht – durch einen erfahreneren Arzt – ist im Augenblick das übliche Prozedere [Mestel, 2005]. Ergänzend zum psychopathologischen Befund werden schon seit fast 100 Jahren Selbstauskunftsbögen (Selbstratings) eingesetzt. Sie haben (symptom‐ und syndrom‐ übergreifenden oder spezifischen Charakter. Im Folgenden werden die für diese Arbeit relevanten Testinstrumente und ihre jeweilige Bedeutung vorgestellt. „Der Krieg ist der Vater der Dinge“: Woodworth, ein Militärpsychiater der US Army entwickelte 1918 aus der Not – sprich schlicht aus dem Personalmangel heraus – das „Sich‐selbst‐Interviewen“ mittels eines Fragebogens (personal data sheet). Die Symp‐ tom‐Check‐List (SCL) wurde also anfangs im militärischen Kontext entwickelt: Psychi‐ sche Belastung wurde als kurz‐ oder längerfristige Stressreaktion verstanden. Das Ver‐ fahren ist grundsätzlich ökonomisch, im Prinzip handelt es sich um eine neue Informa‐ tionsquelle, Vergleichbarkeit wird möglich (Normal/Abweichung). Historisch betrach‐ tet, wurde nach Stieglitz [Stieglitz, 2000] zunächst eine Discomfort Scale mit drei Items konstruiert, die 1954 in der Psychotherapieforschung eingesetzt wurde. In 1957 wurde zunächst die SCL‐41 (Itembewertung: 0 bis 3) eingeführt, gefolgt von einer 65 Item umfassenden Version für die Pharmaforschung in 1965. Im Jahre 1969 entstand eine Version mit 55 Items zur Erfassung therapeutischer Effekte. In der weiteren Entwick‐ 14 lung wurde 1974 schließlich eine erste repräsentative Haushaltsbefragung durchge‐ führt zur Klärung des allgemeinen Belastungs‐ und Stresslevels. Dabei wurde, um die Verständlichkeit abzusichern, für die Fragenauswahl auf den Grundwortschatz des TEACHER’S BOOK OF 30,000 WORDS zurückgegriffen. 1970 wurden erste Faktorenana‐ lysen gerechnet, 1972 wurde dann die erste Symptom‐Check‐Liste mit 90 Fragen (SCL‐ 90) und einer fünfstufigen Likert‐Skala (Einstufung 0‐4) entwickelt. 1977 erfolgte die Weiterentwicklung von Derogatis, der SCL‐90‐R, bei dem Normtabellen und Transfor‐ mationen für T‐Werte etc. vorgelegt wurden. Die erste deutschsprachige Version er‐ schien 1986 [Franke, 2002; Rief, 2012]. Folgende Skalen wurden faktorenanalytisch herausgearbeitet: 1) SOMA: Somatisierung, 2) ZWAN: Zwang (leichte Konzentrations‐ störungen bis Zwang), 3) UNSI: Unsicherheit im Sozialkontakt, 4) DEPR: Depression, 5) ANGS: allgemeine Angst, 6) AGGR: Aggressivität (Reizbarkeit, Unausgeglichenheit bis zu Feindseligkeit), 7) PHOB: Phobische Angst (Bedrohung), 8) PARA: Paranoides Den‐ ken (Minderwertigkeit, Misstrauen), 9) PSYC: Psychotizismus (leichte Isolation, Ent‐ fremdung). Daneben wird der GSI (Global Severity Index) kalkuliert, der die grundsätz‐ liche psychische Belastung zum Ausdruck bringt, der PSDI (Positive Symptom Disstress Index), der die Intensität der Symptome abbildet und der PST (Positive Symptom To‐ tal), der die Anzahl der auftretenden Symptome an sich beschreibt. Der wissenschaft‐ lich wichtigste und am häufigsten eingesetzte Wert ist der Globale Kennwert GSI = GS (Summe der Summenwerte der Skalen/Anzahl der beantworteten Items (meistens 90). Es gibt bemerkenswerte interkulturelle Unterschiede: Deutsche haben z. B. höhere PST‐Werte, jedoch eine niedrigere Zustimmungstendenz (PSDI), auch ZWAN, UNSI, DEPR, PSYC sind bei der deutschen Population verstärkt ausgeprägt. 1995 erfolgte die deutsche Normierung, 1999 kam die erste PC‐gestützte Version auf den Markt. Es exis‐ tieren auch Kurzversionen mit 53 Items; generell liegt der zeitliche Bezugsrahmen bei 7 Tagen. Das Patient Health Questionnaire (PHQ) ist ein Screeninginstrument zur vereinfachten Diagnostik der acht häufigsten psychischen Störungen in der Primärmedizin. Es exis‐ tiert eine autorisierte deutsche Version des „PRIME MD Patient Health Questionnaire“ (PHQ). Neben der Komplettversion mit 77 Items kann auch eine Kurzform mit 15 Items 15 eingesetzt werden. Die Komplettversion ermöglicht die Diagnostik von somatoformen Störungen, depressiven Störungen, Angststörungen, Essstörungen und Alkoholmiss‐ brauch. Die Kurzform erfasst depressive Störungen, die Panikstörung und die psycho‐ soziale Funktionsfähigkeit. Der PHQ basiert auf den diagnostischen Kriterien des DSM‐ IV; die Kurzform ist adaptiert an ICD‐10. Der modulare Aufbau erlaubt eine flexible Anpassung an die jeweilige klinische Fragestellung. Die Anwendung kann sowohl in der Erstdiagnostik als auch zur Verlaufskontrolle erfolgen. Es gibt die Möglichkeit einer „Kategorialen Auswertung“ mit Einzelauswertung für die verschiedenen psychopatho‐ logischen Syndrome. Die andere Möglichkeit ist die „Kontinuierliche Auswertung“ zur Ermittlung von Skalensummenwerten auf den Skalen „Depressivität“, „somatische Symptome“ und „Stress“ [Löwe, 2003; Löwe, 2004b; Löwe, 2004c]. Grundlage für den PHQ sind die im DSM IV beschriebenen Krankheitskategorien. Für den Gebrauch im deutschen Sprachraum wurden diese „transformiert“ in vergleichbare ICD‐10 Diagno‐ segruppen: Somatisierung wurde zur somatoformen Störung; statt der Angststörungen wird speziell auf Paniksymptome fokussiert. Die Auswertungsschablonen erlauben kei‐ ne komplette Diagnostik. Des Weiteren ist die Erfassung des Alkoholmissbrauchs durch Patienten, wie dies in der Langversion erfolgt, unter Fachleuten umstritten [Seidel, 2013]. Auf Grundlage der ICD‐10‐Klassifikation wurde zur Erfassung der subjektiven sympto‐ matischen Belastungen vom Patienten vom Institut für Qualitätsentwicklung in der Psychotherapie und Psychosomatik (IQP) das Testinstrument „ICD‐10‐Symptom‐ Rating“ (ISR) entwickelt [Tritt, 2008]. Hierfür wurden die im ICD‐10‐Kapitel F aufge‐ führten Diagnosen zu Syndromen abgebildet (Tab. 1.2.3, Zacharias, 2006). Syndrome, die als ausreichend geeignet für Patientenratings betrachtet wurden, sind das depres‐ sive Syndrom, das Angstsyndrom, das Zwangssyndrom, das somatoforme Syndrom und das Essstörungssyndrom. Das ISR besteht aus 29 Items, die sich auf fünf (Syndrom‐)Skalen (depressives Syndrom, Angstsyndrom, Zwangssyndrom, somatoformes Syndrom, Essstörungssyndrom) sowie 12 Einzelitems (sogenannte Zusatzitems), die eine erste Screeningfunktion für weitere Syndrome besitzen, verteilen, und wurde in enger Anlehnung an die diagnostischen 16 Kriterien der ICD‐10 erstellt. Es ist ein kurzes, ökonomisches, in der Praxis gut erprob‐ tes und mittlerweile von vielen Klinikern, Institutionen des Gesundheitssystems und Kostenträgern geschätztes Instrument, das in psychometrischer Hinsicht den Vergleich zum bisherigen Goldstandard, der SCL‐90‐R, nicht scheuen muss [Tritt, 2010]. Auf der Basis verschiedener klinischer, klinisch unauffälliger und repräsentativer Da‐ tensätze wurden die Güte der Gesamtskalen und der Syndromskalen des ISR geprüft. So wurde z. B. das Instrument mit verschiedenen Fragebögen kreuzvalidiert [Bauer, 2010; Brandt, 2010; Gangl, 2011; Losch, 2011; Seidel, 2013; Tritt, 2010]. Zur Prüfung der syndromalen Struktur des ISR wurden die Syndromskalen gemeinsam einer Fakto‐ renanalyse unterzogen, die eine einwandfreie Replikation der Einzelskalen mit 73%iger Varianzaufklärung ergab [Fischer, 2010]. Tab. 1.2.3: Zusammenfassung der Differenzialdiagnosen des Kapitels V der ICD‐10 zu Syndro‐ men Syndrome Diagnosen ICD‐10‐Kapitel F Hirnorganisches Psychosyndrom F00–F09 Substanzgebundenes Abhängigkeitssyndrom F10–F19 Schizophrenes Syndrom F20–F29 Manisches Syndrom F30 Bipolares Syndrom F31 Angstsyndrom F40–F41 Zwangssyndrom F42 Belastungsstörungssyndrom F43.0 und F43.1 Anpassungsstörungssyndrom F43.2 Somatoformes Syndrom F45 Neurasthenisches Syndrom F48 Depersonalisationssyndrom F48.1 Dissoziatives Syndrom F44 Essstörungssyndrom F50 17 Nicht organisches Schlafstörungssyndrom F51 Nicht organisches sexuelles Funktionsstörungssyndrom F52 Psychische Störungen im Wochenbett F53 Psychische Faktoren bei anderorts klassifizierten Störungen F54 Missbrauch von nicht abhängigkeitserzeugenden Substanzen F55 Persönlichkeitsstörungssyndrom F60–F61 Persönlichkeitsveränderungssyndrom F62 Syndrom der abnormen Gewohnheiten/Störungen der Impulskontrolle F63 Syndrom der Störungen der Geschlechtsidentität und [Sexual]präferenzen F64–F66 Syndrom der artifiziellen Störungen F68 Syndrom der Intelligenzminderung F7 Die Syndromskalen wurden syndromspezifisch anhand einer Gegenüberstellung einer großen klinischen und einer Repräsentativstichprobe normiert. Auch die prognostische Validität des ISR wurde regressionsanalytisch mit einer Stichprobe von stationären Patienten, deren Diagnosen mit dem Diagnostischen Expertensystem für Psychische Störungen (DIA‐X) gesichert wurden, evaluiert [Artmann, 2012; Luders, 2013; Stelle, 2012; Stock, 2012]. Das ISR umfasst praktisch nur halb so viele Items wie der PHQ in der Langform; dabei werden Hinweisinformationen bezüglich deutlich mehr psychi‐ schen Syndromen geliefert, als dies die Kurzform des PHQ‐D leistet. Neben den bisher vorgestellten Selbst‐Rating‐Instrumenten ist der zweite wichtige Ansatz das strukturierte diagnostische Interview. Darunter wird ein Vorgehen ver‐ standenen, das häufig auf einem diagnostischen Algorithmus aufbaut sowie auf einem vollständig vorgeschriebenen, standardisierten Ablauf basiert, bei dem auch der Wort‐ laut des Interviews vorgefasst wird. Da im Rahmen der Diskussion eine Auseinander‐ setzung mit den gängigen strukturierten Interviews erfolgt, soll an dieser Stelle nur kurz auf dieses Thema eingegangen werden. Mittlerweile existieren einige validierte, mehr oder weniger spezialisierte Instrumente, die entweder auf das amerikanische (aktuell DSM‐IV) (SKID‐I) oder das internationale (aktuell ICD‐10) Klassifikationssystem zugeschnitten sind [Andrews, 1998; APA, 2000]. 18 Einige erfordern bei der Durchführung viel klinische Erfahrung, andere sind auch für geschulte Laien geeignet. Das strukturierte klinische Interview für DSM‐IV (SKID‐II) wurde beispielweise primär zur Erfassung von Persönlichkeitsstörungen entwickelt und setzt umfangreiche klinische Erfahrung voraus [Bronisch, 1995; Margraf, 1991; Means‐ Christensen, 2003]. Das strukturierte klinische Interview (CIDI) ermöglicht sogar das Überprüfen der DSM IV‐ und der ICD‐10‐Diagnosen, gilt aber als das aufwendigste Instrument zur Diagnose‐ stellung [Berking, 2012; Robins, 1988; Cooper, 1998; Daradkeh, 1999; Quintana, 2004; WHO, 1990; WHO, 1993a; WHO, 1993b; WHO, 1993c; WHO, 1997a; WHO, 1997b]. Neuere Entwicklungen In den letzten Jahren wurden verschiedene Strategien zur Verbesserung der Diagnostik psychischer Störungen verfolgt: Zum einen werden im Sinne eines computergestützten adaptiven Testens einzelne Diagnosen genauer durchleuchtet. Der computergestützte adaptive Test (CAT) zur Angstmessung (Angst‐CAT) basiert beispielsweise auf der Grundlage der „modernen“ probabilistischen Testtheorie namens „Item Response Theorie“ (IRT), die gegenüber der herkömmlichen „Klassischen Test‐Theorie“ (KTT) eine Reihe von messtheoretischen Vorteilen bieten könnte. Es sollte in diesem Projekt [Becker, 2004] erprobt werden, ob sich diese Vorteile auch in der praktischen Anwen‐ dung bei der Konstruktion eines CATs im klinisch‐psychologischen Bereich wiederfin‐ den lassen. CATs ermöglichen die individuelle Anpassung der Item‐Darbietung an die Merkmalsausprägung einer Person. Dies geschieht, indem Testpersonen während der CAT‐Bearbeitung nur die Items zur Beantwortung dargeboten werden, welche dem individuellen Ausprägungsniveau einer Person optimal entsprechen („adaptives Tes‐ ten“). Dadurch kann eine deutliche Verringerung der Testlänge bei einem gleichzeitig konstant hohen Messpräzisionsniveau erreicht werden. Die IRT‐basierte Testentwicklung des Angst‐CATs gliedert sich in drei Schritte: (1.) die inhaltliche Auswahl angstrelevanter Items, (2.) die sequenzielle statistische Itemanaly‐ se und ‐selektion dieser Items mit dem Ziel, die Items mit der besten psychometri‐ 19 schen Qualität zur Konstruktion einer Itembank zu nutzen und (3.),, die Implementie‐ rung der Itembank in einen computergestützten adaptiven Itemabfolge‐Algorithmus, der die Präsentation der Items und die Schätzung der individuellen Angstausprägung von Testpersonen ermöglicht. Die zur Itemanalyse und ‐selektion genutzten Items entstammen etablierten psycho‐ metrischen Instrumenten. Die Itemanalyse erfolgte an psychometrischen Daten von N=2.348 psychosomatischen Patienten. Aus einem initialen Itempool von 125 Items wurden 50 Items selektiert und als Itembank dem Angst‐CAT zugrunde gelegt. Die entwickelte Itembank erfasst weitgehend objekt‐ und situationsübergreifend sowohl emotionale als auch kognitive Aspekte der aktuellen Zustandsangst. Die Darbietung von 5–7 Items zur Schätzung der Angstausprägung weist ein konstant hohes Mess‐ genauigkeitsniveau mit einer Reliabilität von > 0,9 auf. Dieser Befund, welcher im Einklang mit positiven Forschungsergebnissen zu IRT‐ basiert‐entwickelter CATs im Bereich der Leistungsdiagnostik steht, deutet darauf hin, dass auch die klinisch‐psychologische Diagnostik von der Entwicklung und dem Einsatz IRT‐basierter CATs profitieren kann. Eine an die CAT‐Entwicklung anschließende Validierungsstudie mit etablierten Instru‐ menten (BAI, HADS, GT, NEO‐FFI) an N=102 psychosomatischen Patienten zeigt, dass das Angst‐CAT ein valides und reliables sowie ökonomisches psychometrisches Scree‐ ning‐Instrument zur Erfassung von Zustands‐Angst ist [Becker, 2004]. Zwei Nachteile sind dabei zu beachten: Zum einen ist der CAT nicht an die ICD‐10‐ Diagnosen angepasst, zum anderen eignet sich dieses System nicht für alle klinischen Situationen. Nichtsdestotrotz zeigt dieses Modell, dass die an den Einzelfall adaptierte Darbietung der Items ein lohnender Weg sein kann, um die Testungsanforderungen an den Patienten [Meiser‐Stork, 2012] – und damit die Zumutbarkeit für den Patienten – zu minimieren. 20 1.3 Anforderungsprofil Das hier geplante computergestützte Diagnosesystem, das auf einer logikbasierten Vorgehensweise beruhen soll, soll eine wertvolle Hilfe für den jungen oder erfahrenen Kliniker bieten und von wirkli‐ chem praktischen Nutzen sein, ihm zuverlässig, verständlich und transparent die relevanten Kriterien präsentie‐ ren, ihn bei seinen Schlussfolgerungen unterstützen sowie informationelle Expertise an wichtigen Entscheidungspunkten zur Verfügung stel‐ len. Die flexible Anpassung der Entscheidung durch das fachliche Eingreifen im Diagno‐ seprozess ermöglicht bei dieser Konstellation eine qualitativ hochwertige Diagnos‐ tik. Der wirtschaftliche Nutzen des Systems soll sowohl durch die Zeitersparnis als auch durch eine genauere Diagnostik bei komplexer Symptomatik erreicht werden. Bestandteile der Dokumentation des Systems sollen automatisch in den Arztbrief übertragen werden. Die modulare Darstellung der Algorithmen ermöglicht eine einfache Anpassung der einzelnen Syndromregeln (z. B. Zwangssyndrom) an neue Versionen wie den ICD‐ 11. 1.4 Fragestellung Studien zeigen, dass alleine verwirklicht werden kann [Mestel, 2005]. Vor diesem Hin‐ tergrund entstand die Idee, ein auf Patientenrating basierendes computergestütztes adaptives Testen (CAT) der ICD‐10‐Diagnosen zu entwickeln und umzusetzen. Dabei erhält jeder Patient dieselben ISR, ergänzt durch die erweiterten ISR+‐ Items, zur Be‐ wertung seiner eigenen Symptome. Das Vorliegen des Ergebnisses, das sogenannte Patientenrating, sowie Labordaten und das abgehaltente Patientengespräch sind die 21 Voraussetzung für die Bewertung der Symptome durch den Kliniker. Mit dem Ziel, eine umfassende Diagnostik nach ICD‐10 zu realisieren, wird der Kliniker in Abhängigkeit seiner Symptombewertung durch die implementierten ICD‐10‐Algorithmen geführt. Sind diagnostische Kriterien oder Leitlinien In der ICD‐10 nicht vorhanden, so werden die Forschungskriterien der ICD‐10 einbezogen. Im ersten Schritt werden hierfür die diagnostischen Algorithmen basierend auf den Leitlinien sowie weiteren diagnostischen Kriterien der ICD‐10 ausgearbeitet und von den an dem Projekt beteiligten Experten (in alphabetischer Reihenfolge: Dr. Fritz v. Heymann, Prof. Thomas Loew, Dipl.‐Psych. Thomas Probst, Prof. Dr. Wolfgang Söllner, Prof. Dr. Karin Tritt, Prof. Dr. Michael Zaudig) im Rahmen einer Konsensbildung beur‐ teilt und wenn nötig verbessert. Diese Vorgehensweise ist in einem hohem Maß be‐ reits beim medizinischen Expertensystem MYCIN praktiziert worden [Beierle, 2008], bei dem sämtliche Regeln durch Befragen der Experten gewonnen wurden. Beierle et al. (2008) erkennen, dass ein fehlendes Regelwerk die Unsicherheiten widerspiegelt, die medizinisches Wissen immer impliziert. Die Autoren der ICD‐10 haben bewusst nicht für alle Störungen und Situationen Regeln entwickelt, wodurch dem Kliniker in dem entstehenden System eine wichtige Entscheiderrolle zugesprochen wird. Im ersten Schritt werden die Selbsteinschätzungen der Patienten in Form eines Patien‐ tenratings berücksichtigt. Daraufhin wird der Kliniker vor dem Hintergrund der Bewer‐ tungen der Symptome durch den Patienten strukturiert den Diagnoseprozess fortset‐ zen; das zu entwickelnde System umfasst demnach verschiedene Module, die aus dem Diagnostikerrating der verschiedenen Syndromalgorithmen (z. B. für Essstörungen) bestehen. Diese werden durch Patientenratings der verschiedenen diagnostischen Leitlinien und Kriterien – soweit diese für Patientenratings geeignet sind – ergänzt. Dabei soll der Kliniker im Einzelfall nur diejenigen Module bewerten, die für den Einzel‐ fall relevant sind. Zum Abschluss erhält der Kliniker eine Auflistung vorgeschlagener Diagnosen zusammen mit den dazugehörigen Ausschlusskritieren der ICD‐10 und muss die Einzeldiagnosen bestätigen (oder verwerfen) sowie die Hauptdiagnose bestimmen. Auf diese Weise sollten alle in der ICD‐10 enthaltenen Syndrome im Rahmen von Ex‐ pertenrating I und Expertenrating II bei Bedarf abgedeckt werden können. 22 Das Expertenmodul I basiert auf den vom ISR abgedeckten Syndromen, das Experten‐ modul II auf den übrigen, die für ein Patientenrating nicht geeignet sind. In dieser Ar‐ beit werden das Patientenmodul und das Expertenmodul I geplant und modelliert. Zur Umsetzung der strukturierten ICD‐10‐Diagnostik wird für die bereits vorhandene ISR‐Auswertungssoftware das Modul in der Programmiersprache Python auf Basis des objektrelationalen Datenbankmanagementsystems PostgreSQL unter Nutzung von QT für die Benutzeroberfläche erstellt. Die dafür notwendigen Werkzeuge sind kostenlos, plattformunabhängig und damit wirtschaftlich. Sie sind leicht auf jedem Rechner ein‐ zurichten und bieten das gesetzlich geforderte Maß an Datensicherheit. Die Software‐ Pflege und die Weiterentwicklung des Gesamtsystems werden anschließend durch das IQP übernommen, womit eine längerfristige Nutzung gewährleistet wird. Das Exper‐ tenmodul II soll im Rahmen einer weiteren Dissertation modelliert und umgesetzt werden. Letztendlich lautet die Fragestellung dieser Arbeit: Lassen sich auf Basis der ICD‐10 technisch umsetzbare Algorithmen für ein in der Rou‐ tinediagnostik einsetzbares modulorientiertes, computergestütztes medizinisches Di‐ agnosesystem für die F‐Diagnosen entwickeln, die programmierbar sind und einer Eva‐ luation im Rahmen von Versorgungsforschungssettings unterzogen werden können? Eine anschauliche Umsetzung des Projekts zeigt die Abb. 1.4.1. 23 Abb. 1.4.1: Schematische Darstellung des Gesamtprojektes 24 2 Methodik und Design des Systems In diesem Kapitel wird der Projektabriss skizziert und erläutert. Im Vorfeld werden die Bedingungen zur ISR+‐Durchführung vorgestellt, die zusammen mit den beteiligten Experten formuliert wurden. Anschließend folgt eine Darstellung des generellen di‐ agostischen Ablaufs. Im Anschluss daran werden in Kapitel 3 die spezifischen Einzel‐ module des ISR+ entwickelt. Zunächst aber werden einige Vorüberlegungen, die zum Verständnis des Gesamtprojektes beitragen sollen, dargestellt. Um eine adäquate Programmierumgebung zur Erstellung des wissensbasierten ISR+‐ Diagnostiksystems zu bestimmen, wurde der klinische Diagnoseprozess im Vorfeld analysiert, wie dies z. B: auch von Berking et al. [Berking, 2012] empfohlen wird. Hierzu wurden die verschiedenen, am Diagnoseprozess beteiligten Komponenten sowie deren chronologischer Ablauf unter die Lupe genommen, wie nachstehend erläutert (Abb. 2.1.1). Eingangs wurden die in der Einleitung dargestellten Konstruktionsprinzipien der ICD‐10 (insbesondere der atheoretische, kriterien‐orientierte Ansatz und das Komorbi‐ ditätsprinzip) kritisch reflektiert, um diese bei der Umsetzung ausreichend berücksich‐ tigen zu können. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Feststellung, dass die Diag‐ nostik psychischer Störungen im Rahmen der ICD‐10 überwiegend auf der Erfassung von Symptomen beruht. Symptome werden als Zeichen für das Vorliegen einer Krank‐ heit gewertet. Anschließend werden die Symptome in einem ersten Schritt zu Syndro‐ men geordnet. Unter einem Syndrom versteht man eine spezifische Konstellation von Symptomen [Tritt, 2010; Uexküll, 2003]. Im Rahmen der Syndrombildung werden die Symptome dann teilweise durch weitere diagnostische Kriterien (z. B. bestimmte Ver‐ haltensweisen) ergänzt. Diese diagnostischen Kriterien werden teils vom Patienten berichtet, teils vom Kliniker beobachtet, teils fremdanamnestisch erhoben und schließ‐ lich manchmal noch durch Laborbefunde vervollständigt. Der ISR‐Fragebogen ermöglicht die strukturierte Selbsteinschätzung verschiedener Symptome durch die Patienten, die u. a. diagnostische Hinweise auf das Vorliegen fünf 25 verschiedener Syndrome liefert. Diese subjektiven Symptomratings durch den Patien‐ ten liefern dem Kliniker Informationen für das anschließende Expertenrating. An dieser Stelle muss vermerkt werden, dass das Patientenrating eines Symptoms nicht mit einem Diagnostikerrating des gleichen Symptoms gleichgesetzt werden kann. Während die Patienten unmittelbareren (und sozusagen privilegierten) Zugang zu ih‐ rem Erleben des Symptoms haben, können eine Reihe von Faktoren eine Rolle bei der sprachlichen Darstellung und Bewertung des Symptoms durch den Patienten spielen. Um nur einige Beispiele für solche Faktoren zu nennen: Im Rahmen des Wunsches nach sozialer Zuwendung oder gar einer Berentung kann die Symptomatik übertrieben dargestellt werden. Andererseits wurden manche Menschen so erzogen, dass sie nicht klagen dürfen, und tendieren als Resultat dazu, ihre Symptomatik eher herunterzuspie‐ len. Schließlich muss bedacht werden, dass verschiedene psychische Symptome sich nicht für Selbstratings durch Patienten eignen, wie beispielsweise eine Störung der Körperschemata, denn sowohl Personen mit einer Body‐Mass‐Index (BMI) von 14 (ext‐ remes Untergewicht) im Rahmen einer Anorexia nervosa als auch Personen mit einem BMI von 45 (extremes Übergewicht) werden sich als „zu dick“ empfinden [Tritt, 2008]. Für die Vergabe einer Diagnose nach ICD‐10 ist die Bewertung durch einen klinisch geschulten Kliniker erforderlich. Erst ein geeignetes Expertenrating durch den Kliniker, der im Anschluss an das ausgewertete ISR erfolgt, ermöglicht die fachlich notwendige Beurteilung, die dann in eine Diagnosestellung mündet. Um den komplexen Diagnoseprozess der ICD‐10 abzubilden, bestehend aus der Erhe‐ bung und Beurteilung der Symptomatik sowie weiterer Kriterien, gefolgt von der Zu‐ ordnung dieser Symptome und Kriterien zu Syndromen mit anschließender Zuteilung zu den differenzialdiagnostischen Kategorien der ICD‐10 (unter Berücksichtigung der Komorbiditäten und der entsprechenden Ausschlusskritieren der ICD‐10), wird die In‐ formationstechnologie als Hilfsmittel zur Auswahl individuell geeigneter Module und zur Auswertung der akquirierten Informationen eingesetzt, um den Kliniker bei der Diagnose‐ und Entscheidungsfindung zu unterstützen. Hierzu eignet sich ein wissensbasiertes System auf dem Boden des Exzerpts der fakto‐ risierten diagnostischen Leitlinien und diagnostischen Vorgaben der ICD‐10, die die 26 Zuordnung der Symptome zu den Syndromen festlegen. Es wird bewusst darauf ver‐ zichtet, ein Programm zu entwickeln, das automatisch neue Fakten und Regeln aus der Verarbeitung der Eingaben ableitet. Ein derartiges Vorgehen könnte sich nützlich für die Weiterentwicklung der ICD‐10 erweisen, ist jedoch nicht Gegenstand dieser Arbeit. Die Benutzerschnittstelle soll den strukturierten Austausch mit dem Kliniker ermögli‐ chen. 2.1 Design des kompletten Diagnosesystems Bei der Logik der Gesamt‐ und Teilalgorithmen wurde versucht, möglichst realitätsnah die üblichen Denkvorgänge sowie das diagnostische Vorgehen eines Klinikers zu rekon‐ struieren und den Vorgang zu unterstützen. Das auf ICD‐10 basierende Diagnosesys‐ tem ermöglicht eine regelbasierte Wissensrepräsentation und baut auf sogenannten Wenn‐dann‐Regeln auf, in Form von „Wenn die Kriterien erfüllt sind, dann folgt die Konklusion“ [Beierle, 2008]. Da beispielsweise der Kliniker K in Abhängigkeit von seiner Erfahrung alleine durch die Erfassung der Symptome S1, S2 und S3 durch Befragung des Patienten nicht unbedingt die eindeutige Diagnose D ableiten kann, da bis zur differen‐ zialdiagnostischen Zuteilung teilweise die Berücksichtigung und Abwägung vieler ver‐ schiedener diagnostischer Kriterien erforderlich ist, ist ein deduktives Schließen als einzige Form des sicheren Schließens nicht gewährleistet. Demnach handelt es sich hierbei nicht um deterministische Regeln, denn aufgrund der Beschaffenheit der Diag‐ nosen ist ein gewisser Grad an Inferenz zu erwarten, der nicht gänzlich durch diese Regeln aufgefangen bzw. bestimmt werden kann. In dieser Arbeit wird auf derartige quantitative Methoden jedoch verzichtet, da die Entscheidung maßgeblich von dem klinischen Gesamteindruck des Klinikers abhängt. Für seinen Auswahlprozess werden dem Kliniker notwendige diagnostische Leitlinien und Kriterien vorgelegt, sodass er vor dem Hintergrund der vorhandenen Daten und Erfahrungen sein Urteil fällen kann. Die erforderlichen Komponenten sowie der Ablauf des Diagnostikprozesses im Rahmen des ISR+ sind in Abb. 2.1.1 dargestellt. 27 Wissen Ergebnis Regelhaftes Wissen Fallbasiertes Wissen (Regelbasiertes) Schließen Klinisch‐diagnostische Leitli‐ nien nach ICD‐10 Forschungskriterien (wenn keine diagnostischen Leitli‐ nien vorhanden sind) Evidenz‐ und Konsenz‐ basiertes Expertenwissen (generiert durch die ISR+‐ Expertengruppe) ISR‐Patientenrating Patientengespräch und ‐ Beobachtung Labordaten etc. Hauptdiagnose Nebendiagnosen Klinische Erfahrungen Abb. 2.1.1: Komponenten und Ablauf des wissensbasierten Diagnostiksystems Dieser Ablauf zeigt die Notwendigkeit der klinischen Erfahrung des Anwenders, des Auseinandersetzens des Klinikers mit dem hier entstehenden System und den techni‐ schen Voraussetzungen. Im Folgenden werden die Grundvoraussetzungen für die Um‐ setzung des neuen Diagnosesystems dargestellt. 2.2 Vorbedingungen zur Durchführung des ISR+ In Deutschland und in vielen anderen Ländern ist eine Diagnose nach Kapitel V der ICD‐ 10 ein zentrales Indikationskriterium zur Behandlung von psychischen Beschwerden. Die Vergabe von Diagnosen findet im diagnostischen Prozess statt, an dem in erster Linie Kliniker und Patienten beteiligt sind. Entsprechend ist die vorherige Durchführung eines diagnostischen Gesprächs eine Vorbedingung zum Diagnostizieren mit dem ISR+. Das ISR+ setzt eine Beteiligung beider am therapeutischen Prozess beteiligten Parteien – Patient und Kliniker – voraus: Von Patientenseite ist das Ausfüllen des ISR notwendig, damit die Ergebnisse der Patientenratings zu den erhobenen Symptomen dem beteilig‐ ten Kliniker als zusätzliche Informationen rückgemeldet werden können (siehe Einzel‐ 28 module des ISR+). Diese sollen den Kliniker bei der Bewertung der diagnostischen Kri‐ terien der ICD‐10 und schließlich bei der Diagnosestellung unterstützen. Große Sorgfalt ist auch seitens des Klinikers bei der Beurteilung des Patienten im Rahmen des diag‐ nostischen Gesprächs und bei der Bewertung der diagnostischen Leitlinien und Krite‐ rien der ICD‐10 geboten. Insbesondere soll das ISR+ dem Kliniker eine Hilfestellung dabei bieten, sich einen Überblick über alle in diesem Fall denkbaren psychischen Syn‐ drome zu verschaffen, um gemäß dem Komorbiditätsprinzip der ICD‐10 alle vorhande‐ nen psychischen Störungen bei einem Patienten zu diagnostizieren. An dieser Stelle muss betont werden, dass das ISR+ lediglich eine Hilfestellung für den Kliniker bieten kann und soll. Ob und wie sich der Kliniker an den Ergebnissen des ISR+ orientiert, bleibt ihm überlassen: Der Kliniker selbst bleibt letztlich für die Diagnosestellung ver‐ antwortlich. Da dem Kliniker im ISR+ relativ kurze und pointierte Formulierungen zu den diagnosti‐ schen Leitlinien und Kriterien der einzelnen Diagnosen aus Kapitel V der ICD‐10 präsen‐ tiert werden (siehe hierzu noch Kapitel 2.3), sind seine Kenntnisse der Konstruktions‐ prinzipien der ICD‐10 (siehe Einleitung) sowie der einzelnen ICD‐10 Diagnosen des Ka‐ pitels V eine ebenso wichtige Voraussetzung zur Nutzung des ISR+ wie seine klinisch‐ diagnostische Erfahrung. Im ersten Schritt des ISR+ bekommen die Patienten eine kurze Einführung in Form ei‐ ner schriftlichen, standardisierten Instruktion zum Ausfüllen der Patientenratings des ISR+, die identisch mit den Anweisungen für das ISR ist. In Abb. 2.2.1 wird die ISR‐ Testinstruktion für die Patienten dargestellt. 29 Im Rahmen einer zuverlässigen Diagnostik erhalten Sie eine Liste von Beschwerden, an denen Menschen leiden können. Einige der genannten Beschwerden könnten aktuell auf Sie selbst zutreffen. Damit bei Ihnen kein Leiden übersehen wird, bitten wir Sie, eine Viel‐ zahl möglicher Beschwerden zu beurteilen. Bitte geben Sie jetzt an, ob eine der nachfolgenden Beschwerden in den letzten zwei Wo‐ chen (Ausnahme: vorletzte Beschwerde) auf Sie selbst zutrifft. Falls eine davon zutrifft, möchten wir auch wissen, wie stark Sie daran leiden. Bitte beantworten Sie jetzt spontan und zügig jede der folgenden Aussagen! Kreuzen Sie „0 = trifft nicht zu“ an, wenn Sie überhaupt nicht an der jeweiligen Beschwerde leiden, kreuzen Sie „1 = trifft kaum zu“ an, wenn Sie kaum daran leiden, kreuzen Sie „2 = trifft ziemlich zu“ an, wenn Sie ziemlich daran leiden, kreuzen Sie „3 = trifft deutlich zu“ an, wenn Sie deutlich daran leiden, und kreuzen Sie „4 = trifft extrem“ an, wenn Sie extrem daran leiden. Abb. 2.2.1: Standardisierte Instruktion zu Beginn des Patientenratings Die technischen Voraussetzungen sind leicht zu erfüllen, da für die Installation und die Ausführung der ISR/ISR+‐Software nur Minimalanforderungen notwendig sind, die in jeder Institution (Praxis, Klinik) realisierbar sind. Diese werden im Folgenden beschrie‐ ben. Systemvoraussetzungen Datenbank PostgreSQL 9.2 oder hö‐ her Betriebssystem Windows (XP oder höher), Linux (alle aktuellen Distributionen) CPU 500 MHz (1 GHz empfohlen) Festplatte mind. 250 MB Bildschirmauflösung mind. 1024 x 768 30 Datenschutz und Datensicherheit sind gewährleistet, indem die Datenspeicherung, der ‐zugriff und die ‐auswertung über eine gesicherte Kommunikation auf Netzwerkebene erfolgt und die Datenbank verschlüsselt ist. Sämtliche Dokumente sind außerdem ge‐ gen unzulässige Veränderungen geschützt. 2.3 Design des ISR und ISR+ Als Gesamtverfahren sollte das mit dem ISR+ realisierte, computergestützte adaptive Testen die Voraussetzungen für eine an die individuellen Symptome des Patienten an‐ gepasste Syndromauswahl bzw. zur Bestimmung einer spezifischen ICD‐10‐Diagnose innerhalb des Diagnosepools schaffen. Die adaptive Strategie der diagnostischen Algorithmen basiert auf mehrstufigen Ver‐ zweigungen auf Syndrom‐ bzw. Symptomebene und ist geeignet, redundante Item‐ Angebote für Kliniker bzw. für Patienten zu vermeiden. Darüber hinaus erhält der Klini‐ ker ggf. die vorhandenen Patientenratings von den jeweiligen diagnostischen Kriterien zur Bewertung. Für erfahrene Kliniker sind die relevanten diagnostischen Kriterien her‐ vorgehoben (durch Fettschrift und Unterstreichung), die als „Erinnerungsanker“ fun‐ gieren sollen. Diese Darbietungsform wird mit Info‐Buttons ergänzt, damit „Neuein‐ steiger“ in der klinischen Diagnostik sich schnell weitere Hintergrundinformationen, die sie für die diagnostische Entscheidung brauchen, einholen können. Damit ist für den Kliniker ein deutlich geringerer Zeitaufwand zu erwarten als bei anderen Ansätzen der strukturierten Diagnostik. Im ersten Schritt wurde nach Beendigung der konzeptuellen Planungsphase ein sinn‐ voller Gesamtablauf der ISR+‐Diagnostik unter Einbeziehung von Experten festgelegt (siehe Kapitel 3.1). Anschließend wurden die syndrombezogenen Algorithmen mithilfe der klinisch‐diagnostischen Leitlinien [Dilling: Leitlinien, 2014] bzw. der Forschungskri‐ terien der ICD‐10 [Dilling: Forschungskriterien, 2011] erstellt (siehe Kapitel 3.2). 31 Das Expertenrating des ISR+ wurde in zwei Teile untergliedert: Im ersten Teil (Exper‐ tenrating I) werden erst die Syndrome abgedeckt, die im Rahmen der fünf ISR‐ Syndromskalen abgefragt werden. Dies geschieht allerdings nur, wenn die noch im Folgenden erläuterten diagnostischen Kriterien den Patientenratings gemäß erreicht wurden, d. h. wenn laut Patientenratings der Verdacht auf das Vorliegen dieser Diag‐ nose besteht. Wie bereits dargestellt: Die Bearbeitung der übrigen psychischen Syn‐ drome, die im Rahmen der ICD‐10 abgedeckt werden (Expertenrating II), bleibt Aufga‐ be einer weiteren Arbeit. In Folgenden wird idealtypisch der generelle Ablauf in Form eines Flussdiagramms mit Ele‐ menten der Geschäftsprozess‐Notation visuali‐ siert. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden Aktualisierungen des Datensatzes, beispielswei‐ se durch Expertenratings, in den Flussdiagram‐ men nicht wiederholt dargestellt, jedoch für die Software berücksichtigt. Zu Beginn der Diagnoseerstellung initiiert der Kliniker den ISR+‐Diagnoseprozess, indem er die Wahl trifft zwischen der Durchführung des ISR oder des ISR+ mit bzw. ohne weitere ISR+‐ Optionen (Abb. 2.3.1). Der Patient füllt den elektronischen ISR‐Fragebogen (entweder den aus 29 Items bestehenden ISR‐ oder den erwei‐ terten ISR+‐Patientenfragebogen) aus. An‐ schließend prüft die Software die Vollständig‐ keit der Angaben. Die persönliche Einschätzung der Symptome Abb. 2.3.1: Initiierung des Diagno‐ seprozesses bis zur Erstellung des ISR‐Profilbogens des Patienten wird daraufhin als Datensatz in der Datenbank gespeichert. Ein ISR‐ Profilbogen, basierend auf den 29 Items des ISR, wird zur Bewertung im Rahmen des weiteren diagnostischen Vorgehens generiert. Weiterhin erhält der Kliniker eine Zu‐ 32 sammenfassung der ISR‐Items, bei denen der Patient eine Belastung angibt. Diese Auf‐ listung der jeweiligen Symptombelastung kann dann für die elektronische Patientenak‐ te, den Abrechnungsprozess, den Entlassungsbericht, den Arztbrief oder bei dem Ver‐ fassen des Antrags an einer Richtlinientherapie verwendet werden. Der Gesamtablauf des ISR ist in Abb. 2.3.2 dargestellt. An dieser Stelle ist das ISR beendet. Es erfolgt in der Regel dann ein diagnostisches Psychotherapeuten‐Patienten‐ Gespräch, in das zusätzlich – neben dem ISR‐Profilbogen – weitere Informationsquel‐ len, wie Angaben zur Biografie des Patienten, Angaben zur momentanen Lebenssitua‐ tion, Darstellung der momentanen sowie früheren Problematik, mögliche subjektive Krankheitstheorien, Therapiemotivation, fremdanamnestische Angaben, szenische Informationen etc., eingehen [Schüßler, 2011; Zaby, 2012]. Dieses Gespräch stellt eine Voraussetzung zur Durchführung des ISR+ dar. Wichtig ist dabei, dass dem Kliniker der ISR‐Profilbogen, der aus einer Übersicht der vom Patienten angegebe‐ nen psychischen Syndrom‐ bzw. Symptombelastung besteht, im Vorfeld vorliegt. Auf diese Art und Weise erhält der Kliniker bereits vor dem Erstgespräch einen ersten Eindruck über die symptomatische Belastung des Patienten, was ihm nützen soll, gegebenenfalls einzelne Syndrombereiche, die möglicherweise beim ersten Kon‐ takt, z. B. wegen der Anspannung des Patienten oder durch den, in der Routineversorgung vorherrschenden Abb. 2.3.2: Ablauf bei Aus‐ Zeitdruck übersehen werden könnten, gezielt zu explo‐ wahl des ISR rieren. Mit anderen Worten: Dieser Profilbogen soll den Kliniker insbesondere dabei unterstützen, die gesamte psychische Komorbidität zu erfassen. Hat der Kliniker den 33 ISR+ mit oder ohne zusätzliche ISR+‐Optionen gewählt, wird die Abb. 2.3.3: Ablauf bei Auswahl des ISR+‐Expertenratings I, falls nach Patientenrating entsprechende ICD‐10‐Kriterien erfüllt sind. (Der detaillierte Ablauf des Experten‐ ratings II ist in Abb. 2.3.4 dargestellt.) 34 ISR+‐Expertenrating‐I‐Modulgruppe aufgeru‐ fen (Abb. 2.3.3) – vorausgesetzt, der Patient hat eine ausreichende psychische Belastung bei mindestens einem der psychischen Syn‐ drome angegeben, die mit dem ISR erfasst werden. In einer festgelegten Reihenfolge (depressi‐ ves, Angst‐, Zwangs‐, somatoformes und Essstörungssyndrom) werden die fünf Mo‐ dule durch die Software geprüft, ob – den Patientenangaben gemäß – der Verdacht auf das Vorliegen einer entsprechenden ICD‐10‐ Diagnose besteht. Da bei diesem Schritt eine hohe Sensitivität angestrebt wird, wurden die jeweiligen Patientenratings hier zur ers‐ ten Bewertung der diagnostischen ICD‐ Kriterien, deren Extraktion unter Kapitel 3.2 noch dargestellt wird, dichotomisiert (ISR‐ Wert 0 = Kriterium nicht erfüllt; ISR‐Wert ≥ 1 = Kriterium erfüllt). Dieses sequenzielle Vor‐ gehen erschien angebracht, da diese fünf Abb. 2.3.4: Detaillierter Ablauf des Ex‐ Syndrome einerseits die häufigsten in der pertenratings II ambulanten psychotherapeutischen und stationären psychosomatischen Versorgung vorkommenden psychischen Erkrankun‐ gen betreffen und andererseits, wie in Kapitel 3.2 noch dargestellt wird, diese Ratings lediglich als Ausgangspunkte für die endgültigen Diagnostikerratings gedacht sind. Im Rahmen der Diagnostikerratings soll dann nachfolgend eine ausreichende Spezifität der ISR‐Diagnostik erzielt werden. Sind die diagnostischen Kriterien den Patienten‐ ratings gemäß erfüllt, werden dem Kliniker sukzessive die einzelnen Syndrom‐Module zur Bewertung der entsprechenden diagnostischen Kriterien der ICD‐10 angeboten. Im 35 Anschluss werden die Ergebnisse des Expertenratings I in der Datenbank gespeichert. Dann würde der Aufruf der Expertenrating‐II‐Modulgruppe erfolgen. Werden bei den einzelnen Syndromen des Expertenratings I die entsprechenden ICD‐ 10‐Kriterien gemäß der Patientenratings nicht erfüllt, würden diese Syndrome der Vollständigkeit halber ebenfalls im Rahmen der entsprechenden Expertenratings‐II‐ Modulgruppen aufgerufen (Abb. 4). Um einen Gesamteindruck des ISR+ zu vermitteln, soll im Folgenden das Experten‐ rating II nur kurz erläutert werden. Nun erhält der Kliniker eine Auswahlliste aller bisher nicht diagnostizierten Syndrome mit der Aufforderung, diejenigen anzugeben, bei denen der Verdacht auf das Vorliegen einer Belastung besteht. Für jedes dieser Syndrome wird der Kliniker ein Syndrommo‐ dul zur Bewertung zu bearbeiten haben. Anhand dieses Moduls werden dann die je‐ weiligen diagnostischen Kriterien der ICD‐10 für dieses Syndrom bewertet. Zur Unter‐ stützung dieser Expertenratings werden – wenn vorhanden – die Patientenratings die‐ ser Einzelkriterien grafisch aufgezeigt. So wird der Kliniker durch alle noch fehlenden diagnostischen Algorithmen des Kapitels V der ICD‐10 gelotst. Die Software bietet dem Kliniker im Anschluss eine Zusammenfassung der (möglicher‐ weise) vorhandenen Diagnosen. Diese werden wiederum durch die jeweiligen Aus‐ schlusskriterien ergänzt. Der Kliniker wird dann aufgefordert, durch Überprüfung der Ausschlusskriterien a) die Diagnosen zu bestätigen und b) die Hauptdiagnosen sowie die Nebendiagnosen zu bestimmen. Schließlich erhält er die für den Arztbrief, Antrag an den Gutachter bzw. Entlassungs‐ bericht notwendige Auflistung der Diagnosen. Der komplette Ablauf des ISR+ (sowie des ISR) ist im Flussdiagramm in der Abb. 2.3.5 veranschaulicht. 36 ISR Abb. 2.3.5: Vollständiger Ablauf des ISR und ISR+ 37 2.4 Design der störungsspezifischen Algorithmen Im Folgenden wird zuerst das generelle Vorgehen bei der Erstellung der störungsspezi‐ fischen Modelle erläutert, gefolgt in Kapitel 3 von einer Darstellung der syndromspezi‐ fischen Einzelmodule. Als Ausgangspunkt für die Formulierung der einzelnen Syndrommodule des ISR+ wurde die Zusammenfassung der ICD‐10‐Diagnosen psychischer Störungen des Kapitels V zu Syndromen herangezogen, die durch Experten im Rahmen der Konstruktion des ISR erstellt wurde [Zacharias, 2006] (Tab. 1.2.1). Wie bereits erläutert, werden mit dem ISR‐Fragebogen, der ausschließlich die subjektive Symptombelastung des Patienten misst, fünf Syndrome erfasst. Darüber hinaus werden im ISR eine Reihe von Einzel‐ symptomen bzw. Kriterien erhoben, die entweder in verschiedenen Syndromen vorkommen (d. h. solche, die nicht spezifisch für ein einziges Syndrom sind) oder Kriterien darstellen, die erste Hinweise auf das Vorliegen eines speziellen Syndroms (z. B. Flashback als Hinweis auf posttraumatische Belastungsstörungen) liefern. Da das ISR sich u. a. für den ökonomischen Einsatz in der Routineversorgung eignen sollte, wurde das Instrument auf 29 Items begrenzt, die jeweils die übergreifenden Kriterien des Syndroms alltagssprachlich abbilden sollten. Selbstverständlich bedarf es für die Vergabe einer Differenzialdiagnose der Bewertung weiterer diagnostischer Kri‐ terien. Weiterhin wurde beim ISR im Vorfeld streng zwischen solchen diagnostischen Krite‐ rien, die sich laut eines vorgeschalteten Expertenkonsenses für ein Selbstrating durch Patienten eignen, und solchen, die sich nicht für Patientenratings eignen, unterschie‐ den. Nur solche Items, die für Patientenratings als geeignet erachtet wurden, fanden Eingang in das ISR. Diesem Ansatz folgend, sollten beim ISR+ die 29 Items des ISR so weit wie möglich durch weitere, für die ICD‐10‐Diagnostik erforderliche Patienten‐ 38 ratings ergänzt werden [Zacharias, 2006]. Diese Informationen sollen dann dem Klini‐ ker – wie bereits beschrieben – eine Unterstützung im diagnostischen Prozess bieten. Als nächster Schritt wurden für jedes dieser Syndrome die diagnostischen Algorithmen extrahiert, die zur Vergabe der dazugehörigen Einzeldiagnosen des Kapitels V für psy‐ chische Störungen der ICD‐10 führen. Dieses Vorgehen stellte sich als notwendig dar, da die syndromspezifischen diagnostischen Algorithmen des Kapitels V der ICD‐10 kei‐ nem einheitlichen Prinzip folgen. In einem nächsten Schritt wurden die diagnostischen Kriterien für jede der einzelnen ICD‐10‐Diagnosen des Syndroms herausgearbeitet. Hierfür wurden die klinisch‐diagnostischen Leitlinien – die sogenannten „Blauen Bän‐ de“ – der ICD‐10 [Dilling: Leitlinien, 2014] herangezogen, da diesen erfahrungsgemäß in der Routineversorgung der Vorrang gegeben wird. Erst wenn die klinisch‐ diagnostischen Leitlinien keine ausreichenden Kriterien enthielten, wurden diese an‐ schließend mit den ICD‐10‐Forschungskriterien [Dilling: Forschungskriterien, 2011] der „grünen Bände“ abgeglichen. Damit es nachvollziehbar bleibt, welche Kriterien den klinisch‐diagnostischen Leitlinien und welche den Forschungskriterien entnommen wurden, werden die den Forschungskriterien entnommenen, ergänzenden Kriterien in dieser Arbeit mit kursiver Schrift gekennzeichnet. Zur begrifflichen Klärung: Bei manchen Differenzialdiagnosen der ICD‐10 werden expli‐ zit „diagnostische Leitlinien“ für die Diagnosestellung vorgegeben. Derartige Leitlinien werden im Folgenden auch als diagnostische Leitlinien bezeichnet. Bei anderen Diffe‐ renzialdiagnosen der ICD‐10 mussten die für die Vergabe der Diagnose erforderlichen Kriterien aus dem Text extrahiert werden. In solchen Fällen wird in dieser Arbeit in der Regel von diagnostischen Kriterien gesprochen. In einem dritten Schritt wurden die diagnostischen Syndrom‐Algorithmen und die di‐ agnostischen Leitlinien bzw. Kriterien der dazugehörigen ICD‐Einzeldiagnosen abgegli‐ chen. Auf Basis dieser Gegenüberstellung wurde geprüft, wie die verschiedenen Syn‐ drommodule mit möglichst geringem Aufwand abgefragt werden können, um eine optimierte, ökonomische, ressourcen‐schonende Gestaltung des ISR+ sowie die Ver‐ meidung redundanter Abfragen zu erzielen. Auf diese Art und Weise wurden die ein‐ zelnen Syndrommodule erstellt. 39 Im Anschluss wurden die bereits entwickelten diagnostischen Leitlinien und Kriterien für die Abfrage beim Kliniker tabellarisch aufbereitet (Abb. 2.4.1). Unter Berücksichti‐ gung der jeweiligen diagnostischen Syndrom‐Algorithmen wird dem Kliniker jeweils eine aus drei Spalten bestehende Tabelle dargeboten: In der ersten Spalte werden die einzelnen Leitlinien bzw. Kriterien für die jeweilige Diagnose Reihe für Reihe aufgelistet. Wenn beim erweiterten ISR+‐Patientenrating eine Bewertung des Patienten für das spezifische Kriterium erfragt wurde, wird der Wortlaut der Frage an den Patienten unmittelbar anschließend an das Kriterium aufge‐ führt, damit der Kliniker die zweite Spalte besser bewerten kann. In der zweiten Spalte wird – sofern kalkulierbar – eine grafische Darstellung der vom Patienten angegebenen subjektiven Belastung gezeigt, die in Zusammenhang mit dem jeweiligen diagnostischen Kriterium steht. In der dritten Spalte muss der Kliniker diese Kriterien jeweils selbst bewerten. Um diesen Prozess ökonomischer zu gestalten, wer‐ den die Werte der Patientenratings jeweils (mit einer Ausnahme, die an entsprechen‐ der Stelle noch erläutert wird) als Default‐Einstellung dichotomisiert übernommen (ISR‐Wert 0 = Kriterium nicht erfüllt; ISR‐Wert ≥ 1 = Kriterium erfüllt). Diese können und sollen vom Kliniker jedoch bei Bedarf verändert werden. Es ist davon auszugehen, dass sich der Kliniker in der Mehrzahl der Fälle dem Patientenrating an‐ schließen wird. Der Kliniker ist allerdings dafür verantwortlich, selbstständig die Krite‐ rien zu bewerten und die Voreinstellung ggf. zu verändern. Wie bereits dargestellt, wurde bei dem zugrunde gelegten Kriterium für die Dichotomisierung der Patienten‐ ratings ein größerer Stellenwert auf die Sensitivität gelegt. Die erforderliche Spezifität für die Vergabe einer ICD‐Diagnose sollte dann beim anschließenden Diagnostiker‐ rating erreicht werden. Die für die Vergabe der Differenzialdiagnosen erforderlichen, weiteren Bewertungen durch den Kliniker werden dann – je nach Gestaltung des spezi‐ fischen Syndrommoduls – vor und/oder nach diesen Tabellen mit den diagnostischen Kriterien in die jeweiligen Module eingefügt und abgefragt. 40 ICD‐10‐Kriterien / ISR‐ Patientenbewertung1 Patientenfrage (Empfundene Symptomstärke) 1. Syndromspezifisches ICD‐10‐ Expertenrating1,2 ja bzw. nein 2 Kriterium / ISR‐Patientenfrage 0 1 2 3 4 1 Zur besseren Veranschaulichung werden beispielhaft Werte eingetragen. 2 Erfüllt = „ja“; nicht erfüllt = „nein“. Abb. 2.4.1: Gestaltungsprinzip der Bewertungstabellen für Kliniker, in denen die diag‐ nostischen Leitlinien und Kriterien der ICD‐10 für den jeweiligen Patienten bewertet werden. Die auf diese Weise geschaffenen diagnostischen Syndrom‐Algorithmen und Kriterien wurden dann der ISR‐Steuerungsgruppe, bestehend aus Prof. Dr. Markus Bühner, Dr. Friedrich von Heymann, Prof. Dr. Thomas Loew, Dipl.‐Psych. Thomas Probst, Prof. Dr. Wolfgang Söllner, Prof. Dr. Karin Tritt und Prof. Dr. Michael Zaudig, vor der Umsetzung als Diskussionsgrundlage vorgelegt und ggf. modifiziert. 41 3 Einzelmodule der Syndrome Für jedes Syndrommodul folgt zuerst eine generelle Einführung in die diagnostischen ICD‐10‐Kriterien. Anschließend werden – je nach Aufbau des spezifischen Moduls – der Syndrom‐Algorithmus mit einem dazugehörigen Flussdiagramm und die entsprechen‐ den diagnostischen Kriterien, die erforderlich sind für die Differenzialdiagnose, tabella‐ risch dargestellt. Zum Schluss werden für die jeweiligen ICD‐10‐Diagnosen die spezifi‐ schen Ausschlusskriterien zur abschließenden Überprüfung aufgeführt. Diese Aus‐ schlusskriterien werden zwar erst beim letzten Schritt des ISR+‐Expertenratings II be‐ nötigt, doch aus Praktikabilitätsgründen wurden diese bereits jetzt bei der Bearbeitung der Module extrahiert. 3.1 Depressive Störungen F32, F33, F34, F38, F39 Schauenburg und Zimmer [Schauenburg, 2012] beschreiben die Depression als „eine typische Konstellation psychischer Beeinträchtigungen, bei denen die herabgesetzte Stimmung im Sinne von Niedergeschlagenheit, Verlust der Freude, emotionale Leere, Antriebslosigkeit, Interessensverlust und zahlreiche körperliche Beschwerden wesent‐ liche Merkmale sind.“ Da das ISR+‐Projekt im Bereich der medizinischen Informatik anzusiedeln ist, erfolgen bei dieser und den folgenden Moduldarstellungen nur sehr kursorische Darstellungen der einzelnen Krankheitsbilder. Trotz der gegenwärtig noch nicht geklärten Zusammenhänge zwischen der „Ätiologie, [der] Symptomatik, [den] zugrunde liegenden biochemischen Prozessen, [dem] An‐ sprechen auf Behandlung und [dem] weiteren Verlauf bei affektiven Störungen“ kann nach ICD‐10 [Dilling: Leitlinien, 2014] eine sinnvolle Klassifikation der affektiven Stö‐ 42 rungen angeboten werden. Zur Unterscheidung der Formen und der Subtypen unipola‐ rer affektiver Störungen bietet sich die Klassifikation nach Symptomen auf „emotiona‐ ler, motivationaler, kognitiver, vegetativ‐somatischer, motorisch‐behavioraler und in‐ teraktioneller Ebene“ an (zitiert nach [Schauenburg, 2012; S. 372]). Eine erste Übersicht der differenziellen Depressionsdiagnosen der ICD‐10 kann Abb. 3.1.1 entnommen werden. Abb. 3.1.1: Hauptklassifikation der depressiven Störungen nach ICD‐10 Die verschiedenen depressiven Störungen der ICD‐10 können in zwei Hauptkategorien unterteilt werden. Die Unterscheidung zwischen dem Vorliegen einer depressiven Epi‐ sode bzw. einer rezidivierenden depressiven Störung (F32 bzw. F33) und die weiteren Depressionsdiagnosen der ICD‐10 hängen einerseits vom Vorhandensein des erforder‐ lichen Schweregrads der Episode(n) für die Zuteilung zu den Kategorien des F32 bzw. F33 und andererseits vom Vorhandensein von klar abgegrenzten Episoden bei den Ka‐ tegorien des F32 und F22 im Gegensatz zu lang andauernden Stimmungsproblemen (bei F34–F39) ab. Im Einklang mit dieser Unterteilung werden im Folgenden zuerst die diagnostischen Leitlinien und die diagnostischen Kriterien der ICD‐10 für die depressi‐ ven Episoden (F32) sowie die rezidivierenden depressiven Störungen (F33) erläutert, gefolgt von den entsprechenden Ausführungen zu den übrigen depressiven Störungen der ICD‐10. 43 Eine Übersicht über die einzelnen ICD‐10‐Diagnosen der depressiven Episoden sowie der rezidivierenden depressiven Störungen ist in Abb. 3.1.2 dargestellt. 44 Abb. 3.1.2: Klassifikation der depressiven Episoden (F32) und der rezidivierenden depressiven Störungen (F33) nach ICD‐10 45 Diagnostische Kriterien für die depressiven Episoden sowie für die rezidivierenden depressiven Störungen nach ICD‐10 Für die leichten, mittelgradigen oder schweren depressiven Episoden (F32.0–F32.3) geben ICD‐10 [Dilling: Leitlinien, 2014] eine Reihe von Symptomen an, die als Grundla‐ ge für die diagnostische Zuordnung dienen (Abb. 3.1.3). Dabei unterschieden diese Autoren bei der Diagnostik zwischen typischen (Liste A) und weiteren Symptomen (Lis‐ te B). Die Mindestdauer einer Episode bei den Diagnosen F32–F33 beträgt dabei in der Regel zwei Wochen – außer bei den schweren Episoden. Bei dieser besonders ausgeprägten Symptomatik kann die Mindestdauer unterschritten werden. Weiterhin kann bei Bedarf noch optional das somatische Syndrom bei depressiven Epi‐ soden und rezidivierenden depressiven Störungen diagnostiziert werden. Hierzu wer‐ den acht verschiedene Merkmale beschrieben, die in Liste C dargestellt werden (Abb. 3.1.3). 46 Liste A: Typische Symptome Liste B: Weitere häufige Symptome F32.0–F32.3 1. Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit 1. Gedrückte depressive Stimmung 2. Vermindertes Selbstgefühl und Selbstvertrauen 2. Verlust von Interesse oder Freude 3. Schuldgefühle und Gefühle der Wertlosigkeit 3. Antriebsmangel 4. Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven sowie Ermüdbarkeit erhöhte 5. Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung 6. Schlafstörungen 7. Verminderter Appetit Liste C: Typische Merkmale eines somatischen Syndroms 1. Interessenverlust oder Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten 2. Mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren 3. Frühmorgendliches Erwachen; zwei oder mehr Stunden vor der gewohnten Zeit 4. Morgentief 5. Der objektive Befund einer psychomotorischen Hemmung oder Agitiertheit (festgestellt und berichtet von Personen aus der Umgebung des Kranken) 6. Deutlicher Appetitverlust 7. Gewichtsverlust, häufig mehr als 5 % des Körpergewichts im vergangenen Monat 8. Deutlicher Libidoverlust Abb. 3.1.3: Listen A–C stellen die diagnostischen Kriterien für die Vergabe einer der Diagnosen F32.0 bis F32.3 sowie zur Diagnose des somatischen Syndroms dar. Die Diagnosestellung einer depressiven Episode, einer rezidivierenden depressiven Störung und des somatischen Syndroms basiert auf einer Quantifizierung der vorhan‐ denen Symptomatik des Patienten. Zur Vergabe einer Diagnose F32 bzw. F33 muss eine Mindestanzahl der in den Listen A und B der in Abb. 3.1.3 aufgeführten Merkmale beim Patienten vorhanden sein. Dies gilt auch bei der Diagnostik des somatischen Syn‐ droms (siehe Liste C). Die Einteilung des Schweregrads der jeweiligen Störung erfolgt über die Bestimmung der Anzahl der Merkmale aus diesen Listen, an denen der Patient leidet. Die diagnostischen Leitlinien für die depressiven Episoden und das somatische Syndrom sind in Abb. 3.1.4 aufgelistet. 47 Diagnose Merkmale und Kriterien zur Feststellung der F32‐ und F33‐Diagnose Leichte depressi‐ Liste A: mindestens zwei der drei Symptome ve Episode (F32.0) Liste B: mindestens zwei der sieben Symptome Kein Symptom sollte besonders ausgeprägt sein. Die Mindestdauer für die gesamte Episode beträgt etwa 2 Wochen. Der Betreffende leidet unter den Symptomen und hat Schwierigkeiten, seine normale Berufstätigkeit und seine sozialen Aktivitäten fortzusetzen, gibt aber die alltäglichen Aktivitäten nicht vollständig auf. Mittelgradige depressive Epi‐ sode (F32.1) Liste A: mindestens zwei der drei Symptome Liste B: mindestens drei oder vier der sieben Symptome Einige Symptome sind in ihrem Schweregrad besonders ausgeprägt, oder es ist durchgehend ein besonders weites Spektrum von Symptomen vor‐ handen. Ein Patient mit einer mittelgradigen depressiven Episode kann nur unter erheblichen Schwierigkeiten soziale, häusliche und berufliche Aktivitäten fortsetzen. Schwere depres‐ sive Episode ohne psychoti‐ Liste A: alle drei Symptome Liste B: mindestens vier der sieben Symptome sche Symptome Einige Symptome sind in ihrem Schweregrad besonders ausgeprägt, oder (F32.2) es ist durchgehend ein besonders weites Spektrum von Symptomen vor‐ handen. Die depressive Episode soll mindestens 2 Wochen dauern; wenn die Symp‐ tome jedoch besonders schwer sind und sehr rasch auftreten, kann es gerechtfertigt sein, die Diagnose nach weniger als 2 Wochen zu stellen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein Patient während einer schweren de‐ pressiven Episode in der Lage ist, soziale, häusliche und berufliche Aktivitä‐ ten fortzuführen, allenfalls sehr begrenzt. Diese Kategorie wird nur für einzelne Episoden schwerer Depression ohne 48 psychotische Symptome verwendet. Schwere depres‐ Bei dieser Störung müssen die Kriterien für eine schwere depressive Episo‐ sive Episode mit de erfüllt sein. Darüber hinaus müssen zusätzlich noch Wahnideen, Hallu‐ psychotischen zinationen oder ein depressiver Stupor auftreten. Symptomen (F32.3) Sonstige depres‐ Es handelt sich um Störungen, auf die die Beschreibungen der unter F32.0– sive Episoden F32.3 dargestellten depressiven Episoden nicht zutreffen, die aber nach (F32.8) dem diagnostischen Gesamteindruck depressiver Natur sind. Beispiele: wechselnde Mischbilder depressiver Symptome (v. a. somatischer Art) mit weniger bedeutsamen Symptomen, wie Spannung, Sorge und Verzweif‐ lung, oder Mischbilder somatischer depressiver Symptome mit anhalten‐ dem Schmerz oder Müdigkeit, die keine organische Ursache haben. Nicht näher bez. In der ICD‐10 werden keine diagnostischen Kriterien für die Vergabe dieser depressive Epi‐ Diagnose angeboten. sode (F32.9) Somatisches Für das optionale Diagnostizieren eines vorhandenen somatischen Syn‐ Syndrom droms müssen mindestens vier Merkmale aus der Liste C eindeutig fest‐ stellbar sein. Während bei leichten und mittelgradigen depressiven Episo‐ den (F32.0/1 sowie F33.0/1) die Kriterien des somatischen Syndroms ge‐ geben sein können, sollten diese bei schweren depressiven Episoden (F32.2 sowie F33.2) stets erfüllt sein. Abb. 3.1.4: Diagnostische Kriterien der ICD‐10 für die depressiven Episoden (F32) und des somatischen Syndroms sowie zur Bewertung des Schweregrads [Dilling: Leitlinien, 2011: S. 172 ff.] Wenn in der Vorgeschichte des Patienten bereits mindestens eine depressive Episode vorliegt, erfolgt eine Zuordnung zur Kategorie der rezidivierenden depressiven Störun‐ gen (F33). Dabei wird die gegenwärtige Episode anhand der gleichen Kriterien bewer‐ tet, die zur Erfassung des Schweregrads der depressiven Episoden (F32) herangezogen werden. Auch die Kodierung erfolgt identisch, außer dass die 3. Stelle der Kodierung 49 mit einer „3“ statt mit einer „2“ notiert wird (z. B. anstelle einer F32.1 wird eine F33.1 kodiert). Darüber hinaus weisen die rezidivierenden depressiven Störungen eine weite‐ re Kategorie auf, die nicht bei den depressiven Episoden zu finden ist: F33.4 rezidivie‐ rende depressive Störung, gegenwärtig remittiert. Die diagnostischen Leitlinien für diese Diagnose sind in Abb. 3.1.5 aufgelistet. Diagnose Merkmale, die für die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Stö‐ rung, gegenwärtig remittiert (F33.4), zwingend vorhanden sein müssen Rezidivierende 1. Die Kriterien einer rezidivierenden depressiven Störung müssen in der depressive Stö‐ Anamnese erfüllt sein, aber das gegenwärtige Zustandsbild erfüllt rung, gegenwär‐ nicht die Kriterien für den angegebenen Schweregrad einer depressi‐ tig remittiert (F33.4) ven Episode bzw. einer sonstigen depressiven Störung in F30–F39. 2. Mindestens zwei depressive Episoden in der Anamnese sollen min‐ destens zwei Wochen gedauert haben und von mehreren Monaten ohne eindeutige affektive Symptomatik getrennt gewesen sein. Abb. 3.1.5: Diagnostische Leitlinien für die rezidivierende depressive Störung F33.4 [Dilling: Leitlinien, 2014: S. 180 ff.] Neben den depressiven Episoden und den rezidivierenden depressiven Störungen können nach der ICD‐10 noch die anhaltenden affektiven Störungen (F34), die sonsti‐ gen affektiven Störungen (F38) sowie die nicht näher bezeichneten affektiven Störun‐ gen (F39) diagnostiziert werden. In Abb. 3.1.6 ist eine Übersicht zu den Diagnosen die‐ ser Gruppen zu finden. 50 Abb. 3.1.6: Klassifikation der depressiven Störungsgruppe F34–F39 nach ICD‐10 Auch für die diagnostischen Kategorien der depressiven Störungen, F34 (anhaltende affektive Störungen), F38 (sonstige affektive Störungen) sowie F39 (nicht näher be‐ zeichnete affektive Störungen), liegen teilweise diagnostische Leitlinien aus dem ICD‐ 10 vor, die der folgenden Tabelle (Abb. 3.1.7) entnommen werden können. Diagnose Merkmale, die für die entsprechende F34–F39‐ Diagnosen zwingend vorhanden sein müssen Zyklothymia (F34.0) Anhaltende Stimmungsinstabilität, mit zahlreichen Perio‐ den leichter Depression und leicht gehobener Stimmung, die allerdings nicht schwer genug ausgeprägt oder an‐ dauernd genug sein dürfen, um die Kriterien einer bipola‐ ren affektiven Störung (F31) oder einer rezidivierenden depressiven Störung (F33) zu erfüllen. Dysthymia (F34.1) Lang andauernde (mindestens mehrere Jahre) depressive Verstimmung, die niemals oder nur sehr selten ausrei‐ 51 chend ausgeprägt ist, um die Kriterien für eine rezidivie‐ rende depressive Störung zu erfüllen. In der Anamnese, insbesondere bei Beginn der Störung, können allerdings die Kriterien einer leichten depressiven Episode erfüllt gewesen sein, mit unterschiedlich langen Perioden, wo die Patienten ein gutes Befinden beschreiben, gefolgt von oft monatelangen Phasen, währenddessen sie sich müde und depressiv fühlen, schlecht schlafen, alles als Anstren‐ gung erlebt wird, nichts genossen wird und sie sich unzu‐ länglich fühlen – wobei sie aber in der Regel fähig sind, mit den wesentlichen Alltagsanforderungen fertig zu werden. Sonstige anhaltende Klinisch bedeutsame Restkategorie für anhaltende affek‐ affektive Störungen tive Störungen, die nicht ausreichend schwer oder anhal‐ (F34.8) tend genug sind, um die Kriterien für eine Zyklothymia (F34.0) oder eine Dysthymia (F34.1) zu erfüllen. Nicht näher bezeichne‐ Keine diagnostische Kriterien nach ICD‐10 vorgegeben te anhaltende affektive Störungen (F34.9) Andere einzelne affek‐ Hier können viele Störungen aufgeführt werden, sodass – tive Störungen (F38.0) mit Ausnahme von F38.00 und F38.10 – keine speziellen Kriterien formuliert wurden, Wissenschaftler sollen derar‐ tige Kriterien entsprechend der Gegebenheiten ihrer Un‐ tersuchung zusammenstellen.1 Gemischte affektive Affektive Episode, die mindestens 2 Wochen dauert und Episode (F38.00) durch eine Mischung oder raschen Wechsel (gewöhnlich innerhalb von wenigen Stunden) von hypomanischen, manischen oder depressiven Symptomen charakterisiert ist. 52 Sonstige rezidivierende Hier können viele Störungen aufgeführt werden, sodass – affektive Störung mit Ausnahme von F38.00 und F38.10 – keine speziellen (F38.1) Kriterien formuliert wurden, Wissenschaftler sollen derar‐ tige Kriterien entsprechend der Gegebenheiten ihrer Un‐ tersuchung zusammenstellen.1 Rezidivierende kurze Rezidivierende kurze Episoden, die im vergangenen Jahr depressive Störung etwa einmal monatlich bestanden haben. Die einzelnen (F38.10) Episoden sind alle kürzer als 2 Wochen (typischerweise 2– 3 Tage mit vollständiger Erholung), erfüllen jedoch nicht die Symptomkriterien für eine depressive Episode (F32.0– F32.2). Im Gegensatz zur Dysthymia (F34.1) sind die Pati‐ enten die meiste Zeit nicht depressiv. Saisonale affektive Stö‐ Tritt in aufeinanderfolgenden Jahren mehrfach innerhalb rung (tentative Code‐ des gleichen 90‐Tage‐Zeitraums auf und remittiert auch nummer) (F38.11) während dieser Zeitphase. Dabei dominiert die Zahl sai‐ sonaler Episoden gegenüber den eventuell auftretenden nichtsaisonalen Episoden. Rezidivierende ge‐ Mehrfaches Auftreten der unter F38.00 beschriebenen mischte affektive Epi‐ gemischten affektiven Episoden. soden (tentative Code‐ nummer) (F38.12) F38.8 Restkategorie für affektive Störungen, die nicht die Krite‐ rien eine der anderen Störungen F38.0–F38.1 erfüllen. F39 Diese Kategorie ist nur als letzte Möglichkeit zu verwen‐ den, wenn keine der übrigen Kategorien für affektive Stö‐ rungen zutreffend sind. 1 Entnommen aus [Dilling: Forschungskriterien, 2011; S. 118] Abb. 3.1.7: Diagnostische Leitlinien für die affektiven Störungen F34–F39 der ICD‐10 (zitiert nach [Dilling: Leitlinien, 2014]) 53 All diese Leitlinien sollten bei der Erstellung des nachfolgenden Algorithmus für die Erfassung der Diagnosen der depressiven Störungen nach ICD‐10 Berücksichtigung fin‐ den. Syndromalgorithmus für depressive Störungen Beim ISR+ wird der Kliniker entsprechend der bereits dargestellten Unterteilung der ICD‐10 zwischen den depressiven Episoden (F32) sowie den rezidivierenden depressi‐ ven Störungen (F33) und den übrigen depressiven Störungen (F34–F39) zuerst durch die Algorithmen der F32–F33‐Diagnosen geleitet. Wenn keine entsprechende Diagnose (mit Ausnahme der F33.4) gestellt wird, werden in einem zweiten Schritt die Algorith‐ men der übrigen ICD‐10‐Diagnosen F34–F39 für depressive Störungen durchlaufen. Im Folgenden werden die einzelnen Schritte, aus denen der Depressionsalgorithmus des ISR+ besteht, dargestellt. Im Vorfeld der ISR+‐Durchführung musste durch den Kliniker bestimmt werden, ob das ISR+ mit bzw. ohne Zusatzoptionen durchgeführt werden sollte. Die an dieser Stelle relevante Zusatzoption ist das somatische Syndrom, das nur dann bewertet wird, wenn dies vom Kliniker erwünscht ist. Die erforderlichen Kriterien zur Bewertung des somati‐ schen Syndroms werden dann bei der Wahl dieser Zusatzoption auch abgefragt. Ausgangspunkt des Depressionsmoduls des ISR+ bilden die acht Depressionsitems, die im Rahmen der ISR‐Erhebung vom Patienten bewertet werden. Da zur Diagnose der depressiven Episoden (F32) sowie der rezidivierenden depressiven Störungen (F33) zwei weitere, für Selbstratings durch Patienten geeignete Kriterien erforderlich sind, werden die Patientenratings des ISR+ ergänzt durch zwei weitere Items, die diese zwei Kriterien abbilden. Die ISR‐Items zur Erfassung der typischen und der weiteren Symptome der depressiven Episoden sowie der rezidivierenden depressiven Störungen werden in den folgenden drei Tabellen aufgeführt: 54 ISR‐Depressionsitems, die typische Symptome abbilden ISR 1: Meine Stimmung ist gedrückt/niedergeschlagen. ISR 2: An Dingen, die ich normalerweise gern mache, habe ich keine richtige Freude mehr. ISR 3: Ich habe nicht genug Energie, wenn ich etwas tun will, und werde schnell müde. ISR‐Depressionsitems, die die weiteren Symptome abbilden ISR 4: Ich fühle mich wertlos/traue mir nichts zu. ISR 18: Ich habe Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. ISR 19: Ich denke darüber nach, mich umzubringen. ISR 20: Ich habe Schlafprobleme. ISR 21: Ich habe einen schlechten Appetit. Zusätzliche ISR+‐Depressionsitems, die noch fehlende Symptome abbilden: ISR+ 1: Ich fühle mich schuldig und wertlos. ISR+ 2: Wenn ich an die Zukunft denke, sehe ich schwarz. Abb. 3.1.8: ISR‐ und neue ISR+‐Depressionsitems, die Symptome der depressiven Stö‐ rungen abbilden. Wenn die Option zur Erfassung des somatischen Syndroms gewählt wurde, werden die Depressionsitems des ISR wiederum durch die folgenden ISR+‐Items für die Bewertung des somatischen Syndroms ergänzt, die sich für die Selbstratings durch Patienten eig‐ nen sollen. 55 Optional: Zusätzliche ISR+‐Items zur Bewertung des somatischen Syndroms durch den Patienten ISR+: Es fällt mir zurzeit schwer, mich über Sachen zu freuen, die mir normalerweise Freu‐ de bereiten. ISR+: Auf freudige Situationen oder Ereignisse reagiere ich nicht mehr mit Freude. ISR+: Ich wache morgens zwei oder mehr Stunden früher als gewöhnlich auf. ISR+: Morgens geht es mir besonders schlecht. ISR+: In letzter Zeit habe ich kein sexuelles Verlangen mehr. Abb. 3.1.9: Die zusätzlichen ISR+‐Items zur Bewertung seiner Symptomatik in Bezug auf das somatische Syndrom durch den Patienten. Im Algorithmus wird die Einteilung der depressiven Störungen F32 und F33 im nächs‐ ten Schritt nach ihrem Schweregrad vollzogen. Diese Einteilung wird anhand einer Quantifizierung der depressiven Symptomatik des Patienten erzielt. Dabei muss beim Patienten eine bestimmte Mindestmenge von Symptomen vorhanden sein, um eine depressive Episode (F32) bzw. eine rezidivierende depressive Störung (F33) zu diagnos‐ tizieren. Dieser Logik folgend, erhält der Kliniker die diagnostischen Kriterien für die Störungen der Gruppen F32 und F33 der ICD‐10 sowie ggf. die dazugehörigen ISR‐ Patienten‐Items in Tabellenform vorgelegt und bewertet diese für den jeweiligen Pati‐ enten (Abb. 3.1.10). ICD‐10‐Kriterien / ISR‐Patienten‐Items Patientenrating der ISR‐Items1 Expertenrating1,2 Depressive Störungen Typische Symptome ICD‐10: Gedrückte depressive Stimmung 2 ISR: Meine Stimmung ist ge‐ drückt/niedergeschlagen. 0 1 Ja 2 3 4 ICD‐10: Interessensverlust oder Freudlosigkeit 4 ISR: An Dingen, die ich normalerweise gern ma‐ che, habe ich keine richtige Freude mehr. 0 1 2 Ja 3 4 56 ICD‐10: Verminderung des Antriebs ISR: Ich habe nicht genug Energie, wenn ich etwas tun will, und werde schnell müde. Nein 0 1 2 3 4 Weitere Symptome ICD‐10: Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen ISR: Ich fühle mich wertlos/traue mir nichts zu. 3 Ja 0 1 2 3 4 0 1 2 3 4 ICD‐10: Verminderte Konzentration und Aufmerk‐ samkeit ISR: Ich habe Schwierigkeiten, mich zu konzen‐ trieren. Ja ICD‐10: Suizidgedanke, erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlung ISR: Ich denke darüber nach, mich umzubringen. 3 0 1 Nein 2 3 4 ICD‐10: Schlafstörungen 2 Ja ISR: Ich habe Schlafprobleme. 0 1 2 3 4 ICD‐10: Verminderter Appetit 1 Nein ISR: Ich habe einen schlechten Appetit. 0 ICD‐10: Schuldgefühle und Gefühle von Wertlo‐ sigkeit ISR+ (neu): Ich fühle mich schuldig und wertlos. 2 3 4 2 3 4 2 0 ICD‐10: Negative und pessimistische Zukunfts‐ perspektiven ISR+ (neu): Wenn ich an die Zukunft denke, sehe ich schwarz. 1 1 Nein 2 0 1 Ja 2 3 4 1 Zur besseren Veranschaulichung werden beispielhaft Werte eingetragen. 2 Erfüllt = „ja“; nicht erfüllt = „nein“. Abb. 3.1.10: Diagnostische Kriterien zur Bewertung von depressiven Episoden (F32) sowie rezidivierende depressive Störungen (F33) Die Schweregradeinteilung erfolgt für die Diagnosen der F32er‐ sowie der F33er‐ Gruppe anhand der Anzahl betroffener typischer und weiterer Symptome, die in der vorangegangenen Tabelle durch den Kliniker bewertet wurde. Hierzu ermittelt die 57 Software anhand der in Abb. 3.1.11 dargestellten Kriterien, ob die vorhandene Symp‐ tomatik zur Vergabe einer Diagnose ausreichend ist und ggf. welcher Schweregrad die jeweilige Störung aufweist. ICD‐10‐Kriterien / ISR‐Patienten‐Items Patientenrating der ISR‐Items1 Expertenrating1,2 Somatisches Syndrom ICD‐10: Interessensverlust oder Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten. Nein ISR: An Dingen, die ich normalerweise gerne ma‐ 0 1 2 3 4 che, habe ich keine richtige Freude mehr. ICD‐10: Frühmorgendliches Erwachen; zwei oder mehrere Stunden vor der gewohnten Zeit. Nein ISR+: Ich wache morgens zwei oder mehr Stunden 0 1 2 3 4 2 3 4 2 3 4 früher als gewöhnlich auf. ICD‐10: Mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu 2 reagieren. 0 1 Ja ISR+: Auf freudige Situationen oder Ereignisse rea‐ giere ich nicht mehr mit Freude. ICD‐10: Morgentief 2 ISR+: Morgens geht es mir besonders schlecht. 0 1 Ja ICD‐10: Objektiver Befund einer psychomotori‐ schen Hemmung oder Agitiertheit (festgestellt und berichtet von Personen der Umgebung des Kran‐ Ja ken) ICD‐10: Deutlicher Appetitverlust 1 ISR: Ich habe einen schlechten Appetit. ICD‐10: Gewichtverlust im vergangenen Monat häufig mehr als 5 % des Körpergewichts. 0 Nein 1 2 3 4 Nein 58 ICD‐10: Deutlicher Libidoverlust 3 Ja ISR+: In letzter Zeit habe ich kein sexuelles Verlan‐ gen mehr. 0 1 2 3 4 1 Zur besseren Veranschaulichung werden beispielhaft Werte eingetragen. 2 Erfüllt = „ja“; nicht erfüllt = „nein“. Abb. 3.1.11: Diagnostische Kriterien zur Bewertung des somatischen Syndroms (zitiert aus [Dilling: Leitlinien, 2014; S. 170 ff.]) Wenn diese Mindestkriterien für die Diagnose einer depressiven Episode (F32) oder einer rezidivierenden depressiven Störung (F33) erfüllt sind, müssen zur Bestimmung des weiteren Ablaufs des Algorithmus noch zwei (bzw. vier) weitere Kriterien vom Kli‐ niker bewertet werden, im Folgenden aufgelistet (Tab. 3.1.12): Wie bereits dargestellt, sollte zur Vergabe einer Diagnose aus diesen beiden Grup‐ pen die Symptomatik in der Regel über eine Mindestdauer von zwei Wochen be‐ standen haben (Abb. 3.1.12). Lediglich bei gegenwärtig schweren depressiven Epi‐ soden (F32.2 und F32.3 bzw. F33.2 und F33.3) kann dieses Zeitfenster unterschrit‐ ten werden, wenn die Symptomatik besonders schwer ausgeprägt ist und rasch auftritt. Zudem bedarf es noch einer Differenzierung zwischen den F32 depressiven Episo‐ den (einmaliges Auftreten einer depressiven Episode) und den F33 rezidivierenden depressiven Störungen (das Vorliegen mehrerer Episoden). Schließlich muss, sobald der Schweregrad einer schweren depressiven Episode erreicht wird, eine Differenzierung zwischen dem Vorliegen einer F32.2 schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome (bzw. F33.2 rezidivierenden depressiven Stö‐ rung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome) und einer F33.2 schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen (bzw. F33.3 rezidivie‐ renden depressiven Störung, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symp‐ tomen) erfolgen. Dies kann erreicht werden durch die Abfrage, ob gegenwärtig Wahn‐ ideen, Halluzinationen oder ein depressiver Stupor auftreten (Abb. 3.1.13). 59 Kreuzen Sie bitte an, welches Kriterium beim Patienten zutrifft: Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2) 1 Kriterium A: Die momentane depressive Symptomatik des Patienten besteht seit mindestens 2 Wochen. Bei besonders ausgeprägter, schwerer Symptoma‐ tik, die die Kriterien einer F32.2/3 bzw. F33.2/3 erfüllt, kann dieses Zeitfenster unterschritten werden. Kriterium trifft nicht zu. Zur Feststellung, ob eine der Diagnosen der F32‐ oder F33‐Gruppe (mit Ausnahme der F33.4) vorliegt Kriterium B: In der Anamnese liegt(en) bisher noch keine weiteren depressiven Episoden vor (erstmaliges Auftreten). bereits mehrere depressive Episoden vor. Zur Differenzierung, ob eine Diagnose der F32‐ oder der F33‐Gruppe vorliegt 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.1.10 verwendet. Abb. 3.1.12: Diagnostische Entscheidungen bezüglich des Zeitfensters bei depressiven Episoden (F32) sowie zur Unterscheidung zwischen den Diagnosegruppen F32 und F33 Wenn dem Kriterium A vom Kliniker zugestimmt wird, dann wird – in Abhängigkeit von der Antwort auf das Kriterium B – eine depressive Episode (F32) bzw. eine rezidivie‐ rende depressive Störung am Ende des Expertenratings II als Diagnose vorgeschlagen, nachdem mittels der Software der Schweregrad der Störung bestimmt und bei der Kodierung ergänzt wurde. Durch das Kriterium B wird festgelegt, ob eine depressive Episode (F32) (erstmaliges Auftreten) oder eine rezidivierende depressive Störung (mehrere Episoden) am Ende des Expertenratings II als Diagnose vorgeschlagen wird. 60 Kreuzen Sie bitte an, welches Kriterium beim Patienten zutrifft: Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2) 1 Bei der depressiven Symptomatik treten gegenwärtig Wahnideen, Halluzinationen oder depressiver Stupor auf. Das Kriterium trifft nicht zu. Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.1.10 verwendet. 1 Abb. 3.1.13: Differenzierung zwischen einer schweren depressiven Episode (bzw. F33) mit bzw. ohne psychotische Symptomatik Wird die Auswahl in Abb. 3.1.13 vom Kliniker gewählt, wird anstatt einer F32.2 schwe‐ ren depressiven Episode ohne psychotische Symptome (bzw. F33.2 rezidivierende de‐ pressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome) eine F32.3 schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (bzw. F33.3 rezidivie‐ rende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Sympto‐ men) am Ende des Expertenratings II vorgeschlagen werden. Darüber hinaus würde bei Bejahung der psychotischen Symptomatik noch eine Abfrage (Abb. 3.1.13) starten, um festzustellen, ob eine synthyme (F32/3.30) oder parathyme (F32/3.31) psychotische Symptomatik vorliegt. Kreuzen Sie bitte an, welches Kriterium beim Patienten zutrifft: Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2) 1 Die psychotische Symptomatik des Patienten ist synthym, d. h. stimmungskongruent (F32.30 bzw. F33.30). parathym, d. h. stimmungsinkongruent (F32.31 bzw. F33.31). 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.1.10 verwendet. Abb. 3.1.14: Differenzierung zwischen synthymen (F32.30) und parathymen (F32.31) Symptomen bei schweren depressiven Episoden mit psychotischer Symptomatik 61 Wenn das optionale Rating des somatischen Syndroms stattgefunden hätte, dann würde die Kodierung der leichten bzw. mittelgradigen depressiven Episoden (F32.0 und F32.1) sowie der rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig leichte (F33.0) bzw. mittelgradige Episode (F33.1), noch durch die Software mit der 5. Kodierungsstel‐ le ergänzt werden: Die „0“ auf der 5. Stelle bedeutet, dass kein somatisches Syndrom vorliegt, während die „1“ auf der 5. Stelle für das vorhandene somatische Syndrom steht. Die Kodierung des somatischen Syndroms wurde, um die Darstellung des Ge‐ samtmoduls (Abb. 3.1.17) übersichtlich zu halten, nicht berücksichtigt. Da die ICD‐10 das Konzept der „Double Depression“ aus dem DSM‐V nicht vorsieht (d. h. inhaltlich schließt eine Diagnose aus der Gruppe der F32er‐ und F33er‐Diagnosen die gleichzeitige Kodierung einer Diagnose aus der Gruppe F34–F39 aus), würde bei der Vergabe einer F32‐F33‐Diagnose das Depressionsmodul an dieser Stelle beendet werden. Wenn dem Kriterium A (2 Wochen Mindestdauer der Episode) nicht zuge‐ stimmt wird, wird der Kliniker umgehend in den zweiten Teil des ISR+‐ Depressionsalgorithmus (F34–F39) geleitet, wo weitere Möglichkeiten der Vergabe einer Depressionsdiagnose geprüft werden. Sollte bislang keine depressive Störung diagnostiziert worden sein, dann wird der zwei‐ te Teil des ISR+‐Depressionsalgorithmus aufgerufen. Dabei erfolgt als nächster Schritt eine Bewertung der Kriterien für die Diagnosen F32.8 und F32.9 sowie der F34er‐ Gruppe (Abb. 3.1.15). Da bei den beiden Diagnosen Zyklothymia (F34.0) sowie andere einzelne affektive Störungen – gemischte affektive Episode (F38.00) neben der depres‐ siven Symptomatik auch Symptome der gehobenen Stimmung vorkommen, hätten diese zwei Diagnosen prinzipiell auch im Rahmen des Expertenratings II bei den Modu‐ len der Manie (F30) bzw. der bipolaren affektiven Störungen (F31) abgefragt werden können. Da das Expertenrating des ISR+ in zwei Phasen abläuft und die depressive Symptomatik bereits im Expertenrating Teil I bewertet wird – während die beiden an‐ deren Module F30 und F31 erst im Expertenrating II ablaufen –, wurde zur Vereinfa‐ chung beschlossen, auch diese zwei Diagnosen im Depressionsmodul unterzubringen und Querverweise zu den Modulen der Manie (F30) und der bipolaren affektiven Stö‐ rungen (F31) zu etablieren. 62 Kreuzen Sie bitte an, welches Kriterium beim Patienten zutrifft: Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2) 1 F32.8: Bei diesen Störungen treffen die Beschreibungen der unter F32.0–F32.3 dargestellten depressiven Episoden nicht zu; sie sind aber nach dem diagnostischen Gesamteindruck depressiver Natur. F32.9: In der ICD‐10 werden keine diagnostischen Kriterien für die Vergabe dieser Diagnose angeboten. F33.8: In der ICD‐10 werden keine diagnostischen Kriterien für die Vergabe dieser Diagnose angeboten. F33.9: In der ICD‐10 werden keine diagnostischen Kriterien für die Vergabe dieser Diagnose angeboten. F34.0: Anhaltende Stimmungsinstabilität, mit zahlreichen Perioden leichter Depression und leicht geho‐ bener Stimmung, die allerdings nicht schwer genug ausgeprägt oder andauernd genug sein dürfen, um die Kriterien einer bipolaren affektiven Störung (F31) oder einer rezidivierenden depressiven Störung (F33) zu erfüllen. F34.1: Lang andauernde (mindestens mehrere Jahre) depressive Verstimmung, die niemals oder nur sehr selten ausreichend ausgeprägt ist, um die Kriterien für eine rezidivierende depressive Störung zu erfüllen. In der Anamnese, insb. bei Beginn der Störung, können allerdings die Kriterien einer leichten depressiven Episode erfüllt gewesen sein, mit unterschiedlich langen Perioden, wo die Patienten ein gutes Befinden beschreiben, gefolgt von oft monatelangen Phasen, währenddessen sie sich müde und depressiv fühlen, schlecht schlafen, alles als Anstrengung erlebt wird, nichts genossen wird und sie sich unzulänglich fühlen – wobei sie aber in der Regel fähig sind, mit den wesentlichen Alltagsanforderungen fertig zu werden. F34.2: Klinisch bedeutsame Restkategorie für anhaltende affektive Störungen, die nicht ausreichend schwer oder anhaltend genug sind, um die Kriterien für eine Zyklothymia (F34.0) oder eine Dysthymia (F34.1) zu erfüllen. F34.8: In der ICD‐10 werden keine diagnostischen Kriterien für die Vergabe dieser Diagnose angeboten. F34.9: In der ICD‐10 werden keine diagnostischen Kriterien für die Vergabe dieser Diagnose angeboten. 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.1.10 verwendet. Beispiele: wechselnde Mischbilder depressiver Symptome (v. a. somatischer Art) mit weniger bedeutsamen Symptomen, wie Spannung, Sorge und Verzweiflung oder Mischbilder somatischer depressiver Symptome mit anhaltendem Schmerz oder Müdigkeit, die kein organische Ursache haben. Abb. 3.1.15: Kriterien für die differenzialdiagnostische Unterscheidung der verschiede‐ nen ICD‐10‐Diagnosen der F32.8, F32.9, der F33.8, F33.9 und F34er‐Gruppe Wurde eine Diagnose anhand der in Abb. 3.1.15 bewerteten Kriterien gestellt, dann wird das Depressionsmodul beendet. Ansonsten erfolgt eine Abfrage der Kriterien der 63 restlichen Diagnosen der affektiven Störungen (F33.4 sowie F38–F39) anhand Abb. 3.1.16. An dieser Stelle wird das Depressionsmodul des ISR+ endgültig beendet. 64 Kreuzen Sie bitte an, welches Kriterium beim Patienten zutrifft: Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2) 1 F38.0: In der ICD‐10 werden keine diagnostischen Kriterien für die Vergabe dieser Diagnose angeboten. F38.00: Affektive Episode mit mind. 2 Wochen Dauer, gekennzeichnet durch eine Mischung oder raschen Wechsel (gewöhnlich innerhalb von wenigen Stunden) hypomanischer, manischer oder depressiver Symptome. F38.1: In der ICD‐10 werden keine diagnostischen Kriterien für die Vergabe dieser Diagnose angeboten. F38.10: Im vergangenen Jahr ca. einmal monatlich rezidivierende kurze Episoden, die alle kürzer als 2 Wochen bestanden (typischerweise 2–3 Tage mit vollständiger Erholung). Im Gegensatz zur Dysthymia (F34.1) sind die Patienten die meiste Zeit nicht depressiv. F38.11: Depressive Symptomatik tritt in aufeinanderfolgenden Jahren mehrfach innerhalb des gleichen 90‐Tage‐Zeitraums auf und remittiert auch während dieser Zeitphase. Dabei dominiert die Zahl saisona‐ ler Episoden gegenüber den eventuell auftretenden nichtsaisonalen Episoden. F38.12: Mehrfaches Auftreten von affektiven Episoden von mind. 2 Wochen Dauer, gekennzeichnet durch eine Mischung oder raschen Wechsel (gewöhnlich innerhalb von wenigen Stunden) hypomani‐ scher, manischer oder depressiver Symptome. F38.8: Restkategorie für affektive Störungen, die nicht die Kriterien einer der anderen Störungen F38.0– F38.1 erfüllen. F39: Diese Kategorie ist nur als letzte Möglichkeit zu verwenden, wenn keine der übrigen Kategorien für affektive Störungen zutreffend sind. F33.4: Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert: Die Kriterien einer rezidivierenden depressiven Störung waren in der Anamnese erfüllt, aber das gegenwärtige Zustandsbild erfüllt nicht die Kriterien für den angegebenen Schweregrad einer depressiven Episode bzw. einer sonstigen depressi‐ ven Störung in F30–F39. Mindestens zwei depressive Episoden in der Anamnese sollen mindestens zwei Wochen gedauert haben und sollen von mehreren Monaten ohne eindeutige affektive Symptomatik ge‐ trennt gewesen sein. 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.1.10 verwendet. Hier können viele Störungen aufgeführt werden, sodass – mit Ausnahme von F38.00 und F38.10 – keine speziellen Kriterien formuliert wurden, Wissenschaftler sollen derartige Kriterien entsprechend der Gegebenheiten ihrer Untersuchung zusammenstellen. Mindestens zwei der drei typischen Symptome (Niedergeschlagenheit, Verlust der Freude, verminderter Antrieb) und mindestens zwei der sieben weiteren Symptome (1. verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, 2. vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, 3. Schuldgefühle und Gefühle der Wertlosig‐ keit, 4. negative und pessimistische Zukunftsperspektive, 5. Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlungen, 6. Schlafstörungen, 7. verminderter Appetit) Abb. 3.1.16: Kriterien für die differenzialdiagnostische Unterscheidung der verschiede‐ nen ICD‐10‐Diagnosen der F38er‐Gruppe, der F39 und der F33.4 65 Der Ablauf des gesamten Depressionsmoduls des ISR+ kann in Abb. 3.1.18 eingesehen werden. Ausschlusskriterien Folgende Ausschlusskriterien müssen bei der Auflistung der vorgeschlagenen Diagno‐ sen am Ende des Expertenratings II bei den jeweiligen Diagnosen hinzugefügt werden. Spezifische Ausschlusskriterien, die für Einzeldiagnosen der depressiven Störun‐ gen gelten F32.0–F32.8: keine Ausschlusskriterien F33: rezidivierende kurze depressive Episoden (F38.1) F34.0: keine Ausschlusskriterien F34.1: ängstliche Depression, leicht oder nicht anhaltend (F41.2), schizophrenes Residuum (F20.5), Trauerreaktion unter 2 Jahren (F43.21, längere depressive Reaktion) F34.8: keine Ausschlusskriterien F34.9: keine Ausschlusskriterien F38: keine Ausschlusskriterien F38.10: Wenn die depressiven Episoden nur in Bezug zum Menstruationszyklus auftreten, soll die F38.8 zusammen mit einem zweiten Code für die zugrunde liegende Störung (z. B. N94.8) verwendet werden. F39: nicht näher bezeichnete psychische Störung (F99) Abb. 3.1.17: Ausschlusskriterien für depressive Störungen [Dilling: Leitlinien, 2014] 66 Abb. 3.1.18: Ablauf des kompletten Moduls für die depressiven Störungen 67 3.2 Angststörungen Die Angst zählt zu den angeborenen Reaktionsmustern, die auf motorischer, physiolo‐ gischer und subjektiv‐psychologischer Ebene ablaufen [Bassler, 2012]. Angstreaktionen treten generell in Situationen auf, die das Individuum als bedrohlich erlebt. Während in vielen dieser „Angstsituationen“ die entsprechenden Reaktionen als normal betrach‐ tet werden, gelten diese als pathologisch, wenn die Situation objektiv (d. h. von der Allgemeinheit) nicht als gefährlich eingestuft wird. Nach ICD‐10 [Dilling: Leitlinien, 2014] werden die Angststörungen in zwei voneinander abgrenzbare Hauptdiagnosegruppen unterteilt: die phobischen Störungen und die sonstigen Angststörungen. Die phobischen Störungen sind Störungen, bei denen die Angst „ausschließlich oder überwiegend durch eindeutig definierte, im Allgemeinen ungefährliche Situationen oder Objekte – außerhalb des Patienten – hervorgerufen [wird].“ (zitiert nach [Dilling: Leitlinien, 2014; S. 190]). Des Weiteren gibt es die Gruppe der sonstigen Angststörungen, die sich – im Unterschied zu den phobischen Störungen – nicht auf bestimmte Umgebungssituationen beziehen, sondern eher generalisiert bzw. in unspezifischen Situationen auftreten. Eine Übersicht der Diagnosen der phobi‐ schen und der sonstigen Angststörungen bietet Abb. 3.2.1. 68 Abb. 3.2.1: Klassifikation der Angststörungen nach ICD‐10 Diagnostische Leitlinien der Angststörungen Die ICD‐10 [Dilling: Leitlinien, 2014] enthält jeweils diagnostische Leitlinien für die phobischen Störungen F40.0, F40.1 und F40.2 (Abb. 3.2.2) wie auch für die sonstigen Angststörungen F41.0, F41.1 und F41.2 (Abb. 3.2.3). Für die übrigen Differenzialdiag‐ nosen der Angststörungen der ICD‐10 liegen nur teilweise diagnostische Kriterien vor. Im Folgenden werden zuerst die diagnostischen Leitlinien und Kriterien für die phobi‐ schen Störungen (F40) erläutert. Anschließend werden diese für die sonstigen Angst‐ störungen (F41) dargelegt. Folgende Beschreibungen werden für die phobischen Störungen dargeboten: Charak‐ teristisch für die Agoraphobie (F40.0) sind die Angst, das eigene Haus zu verlassen, „die Ängste vor offenen Plätzen“, Angst, sich in eine Menschenmenge zu begeben, Geschäf‐ te zu betreten oder „alleine in Zügen, Bussen oder Flugzeug zu reisen“ [Dilling: Leitli‐ nien, 2014]. Diese Phobie schränkt den Alltag des Patienten teils erheblich ein. Die 69 Angst kann in unterschiedlichen „Schweregraden“ auftreten (z. B. auch in Form von Panikattacken), und die Patienten versuchen, die phobischen Situationen zu vermei‐ den. Bei Panikattacken können diese mit dem Gefühl der Todesangst verbunden sein, mit körperlichen Symptomen, wie Schwindel, Schmerzen im Brustkorb, kardialen Be‐ schwerden, Luftnot und Depersonalisation oder Derealisation. Auch die Angst, die Kon‐ trolle über den Körper zu verlieren oder verrückt zu werden, kann vorkommen. Die Attacken dauern wenige Minuten bis Stunden. Die erlebte Symptomzunahme führt oft zu einer Wahrnehmung von Unruhe und dem Drang, den Ort, an dem die Störung be‐ gonnen hat, zu verlassen. In der Folge kann es zu einer negativen Konditionierung kommen. In der Konsequenz können die Personen dann die eigene Wohnung nicht verlassen, nicht alleine bleiben oder sie meiden öffentliche Räume [Dilling: Leitlinien, 2014]. Menschen mit einer sozialen Phobie (F40.1) leiden an der Befürchtung, in den Auf‐ merksamkeitsfokus anderer Menschen zu geraten und dann prüfender Betrachtung durch verhältnismäßig kleine Gruppen (im Gegensatz zu Menschmengen) nicht stand‐ halten zu können. Kritik wird meist nicht ertragen und das Selbstwertgefühl ist ver‐ mindert. Symptomatisch können vegetative Symptome, wie Harndrang oder Übelkeit auftreten, sowie Gesichtsrötung oder auch muskuläre Symptome, wie Zittern, bis hin zu Panikattacken. Die körperlichen Symptome können in der Wahrnehmung der Pati‐ enten in den Vordergrund treten und als Leitsymptom präsentiert werden [Dilling: Leit‐ linien, 2014]. Menschen mit einer spezifischen Phobie (F40.2) leiden „unter einer extremen, dauer‐ haften und unangemessenen Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen, die sie zu vermeiden versuchen“ (zitiert nach [Berking, 2012]). Um einen Eindruck spezifischer Phobien zu vermitteln, hat Berking folgende Kategorisierung verwendet: ‐ Tierphobie: z. B. Angst vor Spinnen, Schlangen oder Insekten ‐ Umweltphobie: Angst vor Naturereignissen wie Gewitter oder Wasser 70 ‐ Situationsphobie: Angst in bestimmten Situationen (Fahrstühle, Tunnel, Züge, Menschenmengen etc.) ‐ Blut‐, Spritzen‐ und Verletzungsphobie: Angst vor Arztbesuchen oder Spritzen ‐ Anderer Typus: z. B. Angst vor Ersticken, vor verkleideten Menschen Die ICD‐10 bietet die in Abb. 3.2.2 dargestellten diagnostischen Leitlinien für die Diag‐ nosen F40.0–F40.2 an. Für die Diagnosen F40.8 (sonstige phobische Störungen) sowie F40.9 (nicht näher bezeichnete phobische Störung) werden nach ICD‐10 keine diagnos‐ tische Kriterien bestimmt [Dilling: Leitlinien, 2014, S. 192 ff.]. F40.0 Agoraphobien 1. Die psychischen oder vegetativen Symptome müssen primäre Manifestationen der Angst sein und nicht auf anderen Symptomen wie Wahn‐ oder Zwangsgedanken beruhen. 2. Die Angst muss in mindestens zwei der folgenden umschriebenen Situationen auftreten: in Menschenmengen, auf öffentlichen Plätzen, bei Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause oder bei Reisen alleine. 3. Vermeidung der phobischen Situation muss ein entscheidendes Symptom sein oder gewesen sein. F40.1 Soziale Phobien 1. Die psychischen, Verhaltens‐ oder vegetativen Symptome müssen primäre Manifestationen der Angst sein und nicht auf anderen Symptomen wie Wahn und Zwangsgedanken beruhen. 2. Die Angst muss auf bestimmte soziale Situationen beschränkt sein oder darin überwiegen. 3. Wenn möglich, Vermeidung der phobischen Situation. F40.2 Spezifische (isolierte) Phobien 1. Die psychischen oder vegetativen Symptome müssen primäre Manifestationen der Angst sein und nicht auf anderen Symptomen wie Wahn oder Zwangsgedanken beruhen. 2. Die Angst muss auf die Anwesenheit eines bestimmten phobischen Objektes oder eine spezi‐ fische Situation begrenzt sein. 3. Die phobische Situation wird – wann immer möglich – vermieden. F40.8 Sonstige phobische Störungen Es sind keine diagnostischen Kriterien nach ICD‐10 vorgegeben. F40.9 Nicht näher bezeichnete phobische Störung Es sind keine diagnostischen Kriterien nach ICD‐10 vorgegeben. Abb. 3.2.2: Diagnostische Leitlinien und Kriterien der ICD‐10 für die phobischen Stö‐ rungen (zitiert nach [Dilling: Leitlinien, 2014; S. 192 ff.]) 71 Auch für die Gruppe der sonstigen Angststörungen werden für einige Differenzialdiag‐ nosen diagnostische Leitlinien vorgeben (F41.0–F41.2), während für die Diagnose der sonstigen gemischten Angststörung (F41.3) lediglich diagnostische Kriterien bereitge‐ stellt werden und für die übrigen Diagnosen (F41.8 und F41.9) keine Vorgaben beste‐ hen. Menschen mit Panikstörungen (F41.0) leiden unter „wiederkehrende[n] schwere[n] Angstattacken (Panik), die sich nicht auf eine spezifische Situation oder besondere Um‐ stände beschränken und deshalb auch nicht vorhersehbar sind“ (zitiert nach [Dilling: Leitlinien, 2014, S. 196 f.]). Typisch für Betroffene mit generalisierter Angststörung (F41.1) sind sorgenvolle und ängstliche Gedanken, die alle Lebensbereiche betreffen und die den Bewegungsspiel‐ raum und das Verhalten signifikant beeinflussen. Neben den Sorgen und „Vorahnun‐ gen“, dass etwas Schlimmes passieren könnte, werden vielfältige Symptome präsen‐ tiert, die meist vegetativer oder muskulärer Natur sind. Daneben können z. B. Angst vor Unfällen oder krankheitsbezogene Ängste auftreten, die entweder die Person selbst oder wichtige Bezugspersonen betreffen. Frauen sind eher betroffen. Oft lässt sich ein Zusammenhang mit einer anhaltenden seelischen Belastung herstellen. Der Verlauf ist nicht einheitlich, weist jedoch eine Tendenz zu Schwankungen und chroni‐ schen Entwicklungen auf [Dilling: Leitlinien, 2014]. Die Kategorie der gemischten Angst und depressiven Störungen (F41.2) soll bei gleich‐ zeitigem Bestehen und gleichwertiger Ausprägung von Angst und Depression Verwen‐ dung finden, jedoch nur, wenn keine der beiden Störungen ein Ausmaß erreicht, das eine entsprechende einzelne Diagnose rechtfertigen würde. Zeigt sich schwere Angst mit einem geringeren Anteil von Depression, muss eine der anderen Diagnosen der Angst‐Kategorie oder der phobischen Störungen verwendet werden. Treten beide Syn‐ drome in so starker Ausprägung auf, dass beide einzeln kodiert werden können, sollte diese gemischte Kategorie nicht verwendet werden. 72 Die Diagnose „andere gemischte Angststörungen“ (F41.3) wird dann vergeben, wenn die Kriterien der generalisierten Angststörung (F41.1) erfüllt sind und darüber hinaus noch einige Kriterien der F40–F48 Störungen eindeutig erfüllt sind. Die entsprechenden diagnostischen ICD‐10‐Leitlinien für die F41.0–F41.3 sind in Abb. 3.2.3 aufgeführt. F41.0 Panikstörung (episodisch paroxymale Angst) 1. tritt in Situationen auf, in denen keine objektive Gefahr besteht; 2. wenn die Angstanfälle nicht auf bekannte oder vorhersagbare Situationen begrenzt sind; 3. zwischen den Attacken müssen weitgehend angstfreie Zeiträume liegen (Erwartungsangst ist jedoch häufig). F41.1 Generalisierte Angststörung 1. Befürchtungen (Sorge über zukünftiges Unglück, Nervosität, Konzentrationsschwierigkeiten usw.); 2. motorische Spannung (körperliche Unruhe, Spannungskopfschmerz, Zittern, Unfähigkeit, sich zu entspannen); 3. vegetative Übererregbarkeit (Benommenheit, Schwitzen, Tachykardie oder Tachypnoe, Ober‐ bauchbeschwerden, Schwindelgefühle, Mundtrockenheit etc.). F41.2 Angst und depressive Störung gemischt 1. Vorhandensein von Angst und Depression in leichter oder mittlerer Ausprägung, ohne Vor‐ herrschen des einen oder anderen; 2. zumindest vorübergehendes Auftreten von vegetativen Symptomen; 3. die Symptome erfüllen nicht die Kriterien einer Angststörung oder einer depressiven Episode. F41.3 Sonstige gemischte Angststörungen Die Kriterien einer generalisierten Angststörung (F41.1) müssen erfüllt sein bei gleichzeitigem Bestehen deutlicher (aber häufig nur kurzzeitig andauernder) Merkmale anderer Störungen aus dem Kapitel F40–48, die allerdings die Kriterien für diese Störungen nicht vollständig erfüllen. F41.8 Sonstige spezifische Angststörungen Es sind keine diagnostischen Kriterien nach ICD‐10 vorgegeben. F41.9 Nicht näher bezeichnete Angststörung Es sind keine diagnostischen Kriterien nach ICD‐10 vorgegeben. Abb. 3.2.3: Diagnostische Leitlinien und Kriterien für die sonstigen Angststörungen (F41er‐Gruppe) (zitiert nach [Dilling: Leitlinien, 2014; S. 197 ff.]) 73 Syndromalgorithmus für Angststörungen Zunächst werden dem Patienten die vier ISR‐Items zu den Angststörungen angeboten (Abb. 3.2.4), die zur Bewertung der „generalisierten Angststörungen‐Patientenratings“ mit geeigneten ISR+‐Items ergänzt werden. Die Ausprägung (Schweregrad) dieser Symptome werden in Werten von 0–4 vom Patienten kodiert. Wenn alle vier dieser Items mit dem Wert von mindestens 1 kodiert werden, dann liegt auf der Grundlage des ISR‐Patientenratings der Verdacht auf das Bestehen einer Angststörung vor, und der Kliniker wird durch das ISR+‐Angstmodul geführt. Zur weiteren Bewertung der di‐ agnostischen Leitlinien der Agoraphobie (F40.0) sowie der generalisierten Angststö‐ rung (F41.1) durch den Kliniker werden die Patientenratings bei einer ISR+‐Erhebung durch 17 weitere ISR+‐Items ergänzt. ISR‐ und ISR+‐Items ISR 5: Ich bekomme unerklärliche Angstattacken oder Angst in Situationen, die anderen Menschen harmlos erscheinen. ISR 6: In starken Angstsituationen habe ich plötzlich auftretende körperliche Beschwerden, z. B. Herzklopfen/‐rasen, Atemnot, Schwindel, Druck auf der Brust, Kloß im Hals, Zittern oder innere Un‐ ruhe bzw. Anspannung. ISR 7: Ich versuche, bestimmte Situationen, die mir Angst machen, zu vermeiden. Schon die Vorstel‐ lung, dass ich wieder eine Angstattacke erleiden könnte, macht mir Angst. ISR 8: Ich habe Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. ISR+: Ich sorge mich häufig, dass ein Unglück ISR+: Ich leide häufig an Herzrasen. passieren könnte. ISR+: Meine Atmung ist häufig zu schnell. ISR+: Ich bin meist sehr nervös. ISR+: Ich leide häufig unter Magenschmerzen. ISR+: Ich leide unter körperliche Unruhe. ISR+: Mir ist häufig schwindlig. ISR+: Ich leide häufig unter Kopfschmerzen. ISR+: Ich leide häufig unter Trockenheit des Mundes. ISR+: Ich zittere häufig. ISR+: Ich habe Angst vor Menschenmengen. ISR+: Ich kann mich meistens nicht ISR+: Ich habe Angst vor öffentlichen Plätzen. entspannen. ISR+: Ich habe Angst bei Reisen mit weiter Entfernung von ISR+: Ich fühle mich häufig benommen. Zuhause. ISR+: Ich schwitze viel. ISR+: Ich habe Angst zu reisen. Abb. 3.2.4: Die vier ISR‐Items zur subjektiven Bewertung der Angstsymptomatik er‐ gänzt durch 17 neue ISR+‐Items zur differenzierten Erfassung der Symptomatik bei der generalisierten Angststörung. 74 Bei diesem Syndrom‐Algorithmus erhält der Kliniker im ersten Schritt eine Tabelle zur Unterscheidung, ob eine Störung der F40er‐ oder F41er‐Gruppe vorliegt (Abb. 3.2.5). Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,5) Bitte geben Sie an, ob eines der folgenden Kriterien beim Patienten erfüllt ist: F40er‐Gruppe: Angstsymptomatik bezieht sich überwiegend auf eindeutig definierte ungefähr‐ liche Situationen oder Objekte außerhalb des Patienten, die anderen Menschen im Allgemei‐ nen harmlos erscheinen. F41er‐Gruppe: Angstsymptomatik bezieht sich nicht auf eindeutig definierte Situationen oder Objekte. Dabei tritt die Symptomatik generalisiert in verschiedenen Situationen auf, die an‐ deren Menschen im Allgemeinen als harmlos erscheinen. Beide Kriterien treffen nicht zu. 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.2.7 verwendet. Abb. 3.2.5: Kriterien zur Differenzierung zwischen den beiden Hauptgruppen der Angststörungen der ICD‐10: F40 bzw. F41 Je nach Auswahl durch den Kliniker wird er zur entsprechenden Hauptdiagnosegruppe (F40 bzw. F41, bzw. beide Subgruppen) weitergeleitet. Wenn die Kriterien nicht zutref‐ fen, wird das Angstmodul beendet. Im Folgenden wird zuerst der Ablauf des ISR+‐ Moduls Angststörungen für die F40er‐Gruppe erläutert, gefolgt vom Modulablauf der F41er‐Gruppe. Bei der F40er‐Gruppe erfolgt erst eine Differenzierung zwischen den Diagnosen F40.0 bis F40.2. Nur wenn die diagnostischen Kriterien für keine dieser Diagnosen erfüllt sind, werden die Kriterien für die F40.8 (sonstige phobische Störungen) und F40.9 (phobische Störung, nicht näher bezeichnet) bewertet. 75 Um eine ressourcenorientierte Gestaltung dieses Submoduls der F40.0er‐Gruppe zu erreichen, werden zuerst jeweils die zweiten diagnostischen ICD‐10‐Leitlinien der Stö‐ rungen F40.0–F40.2 abgefragt, da die übrigen diagnostischen Leitlinien bei diesen drei Diagnosen gleichlautend sind (Abb. 3.2.6). Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,5) Bitte geben Sie an, ob eines der folgenden Kriterien beim Patienten erfüllt ist: Kriterium A Agoraphobie (F40.0): Die Angst muss in mindestens zwei der folgenden umschriebenen Situationen auftreten: in Menschenmengen, auf öffentlichen Plätzen, bei Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause oder bei Reisen alleine. Kriterium B Soziale Phobie (F40.1): Die Angst muss auf bestimmte soziale Situationen, d. h. Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen in verhältnismäßig kleinen Gruppen, beschränkt sein o‐ der darin überwiegen. Kriterium C Spezifische Phobie (F40.2): Die Angst muss auf die Anwesenheit oder Nähe eines bestimm‐ ten phobischen Objektes oder eine spezifische Situation begrenzt sein. Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.2.7 verwendet. 1 z. B. Angst vor bestimmten Tiere, Höhen, Donner, Dunkelheit, Fliegen, geschlossenen Räumen, Urinieren oder Defäkieren auf öffentlichen Toiletten, Verzehr bestimmter Speisen, Zahnarztbesuch, Anblick von Blut oder Verletzungen oder die Furcht, bestimmten Krankheiten ausgesetzt zu sein [Dilling: Leitlinien, 2014]. Abb. 3.2.6: Differenzierungskriterien für die phobischen Störungen F40.0–F40.2 Wenn Kriterium A ausgewählt wird, erhält der Kliniker eine Tabelle mit den diagnosti‐ schen Leitlinien der Agoraphobie (F40.0) und bewertet diese (Abb. 3.2.7). 76 Patientenrating der ISR‐Items1 ICD‐10‐Kriterien / ISR‐Patienten‐Items ICD‐10: Die psychischen oder vegetativen Symptome sind primäre Manifestationen der Angst und beruhen nicht auf anderen Symptomen wie Wahn‐ oder Zwangsgedan‐ ken. Expertenrating1,2 Phobische Störungen F40.0 2 0 Ja 1 2 3 4 ICD‐10: Vermeidung der phobischen Situa‐ tion muss ein entscheidendes Symptom sein oder gewesen sein. ISR 7: Ich versuche, bestimmte Situationen, die mir Angst machen, zu vermeiden. Schon die Vorstellung, dass ich wieder eine Angstattacke erleiden könnte, macht mir Angst. 3 0 ICD‐10: Die Angst tritt in Menschenmengen auf. ISR+: Ich habe Angst vor Menschenmengen. 2 3 4 2 0 ICD‐10: Die Angst tritt auf öffentlichen Plät‐ zen auf. ISR+: Ich habe Angst vor öffentlichen Plät‐ zen. 1 Ja 1 Ja 2 3 4 2 0 1 Ja 2 3 4 ICD‐10: Die Angst tritt bei Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause auf. ISR+: Ich habe Angst bei Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause. Nein 0 1 2 3 4 ICD‐10: Die Angst tritt bei Reisen alleine auf. Nein ISR+: Ich habe Angst zu reisen. 0 1 2 3 4 1 Zur besseren Veranschaulichung werden beispielhaft Werte eingetragen. 2 Erfüllt = „ja“; nicht erfüllt = „nein“. Abb. 3.2.7: Diagnostische Kriterien zur Bewertung der Agoraphobie (F40.0) Die ersten zwei Kriterien müssen beim Patienten vorhanden sein sowie mindestens zwei der Kriterien 3–6. Wenn die Kriterien für die Diagnose einer Agoraphobie erfüllt 77 sind, muss noch unterschieden werden, ob diese Störung mit oder ohne Panikstörung (F40.00 oder F40.01) vorliegt, wie in Abb. 3.2.8 dargestellt. Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,5) Bitte geben Sie an, ob folgende Symptomatik vorhanden ist: F40.00: Agoraphobie ohne Panikstörung F40.01: Agoraphobie mit Panikstörung 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.2.7 verwendet. Abb. 3.2.8: Differenzierung zwischen dem Vorliegen einer Agoraphobie mit bzw. ohne Panikstörung nach ICD‐10 Bei Auswahl des Kriteriums B (soziale Phobien) sieht der Kliniker folgende Tabelle und bewertet damit die für die Diagnosestellung erforderlichen diagnostischen Leitlinien (Abb. 3.2.9). 78 Patientenrating der ISR‐Items1 ICD‐10‐Kriterien / ISR‐Patienten‐Items Soziale Phobie F40.1 Expertenrating1,2 ICD‐10: Die psychischen oder vegetativen Symptome sind primäre Manifestationen der Angst und beruhen nicht auf anderen Ja Symptomen wie Wahn‐ oder Zwangsgedan‐ ken. ICD‐10: Vermeidung der phobischen Situa‐ tion muss – wann immer möglich ‐ ein ent‐ scheidendes Symptom sein oder gewesen sein. 3 Ja ISR 7: Ich versuche bestimmte Situationen, die mir Angst machen, zu vermeiden. Schon 0 1 2 3 4 die Vorstellung, dass ich wieder eine Angstattacke erleiden könnte, macht mir Angst. 1 Zur besseren Veranschaulichung werden beispielhaft Werte eingetragen. 2 Erfüllt = „ja“; nicht erfüllt = „nein“. Abb. 3.2.9: Diagnostische Kriterien der sozialen Phobien Da die zweite diagnostische Leitlinie der sozialen Phobien bereits im Rahmen des Krite‐ riums B abgefragt wurde, reicht die Zustimmung zu den restlichen zwei Leitlinien, die in Abb. 3.2.9 bewertet wurden, um die Vergabe der Diagnose einer sozialen Phobie (F40.1) am Ende des Expertenratings II vorzuschlagen. Bei Auswahl des Kriteriums C (spezifische (isolierte) Phobien) bewertet der Kliniker die diagnostischen Leitlinien dieser Differenzialdiagnose (Abb. 3.2.10). Patientenrating der ISR‐Items1 ICD‐10‐Kriterien / ISR‐Patienten‐Items ICD‐10: Die psychischen oder vegetativen Spezifische Phobie F40.2 Expertenrating1,2 Ja Symptome sind primäre Manifestationen 79 der Angst und beruhen nicht auf anderen Symptomen wie Wahn‐ oder Zwangsge‐ danken. ICD‐10: Vermeidung der phobischen Situ‐ ation muss – wann immer möglich ‐ ein entscheidendes Symptom sein oder ge‐ wesen sein. 3 Ja ISR 7: Ich versuche bestimmte Situatio‐ nen, die mir Angst machen, zu vermeiden. 0 1 2 3 4 Schon die Vorstellung, dass ich wieder eine Angstattacke erleiden könnte, macht mir Angst. Abb. 3.2.10: Diagnostische Kriterien der spezifischen Phobie Da auch bei den diagnostischen Leitlinien für die spezifischen (isolierten) Phobien der ICD‐10 eine der drei Leitlinien bereits im Rahmen des Kriteriums C bewertet wurde, muss vom Kliniker nur den restlichen zwei Kriterien zugestimmt werden, um am Ende des Expertenratings II die Vergabe der Diagnose einer spezifischen (isolierten) Phobie vorzuschlagen. Wenn eine Diagnose der Störungen F40.0–F40.2 erfüllt wurde, wird dieser Teil des Angstmoduls des ISR+ beendet, ansonsten bekommt der Kliniker die Wahl zwischen den beiden Restkategorien der F40er‐Gruppe vorgelegt (Abb. 3.2.11). Spätestens an dieser Stelle wird dieser Teil des Angstmoduls beendet. 80 Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,5) Bitte bewerten Sie, ob eine der folgenden zwei Störungen bei den Patienten diagnostiziert werden soll: F40.8: sonstige phobische Störungen Keine weiteren diagnostische Kriterien nach ICD‐10 vorgegeben F40.9: phobische Störungen, nicht näher bezeichnet Keine weiteren diagnostische Kriterien nach ICD‐10 vorgegeben 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.2.7 verwendet. Abb. 3.2.11: Bewertung, ob eine Diagnose aus den Restkategorien (F40.8 oder F40.9) vorliegt Wurde bei der ersten Abfrage des ISR‐Angstmoduls (Differenzierung zwischen der F40er‐ und der F41er‐Gruppe) die Subgruppe F41 angewählt, wird der Kliniker durch den zweiten Teil des Angstmoduls weitergeleitet, wie im Folgenden dargestellt. Analog zum Vorgehen im ersten Teil des ISR+‐Angstmoduls wird eingangs eine Diffe‐ renzierung zwischen den Störungen F41.0 (Panikstörung), F41.1 (generalisierte Angst‐ störung und F41.2 (Angst und depressive Störung gemischt) anhand der in Abb. 3.2.12 aufgeführten Kriterien erreicht. Anschließend werden die diagnostischen Leitlinien der ICD‐10 für diese drei Störungen durch den Kliniker bewertet. 81 Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,5) Bitte geben Sie an, ob eines der folgenden Kriterien beim Patienten erfüllt ist: Kriterium A für Panikstörung (F41.0): Es treten wiederkehrende schwere Angstattacken in objektiv un‐ bedrohlichen Situationen auf. Diese sind nicht auf eine spezifische Situation oder besondere Umstände beschränkt und deshalb nicht vorhersehbar. Während Erwartungsangst häufig ist, müssen zwischen den Attacken weitgehend angstfreie Zeiträume liegen. Kriterium B für generalisierte Angststörung (F41.1): Es treten generalisierte und anhaltende Ängste auf, die nicht auf bestimmte Situationen in der Umgebung beschränkt oder darin nur besonders betont sind, d. h. sie sind frei flottierend. Kriterium C für Angst und depressive Störung, gemischt (F41.2): Gleichzeitiges Auftreten von Angst und Depression in leichter oder mittlerer Ausprägung, ohne Vorherrschen des einen oder anderen, mit zu‐ mindest vorübergehendem Auftreten vegetativer Symptome. Dabei werden die diagnostischen Kriterien einer anderen Angststörung oder einer depressiven Episode nicht erfüllt. Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.2.4 verwendet. 1 Im Gegensatz zu Panikattacken im Rahmen einer Agoraphobie, bei der die Attacken sich auf Ängste vor öffentlichen Plätzen, Menschenmengen, Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause oder Reisen alleine bezie‐ hen. Symptome sind sehr unterschiedlich, z. B. ständige Nervosität, Zittern, Muskelspannung, Schwitzen, Be‐ nommenheit, Herzklopfen, Schwindelgefühle oder Oberbauchbeschwerden. Häufig sind auch Befürchtungen, dass der Patient oder einer seiner Angehörigen demnächst erkranken oder verunglücken könnte, sowie eine große Anzahl von Sorgen und Vorahnungen. Abb. 3.2.12: Differenzierungskriterien zwischen den ICD‐10‐Diagnosen F 41.0–F41.2 Bei Auswahl des Kriteriums A (F41.0 Panikstörung) wird dem Kliniker am Ende des Ex‐ pertenratings II die Diagnose einer Panikstörung vorgeschlagen. Wird das Kriterium B (generalisierte Angststörung) vom Kliniker ausgewählt, werden ihm tabellarisch die diagnostischen Leitlinien der ICD‐10 [Dilling: Leitlinien, 2014] für die generalisierte Angststörung (F41.1) zur Bewertung vorgelegt (Abb. 3.2.13). Bei dieser Bewertungstabelle ergab sich das Problem, dass nicht alle der diagnosti‐ schen Leitlinien für diese Störung zwingend, sondern einige nur in der Regel erfüllt sein 82 sollten. Während die Bestätigung des ersten diagnostischen Kriteriums der in Abb. 3.2.13 dargestellten Tabelle eine Voraussetzung für die Diagnosestellung ist, sollten die folgenden drei Kriterien nur in der Regel vorhanden sein. Um dieser Unschärfe zu be‐ gegnen, wird der Kliniker auf dieses Problem hingewiesen. Er wird gebeten, alle vier diagnostischen Kriterien auf „ja“, d. h. erfüllt, zu setzen, wenn diese Diagnose am Ende des Expertenratings II vorgeschlagen werden soll – selbst dann, wenn er der Ansicht ist, dass nicht alle der letzten drei diagnostischen Kriterien beim Patienten vorliegen. Für den nächsten Schritt war das Problem zu lösen, das sich aus dem Umstand ergibt, dass sich bei den letzten drei ICD‐10‐Kriterien der Abb. 3.2.13 stets mehrere Patienten‐ ratings auf ein einzelnes ICD‐10‐Kriterium beziehen. In dieser Tabelle wird deshalb, wenn eines der Items vom Patienten mindestens die Wertung 1 bekommt, das Expertenrating auf „ja“, d. h. Kriterium erfüllt, gesetzt. Sollte der Kliniker im Einzelfall nicht mit der Voreinstellung einverstanden sein, muss er die übernommene Wertung verändern. Patientenrating der ISR‐Items1 ICD‐10‐Kriterien* / ISR‐Patienten‐Items generalisierte Angststörungen Expertenrating1,2 ICD‐10: Die folgenden primären Angstsymp‐ tome müssen an den meisten Tagen, mindes‐ tens mehrere Wochen lang, meist mehrere Ja Monate lang bestehen. ICD‐10: […] Befürchtungen (Sorge über zu‐ künftiges Unglück, Nervosität, Konzentrati‐ onsschwierigkeiten usw). ISR +: Ich sorge mich häufig, dass ein Unglück passieren könnte. 2 0 1 2 3 4 2 3 4 2 3 4 Ja 2 ISR+: Ich bin meist sehr nervös. 0 1 ISR 8: Ich habe Schwierigkeiten, mich zu kon‐ zentrieren. 3 0 1 83 ICD‐10: Motorische Spannung (körperliche Unruhe, Spannungskopfschmerz, Zittern, Unfähigkeit, sich zu entspannen). ISR+: Ich leide unter körperlicher Unruhe. 2 0 1 ISR+: Ich leide häufig unter Kopfschmerzen. 0 1 ISR+: Ich zittere häufig. 4 2 3 4 2 3 4 Ja 0 1 0 1 2 3 4 0 1 2 3 4 0 1 2 3 4 3 nen. ICD‐10: vegetative Übererregtheit (Benom‐ menheit, Schwitzen, Tachykardie oder Ta‐ chypnoe, Oberbauchbeschwerden, Schwin‐ ISR+: Ich fühle mich häufig benommen. 3 2 ISR+: Ich kann mich meistens nicht entspan‐ delgefühle, Mundtrockenheit etc.). 2 2 ISR+: Ich schwitze viel. nein ISR+: Ich leide häufig an Herzrasen. 0 1 2 3 4 1 2 3 4 1 2 3 4 0 1 2 3 4 0 1 2 3 4 ISR+: Meine Atmung ist häufig zu schnell. 0 ISR+: Ich leide häufig unter Magenschmerzen. 1 0 ISR+: Mir ist häufig schwindlig. ISR+: Ich leide häufig unter Trockenheit des Mundes. 1 1 2 Zur besseren Veranschaulichung werden beispielhaft Werte eingetragen. Erfüllt = „ja“; nicht erfüllt = „nein“. *= Diese letzten drei diagnostischen Leitlinien müssen bei dieser Störung nicht zwingend erfüllt sein, sondern soll‐ ten in der Regel vorhanden sein. Sollten Sie der Ansicht sein, dass eines der Kriterien eigentlich nicht erfüllt ist, aber dass eine generalisierte Angststörung trotzdem diagnostiziert werden sollte, müssen Sie alle Klinikerratings auf „ja“ setzen (ansonsten wird die Vergabe dieser Diagnose nicht vorgeschlagen). Abb. 3.2.13: Diagnostische Kriterien zur Bewertung der generalisierten Angststörung Wenn alle diagnostischen Kriterien aus Abb. 3.2.13 als erfüllt bewertet wurden, muss noch eine Differenzierung zwischen den zwei Differenzialdiagnosen generalisierte Angststörung (F41.1) und sonstige gemischte Angststörungen (F41.3) herbeigeführt werden, was entsprechend Abb. 3.2.14 bewerkstelligt wird. Die Vergabe der Diagnose 84 F41.3 sonstige gemischte Angststörungen setzt die gleichen diagnostischen Kriterien wie die Diagnose F41.1 generalisierte Angststörung voraus, erfordert jedoch zusätzlich, dass gleichzeitig deutliche (aber oft nur kurzeitig dauernde) Merkmale anderer Störun‐ gen aus dem Kapitel F40–F48 beim Patienten vorliegen. Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,5) Die vorangegangene Bewertung der diagnostischen Kriterien der generalisierten Angststörung ergab, dass diese Kriterien als erfüllt betrachtet werden. Bestehen beim Patienten – neben dem Vorliegen dieser Kriterien – gleichzeitig deutliche (aber oft nur kurzeitig andauernde) Merkmale anderer Störungen aus dem Kapitel F40–F48? Ja (führt zum Vorschlag einer F41.3 sonstigen gemischten Angststörung) Nein (führt zum Vorschlag einer F41.1 generalisierten Angststörung) 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.2.7 verwendet. F40 (phobische Störungen), F41 (andere Angststörungen), F42 (Zwangsstörung), F42 (Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen, F44 (dissoziative Störungen), F45 (somatoforme Störungen), F48 (andere neurotische Störungen) Abb. 3.2.14: Differenzierung zwischen der Diagnose einer F41.1 (generalisierten Angst‐ störung) und einer F41.3 (sonstige gemischte Angststörung) nach ICD‐10 Je nach Auswahl durch den Kliniker erfolgt der entsprechende Vorschlag am Ende des Expertenratings II. Bei Auswahl des Kriteriums C sind keine weiteren Bewertungen durch den Kliniker er‐ forderlich und der Vorschlag einer F41.2 Angst und depressive Störung gemischt erfolgt am Ende des Expertenratings II. Wenn die Kriterien für eine Diagnose der Störungen F41.0–F41.3 erfüllt wurden, wird dieser Teil des Angstmoduls des ISR+ beendet, ansonsten bekommt der Kliniker die 85 Wahl zwischen den beiden Restkategorien der F41er‐Gruppe vorgelegt (Abb. 3.2.15). Spätestens hier wird das Angstmodul beendet. Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,5) Bitte bewerten Sie, ob eine der folgenden zwei Störungen bei dem Patienten diagnostiziert werden soll: F41.8: sonstige spezifische Angststörungen (Angsthysterie) Keine weiteren diagnostischen Kriterien nach ICD‐10 vorgegeben F41.9: Angststörung, nicht näher bezeichnet Keine weiteren diagnostischen Kriterien nach ICD‐10 vorgegeben Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.2.7 verwendet. 1 Abb. 3.2.15: Differenzierung zwischen den übrigen sonstigen Angststörungen F41.8 und F41.9 nach ICD‐10 Das folgende Flowchart (Abb. 3.2.16) stellt eine Übersicht des Gesamtablaufs des ISR+‐ Angstmoduls dar. Wenn nach den Patientenratings des ISR kein Verdacht auf das Vorliegen einer Angst‐ störung oder phobischen Störung besteht, dann würde der Kliniker im Rahmen des Expertenratings II erneut bewerten, ob der Verdacht begründet ist. Würde dem zuge‐ stimmt werden, wird dem Kliniker dasselbe Angstmodul zur Fremdeinschätzung vorge‐ legt. 86 Abb. 3.2.16: Diagnostischer Algorithmus zur Ermittlung des Vorliegens einer Angststörung 87 Ausschlusskriterien Folgende Ausschlusskriterien müssen bei der Auflistung der vorgeschlagenen Diagno‐ sen am Ende des Expertenratings II bei den jeweiligen Diagnosen hinzugefügt werden. Spezifische Ausschlusskriterien, die für Einzeldiagnosen der Angststörungen gel‐ ten F40.0: Wenn die Unterscheidung zwischen einer Agoraphobie (F40.0) und einer sozialen Phobie (F40.1) schwer zu treffen ist, dann sollte der Diagnose Agoraphobie der Vorzug gegeben werden. F40.1: Wenn die Unterscheidung zwischen einer Agoraphobie (F40.0) und einer sozialen Phobie (F40.1) schwer zu treffen ist, dann sollte der Diagnose Agoraphobie der Vorzug gegeben werden F40.3: keine Ausschlusskriterien F40.8: keine Ausschlusskriterien F40.9: keine Ausschlusskriterien F41.0: Wenn gleichzeitig die Kriterien für eine depressive Episode erfüllt sind, sollte die Depression als Hauptdiagnose geführt werden. F41.1: Neurasthenie (F48.0). F41.2: anhaltende ängstliche Depression (Dysthymia, F34.1). F41.3: Wenn die Symptome dieser Störung in enger Verbindung mit außergewöhn‐ lichen Lebensveränderungen oder belastenden Lebensereignissen auftreten, sollte die Kategorie Anpassungsstörung (F43.2) verwendet werden. F41.8: keine Ausschlusskriterien F41.9: keine Ausschlusskriterien Abb. 3.2.17: Ausschlusskriterien für Angststörungen der ICD‐10 [Dilling: Leitlinien, 2014] 88 3.3 Zwangsstörung Die Zwangsstörungen werden nach Dilling et al. [Leitlinien, 2014] in zwei Hauptkatego‐ rien eingeteilt: Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Berking [2011] definiert Zwangsgedanken als „sich wiederholt aufdrängende Gedanken und Vorstellungen, die starke Angst oder Unwohlsein auslösen.“ Wenn diese Gedan‐ ken auftreten, versuchen die Betroffenen diesen entgegenzuwirken. Im Gegensatz da‐ zu werden „Zwangshandlungen willentlich ausgeführt und führen zu einer Angstreduk‐ tion […]. [Sie] sind ritualisierte Handlungen, die willentlich ausgeführt werden, um An‐ spannung zu reduzieren oder eine vermeintliche Katastrophe abzuwenden […], zu de‐ ren Ausführung sich die Betroffenen gedrängt fühlen“ (zitiert nach Berking, 2011). Laut Dilling [Leitlinien, 2014] gehen Zwangsgedanken in der Regel mit einer beachtlichen Unfähigkeit einher, alltägliche, aber notwendige Entscheidungen zu treffen; die Durch‐ führung von Zwangshandlungen kann täglich mehrere Stunden in Anspruch nehmen, sodass es zu einer merklichen Beeinträchtigung bei den Verrichtungen des Alltags kommen kann. Männer und Frauen sind von der Zwangsstörung gleich häufig betroffen. Die Krankheit beginnt oft bereits im Kindesalter. Das Ausbleiben komorbider depressiver Symptoma‐ tik ist eher ein Hinweis auf einen wahrscheinlich chronischen Verlauf. 80 % der Patien‐ ten mit einer Zwangsstörung leiden sowohl unter Zwangsgedanken als auch unter Zwangshandlungen [Berking, 2012]. Die Differenzialdiagnosen der Zwangsstörungen nach der ICD‐10 zeigt Abb. 3.3.1. 89 Abb. 3.3.1: Klassifikation der Zwangsstörungen nach ICD‐10 In Abb. 3.3.2 sind die diagnostischen Leitlinien nach ICD‐10 für die Diagnostik einer Zwangsstörung aufgeführt. Für eine eindeutige Diagnose sollen wenigstens 2 Wochen lang an den meisten Ta‐ gen Zwangsgedanken oder ‐handlungen bzw. beides nachweisbar sein; sie müssen quälend sein oder die normalen Aktivitäten stören. Die Zwangssymptome müssen folgende Merkmale aufweisen: 1. Sie müssen als eigene Gedanken oder Impulse für den Patienten erkennbar sein. 2. Wenigstens einem Gedanken oder einer Handlung muss noch, wenn auch erfolg‐ los Widerstand geleistet werden, selbst wenn sich der Patient gegen andere nicht länger wehrt. 3. Der Gedanke oder die Handlungsausführung dürfen nicht an sich angenehm sein (einfache Erleichterung von Spannung und Angst wird nicht als angenehm in diesem Sinn betrachtet). 4. Die Gedanken, Vorstellungen oder Impulse müssen sich in unangenehmer Weise wiederholen Abb. 3.3.2: Diagnostische Leitlinien der Zwangsstörungen nach ICD‐10 (zitiert nach [Dilling: Leitlinien, 2014, S. 201 f.]) 90 Beim Diagnostizieren einer Zwangsstörung wird der Kliniker beim ISR+ in einer struktu‐ rierten Form durch den Syndromalgorithmus für Zwangsstörungen geleitet, der im folgenden Abschnitt vorgestellt wird. Syndromalgorithmus für Zwangsstörungen Eingangs werden dem Patienten zur Selbsteinschätzung alle vier Kriterien der ICD‐10 für die Diagnosen einer Zwangsstörung (diagnostische Leitlinien) in Form der drei ISR‐ Items zur Bewertung dargeboten (Abb. 3.3.3). In den letzten 2 Wochen ISR 9: Ich leide unter meinen (Diagnostische Leitlinie Nr. 1) ständig wiederkehren‐ den (Diagnostische Leitlinie Nr. 4) sinnlosen Gedanken oder Handlungen, gegen die ich mich aber nicht wehren kann (z. B. Hände waschen). ISR 10: Ich leiste Widerstand (Diagnostische Leitlinie Nr. 2) gegen immer wiederkeh‐ rende (Diagnostische Leitlinie Nr. 4) unsinnige Gedanken oder Handlungen, auch wenn mir das nicht immer gelingt. ISR 11: Ich leide unter quälenden (Diagnostische Leitlinie Nr. 3) sinnlosen Gedanken oder Handlungen, die mein normales Leben beeinträchtigen. Abb. 3.3.3: Die drei ISR‐Items zur Bewertung der Zwangssymptomatik Da bei der Konstruktion des ISR darauf geachtet wurde, ein möglichst kurzes Instru‐ ment zu entwickeln, wurden zwei der vier diagnostischen Leitlinien (Leitlinien Nr. 1 und 4) gemeinsam in ISR‐Item 9 abgefragt. Beim ISR+ geht es im Gegensatz zum ISR, bei dem die Erhebung der subjektiven Symptombelastung des Patienten angestrebt wird, um die Vergabe einer ICD‐10‐Diagnose. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, und damit auch eine ausreichende Spezifität zu erzielen, müssen freilich alle diagnosti‐ 91 schen Kriterien abgefragt werden. Deshalb wurde das ISR‐Item 9 beiden dieser Leitli‐ nien zugeordnet. Vergibt der Patient bei allen ISR‐Zwangsitems (ISR 9–ISR 11) mindestens den Wert 1, dann besteht auf Grundlage des Patientenratings der Verdacht auf das Vorliegen einer Zwangsstörung. Wenn diese Bedingung erfüllt ist, werden dem Kliniker die Zwangsmo‐ dule präsentiert. Hierzu wird der Kliniker zuerst gebeten, die in der Abb. 3.3.4 aufgelis‐ teten diagnostischen Kriterien zu bewerten. Zur Unterstützung dieser Bewertungen werden die dazugehörigen ISR‐Items und die jeweiligen Antworten des Patienten auf diese Fragen angeboten. ICD‐10‐Kriterien / ISR‐Patienten‐Items Patientenrating der ISR‐Items 2 Zwangssymptome Expertenrating2,3 ICD‐10: Zwangsgedanken bzw. ‐handlungen dürfen nicht per se angenehm sein. ISR: Ich leide unter quälenden, sinnlosen Gedan‐ Ja 2 ken oder Handlungen, die mein normales Leben beeinträchtigen. 0 1 2 3 4 2 3 4 ICD‐10: Patient sollte sich – wenn auch erfolglos – gegen mindestens eine der Zwangsgedanken weh‐ 3 ren. Ja ISR: Ich leiste Widerstand gegen immer wiederkeh‐ 0 1 rende unsinnige Gedanken oder Handlungen, auch wenn mir das nicht immer gelingt. 92 ICD‐10: Zwangsgedanken ISR: Ich leide unter müssen als eigene Gedan‐ meinen ständig wie‐ ken/Impulse erlebt wer‐ derkehrenden sinnlo‐ den. sen Gedanken oder Nein ICD‐10: Zwangsgedanken/ Handlungen, gegen Vorstellungen/Impulse die ich mich aber 0 müssen sich in unange‐ nicht wehren kann nehmer Weise wiederho‐ (z. B. len. schen). Hände 1 2 3 4 Ja wa‐ 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden beispielhaft Werte eingetragen. 2 Erfüllt = „ja“; nicht erfüllt = „nein“. Abb. 3.3.4: Diagnostische Kriterien zur Bewertung von Zwangsstörungen nach ICD‐10 Wenn der Kliniker der Ansicht ist, dass alle vier erforderlichen diagnostischen Kriterien der ICD‐10 für Zwangsstörungen F42.0–F42.2 erfüllt sind, werden dem Kliniker zusätz‐ liche Fragen gestellt (Abb. 3.3.5), die erforderlich sind, um die weiteren differenzialdi‐ agnostischen Entscheidungen zu treffen. Der vom jeweiligen Patienten erreichte Wert auf der ISR‐Zwangsskala wird in Form eines Balkendiagramms zur Bewertung durch den Kliniker eingespielt. 93 Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. Der Patient hat eine geringe Symptombelastung (Skalenmittelwert: 1,67) 1 Bitte wählen Sie, ob eine stärkere Ausprägung von Zwangsgedanken oder von Zwangshandlungen vorliegt bzw. ob diese gleichwertig auftreten. F42.0: Vorwiegend Zwangsgedanken oder Grübelzwang F42.1: Vorwiegend Zwangshandlungen (Zwangsrituale) 42.2: Zwangsgedanken und ‐handlungen, gemischt 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.3.4 verwendet. Abb. 3.3.5. Differenzialdiagnostische Kriterien zur Unterscheidung zwischen F42.0– F42.2 Auf diese Weise erfolgt eine Zuweisung zu einer Zwangsdiagnose F42.0–F42.2, und das Zwangsmodul wird beendet. Wird diese nicht gestellt, muss der Kliniker in der Folge entscheiden, ob eine Zwangsstörung nach F42.8 oder F42.9 vorliegt (Abb. 3.3.6). Auch hier wird ein Balkendiagramm mit dem vom jeweiligen Patienten erzielten Wert auf der ISR‐Zwangsskala zur Bewertung durch den Kliniker angeboten. 94 Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. Der Patient hat eine geringe Symptombelastung (Skalenmittelwert: 1,67) 1 Kreuzen Sie bitte an, falls es Hinweise auf das Vorliegen einer der beiden Zwangsstörungen gibt. F42.8 Sonstige Zwangsstörungen Nach ICD‐10 sind keine diagnostischen Kriterien vorgegeben. F42.9 Nicht näher bezeichnete Zwangsstörung Nach ICD‐10 sind keine diagnostischen Kriterien vorgegeben. Es soll keine der beiden Diagnosen vergeben werden. 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.3.4 verwendet. Abb. 3.3.6: Bewertung, ob die Diagnose F42.8 bzw. F42.9 vergeben werden soll Nach der ICD‐10 sind weder in den klinisch‐diagnostischen Leitlinien der ICD‐10 [Dil‐ ling: Leitlinien, 2014] noch in den Forschungskriterien [Dilling: Forschungskriterien, 2011] konkrete diagnostische Kriterien für die Zwangsstörungen F42.8 und F42.9 vor‐ gegeben. Entsprechend wird dem Kliniker durch die Software mitgeteilt, dass die ICD‐ 10 bei diesen zwei Diagnosen keine diagnostischen Kriterien vorgibt. Damit werden also trotzdem alle Differenzialdiagnosen der ICD‐10 für Zwangsstörungen im Rahmen dieses Moduls angeboten. Sollte bislang keine Zwangsdiagnose gestellt worden sein, wird eingangs beim Exper‐ tenrating II dem Kliniker noch die Frage gestellt, ob Hinweise auf eine Zwangsstörung vorliegen. Sollte der Kliniker diese Frage bejahen, wird dasselbe Modul nochmals – jetzt fremdanamnestisch – abgearbeitet. So soll sichergestellt werden, dass der Kliniker die Möglichkeit einer vorhandenen Zwangsproblematik bei allen zu diagnostizierenden Patienten in Erwägung zieht. Der vollständige Ablauf des ISR+‐Zwangsmoduls kann Abb. 3.3.7 entnommen werden. 95 Abb. 3.3.7: Ablauf des kompletten Zwangsmoduls 96 ICD‐10‐Ausschlusskriterien bei Zwangsstörungen Folgende Ausschlusskriterien müssen bei der Auflistung der vorgeschlagenen Diagno‐ sen bei allen F42er‐Diagnosen hinzugefügt werden. Ausschlusskriterien für alle Diagnosen der Zwangsstörungen (F42) Zwanghafte Persönlichkeit (F60.5) liegt vor. Depressive Symptomatik ist mindestens im gleichen Umfang wie die Zwangssymp‐ tomatik ausgeprägt. Grübelzwang steht in Zusammenhang mit einer depressiven Störung. Zwangssymptome stehen in Zusammenhang mit Schizophrenie (F20), treten beim Gilles‐de‐Ia‐Tourette‐Syndrom (F95.2) oder bei organischen psychischen Störungen (F0) auf. Abb. 3.3.8: Ausschlusskriterien für eine Zwangsstörung [Dilling: Leitlinien, 2014]) 97 3.4 Somatoforme Störungen Rief und Henningsen [Rief, 2012] beschreiben den Umgang mit Patienten mit somato‐ formen Störungen als schwierig, da sie häufig psychotherapeutische Hilfe ablehnen. Bei dieser Störung klagen Betroffene wiederholt und anhaltend über körperliche Symptome, Krankheiten und Schmerzen. In der ICD‐10 [Dilling: Leitlinien, 2014] wer‐ den weitere Zusammenhänge beschrieben, die bei dieser Art von Störungen charakte‐ ristisch sind. Wenn die Symptome, Erkrankungen bzw. Schmerzen für den Patienten nach entsprechenden Untersuchungen medizinisch nicht oder nicht ausreichend be‐ gründbar sind, akzeptiert er das negative Ergebnis und die damit zusammenhängenden ärztlichen Versicherungen, dass keine ersthafte Erkrankung vorliegt, nicht. Stattdessen fordern die Patienten typischerweise hartnäckig weitere medizinische Untersuchun‐ gen. Lässt sich aufzeigen, dass der Beginn der Symptome, Erkrankungen bzw. Schmer‐ zen mit dem Auftreten von für den Patienten schwierigen Lebenssituationen oder in‐ Abb. 3.4.1: Klassifikation der somatoformen Störungen nach ICD‐10 neren Konflikten übereinstimmt, so akzeptiert der Patient die Möglichkeit einer psy‐ chischen Verursachung nicht. Der Patient kann in dieser Situation, in der er vom Arzt 98 eine vermeintliche somatische Erkrankung nicht bestätigt bekommt, deutliche Symp‐ tome von Depression und Angst aufweisen sowie histrionisches Verhalten beim Ver‐ such entwickeln, den Arzt zu überzeugen, dass doch eine körperliche Erkrankung be‐ stünde. Die somatoformen Störungen können mit dem hypochondrischen Wahn verwechselt werden, der wie folgt ausgeschlossen werden kann: Bei einer somatoformen Störung ist der Patient trotz seiner länger andauernden Überzeugung, krank zu sein, „bis zu einem gewissen Grad und zumindest kurzfristig zugänglich gegenüber einer Argumen‐ tation, wiederholten Versicherungen und der Durchführung noch einer weiteren Un‐ tersuchung oder Befragung“ [Dilling: Leitlinien, 2014, S. 224]. Differenzialdiagnostisch werden somatoforme Störungen nach ICD‐10 in sieben voneinander abgrenzbaren F‐ Diagnosen, wie in Abb. 3.4.1 dargestellt, aufgeteilt. 99 Diagnostische Leitlinien der somatoformen Störungen nach ICD‐10 Nach Dilling et al. [Leitlinien, 2014] gibt es keine gemeinsamen diagnostischen Leitli‐ nien für alle somatoformen Störungen, sondern nur für drei voneinander abgrenzbare F‐Diagnosen: die Somatisierungsstörung (F45.0), die undifferenzierte Somatisierungs‐ störung (F45.1), die hypochondrische Störung (F45.2) und die somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3). In Abb. 3.4.2 werden diese aufgelistet. F45.0 Somatisierungsstörung 1. Mindestens zwei Jahre anhaltende multiple und unterschiedliche körperliche Symptome, für die keine ausreichende somatische Erklärung gefunden wurde. 2. Hartnäckige Weigerung, den Rat oder die Versicherungen mehrerer Ärzte anzunehmen, dass für die Symp‐ tome keine körperliche Erklärung zu finden ist. 3. Ein gewisser Grad an Beeinträchtigung sozialer und familiärer Funktionen durch die Art der Symptome und das sich daraus ergebende Verhalten. F45.1 Undifferenzierte Somatisierungsstörung Wenn zahlreiche, unterschiedliche und hartnäckige körperliche Beschwerden vorliegen, das vollständige und klinische Bild der Somatisierungsstörung aber nicht erfüllt ist, dann sollte diese Kategorie erwogen werden. F45.2 Hypochondrische Störung 1. Eine anhaltende Überzeugung vom Vorhandensein wenigstens einer ernsthaften körperlichen Krankheit, als Ursache für das vorhandene Symptom oder die Symptome, auch wenn wiederholte Untersuchungen keine ausreichende körperliche Erklärung erbracht haben; oder eine hartnäckige Beschäftigung mit einer vermuteten Entstellung. 2. Ständige Weigerung, den Rat und die Versicherung mehrerer Ärzte zu akzeptieren, dass den Symptomen keine körperliche Krankheit zugrunde liegt. F45.3 Somatoforme autonome Funktionsstörung Eine eindeutige Diagnose erfordert alle folgenden Bedingungen: 1. hartnäckige und störende Symptome der vegetativen Stimulation wie Herzklopfen, Schwitzen, Zittern und Erröten 2. zusätzliche subjektive Symptome bezogen auf ein bestimmtes Organ oder System 3. intensive und quälende Beschäftigung mit der Möglichkeit einer schwerwiegenden, aber oft nicht näher bezeichneten Erkrankung des genannten Organs oder Organsystems; diese Beschäftigung wird auch nach wiederholten Erklärungen und Versicherungen der Ärzte nicht aufgegeben 4. kein Anhaltspunkt für eine eindeutige Störung der Struktur oder Funktion des betreffenden Systems oder Organs Abb. 3.4.2: Diagnostische Leitlinien für die Diagnosen der somatoformen Störungen nach ICD‐10 (zitiert nach [Dilling: Leitlinien, 2014; S. 231]) 100 Syndromalgorithmus für somatoforme Störungen Drei geeignete diagnostische Kriterien werden dem Patienten in Form von ISR‐Items (Abb. 3.4.3) zur symptomatischen Bewertung angeboten, die auf das Vorliegen einer somatoformen Störung hinweisen können. In den letzten 2 Wochen ISR 12: Ich habe das Bedürfnis, wegen unerklärlichen körperlichen Beschwerden zum Arzt zu gehen. ISR 13: Ich leide unter der ständigen quälenden Sorge, körperlich krank zu sein. ISR 14: Verschiedene Ärzte versichern mir, dass ich keine ernsthafte körperliche Erkrankung habe, doch es fällt mir schwer, ihnen zu glauben. Abb. 3.4.3: Die drei ISR‐Items zur Bewertung von diagnostischen Kriterien der somato‐ formen Störungen der ICD‐10 Wurde jedes dieser ISR‐Items vom Patienten mit mindestens der Symptomstärke 1 bewertet, so besteht Verdacht auf eine somatoforme Störung und das Modul „Soma‐ toforme Störungen“ wird aktiviert. Im ersten Schritt erhält der Kliniker die übergrei‐ fenden diagnostischen Kriterien des Syndroms sowie die dazugehörigen Patienten‐ ratings und beurteilt die Patientenangaben. Zusätzlich wird er aufgefordert, ein drittes ICD‐10‐Kriterium, das nicht im Rahmen des Patientenratings abgefragt wird, zu bewer‐ ten (Abb. 3.4.3). Das dritte Kriterium einer „gewissen Beeinträchtigung familiärer und sozialer Funktio‐ nen durch Symptome bzw. vom Patienten angenommene Krankheit und das daraus resultierende Verhalten“ wird nur explizit bei den diagnostischen Leitlinien der Somati‐ sierungsstörungen (F45.0 bzw. F45.1) genannt [Dilling: Leitlinien, 2014; S. 226]. Da je‐ doch aus Sicht der Steuerungsgruppe die Diagnose F45.0 die Basis für die übrigen Syn‐ dromdiagnosen bildet, dieses Kriterium klinisch auch bei den anderen Diagnosen er‐ füllt sein sollte und die Gestaltung des Algorithmus durch den Einschluss dieses Kriteri‐ 101 ums deutlich vereinfacht werden konnte, wurde beschlossen, dieses Kriterium auch in der Tabelle der Abb. 3.4.4 aufzunehmen. ICD‐10‐Kriterien / ISR‐Patienten‐Items Patientenrating der ISR‐Items1 Symptome somatoformer Störung ICD‐10: Wieder‐ ISR: Ich habe das Bedürf‐ holte Darbietung nis, wegen unerklärlichen körperlicher körperlichen Beschwerden 0 Symptome bzw. zum Arzt zu gehen. Expertenrating1,2 2 Ja 1 2 3 4 andauernde Sor‐ gen, an einer oder ISR: Ich leide unter der mehreren körper‐ ständigen quälenden Sor‐ lichen Krankhei‐ ge, körperlich krank zu ten zu leiden. sein. 2 0 Ja 1 2 3 4 2 3 4 ICD‐10: Patient verweigert hartnäckig, die ne‐ gativen medizinischen Befunde zu akzeptieren, dass keine ausreichende somatische Ursache 3 für die körperlichen Symptome/Krankheit vor‐ liegt. Ja 0 1 ISR: Verschiedene Ärzte versichern mir, dass ich keine ernsthafte körperliche Erkrankung habe, doch es fällt mir schwer, ihnen zu glauben. ICD‐10: Gewisse Beeinträchtigung familiärer und sozialer Funktionen durch Symptome bzw. vom Patienten angenommene Krankheit und Nein das daraus resultierende Verhalten. 1 Zur besseren Veranschaulichung werden beispielhaft Werte eingetragen. 2 Erfüllt = „ja“; nicht erfüllt = „nein“. Abb. 3.4.4: Tabelle zur Bewertung von diagnostischen Kriterien der somatoformen Störungen der ICD‐10 [Dilling: Leitlinien, 2014] 102 Wenn aus Sicht der Kliniker alle drei Kriterien erfüllt sind, erfolgt eine weitergehende differenzialdiagnostische Unterscheidung zwischen F45.0–F.45.8. Wenn nicht, wird der Kliniker zur letzten Abfrage dieses Moduls weitergeleitet, wo er die Möglichkeit der Vergabe einer F45.9‐Diagnose (Abb. 3.4.5) in Betracht ziehen kann. Expertenmodus: Experte wählt aus, ob die Störung zutrifft. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,33) Kreuzen Sie bitte an, falls es weitere Hinweise auf das Vorliegen einer somatofor‐ men Störung gibt. F45.9 Nicht näher bezeichnete somatoforme Störung Nach ICD‐10 sind keine diagnostischen Kriterien vorgegeben. Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.4.4 verwendet. 1 Abb. 3.4.5: Mögliche Vergabe der Diagnose einer nicht näher bezeichneten somato‐ formen Störung (F45.9) Um einen sinnvollen Algorithmus zur Ermittlung der einzelnen F‐Diagnosen dieses Syndroms zu erstellen, wurden differenzierende Kriterien zwischen den einzelnen Di‐ agnosegruppen der somatoformen Störungen identifiziert. Dafür ergeben sich drei Unterscheidungskriterien, die dem Kliniker zur weiteren Auswahl vorgelegt werden. In Abb. 3.4.6 wird die Zuordnung der einzelnen Diagnosen der somatoformen Störungen der ICD‐10 anhand der Kriterien A, B und C in Übersicht vorgestellt. 103 Kriterium A: Klagt der Patient über multiple, wiederholt auftretende, häufig auch wechselnde körperliche Symptome? isch nicht (bzw. nicht ausreichend) erklärbaren Symptome darstellt? Kriterium B: Hat der Patient eine anhaltende Überzeugung, dass mindestens eine ernsthafte körperliche Krankheit vorhanden ist, die die Ursache für seine medizin Kriterium C: Leidet der Patient an einem andauernden schweren und quälenden Schmerz, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann? Abb. 3.4.6: Kriterien zur Differenzierung zwischen den Subdiagnosen der somatoformen Störungen nach ICD‐10 104 Für den weiteren Ablauf dieses Moduls – und damit zur Differenzierung zwischen den verschiedenen ICD‐10‐Diagnosen der somatoformen Störung – wird dem Kliniker die Tabelle in Abb. 3.4.7 mit den dargestellten Optionen zur Auswahl präsentiert. Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,33) Kreuzen Sie bitte an, falls es weitere Hinweise auf das Vorliegen einer somatofor‐ men Störung gibt. Kriterium A: Patient klagt über multiple, wiederholt auftretende, häufig auch wechselnde körperliche Symptome. Zur Feststellung, ob eine der Diagnosen F45.0, F45.1, F45.3 und F45.8 vorliegt Kriterium B: Patient hat eine anhaltende Überzeugung, dass mindestens eine ernsthafte körperliche Krankheit vorhanden ist, die die Ursache für seine me‐ dizinisch nicht (bzw. nicht ausreichend) erklärbaren Symptome darstellt. Zur Feststellung, ob die Diagnose F45.2 vorliegt Kriterium C: Patient leidet an einem andauernden, schweren und quälenden Schmerz, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Stö‐ rung nicht vollständig erklärt werden kann. Zur Feststellung, ob die Diagnose F45.4 vorliegt Abb. 3.4.7: Diagnostische Kriterien zur Unterscheidung von Diagnosegruppen inner‐ halb der somatoformen Störungen Im Folgenden wird der weitere Ablauf erläutert, unter der Voraussetzung, dass dem jeweiligen Kriterium vom Kliniker zugestimmt wird. Dies führt zum Aufruf des entspre‐ chenden Submoduls. 105 Bei Auswahl von Kriterium A: Klagt der Patient über multiple wiederholt auftretende, häufig auch wechselnde körperliche Symptome? Dieses Kriterium bezieht sich auf die erste diagnostische Subgruppe, bestehend aus den F‐Diagnosen F45.0, F45.1, F45.3 und F45.8. Beim Bejahen dieses Kriteriums wer‐ den in den folgenden Schritten die Einzeldiagnosen differenzialdiagnostisch ermittelt. Hierzu bedarf es zuerst der Unterscheidung zwischen dem Kriterium A1 – anhaltende multiple Symptome (F45.0 bzw. F45.1) – und dem Kriterium A2 – eine Symptomatik des Patienten, die sich auf ein einziges Organsystem bezieht (F45.3 bzw. F45.8). Die entsprechenden weiteren Differenzierungskriterien zwischen den Diagnosen F45.0 und F45.1 sowie zwischen F45.3 und F.45.8 sind in Abb. 3.4.8 aufgeführt. Hierzu erhält der Kliniker eine Tabelle mit folgender Auswahl. Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,33) Kreuzen Sie bitte an, falls es weitere Hinweise auf das Vorliegen einer somatofor‐ men Störung gibt. Die anhaltenden und oft häufig wechselnden Symptome des Patienten bezie‐ hen sich auf mehrere Organsysteme. Zur Festellung, ob die Diagnose F45.0 bzw. F45.1 vorliegt Die Symptomatik des Patienten bezieht sich auf ein einziges Organsystem. Zur Festellung, ob die Diagnose F45.3 bzw. F45.8 vorliegt 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.4.4 verwendet. Abb. 3.4.8: Tabelle zur Auswahl der Diagnosen F45.0/F45.1 und F45.3/F45.8 Der weitere Ablauf des Algorithmus hängt von der vorangegangenen Auswahl des Kli‐ nikers ab. Die Optionen werden im Folgenden dargestellt. 106 Bei der Auswahl des Kriteriums A1 (Symptome, die sich auf mehrere Organsysteme beziehen): Es erfolgt die nächste Differenzierung zwischen der möglichen Diagnose einer F45.0‐Somatisierungsstörung und einer F45.1‐undifferenzierten‐ Kreuzen Sie bitte an, welches Kriterium beim Patienten zutrifft: 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,33) Die anhaltenden multiplen und unterschiedlichen Symptome, für die es keine ausreichende medizinische Erklärung gibt, bestehen seit mindestens 2 Jahren. Zur Feststellung, ob die Diagnose F45.0‐Somatisierungsstörung vorliegt Die vorhandene Ausprägung der diagnostischen Kriterien rechtfertigt die Vergabe einer undifferenzierten Somatisierungsstörung (F45.1). Hierzu müssen zahlreiche unterschiedliche und hartnäckige körperliche Beschwerden vorlie‐ gen, das vollständige und typische klinische Bild einer Somatisierungsstörung (F45.0) ist jedoch nicht gegeben. 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.4.4 verwendet. z. B. die betonte und dramatische Art der Beschwerdeschilderung fehlt, es kann sich um eine vergleichswei‐ se geringe Anzahl von Beschwerden handeln oder hinzukommende Einschränkungen der sozialen und familiä‐ ren Funktionsfähigkeit können vollständig fehlen. Abb. 3.4.9: Kriterien zur Unterscheidung zwischen einer F45.0‐ und F45.1‐Diagnose 107 Somatisierungsstörung. Die Kriterien zur Unterscheidung (Mindestdauer der Sympto‐ matik) können der folgenden Abb. 3.4.9 entnommen werden, die dem Kliniker in die‐ sem Falle vorgelegt wird. Bei Bejahung einer dieser Optionen wird die entsprechende Diagnose am Ende des Expertenratings II dem Kliniker zusammen mit den dazugehörigen Ausschlusskriterien als Diagnose für den entsprechenden Patienten vorgeschlagen. Bei Auswahl des Kriteriums A2 (Symptome, die sich auf ein Organsystem beziehen): In diesem Fall muss noch die Differenzierung zwischen dem Vorliegen der möglichen Di‐ agnose einer somatoformen autonomen Funktionsstörung (F45.3) oder einer sonstigen somatoformen Störung (F45.8) erfolgen. Hierzu bewertet der Kliniker anhand der fol‐ genden Tabelle (Abb. 3.4.10), ob das Organsystem, worauf die Symptome des Patien‐ ten sich beziehen, weitgehend oder vollständig vegetativ innerviert bzw. kontrolliert ist oder nicht. 108 Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,33) Kreuzen Sie bitte an, falls es weitere Hinweise auf das Vorliegen einer somatofor‐ men Störung gibt. Die Symptomatik des Patienten bezieht sich auf ein Organsystem, das weitgehend oder vollständig vegetativ innerviert oder kontrolliert wird. Zur Feststellung, ob die Diagnose F45.3 somatoforme autonome Funktionsstörung vorliegt Die Beschwerden beschränken sich auf bestimmte Systeme oder Teile des Körpers, die nicht durch das vegetative Nervensystem innerviert werden. Zur Feststellung, ob die Diagnose F45.8 sonstige somatoforme Störung vorliegt 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.4.4 verwendet. Beispiele: Globus hystericus, Psychogener Schiefhals (Torticollis) und andere Störungen mit krampfartigen Bewegungen (mit Ausschluss des Gilles‐de‐la‐Tourette‐Syndroms), Psychogener Puritus (mit Ausschluss be‐ stimmter Hautläsionen, wie Alopezie, Dermatitis, Ekzem oder psychogener Urticaria und F54), Psychogene Dysmenorrhoe (mit Ausschluss von F52.6 Dysparenuie und F52.0 Frigidität) sowie Zähneknirschen. Abb. 3.4.10: Kriterien zur Differenzierung zwischen den ICD‐10‐Diagnosen F45.3 und F45.8 Bei Auswahl des Kriteriums für die Diagnose einer F45.8 wird die Vergabe dieser Diag‐ nose am Ende des Expertenratings II vorgeschlagen. Wenn das Kriterium für die Diag‐ nose F45.3 (somatoforme autonome Funktionsstörung) ausgewählt wurde, muss noch eine Bestimmung für die Kodierung der fünften Stelle dieser Diagnose erfolgen, was anhand der in Abb. 3.4.11 angebotenen Auswahl erfolgt. Nach dieser Festlegung wird dem Kliniker die entsprechende Diagnose am Ende des Expertenratings II als Vorschlag unterbreitet. 109 Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,33) Kreuzen Sie bitte an, falls es weitere Hinweise auf das Vorliegen einer somatofor‐ men Störung gibt. Kardiovaskuläres System (Herzneurose, neurozirkulatorische Asthenie, Da‐Costa‐Syndrom Zur Bestimmung der Diagnose F45.30 Oberer Gastrointestinaltrakt (psychogene Aerophagie, psychogener Singultus, Dyspepsie, Pylorospasmus, Magenneurose) Zur Bestimmung der Diagnose F45.31 Unterer Gastrointestinaltrakt (psychogener Flatulenz, psychogenes Colon irritable, psychogene Diarrhoe) Zur Bestimmung der Diagnose F45.32 Respiratorisches System (psychogene Hyperventilation, psychogener Husten) Zur Bestimmung der Diagnose F45.33 Urogenitales System (psychogene Pollakisurie, Dysurie) Zur Bestimmung der Diagnose F45.34 Sonstige Organsysteme: Diagnostische Leitlinien: 1) hartnäckige und störende Symptome der vegetativen Stimulation, wie Herzklopfen, Schwitzen, Zittern oder Erröten, 2) zusätzlich subjek‐ tive Symptome bezogen auf ein bestimmtes Organ oder System, 3) intensive und quälende Be‐ schäftigung mit der Möglichkeit einer ernsthaften, aber nicht näher bezeichneten Erkrankung des genannten Organs oder Organsystems, die auch nach wiederholten Erklärungen und Versi‐ cherungen der Ärzte nicht aufgegeben wird. Zur Bestimmung der Diagnose F45.38 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.4.4 verwendet. Abb. 3.4.11: Kriterien zur Kodierung der fünften Stelle bei der Diagnose einer somato‐ formen autonomen Funktionsstörung 110 Bei Auswahl von Kriterium B: Hat der Patient die anhaltende Überzeugung, dass min‐ destens eine ernsthafte körperliche Krankheit vorhanden ist, die die Ursache für seine medizinisch nicht (bzw. nicht ausreichend) erklärbaren Symptome darstellt? Wird dieses Kriterium vom Kliniker ausgewählt, wird die Vergabe der Diagnose von F45.2 (hypochondrische Störung) zusammen mit einer Auflistung der dazugehörigen Ausschlusskriterien am Ende des Expertenratings II vorgeschlagen. Bei Auswahl von Kriterium C: Leidet der Patient an einem andauernden, schweren und quälenden Schmerz, der nicht bzw. nicht vollständig durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung erklärt werden kann? Bei Auswahl dieses Kriteriums wird dem Kliniker am Ende des Expertenratings II die Vergabe einer F45.4 (anhaltende somatoforme Schmerzstörung; inkl. der Darstellung der entsprechenden Ausschlusskriterien) als Option vorgeschlagen. Wenn bis dahin eine der Diagnosen der Gruppe der somatoformen Störungen durch den Kliniker ausgewählt wurde, wird dieses Modul an dieser Stelle beendet; wenn nicht, erhält der Kliniker als letzte Option die Möglichkeit der Vergabe einer F45.9 (nicht näher bezeichnete somatoforme Störung), wie bereits in Abb. 3.4.5 dargestellt. Im Folgenden werden alle möglichen Optionen dieses Moduls mittels eines Flowcharts in Abb. 3.4.12 dargestellt. 111 Abb. 3.4.12: Gesamtablauf des ISR+‐Moduls zur Diagnose einer somatoformen Störung 112 Ausschlusskriterien Folgende Ausschlusskriterien müssen bei der Auflistung der vorgeschlagenen Diagno‐ sen am Ende des Expertenratings II den jeweiligen Diagnosen hinzugefügt werden (Abb. 3.4.13): Generelle Ausschlusskriterien, die für alle Diagnosen der somatoformen Störungen gelten Ausreißen der Haare (F98.4), Daumenlutschen (F98.8), Dissoziative Störungen (F44), Haare‐ zupfen (F98.4, stereotype Bewegungsstörungen), Lallen (F80.0), Lispeln (F80.9), Nägelkauen (F98.8) Psychologische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten (F54) Sexuelle Funktionsstörungen, nicht organisch bedingt (F52) Ticstörungen im Kindes‐ und Jugendalter (F95), Gilles‐de‐la‐Tourette‐Syndrom (F95.2) Trichotillomanie (F63.3) Weitere spezifische Ausschlusskriterien, die für Einzeldiagnosen der somatoformen Stö‐ rungen gelten F45.0: keine weiteren Ausschlusskriterien F45.1: Wenn eine zugrunde liegende körperliche Krankheit bislang noch nicht ausgeschlos‐ sen ist, dann sollte diese Diagnose nicht vergeben werden. F45.2: Wenn der Patient in wahnhafter Weise überzeugt ist, dass er eine unangenehme Erscheinung darstellt oder einen ungestalteten Körper hat, dann sollte dies unter F22 – wahnhafte Störung – kodiert werden F45.3: keine weiteren Ausschlusskriterien F45.4: nicht näher bezeichneter Rückenschmerz (M54.9), nicht näher bezeichneter Schmerz (akut oder chronisch) (R52) sowie Spannungskopfschmerz (G44.2) F45.8: keine weiteren Ausschlusskriterien F45.9: keine weiteren Ausschlusskriterien Abb. 3.4.13: Ausschlusskriterien für somatoforme Störungen [Dilling: Leitlinien, 2014] 113 3.5 Essstörungen Essstörungen stellen Verhaltensstörungen dar, die in der Regel mit langfristigen und ernsthaften Gesundheitsschäden verbunden sind. Die ständige gedankliche und emo‐ tionale Beschäftigung mit dem Thema „Essen“ ist ein zentrales Charakteristikum dieser Störungen [Ebert, 2005]. Nach Dilling et al. [Dilling: Leitlinien, 2014] werden Essstörungen in erster Linie in drei voneinander abgegrenzte Diagnosegruppen unterteilt: Anorexia nervosa, Bulimia ner‐ vosa sowie Essattacken bzw. Erbrechen bei anderen psychischen Störungen (Abb. 3.5.1). Laut Berking [Berking, 2012] zeichnet sich die Anorexia nervosa durch „ein selbst her‐ beigeführtes Untergewicht, verbunden mit einem negativen Körperbild […], durch ein restriktives Essverhalten und/oder übermäßige körperliche Aktivität […]“ aus. Um den Prozess des Abnehmens zu beschleunigen, kommt auch „selbst herbeigeführtes Erbre‐ chen oder ein Missbrauch von Laxantien (Abführmitteln) oder Diuretika (Entwässe‐ rungsmitteln)“ vor. Im Unterschied zur Anorexia nervosa sind „Personen mit Bulimia nervosa in der Regel normalgewichtig. Sie leiden jedoch auch unter einem gestörten Körperbild sowie unter Figur‐ und Gewichtssorgen.“ Charakteristisch für die Bulimia nervosa sind „wiederkeh‐ rende Essanfälle und der regelmäßige Einsatz unangemessener Maßnahmen, um einer Gewichtszunahme entgegenzusteuern“ (zitiert nach [Berking, 2012]). Die Essattacken bzw. das Erbrechen bei anderen psychischen Störungen (F40.4 bzw. F40.5) sind in der ICD‐10 nicht näher beschrieben. Eine Störung, die der F50.4 zuge‐ ordnet werden kann, ist die Binge‐Eating‐Störung. Diese Störung ist charakterisiert durch „wiederkehrende Essanfälle […], in deren Rahmen die Betroffenen eindeutig größere Nahrungsmengen als andere unter vergleichbaren Umständen essen und da‐ bei einen Kontrollverlust über ihr Essverhalten erleben“ (zitiert nach [Berking, 2012]). Während sich in Deutschland und anderen Ländern die Binge‐Eating‐Störung als Diag‐ nose zunehmend etabliert, wird diese als eigenständige Diagnose im folgenden diag‐ 114 nostischen Algorithmus nicht berücksichtigt, da sie in der ICD‐10 nicht aufgeführt wird [Beierle, 2008]. Man kann allerdings erwarten, dass diese Diagnose aufgrund der epi‐ demiologischen Bedeutung im ICD‐11 Eingang finden könnte. Diese vier diagnostischen Kategorien der ICD‐10 werden außerdem durch zwei Restka‐ tegorien (F50.8 und F50.9) ergänzt. Abb. 3.5.1: Klassifikation der Essstörungen nach ICD‐10 Diagnostische Leitlinien der Essstörungen Die ICD‐10 weist diagnostische Leitlinien für die F50.0 Anorexia nervosa (sowie für die F50.1 atypische Anorexia nervosa) und für die F50.2 Bulimia nervosa (sowie die F50.3 atypische Bulimia nervosa) auf. Für die F50.0 (Anorexia nervosa) sind die diagnostischen Leitlinien in Abb. 3.5.2 aufge‐ führt [Dilling: Leitlinien, 2014]. Für eine eindeutige Diagnose müssen alle aufgeführten Bedingungen zutreffen. Die fünfte diagnostische Leitlinie dieser Zusammenstellung 115 wird bei der Erstellung des Syndromalgorithmus und den diagnostischen Kriterien so‐ wie bei der Bestimmung der Cut‐off‐Werte vernachlässigt, da dieses Kriterium nur bei präpubertären Jugendlichen zur Anwendung kommt. Bei Jugendlichen in der Pubertät sowie bei Erwachsenen, die die Mehrheit der Patienten darstellen, wird ohnehin auf dieses Kriterium verzichtet. 1. Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15 % unter dem erwarteten (entweder durch Ge‐ wichtsverlust oder nie erreichtes Gewicht) oder Quetelet‐Index von 17,5 oder weniger. Bei Patienten in der Vorpubertät kann die erwartete Gewichtszunahme während der Wachs‐ tumsperiode ausbleiben. 2. Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch: a) Vermeidung von hochkalorischen Speisen; sowie eine oder mehrere der folgenden Verhal‐ tensweisen: selbst induziertes Erbrechen; selbst induziertes Abführen; übertriebene körperliche Aktivitäten; Gebrauch von Appetitzüglern und/oder Diuretika. 3. Körperschema‐Störung in Form einer spezifischen psychischen Störung: die Angst, zu dick zu wer‐ den, besteht als eine tief verwurzelte überwertige Idee; die Betroffenen legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst fest. 4. Eine endokrine Störung auf der Hypothalamus‐Hypophysen‐Gonaden‐Achse. Sie manifestiert sich bei Frauen als Amenorrhoe und bei Männern als Libido‐ und Potenzverlust. (Eine Ausnahme ist das Persistieren vaginaler Blutungen bei anorektischen Frauen mit einer Hormonsubstitutionsbehand‐ lung zur Kontrazeption.) Erhöhter Wachstumshormon‐ und Kortisolspiegel, Änderungen des peripheren Metabolismus von Schilddrüsenhormonen und Störungen der Insulinsekretion können gleichfalls vorliegen. [5. Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt (Wachstumsstopp; fehlende Brustentwicklung und primäre Amenorrhoe bei Mädchen; bei Jungen bleiben die Genitalien kindlich). Nach Remission wird die Pubertätsentwicklung häufig normal abgeschlossen, die Menarche tritt aber verspätet ein.] Abb. 3.5.2: Diagnostische Leitlinien für die Anorexia nervosa (F50.0) (zitiert nach [Dil‐ ling: Leitlinien, 2014, S. 244 f.]) 116 Treffen allerdings nicht alle Kriterien zu, während jedoch fast alle Kernmerkmale für eine Anorexia nervosa erfüllt sind, so kann die atypische Anorexia nervosa (F50.1) ko‐ diert werden. Die Stellung dieser Diagnose wird von Dilling et al. [Dilling: Leitlinien, 2014] jedoch nicht empfohlen. Differenzialdiagnostisch wird bei der Anorexia nervosa noch unterschieden zwischen der Anwendung bzw. Nicht‐Anwendung von aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnah‐ me, die dann an der fünften Stelle kodiert würde: ‐ F50.00 Anorexie ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Ab‐ führen etc.) ‐ F50.01 Anorexie mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Ab‐ führen etc., u. U. in Verbindung mit Heißhungerattacken) Dilling et al. [Dilling: Leitlinien, 2014] stellen drei diagnostische Leitlinien für Bulimia nervosa (F50.2) auf, die zur Vergabe der Diagnose einer Bulimia nervosa alle erfüllt sein müssen. 1. Eine andauernde Beschäftigung mit Essen, eine unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln; der Patient erliegt Essattacken (Esstaumel), bei denen große Mengen Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert werden. 2. Der Patient versucht, dem dickmachenden Effekt der Nahrung durch verschiedene Verhaltens‐ weisen entgegenzusteuern: selbst induziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, zeit‐ weilige Hungerperioden, Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika. Wenn die Bulimie bei Diabetikern auftritt, kann es zu einer Vernachlässigung der Insulinbehand‐ lung kommen. 3. Eine der wesentlichen psychopathologischen Auffälligkeiten besteht in der krankhaften Furcht davor, dick zu werden; der Patient setzt sich eine scharf definierte Gewichtsgrenze, deutlich un‐ ter dem prämorbiden, vom Arzt als optimal oder „gesund“ betrachteten Gewicht. Häufig lässt sich in der Vorgeschichte mit einem Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren eine Episode einer Anorexia nervosa nachweisen. Diese frühere Episode kann voll ausgeprägt gewe‐ sen sein oder war eine verdeckte Form mit mäßigem Gewichtsverlust oder einer vorüberge‐ henden Amenorrhoe. 117 Abb. 3.5.3: Leitlinien der Bulimia nervosa (F50.2) (zitiert nach [Dilling: Leitlinien, 2014, S. 247]) Auch in diesem Fall wird – sofern das klinische Bild der Bulimia nervosa gegeben ist, aber nicht alle Kernmerkmale erfüllt sind – die atypische Bulimia nervosa kodiert. Ebenfalls wird die Stellung dieser Diagnose von Dilling et al. [Dilling:Leitlinien, 2011] eher nicht empfohlen. Syndromalgorithmus für Essstörungen Das Patientenrating der drei ISR‐Items (ISR 15–ISR 17) zur Ermittlung der Symptom‐ ausprägung in Bezug auf die Hauptkategorien der Essstörungen – Anorexia nervosa bzw. Bulimia nervosa – bildet die Ausgangslage für den modulspezifischen Syndromal‐ gorithmus (Abb. 3.5.4) im Rahmen des ISR+‐Expertenratings I. ISR 15: Ich kontrolliere mein Gewicht durch kalorienarmes Essen oder Erbrechen oder Me‐ dikamente (z. B. Abführmittel) oder ausgedehnten Sport. ISR 16: Viele meiner Gedanken kreisen um das Essen, und ich habe ständig Angst, Gewicht zuzunehmen. ISR 17: Ich beschäftige mich viel damit, wie ich Gewicht abnehmen kann. Abb. 3.5.4: Die drei ISR‐Items zur Selbsteinschätzung der Essstörungssymptomatik durch die Patienten. Wurden diese drei Items vom Patienten mit mindestens dem Wert 1 versehen, dann besteht der Verdacht auf eine Essstörung. Als erster Schritt erfolgt eine Differenzierung zwischen den einzelnen differenzialdiagnostischen Kategorien der Essstörung der ICD‐ 10 (Abb. 3.5.5). 118 Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,67) Bitte geben Sie an, ob eines der folgenden Kriterien beim Patienten erfüllt ist: F50.0 & F50.1 Absichtlich selbst herbeigeführter (bzw. aufrechterhaltener) Gewichtsverlust, verbunden mit Unterernährung unterschiedlicher Schweregrade. Dies führt sekundär zu endo‐ krinen und metabolischen Veränderungen sowie körperlichen Funktionsstörungen. F50.2 & F50.3 Wiederholte Anfälle von Heißhunger (Essattacken), verbunden mit einer über‐ triebenen Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichts, d. h. extreme Maßnahmen, den dickmachenden Effekt der zugeführten Nahrung zu mildern. F50.4 Übermäßiges Essen (psychogene Essattacken), bedingt durch eine Reaktion auf belas‐ tende Ereignisse (Trauerfälle, Unfälle, Operationen), das zu Übergewicht führt (nicht Überge‐ wicht als Ursache seelischer Belastung). Übergewicht als Nebenwirkung einer lang andauern‐ den Behandlung mit Medikamenten (Neuroleptika, Antidepressiva) wird unter E66.1 kodiert. Keine weiteren diagnostische Kriterien nach ICD‐10 vorgegeben F50.5 Erbrechen bei sonstigen psychischen Störungen (psychogenes Erbrechen) Keine weiteren diagnostische Kriterien nach ICD‐10 vorgegeben 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.5.6 verwendet. kann – außer bei selbst induziertem Erbrechen bei Bulimia nervosa – bei folgenden Störungen auftreten: 1. F44: dissoziative Störungen, 2. F45.2: hypochondrische Störungen, wobei das Erbre‐ chen eines von mehreren körperlichen Symptomen sein kann, und 3. emotionale Faktoren, die während der Schwangerschaft zu wiederholter Übelkeit und Erbrechen führen Abb. 3.5.5: Erste Kriterien für die differenzialdiagnostische Unterscheidung der ver‐ schiedenen ICD‐10‐Diagnosen der Essstörung Bei Wahl der Diagnosen F50.4 und F50.5 wird dem Kliniker am Ende des Experten‐ ratings II vorgeschlagen, die entsprechende Diagnose zu vergeben. Wenn der Kliniker in der vorangegangenen Tabelle die Optionen für die Diagnose einer F50.0 (bzw. F50.1) oder einer F50.2 (bzw. F50.3) wählt, dann erhält er die entspre‐ chenden Tabellen zur Bewertung der diagnostischen Kriterien der Anorexia nervosa 119 (Abb. 3.5.6) bzw. der Bulimia nervosa (Abb. 3.5.8). Im Folgenden werden die diagnosti‐ schen Kriterien für eine Anorexia nervosa (bzw. einer atypischen Anorexia nervosa) dargestellt. Patientenrating der ISR‐Items1 ICD‐10‐Kriterien / ISR‐Patienten‐Items Anorexia nervosa Expertenrating1,2 ICD‐10: […] Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15 % unter dem erwarteten BMI‐Index (Quetelet‐Index) von 17,5 oder Nein weniger […] ICD‐10: […] Vermeidung von hochkalori‐ schen Speisen […], selbst induziertes Erbre‐ chen […], selbst induziertes Abführen […] übertriebene körperliche Aktivitäten […] 2 Ja ISR 15: Ich kontrolliere mein Gewicht durch 0 1 2 3 4 kalorienarmes Essen oder Erbrechen oder Medikamente (z. B. Abführmittel) oder ausgedehnten Sport. ICD‐10: Körperschema‐Störung […]: die Angst, zu dick zu werden, als tief verwurzel‐ te überwertige Idee […] Ja […] Betroffene legen dabei eine sehr niedri‐ ge Gewichtsschwelle für sich selbst fest […] 3 ISR 17: Ich beschäftige mich viel damit, wie ich Gewicht abnehmen kann. 0 1 2 3 4 ICD‐10: Eine endokrine Störung auf der Hypothalamus‐Hypophysen‐Gonaden‐ Ja Achse […] 1 Zur besseren Veranschaulichung werden beispielhaft Werte eingetragen. 2 Erfüllt = „ja“; nicht erfüllt = „nein“. Abb. 3.5.6: Patientenrating und Expertenrating in Zusammenhang mit der Anorexia nervosa 120 Wenn alle vier Kriterien vom Kliniker mit „Ja“ bewertet werden, entscheidet der Klini‐ ker im nächsten Schritt mittels Tabelle (Abb. 3.5.8), ob diese Störung mit bzw. ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme vorliegt. Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,67) Rechtfertigt die Ausprägung der Störung eine Vergabe der Diagnose einer atypischen Anorexia nervosa (F50.1), d. h. nur ein oder mehrere Kernmerkmale der Anorexia nervosa treten bei ansonsten ziemlich typischem klinischen Bild auf? Ja Nein 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.5.6 verwendet. ein oder mehrere Kernmerkmale der Anorexia nervosa (F50.0), z. B. Amenorrhoe oder signifi‐ kanter Gewichtsverlust, fehlen bei ansonsten ziemlich typischem klinischen Bild. Patienten, die alle Kernsymptome in einer leichten Ausprägung aufweisen, werden ebenfalls mit dieser Diagnose ko‐ diert. Abb. 3.5.7: Auswahlmöglichkeiten für die fünfte Stelle bei der Kodierung einer ICD‐10‐ Diagnose Anorexia nervosa Am Ende des Expertenratings II erfolgt dann der Vorschlag, eine Anorexia nervosa (inkl. Kodierung der fünften Stelle) zu diagnostizieren. 121 Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,67) Rechtfertigt die Ausprägung der Störung eine Vergabe der Diagnose einer atypischen Anorexia nervosa (F50.1), d. h. nur ein oder mehrere Kernmerkmale der Anorexia nervosa treten bei ansonsten ziemlich typischem klinischen Bild auf? Ja Nein 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.5.6 verwendet. ein oder mehrere Kernmerkmale der Anorexia nervosa (F50.0), z. B. Amenorrhoe oder signifikanter Gewichtsverlust, fehlen bei ansonsten ziemlich typischem klinischen Bild. Patienten, die alle Kernsymp‐ tome in einer leichten Ausprägung aufweisen, werden ebenfalls mit dieser Diagnose kodiert. Abb. 3.5.8: Auswahlmöglichkeiten zur Kodierung einer ICD‐10‐Diagnose einer atypi‐ schen Anorexia nervosa. Wenn nicht alle Kriterien für eine F50.0 Anorexia nervosa erfüllt sind, sieht der Kliniker eine Tabelle (Abb. 3.5.8) mit der Aufforderung, zu entscheiden, ob die Ausprägung der Symptomatik ausreichend ist, um eine atypische Anorexia nervosa zu diagnostizieren. Wenn der Kliniker in Tabelle 3.5.5 die Option einer möglichen Diagnose von Bulimia nervosa gewählt hat, wird die folgende Tabelle 3.5.8 erscheinen (Abb. 3.5.9). 122 ICD‐10‐Kriterien / ISR‐Patienten‐Items Patientenrating der ISR‐Items1 Bulimia nervosa Expertenrating1,2 ICD‐10: […] eine unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln; der Patient erliegt Essatta‐ cken (Esstaumel), bei denen große Mengen Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert wer‐ Ja den. ISR 16: Viele meiner Gedanken kreisen um das Essen, und ich habe ständig Angst, Ge‐ wicht zuzunehmen. ICD‐10: […] selbst induziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, zeitweilige Hungerperioden, Gebrauch von Appetitzüg‐ lern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika […] 2 Ja ISR 15: Ich kontrolliere mein Gewicht durch kalorienarmes Essen oder Erbrechen oder 0 1 2 3 4 2 3 4 2 3 4 Medikamente (z. B. Abführmittel […]) oder ausgedehnten Sport. ISR 16: Viele meiner ICD‐10: Eine der Gedanken kreisen um wesentlichen Nein das Essen, und ich habe psychopathologi‐ ständig Angst, Gewicht schen zuzunehmen. Auffällig‐ 3 0 1 keiten besteht in der krankhaften Furcht davor, dick zu werden […] ISR 17: Ich beschäftige 2 mich viel damit, wie ich Gewicht kann. abnehmen Ja 0 1 1 Zur besseren Veranschaulichung werden beispielhaft Werte eingetragen. 2 Erfüllt = „ja“; nicht erfüllt = „nein“. Abb. 3.5.9: Expertenrating der diagnostischen Kriterien in Zusammenhang mit der Bu‐ limia nervosa 123 Wenn seitens des Klinikers alle drei diagnostischen Kriterien als erfüllt betrachtet wer‐ den, wird die Vergabe der Diagnose einer Bulimia nervosa am Ende des Experten‐ ratings II vorgeschlagen. Wenn nicht alle Kriterien gegeben sind, erhält der Kliniker eine weitere Tabelle (Abb. 3.5.10), in der die Frage gestellt wird, ob die Ausprägung der Störung die Vergabe der Diagnose einer atypischen Bulimia nervosa rechtfertigt. Bei Zustimmung des Klinikers wird die Vergabe einer atypischen Bulimia nervosa am Ende des Expertenratings II vorgeschlagen. Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,67) Rechtfertigt die Ausprägung der Störung eine Vergabe der Diagnose einer atypischen Bulimia ner‐ vosa (F50.3), d. h. nur ein oder mehrere Kernmerkmale der Bulimia nervosa treten bei ansonsten ziemlich typischem klinischen Bild auf? Ja Nein 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.5.9 verwendet. ein oder mehrere Kernmerkmale der Bulimia nervosa (F50.2) fehlen bei ansonsten ziemlich typi‐ schem klinischen Bild. Meistens trifft dies auf Patienten mit Normal‐ oder Übergewicht zu, die typische Perioden von Essattacken mit anschließendem Erbrechen und Abführen aufweisen. Partialsyndrome mit depressiven Symptomen sind ebenfalls häufig. Abb. 3.5.10: Auswahlmöglichkeiten zur Kodierung einer ICD‐10‐Diagnose einer atypi‐ schen Bulimia nervosa Wenn im bisherigen Ablauf dieses Moduls bereits die Vergabe einer Essstörungs‐ Diagnose empfohlen wird, wird das Essstörungsmodul an dieser Stelle beendet. Falls bislang die Kriterien für keine der bisherigen Essstörungsdiagnosen vorliegen, erhält der Kliniker eine weitere Tabelle (Abb. 3.5.11) mit der Option, eine F50.8 bzw. F50.9 zu 124 diagnostizieren, und markiert die entsprechende Diagnose. Spätestens jetzt wird das Modul beendet. Expertenmodus: Experte wählt die zutreffende Störung aus. 1 Der Patient hat eine mittlere Symptombelastung (Skalenmittelwert: 2,67) Bitte kreuzen Sie die zutreffende Option an: F50.8 sonstige Essstörungen dazugehörige Begriffe: psychogener Appetitverlust sowie nicht organische Pica (Essen von Pa‐ pier, Sand etc. ) bei Erwachsenen Keine diagnostische Kriterien nach ICD‐10 vorgegeben F50.9 nicht näher bezeichnete Essstörung Keine diagnostische Kriterien nach ICD‐10 vorgegeben Keine der beiden Diagnosen trifft zu. 1 Zur besseren Veranschaulichung wurden die Beispielwerte aus Abb. 3.5.9 verwendet. Abb. 3.5.11: Tabelle mit der letzten Option, eine Essstörung zu diagnostizieren. Sollte bislang keine Essstörung diagnostiziert worden sein (z. B. könnte der Patient die vorhandene Essstörungssymptomtik im ISR „unterschlagen“ haben), wird der Kliniker im Rahmen des Expertenratings II gefragt, ob Hinweise auf eine Essstörung vorliegen. Bei einer Zustimmung würde wieder dasselbe Modul aufgerufen werden. Abb. 3.5.12 stellt den Gesamtablauf des Essstörungsmoduls des ISR+ dar. 125 Abb. 3.5.12: Diagnostischer Algorithmus zur Ermittlung einer vorliegenden Essstörung nach ICD‐10 126 Ausschlusskriterien Folgende Ausschlusskriterien müssen bei der Auflistung der vorgeschlagenen Diagno‐ sen am Ende des Expertenratings II bei den jeweiligen Diagnosen berücksichtigt wer‐ den (Abb. 3.5.13). Generelle Ausschlusskriterien, die für alle Diagnosen der Essstörungen gelten F98.2: Fütterstörung im Kleinkind‐ und Kindesalter R63.3: Fütterschwierigkeiten und Betreuungsfehler R63.0: nicht näher bezeichnete Anorexia oder Appetitverlust F98.3: Pica im Kindesalter Weitere spezifische Ausschlusskriterien, die für Einzeldiagnosen der Essstörungen gelten F50.0: Appetitverlust (R63.0), psychogener Appetitverlust (F50.8) F50.1: keine weiteren Ausschlusskriterien F50.2: keine weiteren Ausschlusskriterien F50.3: keine weiteren Ausschlusskriterien F50.4: Übergewicht als Ursache seelischer Belastung soll nicht hier, sondern unter sonstige depressive Störungen (F38), Angst und depressive Störung gemischt (F41.2) oder nicht näher bezeichnete neurotische Störung (F48.9) zusammen mit einer E66‐Kodierung erfasst werden; Übergewicht als Nebenwirkung einer lang andauernden Medikation, z. B. mit Neuroleptika oder Antidepressiva, wird unter E66.1 klassifiziert; nicht näher bezeichnete Polyphagie (R63.2); Obesitas (E66) F50.5: nicht näher bezeichnete Übelkeit und Erbrechen (R11) F50.8: keine weiteren Ausschlusskriterien F50.9: keine weiteren Ausschlusskriterien Abb. 3.5.13: Ausschlusskriterien für Essstörungen [Dilling: Leitlinien, 2014] 127 4 Diskussion Eine reliable und valide strukturierte, klassifikatorische Diagnostik ist nach Hoyer und Knappe [Hoyer, 2012] eine Grundvoraussetzung für die psychologische Grundlagenfor‐ schung, die Epidemiologie aber auch für die Psychotherapieforschung. Gleiches gilt für die Felder Psychosomatik und Psychiatrie. In der Forschung gelten strukturierte klassi‐ fikatorische Diagnoseverfahren schon seit längerer Zeit als Goldstandard, insbesondere bei randomisierten Experimentalstudien zur Psychotherapie [Becker, 2006; Hoyer, 2012; Knappe, 2008]. In der klinischen Praxis hingegen wird dieser Standard in der Re‐ gel eher kritisch beäugt [Meiser‐Storck, 2012; Schneider, 2011]. Eine Reihe von Grün‐ den und Kritikpunkten werden angeführt, die zur Erklärung herangezogen werden, warum solche standarisierte Formen der klassifikatorischen Diagnostik kaum Eingang in die klinische Praxis gefunden haben. Im Folgenden soll auf einige dieser Argumente eingegangen werden. Haupteinwände sind das In‐Zweifel‐Ziehen der Nützlichkeit, der Zumutbarkeit für die Patienten, negative Auswirkungen auf die psychotherapeutische Beziehung sowie des Ressourcenverbrauchs (was ökonomische Faktoren mit einschlie‐ ßen soll), was im Folgenden ausgeführt werden wird. Argumente für strukturiere Diagnosevergabeverfahren Was den Nutzen der strukturierten Diagnosevergaben angeht, gerät in der Regel die Qualität der Diagnosen, die seit Langem in verschiedenen Zusammenhängen bemän‐ gelt wird, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ein Problem ist die Uneinheitlichkeit der Diagnosesysteme: Im 19. Jahrhundert waren etwa 80 in Gebrauch [Dilling, 1994]. Ab Beginn des 19. Jahrhunderts gab es Bemühungen um eine Vereinheitlichung, [World Health Organisation, History of the Development of ICD – unter: http://www.who.int/classifications/icd/en/HistoryOfICD.pdf (Zugriff am 13.05.13)], doch fanden sich noch in den 1980er‐Jahren des letzten Jahrhunderts eine Vielzahl unterschiedlicher und sich teilweise überlappender Nosologien für psychische Störun‐ 128 gen [Becker, 2006]. In der WHO [ebd.] wurde 1948 die erste Version der ICD, die ICD‐6 geschaffen, die lediglich 48 Differenzialdiagnosen für psychische Störungen enthielt. Inzwischen weist die ICD‐10 schon über 850 verschiedene Differenzialdiagnosen auf, wenn eine fünfstellige Kodierung zugrunde gelegt wird. Doch schon bald zeigte sich, dass eine weltweite Vereinheitlichung der Diagnosesysteme aus verschiedenen Grün‐ den schwer zu bewerkstelligen sein würde; hier ist etwa die Veröffentlichung des DSM‐ I der Amerikanischen Psychiatrischen Assoziation (APA) im Jahre 1952 zu nennen [Rapold, 2013]. Seit diesem Zeitpunkt sind zwei weit verbreitete Diagnosesysteme (ICD und DSM) im Einsatz, wobei der Verwendung der ICD‐10 in den meisten Ländern der Welt der Vorzug gegeben wird, und dieses System in Deutschland, zumindest bei allen gesetzlich versicherten Patienten und im Krankenhauswesen, Vorschrift ist. Während man einwenden könnte, dass die Verwendung unterschiedlicher Diagnosesysteme eigentlich unproblematisch sei – solange man weiß, von welchem System man gerade redet –, muss eingeräumt werden, dass trotz mehrerer Angleichungen der Systeme verschiedene „kleine, aber feine“ Unterschiede zwischen der ICD und dem DSM beste‐ hen, die zu Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Behandlern – verbunden mit zum Teil gravierenden Konsequenzen für den Patienten – führen können. Schließlich dürfte die Förderung kommunikativer Eindeutigkeit zwischen Behandlern eine der Haupterrungenschaften eines vereinheitlichten Diagnosesystems sein. Ein weiteres Anliegen bei der Entwicklung dieser klassifikatorischen Diagnosesysteme für psychische Störungen liegt in einer Verbesserung der Objektivität, Reliabilität und Validität [Bühner, 2010] der Diagnosestellung [Schneider, 2011; Stieglitz, 2008]. Diese Zielsetzung stand insbesondere beim Wechsel von der ICD‐9 zur ICD‐10 im Vorder‐ grund [Steglitz, 2008]. Eine der Haupterneuerungen bei der ICD‐10 (mehr dazu in Kapi‐ tel 1) bestand im Versuch einer Operationalisierung der zur Diagnosestellung erforder‐ lichen Schritte, insbesondere der zu bewertenden Kriterien. Dieses Bemühen stellt einen wichtigen Fortschritt dar, doch zugleich sollte anerkannt werden, dass es kein einfaches Unterfangen ist. Wie Hoyer und Knappe [Hoyer, 2012] meines Erachtens zu recht einwenden: „Dass klassifikatorische Entscheidungen oft schwer zu treffen sind, liegt in der Natur der Sache. Die Komplexität menschlichen Erlebens und Verhaltens „in Schubladen zu pressen“ verlangt Vereinfachung, Reduktion und Abstraktion. Das ist 129 durchaus nicht einfach, mitunter mit Fehlern behaftet – und dennoch ein Muss in der Psychotherapie!“ [Hoyer, 2012, S. 2]. Im Rahmen dieser zunehmenden Operationalisie‐ rung des Prozesses bei der Diagnosevergabe sind auch die Entwicklung von standardi‐ sierten und strukturierten Diagnosen psychischer und psychosomatischer Störungen aufzufassen, die in erster Linie auf eine Erhöhung der Qualität der gestellten Diagnosen abzielen. Aus Sicht der klinischen Praxis liegt die Bedeutung der Diagnosevergabe nach Meiser‐ Storck [Meiser‐Storck, 2012] unter anderem in einem arbeitsökonomischeren Informa‐ tionsaustausch; gleichzeitig dient die Diagnosevergabe als Nachweis der Erkrankung gegenüber den Kostenträgern. Weiter berichten Hoyer und Knappe [Hoyer, 2012] von verschiedenen Studien, bei denen ein sogenannter „positive[r] Ansteckungseffekt“ vorlag. Dies bedeutet, dass Patienten, die eine störungspezifische Behandlung für eine psychische Störung erhalten, auch Besserungen bzgl. der Symptomatik einer anderen psychischen Störung, für die sie keine störungsspezifische Behandlung erhalten hatten, erzielten [Hoyer, 2009; Hoyer, 2012]. Dieser Befund könnte dazu führen, den Schluss zu ziehen, dass es bei psychotherapeutischen Behandlungen alleine auf sogenannte „Global Effects“, die bei jeder Behandlung unabhängig von der jeweiligen spezifischen Symptomatik auftreten, ankäme [Lambert, 2013]. Doch es liegen ausreichende Hinwei‐ se aus der Forschung vor, dass beispielsweise das Ausmaß an Komorbidität bei einem Patienten mit einer schlechteren Prognose [Zielke, 1994] sowie mit längerer Behand‐ lungsdauer [von Heymann, 2003] einhergeht, sodass eingehende Kenntnisse der Symp‐ tomatik auch für die klinische Praxis von Belang sind. Weiterhin wurden in den letzten Jahrzehnten für die Psychotherapie verschiedene störungsspezifische Behandlungsan‐ sätze entwickelt, sodass man davon ausgehen kann, dass eine Fehldiagnose zu einer Fehlbehandlung führen kann [Lambert, 2003; Hoyer, 2012]. Zusammenfassend kann man davon ausgehen, dass eine detaillierte Erfassung der Symptomatik und damit auch der Differenzialdiagnosen auch in der klinischen Praxis von Relevanz ist. Die „Zumutbarkeit“ für den Patienten wird als weiteres Problem der standardisierten bzw. strukturierten Diagnostik gesehen, die infrage gestellt werden müsste, wenn die Patienten übermäßig mit Tests „strapaziert“ würden [Meiser‐Storck, 2012]. So wird dort angeführt, dass Patienten von Behandlungen berichten würden, bei denen sie bis 130 zu zehn verschiedene Fragebögen sowohl zu Beginn als erneut zum Abschluss der Be‐ handlung ausfüllen sollten. Dabei soll bei manchen Behandlungen fast die Hälfte der Therapiezeit durch die Durchführung und Besprechung der Tests ausgefüllt sein [Mei‐ ser‐Storck, 2012]. Wenn darüber hinaus noch ein strukturiertes Interview für die Diag‐ nosevergabe erfolgt, dann könnte in der Zusammenschau schon die Zumutbarkeits‐ grenze für die Patienten überschritten werden. Dies gilt insbesondere, da die Durch‐ führung eines derartigen Interviews in der Regel recht zeitintensiv ist, was im Folgen‐ den noch näher betrachtet wird. Meiser‐Storck [Meiser‐Storck, 2012] argumentiert, dass eine halbe Stunde für ein strukturiertes Diagnoseinterview in der klinischen Praxis bereits als ein „Luxus“ zu betrachten sei, der „auf Kosten der Therapiezeit erkauft wer‐ den“ würde. Die Frage der Zumutbarkeit für Patienten in diesem Kontext sollte unter Berücksichtigung des Gesamtumfangs der strukturierten Erhebungen beurteilt werden. Dabei sollte eine differenzierte Kosten‐Nutzenabwägung erfolgen. Selbstverständlich kann und wird dieses Vorgehen in verschiedenen Fällen übertrieben, doch man sollte „das Kind nicht mit dem Bade ausschütten“ und auf die möglichen Vorteile, die mit dem Vorgehen verbunden sein können, gänzlich verzichten. Bisher liegen zwei empirische Studien zur Frage der Akzeptanz solcher Verfahren bei Patienten (und Psychotherapeuten) vor: Schneider und Margraf [Schneider, 2011] be‐ richten über eine Untersuchung an einer Stichprobe von mehr als 200 jungendlichen und erwachsenen Patienten aus verschiedenen psychotherapeutischen Ambulanzen sowie stationären psychiatrisch‐psychosomatischen Einrichtungen, die einem diagnos‐ tischen Interview bei psychischen Störungen für DSM‐IV‐TR (DIPS) unterzogen wurden (mittlere Dauer = 2 Std., Range = 17–241 Min.) [Schneider, 2011]. Im Schnitt hätten die Probanden angegeben, dass sie das DIPS als sehr hilfreich erlebt hätten. Auch hätten sie sich vom Interviewer sehr verstanden und ernst genommen gefühlt. Auch die Be‐ ziehung zum Kliniker wurde als ausgesprochen positiv bewertet [Suppiger, 2009]. Ebenda wird noch von einer Internetbefragung von Psychotherapeuten und Psychiater für das Kinder‐, Jugendlichen und Erwachsenenalter zum Thema strukturierte Inter‐ views berichtet. Die Autoren ziehen den Schluss, dass die Psychotherapeuten die Ak‐ zeptanz der Patienten zu strukturierten Interviews über alle erhobenen Variablen hin‐ weg deutlich schlechter einschätzen als die Patienten selbst. Sie gehen davon aus, dass 131 das Akzeptanzproblem mehr auf Seiten der Psychotherapeuten besteht als bei den Patienten. Diese Befunde zeigen, dass die bereits skizzierten Probleme bzgl. des Ein‐ satzes strukturierter Diagnosevergabe sicherlich Gegenstand weiterer Forschungsvor‐ haben sein sollten, um mehr Klarheit zu erzielen. Ein weiterer Kritikpunkt an der strukturierten, standardisierten Diagnostik, der öfter von Klinikern eingebracht wird, ist der Vorwurf, derartige Ansätze würden die psycho‐ therapeutische Beziehung zwischen den Patienten und den Psychotherapeuten stö‐ ren. So argumentiert beispielsweise Meiser‐Storck [Meiser‐Storck, 2012], dass die Kon‐ zentration auf die Durchführung strukturierter Diagnoseinterviews zu einer größeren Beschäftigung mit Test‐ und Diagnoseergebnissen führen könnte, wodurch die Über‐ tragungs‐ und Gegenübertragungsphänomene aus dem Blickfeld geraten könnten. Weiterhin würde die strukturierte Interviewführung zu wenig Raum lassen, um auf individuelle Beziehungsangebote seitens des Patienten einzugehen. Meiser‐Storck [Meiser‐Storck, 2012] betont, dass ein affektives Mitschwingen seitens des Intervie‐ wers bzw. Klinikers – das zu einer positiven Beziehungsgestaltung gezählt werden soll‐ te – gar unerwünscht sei, da es zu einer Verfälschung der Ergebnisse führen könnte und demnach mit Objektivitätseinbußen einhergehe [Meiser‐Storck, 2012]. Entspre‐ chend könnte sich im diagnostischen Prozess eine rigide Form der Beziehungsgestal‐ tung entwickeln, was wiederum den Vertrauensaufbau zwischen Kliniker und Patien‐ ten erschweren könnte. Da in der klinischen Praxis der Diagnostiker und der Psycho‐ therapeut in der Regel die gleiche Person ist, könnten sich auch – insbesondere bei Patienten mit entsprechenden Prädispositionen – misstrauische Beziehungsstrukturen auf die Behandlung übertragen [Meiser‐Storck, 2012], was als eine Behandlungser‐ schwernis zu werten ist. Vermutlich dürfte der Einfluss der soeben aufgezählten Fakto‐ ren auf die psychotherapeutische Beziehung ganz wesentlich von der Einstellung des Psychotherapeuten zu diesem Thema und von den kommunikativen Fähigkeiten des Diagnostikers bzw. Psychotherapeuten abhängen. Inwiefern ein pauschales Urteil zu dieser Thematik gerechtfertigt ist, müsste durch entsprechende Forschung geklärt werden. Was sicherlich ein wesentlicher Entscheidungsfaktor für (bzw. gegen) den Einsatz strukturierter Diagnosevergabesysteme sein dürfte, ist der damit verbundene Res‐ 132 sourcenverbrauch. Dies dürfte auch der Hauptgrund sein, warum derartige Verfahren sich so wenig in der klinischen Praxis durchgesetzt haben [Hoyer, 2012; Meiser‐Storck, 2012; Schneider, 2011]. Da der Aufwand und die benötigten Ressourcen in der Tat bei den verschiedenen Verfahren zur Diagnosevergabe unterschiedlich ausfallen, werden die gängigen Verfahren sowie der zur Durchführung erforderliche Zeitumfang (soweit bekannt) im Folgenden kurz dargestellt. Darunter wird auf das Composite International Diagnostik Interview (CIDI) [Kessler, 2004], das Diagnostische Expertensystem für Psy‐ chische Störungen (DIA‐X) [Wittchen, 1997], das Diagnostische Interview bei Psychi‐ schen Störungen nach DSM‐V TR (DIPS) [Schneider, 2011], die internationalen Diagno‐ se‐Checklisten für DSM‐IV und ICD‐10 (IDCL) [Hiller, 1997] und das Strukturierte Klini‐ sche Interview für DSM‐IV (SKID I und SKID II) [Wittchen, 1997] eingegangen. Diese Beschreibungen der Alternativ‐Diagnosevergabesysteme sollen auch dazu dienen, auf‐ zuzeigen, worin die potenziellen Stärken und Schwächen des ISR+ bestehen. Gängige strukturierte Verfahren in der Psycho‐Diagnostik Das CIDI [Kessler, 2004] stellt ein vollstandardisiertes Interviewverfahren dar, mithilfe dessen u. a. 64 verschiedene psychische Störungen bei Jugendlichen und Erwachsenen nach den Kriterien des ICD‐10 und des DSM‐V auch von klinisch unerfahrenen Perso‐ nen diagnostiziert werden können. Dabei geht es um das Screening sowie die Erfas‐ sung der Lebenszeitprävalenzen für diese Störungen. Ebenso zielt das CIDI auf die Er‐ fassung der Komorbidität, den Beginn, den Verlauf psychischer Störungen, dazugehöri‐ ge Behandlungen und die damit einhergehenden psychosozialen Beeinträchtigungen. Das CIDI, das auch in einer Computerversion verfügbar ist, wurde speziell für die epi‐ demiologische Forschung konzipiert, bei denen das Hauptgewicht auf die Erfassung der häufigsten psychischen Störungen gelegt wurde. Als Bearbeitungsdauer geben die Au‐ toren im Mittel ca. zwei Stunden an. Das DIA‐X [Wittchen, 1997] soll sich für die Diagnosevergabe in der Forschung, Klinik und Praxis eignen. Es stellt ein flexibles, modular aufgebautes Beurteilungssystem zur Unterstützung bei der Diagnosevergabe nach den Forschungskriterien der ICD‐10 und des DSM‐IV dar – wobei die diagnostischen Kriterien des DSM‐IV bei der Konstruktion 133 des Systems im Vordergrund standen. Drei verschiedene Komponenten werden mit dem System angeboten: 1) ein Screening‐Verfahren, um Angst, Depression oder psy‐ chische Störungen im Allgemeinen zu erfassen, 2) ein standardisiertes Interview zur Erfassung vom psychischen Störungen, und 3) ein Auswertungsprogramm für die Er‐ stellung der verschiedenen Diagnosen. Die ersten beiden Komponenten liegen sowohl in Papier‐Bleistift‐Version als auch in Computer‐Version vor. Es wird vorgeschlagen, zuerst das Screening‐Verfahren (ein kurzer Fragebogen) durchzuführen und nur bei Verdacht auf das Vorliegen einer psychischen Störung das strukturierte Interview zur weiteren Abklärung einzusetzen. Das strukturierte Interview wird in zwei Versionen angeboten, einmal zur Erfassung der Lebenszeitprävalenz von etwa 100 psychischen Störungen nach ICD‐10 und DSM‐IV und einmal zur Querschnitterfassung von ca. 100 psychischen Störungen nach ICD‐10 und DSM‐IV in den letzten 12 Monaten. Die Bear‐ beitungsdauer des Interviews wird mit ca. einer Stunde angegeben. Mit dem DIPS [Schneider, 2011], das auch auf einem strukturierten Interview basiert, kann nicht nur die Klassifikation psychischer Störungen nach ICD‐10 und DSM‐IV‐R er‐ folgen; das Programm soll auch Informationen sammeln, die für die Planung und Durchführung psychotherapeutischer (insbesondere verhaltenstherapeutischer) Be‐ handlungen nützlich sind. Dabei werden die am häufigsten vorkommenden Diagnosen psychischer Störungen anhand der diagnostischen Kriterien des DSM‐V‐R erfasst. Durch Zuhilfenahme einer Tabelle werden die DSM‐IV‐Diagnosen dann in ICD‐10‐ Diagnosen transformiert. Laut Angaben der Autoren eignet sich das Verfahren auch für die Anwendung durch Studenten. Als Bearbeitungsdauer wird die Zeitspanne von 90– 120 Minuten angegeben. Die IDCL [Hiller, 1997] wurden in erster Linie für den alltäglichen Einsatz in der klini‐ schen Praxis konstruiert. Anhand von 32 verschiedenen Checklisten werden die diag‐ nostischen Kriterien der wichtigsten und häufigsten psychischen Störungen nach den klinisch‐diagnostischen Leitlinien der ICD‐10 [Dilling: Leitlinien, 2014] systematisch und übersichtlich abgebildet, dabei finden die Forschungskriterien der ICD‐10 [Dilling: For‐ schungskriterien, 2011] zusätzliche Berücksichtigung. Diese Checklisten, die unproble‐ matisch in den Routinebetrieb integriert werden können, können dem Kliniker wäh‐ rend des Erstgesprächs als Leitfaden dienen, um die in Frage kommenden Kriterien 134 jeweils gezielt und präzise abzufragen. Auch die IDCL liegen in computerisierter Form vor. Entsprechend des intendierten Einsatzgebiets werden keine Zeitangaben zur „Durchführung“ der IDCL gemacht. Das SKID‐I und SKID‐II [Wittchen, 1997], das auf der Durchführung eines strukturierten Interviews basiert, dient der Diagnostik ausgewählter psychischer Syndrome und Stö‐ rungen nach dem DSM‐IV. Die Achse‐I‐Störungen nach DSM‐IV werden mit dem SKID I erfasst und die Achse‐II‐Störungen (Persönlichkeitsstörungen) mit dem SKID‐II. Dar‐ über hinaus bestehen Kodierungsmöglichkeiten für zwei weitere DSM‐IV‐Achsen. Die Diagnosen werden sowohl im Längs‐ als auch im Querschnitt erfasst. Durch die Ver‐ wendung sogenannter Sprungregeln wird die Durchführungszeit reduziert. Auch für das SKID‐I und SKID‐II stehen Computerversionen zur Verfügung. Die Durchführungs‐ zeit für SKID‐I wird mit ca. 60 Minuten angegeben, während eine mittlere Zeit von ca. 30 Minuten für das SKID‐II angesetzt werden sollte. Diagnostik‐Verfahren in der Zusammenschau Eine Sichtung der Eigenschaften dieser gängigen Diagnosevergabesysteme zeigt, dass – mit Ausnahme der IDCL – alle Systeme auf strukturierten Interviews gründen. Weiterhin bauen alle in erster Linie auf den diagnostischen Kriterien des DSM‐IV auf. Erst in einem zweiten Schritt werden die gestellten Diagnosen auf der Basis von Konversionstabellen in den ver‐ wandten Codes der ICD‐10 transformiert. Darüber hinaus werden bei keinem der dargestellten Diagnosevergabesysteme alle Diagnosen des Kapitels V der ICD‐10 für psychische Störungen [Dilling: Leitlinien, 2014] abgedeckt, sondern in der Regel nur mehr oder minder umfänglich die soge‐ nannten wichtigsten bzw. häufigsten Diagnosen. Anhand dieser Argumente können die Alleinstellungsmerkmale des ISR+ herausgear‐ beitet werden, der nicht auf einem strukturierten Interview basiert, konsequent auf die ICD‐10 aufbaut und mit dem 135 das gesamte Spektrum psychischer Störungen der ICD‐10 erfassbar werden soll. Das einzige Instrument, das ansonsten noch auf der ICD‐10 basiert, ist die IDCL, die dem Kliniker jedoch nur Checklisten mit den diagnostischen Kriterien für die wichtigs‐ ten bzw. häufigsten psychischen Störungen liefert, den Kliniker dabei aber nicht durch die diagnostischen Schemata der ICD‐10 lotst. In dem ISR+ wird dem Kliniker weiterhin durch die grafische Aufbereitung der (zu den jeweiligen diagnostischen Kriterien assozi‐ ierten) Patientenratings noch eine Unterstützung bei der Bewertung dieser Krite‐ rien geboten, die einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Qualität der Kliniker‐ ratings leisten könnte. Vor diesem Hintergrund betrachtet, kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass das ISR+ einen Bereich der Diagnostik psychischer Störungen abdeckt, der von keinem anderen Instrument in vergleichbarer Wiese erzielt wird. Das ISR+ im Vergleich Es folgen noch einige Überlegungen zur Bewertung der Ökonomie, der Nützlichkeit, der Akzeptanz des ISR+ sowie dessen mögliche negativen Auswirkungen auf die psy‐ chotherapeutische Beziehung [Meisner‐Storck, 2012]. Als kritischer Punkt für die An‐ nahme des ISR+ in der klinischen Praxis dürfte sich die Durchführungsdauer – als ein wesentlicher zeitökonomischer Gesichtspunkt – erweisen, die nun jeweils mit erfahre‐ nen sowie unerfahrenen Klinikern empirisch geprüft werden muss. Das ist eine Voraus‐ setzung für eine gesicherte Einschätzung. Im Allgemeinen wird die Bearbeitungsdauer, z. B. vom Ausmaß der Komorbidität, dem Ausmaß der klinischen Erfahrung des Klini‐ kers und weiteren Patientenfaktoren abhängen. In der Regel dürften die Patienten ein bis drei einzelne Differenzialdiagnosen aus dem Bereich psychischer Störungen aufwei‐ sen [Alonso, 2004; Beutel, 2009; Brieger, 2000; Burgemer, 2006; Dilling, 2001; Probst, 2009; Tritt, 2003; von Heymann, 2003]. Nach Probst et al. [Probst, 2009] wiesen die Probanden im Schnitt 1,69 Diagnosen (SD = 0,67) auf, und in einer klinisch‐ diagnostizierten Stichprobe von mehr als 17.000 psychosomatisch‐stationären Patien‐ 136 ten hatten 45,0 % eine F‐Diagnose, 27,8 % hatten zwei F‐Diagnosen, 14,7 % drei F‐ Diagnosen, 5,8 % vier und lediglich 3,3 % der Patienten hatten fünf und mehr F‐ Diagnosen [Heymann, 2003]. Entsprechend lässt sich vermuten, dass die Bearbei‐ tungsdauer des ISR+ deutlich kürzer als die der anderen Diagnosevergabesysteme sein dürfte. Dies ist durch drei Faktoren bedingt: 1. werden die relevanten diagnostischen Leitlinien und Kriterien von der Software präsentiert 2. wird der Kliniker automatisch durch die relevanten diagnostischen Algorithmen geleitet 3. wenn eine bestimmte Anzahl von vorhandenen Symptomen für die Diagnose‐ vergabe notwendig ist, wird die Berechnung automatisch von der Software über‐ nommen. Während diese Überlegung vielversprechend anmutet, lässt sich die Ökonomie des ISR+ jedoch erst endgültig nach einer empirischen Prüfung zuverlässig bewerten. Bei der Bewertung der Nützlichkeit und Ökonomie des ISR+ sollte man sich vor Augen führen, dass eines der Hauptziele dieser wissenschaftlichen Arbeit darin bestand, den Aufwand und den dazugehörigen Ressourcenverbrauch auch im Rahmen des klinischen Routinebetriebs bei der Diagnosestellung zu minimieren, was auch Auswirkungen auf die Bearbeitungsdauer des ISR+ haben sollte. Im Rahmen der Aufgliederung des Aus‐ gangsproblems zeigte sich aber auch, dass es zur korrekten Vergabe einer psychischen Diagnose nach ICD‐10, die Pflicht in der gesetzlich geregelten Versorgung ist, relativ umfangreiche Kenntnisse der verschiedenen diagnostischen Leitlinien und diagnosti‐ schen Kriterien aller Differenzialdiagnosen des Kapitels V der ICD‐10 [Dilling: Leitlinien, 2014] bedurfte und die Ausführlichkeit der Algorithmen, die geforderte möglichst vollständige Abdeckung der Differenzialdiagnosen, ein weiterer Aspekt war. Bei der Berücksichtigung einer fünfstelligen Diagnosekodierung der psychischen ICD‐ 10‐Diagnosen müssen Kenntnisse der diagnostischen Vorschriften von über 850 ver‐ 137 schiedenen F‐Diagnosen vorhanden sein. Wenn man lediglich die vierstellige Kodie‐ rung der ICD‐10 zugrunde legt, müsste sich der Kliniker immerhin noch die diagnosti‐ schen Leitlinien bzw. Kriterien von fast 400 verschiedenen F‐Diagnosen merken. Dabei variiert die Anzahl der diagnostischen Leitlinien (bzw. Kriterien) je nach Differenzialdi‐ agnose: Während die Diagnose einer F32 Depressiven Episode (bzw. einer F33 rezidi‐ vierenden Depressiven Störung) die Bewertung von über 10 verschiedenen Kriterien verlangt, bedarf es beispielweise zur Vergabe einer F40 Phobischen Störung die Bewer‐ tung von drei diagnostischen Leitlinien. Weiterhin kommen verschiedene Leitlinien in mehr als einer Differenzialdiagnose vor, sodass der Kliniker sich nicht „nur“ die einzel‐ nen diagnostischen Kriterien einprägen muss, sondern auch die jeweilige Konstellation von diagnostischen Kriterien, was mit einer gewissen Verwechselungsgefahr verbun‐ den sein kann. Abb. 4.0.1 veranschaulicht das Gesamtkonzept, den diagnostischen Prozess und den Planungsaufwand. Abb. 4.0.1: Schematischer Ablauf und Umsetzung des Gesamtprojektes Bei einer konservativen Hochrechnung ausgehend von vier Kriterien pro Differenzialdi‐ agnose müsste sich der Kliniker ca. 3.400 verschiedene Informationen merken; ausge‐ hend von fünf Kriterien wären es bereits 4.250 Informationen. Selbstverständlich 138 könnte nur ein ganz kleiner Teil der Kliniker – nämlich die mit einem exzellenten Ge‐ dächtnis – alle diese Informationen ohne Unterstützung abrufen. In der Regel müssten die Kollegen sich damit arrangieren, die entsprechenden Kriterien bzw. die entspre‐ chenden ICD‐10‐Kodierungen in den jeweiligen Bänden der ICD‐10 nachzuschlagen oder Programme aufzurufen, was sicherlich mit einem größeren Zeitverbrauch ver‐ bunden ist, als die Diagnosevergabe mit dem ISR+. Dies setzt allerdings voraus, dass die Kollegen die Kriterien, die sie nicht aus der Erinnerung abrufen lassen, auch gewis‐ senhaft nachschlagen. Erste Erfahrungen mit ähnlichen Systemen, hier mit dem PsyPAM, einem Vorläufer‐Projekt mit direkter Patientenbefragung (Selbstauskunft), aber ohne Patienten‐Rating‐Modul, zeigen deutliche Zeitgewinne [Lahmann, 2010]. Die Akzeptanz des ISR+ für den Patienten dürfte relativ hoch sein, da der Patient ledig‐ lich die mindestens 48 Items umfassenden Patientenratings des ISR+ (die Gesamtzahl von Patientenitems liegt bei maximal 75 Items) zusätzlich ausfüllen muss. Ansonsten fällt für den Patienten nur das gängige diagnostische Gespräch an, das – unabhängig davon, ob die ICD‐Diagnosevergaben nach ISR+ oder nicht erfolgt – in üblicher Weise im Rahmen einer Behandlung durchgeführt wird. Die Belastung durch das Patienten‐ rating ist im Prinzip als vernachlässigbar zu betrachten [Meiser‐Stork, 2012], wenn man bedenkt, dass man mit dieser auf dem ISR [Tritt, 2008] basierenden Erhebung zugleich eine störungsübergreifende Bewertung des Ist‐Zustands der psychischen Symptomatik des Patienten bekommt, der sich auch für die indirekte Veränderungsmessung eignet [Bühner, 2010] – wie dies im Rahmen der gesetzlich geforderten Qualitätssicherung erforderlich ist [Tritt, 2007]. Auch dürften sich mögliche negative Auswirkungen auf die psychotherapeutische Beziehung bedingt durch den ISR+ relativ gering halten, da der ISR+‐Diagnosevergabeprozess eben nicht auf einem strukturierten Interview aufbaut und deswegen das diagnostische Gespräch nicht dominieren würde, sondern viel Frei‐ raum bei der Gestaltung der psychotherapeutischen Beziehung ermöglicht. Schließlich könnte man noch einwenden, dass der Kliniker durch das Vorgehen des ISR+ massiv eingeschränkt würde, man ihm das Denken abnehmen oder ihn gar ent‐ mündigen würde [Meiser‐Stork, 2012]. Diesen Sachverhalt könnte man genauso gut gegenteilig einschätzen: Die computergestützte Diagnosesoftware stellt ihm lediglich die Diagnosen mit ihren Eigenschaften (Leitlinien und Kriterien), deren ICD‐10‐Codes 139 und die damit verbundenen Regeln elektronisch zur Verfügung. Für die endgültige Di‐ agnosevergabe nach ICD‐10, basierend auf der vollständigen Bewertung der Sympto‐ me und den diagnostischen Leitlinien und Kriterien sowie einer Beurteilung der übri‐ gen Komponenten der mehrdimensionalen Diagnostik, beispielsweise dem Patienten‐ Psychotherapeuten‐Gespräch, fremdanamnestischen Angaben, Laborwerte, der Bild‐ gebung oder zusätzlicher Testung, ist und bleibt der Kliniker weiterhin selbst verant‐ wortlich. Durch dieses Vorgehen hat er die Möglichkeit, sich mehr auf die Beziehungs‐ gestaltung und andere wichtige ärztliche und psychotherapeutische Obliegenheiten zu konzentrieren. 140 5 Ausblick Welche weiteren Aufgaben stehen nun nach der Modellierung der Algorithmen hin‐ sichtlich der Entwicklung und Implementierung des ISR+‐Systems noch an? Welche weiterführenden Möglichkeiten können mit dem ISR+ anvisiert werden? Nach den Modulentwicklungen für das Expertenrating II wird das Softwaresystem, wie in dieser Arbeit beschrieben, durch das Institut für Qualitätsentwicklung in der Psycho‐ therapie und Psychosomatik (IQP), München, umgesetzt. Ein entsprechendes Handbuch für das ISR+, auf der Basis der hier vorgelegten Arbeit mit den klinisch‐informatorischen Algorithmen, muss noch erstellt werden. In ihm müssen das Diagnosesystem, die dazugehörigen Optionen, z. B. Durchführung mit so‐ matischen Syndrom oder nicht, etwa bei dem Depressionsmodul, dessen sichere Be‐ dienung und den Umgang mit den erstellten Diagnosen oder den Patientenangaben eindeutig und präzise beschrieben und erläutert werden. Dabei werden die Bedürfnis‐ se der unterschiedlichen Anwender (erfahrene und wenig erfahrene Kliniker) ausrei‐ chend Berücksichtigung finden. Um den Nutzen des gesamten ISR+ wissenschaftlich fundiert zu untermauern, werden systematisch die Hauptgütekriterien – Objektivität, Reliabilität und Validität – der er‐ stellten Diagnosen sowie die Nebengütekriterien – Nützlichkeit in der klinischen Routi‐ nediagnostik, Vergleichbarkeit und Ökonomie [Bühner, 2010] – untersucht werden müssen. Im praktischen Einsatz muss das ISR+ in ambulanten und stationären Settings über‐ prüft werden, sowie die Zuverlässigkeit des diagnostischen Systems. Hierfür wird der Übereinstimmungsgrad zwischen der klinischen Referenzdiagnostik – z. B. bei Verwen‐ dung der DIA‐X [Wittchen, 1997] oder der ICD‐10‐Checklisten [Hiller, 1995; Hiller, 1994; Hiller, 1990] mit den entsprechenden Kriterien – und der Diagnosestellung durch das medizinische Diagnosesystem ISR+ durch erfahrene und weniger erfahrene Kliniker evaluiert. Die Bearbeitungszeit sowohl der 49–75 ISR+‐Items durch den Patienten als auch des Expertenratings I bzw. II für den Kliniker muss ebenfalls in Studien geprüft 141 werden. Dabei muss natürlich auch die Patientenseite genau betrachtet werden: Pati‐ enten können mehr oder weniger krank und unterschiedlich komorbid sein. Hier wird sich zeigen, ob das System für alle gängigen klinischen Situationen geeignet ist. ISR+‐ Testergebnisse verschiedener Patienten, bei denen dieselbe Erkrankung diagnostiziert wurde, können als eine Form der Validitätsprüfung statistisch auf Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede beim Selbstrating bzw. Expertenrating durch den Kliniker verglichen werden. Auf der Basis des so entstehenden Pools von Variablen könnte es gelingen, insbeson‐ dere mit den weiteren soziodemografischen und Krankheitsverlaufsdaten, die in der Psy‐BaDo [Heuft, 1994; Heymann, 2003; Tritt, 2007] ebenfalls erfasst werden, Faktoren zu extrahieren bzw. Diskriminanzanalysen durchzuführen, um z. B. neue Prognose‐ oder therapieindikationsrelevante Subtypen aus den Daten herauszuarbeiten [Bortz, 2006; Bühner, 2011; Stieglitz, 2007; Wirtz, 2002]. Ein weiterer wichtiger Aspekt, den bereits Stieglitz et al. [Stieglitz, 2001] untersucht haben, ist die Korrelation zwischen Selbst‐ und Fremdrating, die zu Therapiebeginn geringer, im Verlauf der Behandlung größer wird. Diese Unterschiede spielen im Diag‐ noseprozess eine wichtige Rolle, da sie teilweise den Grad der Erkrankung verdeutli‐ chen. Möglicherweise könnten ISR+‐Befunde, ergänzt durch die Erhebung weiterer Variablen, dazu beitragen, die mit diesen Phänomenen verbundenen Varianzquellen (insbesondere die Beobachter‐ und die Informationsvarianz) aufzuklären und damit einen Beitrag für die Weiterentwicklung der ICD‐Klassifikationssysteme liefern. Kontinuierlich könnte konzeptbedingt (Datenbanken im Hintergrund) die Güte der Al‐ gorithmen problemlos evaluiert und verbessert werden im Sinne eines lernenden Sys‐ tems. Eine zentrale Anforderung an die Software ist die Effizienz der Algorithmen hin‐ sichtlich Zeit‐ und Speicherverbrauch. Eine besondere Herausforderung stellt der in‐ ternetbasierte Ansatz dar, der modulbedingt unterschiedliche Laufzeiten bei der In‐ formationsverarbeitung erwarten lässt. Entscheidungsprobleme, beispielsweise „Symptom ist vorhanden“ oder „nicht vorhanden“ oder die Sortierung der Nebendiag‐ nosen nach ihrer Relevanz, werden unterschiedliche Rechnerkapazität benötigen, die es in der Praxis zu ermitteln gilt (lineare, polynomiale Laufzeit etc.). Sie spielen bei der Implementierung des EDV‐Systems eine wesentliche Rolle hinsichtlich der personalen, 142 zeitlichen und Hardware‐bedingten Ökonomie und der Universalität für diese Form der Diagnostik, die dann auch grundsätzlich leicht in andere Sprachräume übertragen wer‐ den könnte. Zum jetzigen Zeitpunkt existiert eine türkische Version des ISR, die bereits validiert ist [Kizilhan, 2013; Tritt, 2013]; holländische, polnische, russische, spanische, portugisische, italienische, kroatische und lettische Versionen sind bereits in Vorberei‐ tung. Psychische und psychosomatische Erkrankungen berühren natürlich auch das Feld der hausärztlichen Versorgung [Bühren, 2005; Mergl, 2005]. Neu wäre, dass ein einfach zu handhabender Test in Verbindung mit einem unkompliziert anzuwendenden und zu schulenden, strukturierten Interview [Hiller, 1993; Janka, 1996; Margraf, 1994; Spitzer, 1999; Stieglitz, 2007], welches den Patienten im Sinne einer Selbstauskunft (dem ISR) miteinbezieht, also auch zum Screening geeignet wäre [Diez‐Quevedo, 2001; Loewe, 2003], als computergestütztes interaktives Werkzeug auch in die haus‐ oder fachärztli‐ che Versorgung Einzug finden könnte, idealerweise kombiniert mit Praxisverwaltungs‐ systemen [Grawe, 1994; Herzog, 2000]. Die Umstellung auf die pauschalierten Entgeltsysteme in Psychiatrie und Psychosoma‐ tik (PEPP) [InEK, 2013] erfordert spätestens jetzt den Einsatz von umfangreichen Kran‐ kenhausinformationssystemen (KIS) in den Kliniken. An einigen Kliniken sind bereits Systeme etabliert [Cibait, 2006; Tritt, 2007], die den ISR integriert haben. Mit dem ISR+ werden diese Softwarepakete zu einem noch mächtigeren Werkzeug, verbunden mit einer Vergrößerung des Anteils der validen Diagnosen – entsprechend wird eines der großen Probleme der Qualitätssicherung [Mestel, 2005] in der Psychosomatik gelöst. Eine Umsetzung des ISR und des ISR+ im kinder‐ und jugend‐psychiatrisch‐ psychosomatischen Bereich, etwa im Sinne eines Eltern‐ISR, ergänzt durch das Exper‐ tenrating ISR+ ist durchaus auch vorstellbar, denn die diagnostischen Instrumente für diese Altersgruppe sind ebenfalls rar [Unnewehr, 1995]. Dieses Diagnosesystem kann die Lücke schließen, die seit Jahren in der psychosoma‐ tisch/psychotherapeutischen Qualitätssicherung klafft: die schon lange geforderte Si‐ cherung der klinischen Diagnosen [Tritt, 2007]. Die systematische Beschreibung und die Quantifizierung der Symptome bilden die psychopathologischen Störungsbilder 143 messbar ab. Durch die starke Orientierung am klinisch‐praktischen Diagnoseprozess, die Abbildung der diagnostischen Algorithmen des etablierten und gesetzlich geforder‐ ten Klassifikationssystem ICD‐10 in der Software sowie das Bereitsstellen bereits vor‐ handener Patientenratings und der diagnostischen Leitlinien und Kriterien zur Unter‐ stützung der Bewertungen durch die Kliniker, kann nunmehr ein Pflichtenheft sein für ein fundiertes Instrument, das den Nutzen der computergestützten strukturierten Di‐ agnostik und der klinischen Vorgehensweise verbindet mit ökonomischen Vorteilen und einer wesentlichen Arbeitserleichterung. Laut mündlicher Mitteilung von IQP kann man davon ausgehen, dass bereits jetzt jährlich in den psychosomatischen Kliniken etwa 20.000 diagnostische ISR durchgeführt werden; die Akzeptanz dieses lizenzfreien Tests im ambulanten Bereich ist bereits so weit gediehen, dass Horst Köhler, der gera‐ de zurückgetretene Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, den flächen‐ deckenden Einsatz im ambulanten psychotherapeutischen Bereich zur Qualitätssiche‐ rung plant [Ruh, 2012]. Das Feld ist bereitet für den breiten Einsatz des ISR+. 144 6 Literaturverzeichnis [Andrews, 2000] Andrews, G. (2000). Case ascertainment: the Composite International Diagnostic Interview. Aust N Z J Psychiatry 34, 161–163. [APA, 2000] APA, American Psychiatric Association (2000). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Fourth Edition. Text Revision (DSM‐IV‐TR). Washington DC: American Psychiatric Association. [Artmann, 2012] Artmann, S. (2012). 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Alle wörtlich oder inhaltlich übernommenen Stellen habe ich als solche gekennzeichnet. Ich versichere außerdem, dass ich die beigefügte Dissertation nur in diesem und kei‐ nem anderen Promotionsverfahren eingereicht habe und dass diesem Promotionsver‐ fahren keine endgültig gescheiterten Promotionsverfahren vorausgegangen sind. Essing, 12.5.2014 _____________________ ______________________________ Ort, Datum Unterschrift 156