Die im Titel formulierte Diagnose von Dan Diners

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Die im Titel formulierte Diagnose von Dan Diners neuem Buch „Versiegelte Zeit. Über den
Stillstand in der islamischen Welt“ ist völlig falsch. Man kann über die großen Staaten der
islamischen Welt sagen, was man mag – aber Stillstand? In der Türkei beispielsweise macht eher
das Tempo skeptisch, mit dem weitreichende Reformen durchgepeitscht werden, als deren
Ausbleiben. Der Diktatur in Iran gelingt es zwar noch, die politische Öffnung aufzuhalten, aber
die gesellschaftliche Dynamik ist so rasant, daß eher die Gefahr der Explosion als die der
Erstarrung besteht. So gut wie alle professionellen Beobachter des Landes staunen über das
wachsende Selbstbewußtsein der Frauen, die Weltzugewandtheit der Jugend, die scharfen
Debatten innerhalb der Theologie, der immer breiter werdende Zugang zu Bildung und die
mediale Revolution durch Internet und Satellitenschüsseln oder die imposante Kreativität im
Kino oder in der Literatur. Indonesien schließlich, das bevölkerungsreichste Land der islamischen
Welt, hat gerade erst eine demokratische Revolution hinter sich, die maßgeblich von Studenten
und muslimischen Verbänden getragen wurde. Ob der Islam sich gegen demokratische
Verhältnisse sperrt, ist eine Frage, über die zu diskutieren wäre. Offenkundig ist, daß sich
weltweit immer mehr Muslime demokratische Verhältnisse wünschen und zunehmend auch
politisch in diesem Sinne formieren – egal, was der Islam dazu sagt.
Dan Diner würde diesen Befund wahrscheinlich gar nicht bestreiten. Tatsächlich handelt sein
Buch nicht von der islamischen, sondern fast ausschließlich von der arabischen Welt, 200
Millionen unter 1,5 Milliarden Muslimen. Und daß die arabische Welt sich in einer Krise befindet,
die nicht nur wegen des globalen Terrorismus in den letzten zwei Jahrzehnten dramatische Züge
angenommen hat, ist unstrittig - übrigens auch unter Arabern selbst. Zwar leitet Diner sein Buch
mit der Behauptung ein, daß schon die bloße Frage nach dem Zustand ihrer Gesellschaften von
Arabern als Zumutung empfunden würde. Ein Blick in eine der großen arabischen
Tageszeitungen oder in das Abendprogramm von al-Dschasira, und man wird eher das
Selbstmitleid, die Larmoyanz, die Hilflosigkeit beklagen als die mangelnde Einsicht in die eigene
Rückständigkeit. Auch der Islamismus ist ja Ausdruck eben dieser Einsicht: Er will den status
quo nicht erhalten, sondern ihn radikal verändern, allerdings nicht im Sinne des Westens.
Natürlich wünschen sich auch in der arabischen Welt die meisten Menschen das Ende der
Zwangsherrschaften und größere Freiheit. Aber erschütternd ist, wie schwach soziale
Reformbewegungen verfaßt sind, wie übermächtig noch immer ein überkommenes
patriarchalisches Weltbild wirkt, auf welch geringem intellektuellem Niveau die Ausbildung und
Predigt innerhalb der religiöse Orthodoxie stattfindet. So gesehen, ist die Diagnose vom Stillstand
vollkommen richtig, ja, beinah schon verharmlosend. Nimmt man das Bildungswesen oder den
sozialen Ausgleich, so befindet sich die arabische Welt nicht im Stillstand, sondern in einem
rasanten Niedergang, der sich bis hinein in die dritte und vierte Generation der arabischen
Migranten in Europa auswirkt.
Warum das so ist, warum eine Kultur, die einst der europäischen an Freizügigkeit, Kreativität und
Rationalität weit überlegen war, in den letzten zwei Jahrhunderten so deutlich ins Hintertreffen
geraten ist, das ist eine Frage, die sich arabische und westliche Intellektuelle und Wissenschaftler
fast ebensolang schon stellen. Es gibt viele einzelne, überzeugende Gründe, aber noch nicht die
eine, umfassende Erklärung. Versuche, eine allgemeine Theorie des arabischen Niedergangs zu
erstellen, sind regelmäßig mißlungen. Zuletzt hat der berühmte amerikanische Orientalist Bernard
Lewis die Frage zu beantworten gesucht: „What went wrong“. Herausgekommen ist sein
wahrscheinlich schlechtestes Buch. Das ist symptomatisch. So viele Gründe man für die Krise
der arabischen Welt auch zusammenträgt – sobald man sie zu einer schlüssigen These
zusammenfassen will, verrinnen sie unter lauter Gegenargumenten zwischen den Fingern. Am
Ende bleibt man als Leser zurück mit dem schulterzuckenden Befund, daß große Zivilisationen
eben vergehen.
Dan Diner, bislang vor allem als Kenner jüdischer Geschichte hervorgetreten, mißtraut
offenkundig vielen der bisherigen Erklärungsmuster und konzentriert sich auf einzelne, bislang
seltener wahrgenommene Aspekte, statt im Wettbewerb um die größtmögliche Pauschalisierung
mitzubieten. Die speziell in der arabischen Welt beliebte Erklärung, daß der Westen an allem
schuld sei, entkräftet Diner in der gebotenen Kürze: Natürlich habe der Westen die arabische
Welt seit dem Feldzug Napoleons auf vielfältige Weise beherrscht, unterdrückt und ausgebeutet–
aber die eigentliche Frage sei doch, „wieso es hat dazu kommen können, daß europäische Mächte
überhaupt in der Lagen waren, sich der Länder des Orients zu bemächtigen.“
Das vorausgesetzt, kann man allerdings den Anteil westlichem Einwirkens auf die arabische Welt
nicht vollkommen ausblenden, wenn man mehrere Kapitel lang über die Epochen seit dem
Kolonialismus spricht. Zum Defizit an Demokratie oder der ökonomische Krise gehört eben
auch die massive Förderung diktatorischer Regime in der arabischen Welt, die bewußte
Zerstörung früher industrieller Strukturen oder die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, zum
Teil bis in die Gegenwart. Dies unerwähnt zu lassen und Ursachen ausschließlich bei den
Arabern und ihrer Kultur zu suchen, als ob ihre Entwicklung sich in einem weltpolitischem
Vakuum vollzogen hätte, hinterläßt einen faden Beigeschmack und rückt den Autor in die Nähe
von Predigern wie André Glucksmann, die sämtliche anti-westlichen Impulse in der arabischen
Welt als irrational, ja beinah als metaphysisch abtun und jeden Bezug zu irgendeiner
Handlungsweise westlicher Akteure zu zerstreuen suchen: Sie hassen uns eben. So einfach machen
es sich die Fundamentalisten auf der anderen Seite des Kulturkampfes auch.
Dabei ist der Ton, in dem Dan Diner sein Buch geschrieben hat, erfreulich nüchtern und fern
aller Polemik. Zunächst referiert er ausführlich den Arab Human Development Report der Vereinten
Nationen, den eine Gruppe hochkarätiger arabischer Autoren verfaßt hat. Damit bewegt Diner
sich auf sicherem Terrain, denn der Bericht mit seinen niederschmetternden Befunden ist ebenso
faktenreich wie überzeugend. Allerdings könnte man sich dann auch gleich den Arab Human
Development Report aus dem Internet herunterladen. Weitergehende Lektüreeindrücke und
abweichende Erkenntnisse steuert Diner in diesem Teil, der sich immerhin bis Seite 65 zieht,
kaum bei. Damit fällt Diners Zustandsbeschreibung korrekt, aber auch allzu uninspiriert aus.
Die Erklärungen, die Diner in den darauffolgenden Kapitel abgibt, sind von unterschiedlicher
Qualität. Die Entwicklung zum islamischen Fundamentalismus, die Diner beschreibt, läßt sich
gleichlautend oder präziser in dutzenden anderer, auch deutschsprachiger Publikationen
nachlesen. Für den Laien mögen Stichwörter wie das Ende des osmanischen Kalifats, die
Gründung der Muslimbruderschaft und die Schriften Sayyid Qutbs interessant sein – neu sind sie
in der Literatur nicht, nicht einmal in der populärwissenschaftlichen. Fatal ist allerdings, daß
Diner teilweise die Sicht von Islamisten einfach übernimmt. Wenn man sich den Islam von einem
Ideologen wie Qutb erklären läßt, muß man sich über das Schwarz-Weiß der Darstellung – der
Islam ist dies, der Westen ist das - nicht wundern.
Bedeutsamer sind Diners Hinweise zur arabischen Hochsprache. Daß das Arabische aufgrund
der linguistischen Präsenz des Korans sakral aufgeladen ist, ist „zwar keine hinreichende
Erklärung für die Erschwernisse bei der Säkularisierung, verweist aber auf Dilemmata, mit denen
muslimische Araber im Unterschied zu muslimischen Türken, muslimischen Iranern oder
muslimischen Pakistani konfrontiert sind“, wie Diner zurecht schreibt. Der Autor macht diese
Barriere an der Entwicklung des Buchdruck fest, die in der arabischen Welt erst 300 Jahre nach
Gutenberg eingesetzt hat. Die Beobachtung ist ebenso korrekt wie wichtig. Dann aber sucht
Diner nach Ursachen für das Primat der Mündlichkeit in der arabischen Kultur und
verallgemeinert einzelne Funde der Islamwissenschaft auf eine Weise, daß die Darstellung
geradezu groteske Züge annimmt. Etwa würde der Koran bis heute „nicht mit beweglichen
Schrifttypen gedruckt, sondern ausschließlich litographisch oder photomechanisch vervielfältigt –
ein beliebige islamische Buchhandlung beweist nicht bloß das Gegenteil, sondern macht auf ein
viel größeres Problem aufmerksam, nämlich die massenhafte Digitalisierung des Korans, die zur
willkürlichen Zitierbarkeit führt. Daß der Koran der Azhar-Universität „der einzige für Muslime
verbindliche Korantext“ ist, sollte Diner einmal einem iranischen oder indonesischen Muslim
mitteilen. Und ein letztes Beispiel: Die islamische Gelehrsamkeit habe den Gebrauch der Schrift
tabuisiert und immer schon keinen Wert auf Bücher gelegt – als ob nicht die mit Abstand
größten Bibliotheken des Mittelalters in den Zentren der islamischen Welt gelegen hätten und
würde das Werkverzeichnis muslimischer Theologen nicht selten ins Dreistellige reichen.
Das Thema von Mündlichkeit und Schrift in der arabischen Kultur ist ein hochbrisantes, weites
Feld, das von arabischen ebenso wie von westlichen Forscher vielfach untersucht worden. Diner
hat – den Quellenangaben und der Darstellung zufolge – nur ein Bruchteil der westlichen
Literatur studiert. Arabische Quellen oder auch nur eigene, konkrete Eindrücke von arabischen
Ländern sind bei ihm ohnehin nicht existent, was für ein Werk über die arabische Kultur und
Sprache schon eine gewisse Chuzpe erfordert – man stelle sich ein Buch über die deutsche Kultur
und Sprache vor, vorgelegt von einem Ägypter, der offenkundig keine einzige deutsche Zeile
gelesen hat und sich auf keine einzige eigene Beobachtung bezieht.
Komplett übergeht Diner neben vielen anderen Aspekten des Themas die entscheidende Ursache
für die übergroße Bedeutung des gesprochenen Wortes, nämlich die Mündlichkeit des Korans,
der als Gottes direkte Rede streng genommen nur in der Rezitation existiert. Auch verkennt
Diner die Ambivalenz der 1400jährigen arabischen Hochsprache, die soziale Entwicklungen nicht
nur blockiert, sondern zugleich arabischen Autoren ein Reservoir möglicher Ausdrucksformen
gibt, nach dem sich Angehörige anderer Sprachen nur sehnen können. Nicht zuletzt sind es
deshalb die arabischen Dichter – die meisten von ihnen durch und durch säkulare, wenn nicht
religionsfeindliche Köpfe -, die auf dem Vorrang der gemeinsamen, von jedem Kind zu
erlernenden Hochsprache beharren. Bei Diner dagegen gerät sogar der ägyptische
Nobelpreisträger Nagib Machfus zum Sprachfundamentalisten, weil er die ägyptische
Volkssprache angeblich „als verabscheuungswürdigen Ausdruck kultureller Armut und
Verderbtheit“ herabsetzt. Wer das schreibt, hat Nagib Machfus noch nie reden hören! Abgesehen
davon, gibt es neben der hochsprachigen Literatur – natürlich – eine äußerst lebendige, offiziell
geförderte, auch von Nagib Machfus gepriesene Dialektdichtung, die etwa in Ägypten ungleich
mehr Publikum hat als die Bücher des Nobelpreisträgers. Und diese Dialekte sind keineswegs für
religiöse Zwecke Tabu, sondern beispielsweise in der Mystik Medium des Sakralen, bis heute.
Eine Studiosusreise nach Oberägypten hätte ausgerechnet, um den Autor vor manchen Irrtümern
zu bewahren.
Wesentlich überzeugender ist Diners Buch dort, wo der Autor sozialgeschichtlichen und
ökonomischen Aspekten nachgeht. Wenn Diner etwa den Niedergang des Osmanischen Reiches
anhand der monetären Strukturkrise erklärt, die durch die aus Amerika nach Europa
einströmenden Bestände an Gold und Silber mitausgelöst wurde – das ist bedenkenswert und
glänzend zusammengefaßt. Leider kehrt der Autor dann aber bald schon wieder zurück in ein
allgemeines Räsonnieren des Muslims als solchen, der den religiösen Normen praktisch willenlos
ergeben sein muß – das jedenfalls der Eindruck, wenn nur von den Gesetzen des Islams die Rede
ist, aber selten darüber, daß die Gesetze in der Realität selbstverständlich vielfach gebrochen,
umgedeutet oder relativiert worden sind.
Wäre die islamische Kultur wirklich so vollständig von den Buchstaben des Korans durchzogen,
wie es bei Diner anklingt, könnte man sämtliche Erscheinungen, die diesen Buchstaben
widersprechen, nur mit dem Begriffsmuster der Häresie erklären. Tatsächlich aber sind sie der
islamischen Kultur inhärent gewesen. Die großen Mystiker und Dichter des Islams, die den Wein
und die körperliche, auch homoerotische Liebe besungen – und allem Anschein nach ausgiebig
genossen – haben, hatten kein Problem damit, in der nächsten Zeile Gott und seinen Propheten
zu preisen. Ein Problem ist ihre Existenz für jene Islamerklärer, die sich nur an den Buchstaben
orientieren, mögen sie Sayyid Qutb heißen oder Dan Diner. Letzterer ist uns allerdings denn
doch weit sympathischer.
Navid Kermani
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