5 Relativistische Mechanik

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Relativistische Mechanik
Nach dem Relativitätsprinzip müssen die Naturgesetze, also insbesondere die Gesetze der
Mechanik, in jedem IS die gleiche Form annehmen. Zur Formulierung der Impulserhaltung
etwa benötigt man den Begriff der Geschwindigkeit. Für zwei dicht aufeinanderfolgende
Ereignisse A und B auf der Weltlinie ist





c(tB − tA )
xB − xA
yB − yA
zB − zA








=

c∆t
∆x
∆y
∆z





= (∆xµ ).
(138)
die (kovariante) Komponenten-Darstellung eines Vierervektors in S, denn die entsprechenden Komponenten in einem anderen Inertialsystem S ′ ergeben sich aus
∆x′µ = Λµν ∆xν .
(139)
Wäre nun ∆t eine invariante Größe (also ein “Viererskalar”), so wäre auch durch





c
vx
vy
vz





:=

1 


∆t 
c∆t
∆x
∆y
∆z



.

(140)
ein Vierervektor gegeben. Dies ist aber nicht der Fall, denn im System S ′ gilt
c∆t′ = γc∆t − βγ∆x 6= c∆t,
(141)
also ∆t′ 6= ∆t. Der 3D Geschwindigkeitsvektor v = (vx , vy , vz )T läßt sich also, anders als
der 3D Vektor ∆r = (∆x, ∆y, ∆z)T , nicht einfach durch hinzufügen einer “zeitlichen”
Komponente zu einem Vierervektor ergänzen.
31
5.1
Eigenzeit
An einem beliebig bewegten Teilchen, das im IS S die Bahnkurve


x(t)


r(t) =  y(t) 
z(t)
⇒


ẋ(t)
d


v(t) = r(t) =  ẏ(t) 
dt
ż(t)
(142)
beschreibt, sei eine (gegen Beschleunigungen unempfindliche) Uhr befestigt. Die von dieser
angezeigte Zeit τ heißt die Eigenzeit des bewegten Teilchens. Verstreicht in S das kleine
Zeitintervall dt, so ändert sich die Zeigerstellung der bewegten Uhr für den in S ruhenden
Beobachter infolge der Zeitdilatation um
dτ = dt
s
1−
1
v(t)2
= dt ≤ dt.
2
c
γ
(143)
Während des endlichen Zeitintervalls [t0 , t] wächst also die Zeigerstellung von einem Anfangswert τ (t0 ) auf
τ (t) = τ (t0 ) +
Z
t
t0
s
dt′ 1 −
v(t′ )2
.
c2
(144)
Da verschiedene Zeigerstellungen einer Uhr miteinander kausal verknüpft sind, ist τ (t) eine
streng monoton wachsende, also invertierbare Funktion. (Dies ist auch formal klar, da der
Integrand zu jeder Zeit t′ positiv ist!) Insbesondere ist, im Gegensatz zu ∆t = tB − tA , das
Eigenzeitintervall ∆τ zwischen zwei Ereignissen auf der Weltlinie eines Teilchens invariant
unter Lorentz-Transformationen. Diesen Umstand werden wir im nächsten Abschnitt bei
der Definition der Vierergeschwindigkeit ausnutzen.
Bsp. 1: Wir betrachten den Fall konstanter Beschleunigung a in x-Richtung, x(t) = 12 at2 ,
y(t) = z(t) = 0. Da |v(t)| = |at| < c sein muß, ist diese Formel nur im Zeitintervall
− ac < t < ac realistisch. Die Eigen-Zeit (144) ergibt sich in diesem Fall zu
τ (t) =
Z
s
s
at t
(at)2
(at)2 1
dt 1 − 2 =
.
1 − 2 + arcsin
c
2
c
2
c
In S würde zur Zeit t = ac die Lichtgeschwindigkeit erreicht. Dann wäre τ =
Uhr ginge aus Sicht von S immer langsamer und bliebe für t → ac stehen,
d
τ (t) =
dt
s
1−
(at)2
→ 0.
c2
(145)
πc
4a
< t. Die
(146)
32
Bsp. 2: Um einen Stern in Entfernung D von der Erde zu besuchen, starten wir mit
nahezu Lichtgeschwindigkeit c, bremsen zunächst langsam aber dann immer stärker ab,
um schließlich knapp vor dem Stern (im Abstand ℓ ≪ D) zum Stehen zu kommen und
die Rückreise zur Erde anzutreten,
x(t) = D −
q
ℓ2 + (ct)2 .
(147)
Der Betrag der Reisegeschwindigkeit im IS S (Erde) bleibt immer kleiner als c,
ct
.
v(t) ≡ ẋ(t) = −c q
(ct)2 + ℓ2
(148)
Die Zeitpunkte von Start und Rückkehr auf die Erde ergeben sich aus x(t) = 0 zu
tS,R = ±
∆t
,
2
∆t :=
2√ 2
D − ℓ2 .
c
(149)
Wir vergleichen die in S festgestellte Reisedauer ∆t mit dem Eigenzeitintervall
∆τ =
Z
+∆t/2
−∆t/2
s
2ℓ
v(t)2
arcsinh
dt 1 − 2 =
c
c
Hier wurde benutzt:
R
√ du
1+u2
s
D 2
ℓ
− 1.
(150)
= arcsinh(u). Für ℓ ≪ D gilt also
r 2
D
−1
arcsinh
ln 2D
arcsinh Dℓ
∆τ
ℓ
ℓ
r →
→ 0.
→
≡
D
D
2
∆t
D
ℓ
ℓ
−1
ℓ
33
(151)
Wir wollen nun untersuchen, für welchen Verlauf r = f (t) der Weltlinie eines Teilchens
zwischen zwei gegebenen Ereignissen A und B das Eigenzeit-Intervall
τAB =
Z
tB
tA
s
dt 1 −
h i
v(t)2
=:
F
f
c2
(152)
˙ mit fest vorgegebenen Randwerten f(tA ) = rA und
extremal wird. Dabei ist v(t) = f(t)
f(tB ) = r B der Funktion r = f (t). Variation bezüglich v(t) ergibt zunächst
h
i
h i
δτAB = F f + δf − F f
1
= − 2
c
Z
tB
tA
v(t) · δv(t)
dt q
.
2
1 − v(t)
2
c
(153)
Durch partielle Integration erhält man hieraus
δτAB
1
= + 2
c
Z
tB
tA

tB
v(t)
1 v(t) · δr(t) 
d
dt δr(t) · q
− 2 q
.
2
v(t)2
dt 1 − v(t)2
c
1
−
c
c2
t
(154)
A
Wegen δr(t) = 0 für t = tA,B verschwindet der zweite Term, sodaß die Forderung δτAB = 0
für beliebige Variationen δr(t) nur erfüllbar ist, wenn gilt
d
v(t)
q
= 0.
dt 1 − v(t)2 2
(155)
c
Der Ausdruck hinter d/dt muß also konstant sein. Dies ist nur möglich, wenn v(t) selbst
konstant, die Bewegung des Teilchens also gleichförmig ist. Es ergibt sich also zweierlei:
1. Die im Raum-Zeit-Diagramm kürzeste (d.h. geradlinige) Verbindung zweier Ereignisse
durch eine Weltlinie entspricht dem längstmöglichen Eigenzeit-Intervall. Dies ist nicht
überraschend, sondern lediglich die allgemeinste Formulierung des Zwillingsparadoxons !
2. Da die Maximierung des Ausdrucks (152) gerade die Bewegung (Weltlinie) eines freien
Teilchens liefert, ist zu vermuten, daß es sich bis auf eine (negative) Konstante um das
relativistische Wirkungsintegral handelt. Tatsächlich geht
L(r, ṙ) = −mc2
s
1−
v(t)2
= −mc2 + 21 mṙ 2 + O(ṙ4 )
c2
(156)
im Grenzfall v ≪ c (abgesehen von der Konstante −mc2 ) in die nicht-relativistische
Lagrange-Funktion Lnr (r, ṙ) = m2 ṙ2 des freien Teilchens über.
34
5.2
Die Vierer-Geschwindigkeit
Um aus dem 3D Geschwindigkeitsvektor die Vierergeschwindigkeit u, also einen Vierervektor mit korrektem Transformationsverhalten, zu gewinnen, benutzen wir, anstatt der
Größe ∆t in Gl. (140), das invariante Eigenzeitintervall ∆τ ,
u0
u
!
1
:=
∆τ
c∆t
∆r
!
1
=γ
∆t
c∆t
∆r
!
=γ
c
v
!
.
(157)
Man beachte, daß u ≈ v für v ≪ c. Die zeitliche Komponente u0 = γc scheint dagegen
keine konkrete Bedeutung zu haben.
An diesem Beispiel zeigt sich eine allgemeine Regel: Um zu einem nicht-relativistischen
“3-Vektor” v den zugehörigen 4-Vektor u√zu finden, muß man (i) v mit einer geeigneten
Funktion von β ≡ v/c (meistens von γ = 1 − β 2 ) multiplizieren (wodurch das Transformationsverhalten unter räumlichen Drehungen nicht beeinflußt wird) und (ii) die zeitliche
Komponente u0 ergänzen.
Das Skalarprodukt von u mit sich selbst hat den festen Wert
uν uν ≡ gµν uµ uν = (u0 )2 − u2 = γ 2 (c2 − v2 ) =
c2 − v 2
= c2 .
1 − v 2 /c2
(158)
Wegen uν uν > 0 wird u als zeitartiger 4-Vektor bezeichnet. Im Gegensatz dazu gilt für
den 4-Vektor x, dessen Komponenten durch die Koordinaten (ct, r) eines Punktereignisses
gegeben sind,
xν xν = c2 t2 − r 2 ,
(159)
was positiv, negativ oder gleich null sein kann.
35
5.3
Vierer-Impuls und Äquivalenz von Masse und Energie
Nach Einführung der 4-Geschwindigkeit u liegt es nahe, auch den Newtonschen Impuls
pN ≡ mv in entsprechender Weise zu einem 4-Vektor zu verallgemeinern, dem 4-Impuls
p. Als relativistische Version des Impulserhaltungssatzes versuchen wir:
Es gibt für jedes freie Teilchen einen charakteristischen Parameter m (seine Ruhmasse
– eine Bezeichnung, deren Sinn später klar wird), sodaß bei Stössen mit N0 einlaufenden
Teilchen (n = 1, ..., N0 ) und N auslaufenden Teilchen (n = N0 + 1, ..., N0 + N) stets gilt
X
pi =
i∈I
X
pj ,
(
pn ≡ mn un ,
j∈J
I = {1, ..., N0 },
J = {N0 + 1, ..., N0 + N}.
(160)
Der 4-Vektor p = mu heißt 4-Impuls des Teilchens mit Ruhmasse m und 4-Geschwindigkeit
u.
Die räumlichen Komponenten von Gl. (160),
X
i∈I
pi =
X
j∈J
pj ,
(161)
gehen für v ≪ c, γ → 1 über in den nicht-relativistischen Impulserhaltungssatz. Anders
als letzterer nimmt Gl. (160) aber auch in jedem anderen IS S ′ dieselbe Form an,
X
p′i =
i∈I
X
p′j .
(162)
j∈J
Tatsächlich erweist sich Gl. (160) als die korrekte relativistische Form der Impulserhaltung.
Was bedeutet jedoch deren zeitliche Komponente? Ihr c-faches lautet
X
i∈I
mi c2
q
1 − vi2 /c2
=
X
j∈J
mj c2
q
1 − vj2 /c2
.
(163)
Wir entwickeln für ein einzelnes Teilchen,
mc2
q
1 − v 2 /c2
= mc2 1 +
1 v2 3 v4
m 2 3m 4
2
+
+
...
=
mc
+
v + 2 v + ...
2 c2 8 c4
2
8c
(164)
Abgesehen von der Konstante mc2 ist dies seine nicht-relativistische kinetische Energie
1
mv 2 plus eine Reihe von relativistischen Korrekturtermen, die für v ≪ c vernachlässigbar
2
werden. Gl. (163) ist also die relativistische Version der Energieerhaltung bei einem Stoß.
36
Während bei elastischen Stößen (mit unveränderten Teilchen im auslaufenden Kanal)
die führenden Terme mi c2 bzw. mj c2 auf beiden Seiten von Gl. (163) herausfallen, haben
sie bei inelastischen Stößen eine überraschende Konsequenz. Wir betrachten dazu die in
Abb. 5.1 dargestellte Verschmelzung zweier gleicher Massen m zu einer Masse M.
m
m
v
−v
Abb. ??.1:
M
Da die Masse M nach dem Stoß in Ruhe ist, ergibt Gl. (163)
2mc2
q
1 − v 2 /c2
= Mc2
⇒
M > 2m.
(165)
Das zusammengesetzte Teilchen nach dem Stoß besitzt also eine größere Ruhmasse als
seine beiden (getrennten) Bestandteile! Dieses ungewöhnliche Resultat ist offenbar eine
unmittelbare Folge des Erhaltungssatzes (163). Als zeitliche Komponente von (160) ist
er unmittelbar verknüpft mit dessen räumlichen Komponenten (161). Soll (161) für alle
(elastischen und inelastischen) Stösse gelten (was wohl kaum jemand bezweifeln dürfte),
so muß zwangsläufig auch (163) universell gültig sein!
Obwohl also M in Gl. (165) nicht die Summe der Einzelmassen ist, beschreibt es
korrekt die Trägheitseigenschaft des zusammengesetzten Teilchens! Zur Verdeutlichung
betrachten wir ein anderes IS S ′ , in dem das zusammengesetzte Teilchen mit einer Geschwindigkeit w elastisch auf ein ruhendes Teilchen der gleichen Masse M stößt (Abb. 5.2).
Dann wird dieses nach dem Stoß die Geschwindigkeit w annehmen, während das zusammengesetzte Teilchen zur Ruhe kommt.
M
M
w
Abb. ??.2:
w
M
M
37
In der nicht-relativistischen Newtonschen Theorie gelten zwei unabhängige Erhaltungssätze – einer für die Summe der Ruhmassen und einer für die Summe aller kinetischen und potentiellen Energien. Dies würde im vorliegenden Beispiel bedeuten
2 ( 12 mv 2 ) =
1
kx2 ,
2
M = 2m.
(166)
In der SRT trägt jedoch die Spannungsenergie 12 kx2 der Feder zur Ruhmasse M bei,
sodaß M > 2m! Die Summe der Ruhmassen ist im allg. nicht erhalten. Zur Ruhmasse
eines zusammengesetzten Teilchens tragen gemäß der Einsteinschen Beziehung
E = mc2
(167)
neben den Ruhmassen seiner Komponenten auch sämtliche inneren Energien bei. Dazu
gehören thermische –, Anregungs–, Bindungsenergie, bzw. die kinetische– und Wechselwirkungsenergie der Komponenten. Nicht zu E zählt die potentielle Energie des Teilchens
im Feld einer äußeren Kraft, wie wir im folgenden Abschnitt 5.4 noch genauer sehen
werden.
Beispiel: β-Zerfall des Neutrons. 939.6 MeV → 938.3 MeV + 0.511 MeV + Ekin .
Zusammenfassung: Der 4-Impuls p eines Teilchens ist immer gegeben durch
p ≡ mu = m γ(v)
c
v
!
=
E/c
p
!
.
(168)
Dabei ist E die Ruh–, kinetische – und innere Energie des Teilchens (nicht jedoch seine
potentielle Energie in einem äußeren Feld). Der relativistische (3–) Impuls p ≡ mu ist
verschieden vom Newtonschen Impuls pN ≡ mv. Mit dem Skalarprodukt
m2 c2 ≡ pµ pµ = p0 p0 − p · p = E 2 /c2 − p2
(169)
gewinnen wir die relativistische Energie-Impuls-Beziehung:
E 2 = p2 c2 + m2 c4 .
(170)
38
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