5 Der quantenmechanische Hilbertraum

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Der quantenmechanische Hilbertraum
5.1
Die Wellenfunktion eines Teilchens
Der (Bewegungs-) Zustand eines Teilchens (Elektrons) zu einem Zeitpunkt t, in der klassischen Mechanik das Wertepaar (r, p) von Ort und Impuls des Teilchens, wird in der
Quantenmechanik beschrieben durch eine Wellenfunktion
ψ : R3 → C,
r 7→ ψ(r).
(122)
R
Diese muß quadratintegrabel sein, d3 r|ψ(r)|2 < +∞, und wird (gegebenenfalls durch
Einführung eines geeigneten Vorfaktors) auf eins normiert,
Z
d3 r|ψ(r)|2 = 1.
(123)
Wie der klassische Zustand (r, p), so variiert auch der Quantenzustand ψ(r) im allg. mit
der Zeit t (Abschnit 5.1.4). Dies führt auf eine kontinuierliche Schar ψt (r) von Wellenfunktionen. Nicht zuletzt im Hinblick auf die Spezielle Relativitätstheorie ist es sinnvoll,
den Scharparameter t als gleichberechtigte Variable neben r anzusehen, ψt (r) = ψ(r, t).
5.1.1
Wahrscheinlichkeits-Interpretation
In dem durch eine Wellenfunktion ψ(r) beschriebenen Quantenzustand ist der Ort r des
Teilchens nicht scharf bestimmt. Die nicht-negative Funktion ρ(r) := |ψ(r)|2 ist dabei die
W’keitsdichte seines Ortsvektors r. Die W’keit, das Teilchen nach Ortsmessung in einem
beliebig vorgegebenen Volumenbereich Ω zu finden, ist also gegeben durch das Integral
pΩ =
Z
d3 r|ψ(r)|2.
(124)
Ω
Bsp. 1: Mit r := |r| und einer beliebigen Konstante a gilt
Z
d3 r e−r/a =
Z
∞
0
dr (4πr 2 )e−r/a = 4πa3
Z
0
∞
du u2e−u = 8πa3 .
(125)
Daher ist eine korrekt normierte Wellenfunktion etwa gegeben durch
e−r/(2a)
.
ψ (a) (r) = √
8πa3
(126)
23
Die W’keitsdichte ρa (r) = |ψa (r)|2 hat die Eigenschaft
(a)
lim ρ (r) =
a→0
(
0 (r 6= 0),
∞ (r = 0).
(127)
R
Andererseits gilt d3 rρ(a) (r) = 1, für beliebiges a > 0. Daraus folgern wir, daß für jede
beliebige Funktion f (r) gelten muß,
lim
a→0
Z
d3 r ρ(a) (r − r0 ) f (r) = f (r0 ).
(128)
Der Grenzwert (127) ist also eine Darstellung der Diracschen Deltafunktion,
lim ρ(a) (r) = δ(r).
(129)
a→0
5.1.2
Vektorraum
Während in der klassischen Mechanik die Gesamtheit aller möglichen Zustände (r, p)
eines Teilchens den 6-dimensionalen Phasenraum bidet, sind die Elemente des quantenmechanischen Zustandsraumes H die quadratintegrablen Funktionen ψ : Rn → C.
Es gilt also H ⊂ F , wobei F die Menge aller beliebigen Funktionen ψ : Rn → C bezeichnet.
Mit beliebigen ψ1 , ψ2 ∈ H und λ1 , λ2 ∈ C ist stets auch die Linearkombination
ψ(r) = λ1 ψ1 (r) + λ2 ψ2 (r)
(130)
eine quadratintegrable Funktion. Dies folgt aus |ψ(r)| ≤ |λ1 ||ψ1 (r)| + |λ2 ||ψ2 (r)| und also
|ψ(r)|2 ≤ |λ1 |2 |ψ1 (r)|2 + |λ2 |2 |ψ2 (r)|2 .
(131)
Daher bildet H einen abstrakten Vektorraum über dem Körper C. (Die übrigen Kriterien
lassen sich leicht nachprüfen.)
Die Dimension dieses Vektorraums ist allerdings ∞! Um dies einzusehen, betrachten wir
die quadratintegrablen Funktionen ψn(a) (r) := r n e−r/2a (n = 1, 2, 3, ...),
Z
d3 r|ψn(a) (r)|2 =
Z
∞
dr (4πr 2 )r 2n e−r/a
0
2n+3
= 4πa
Z
0
∞
du u2n+2e−u = 4πa2n+3 (2n + 2)!
24
(132)
(a)
(a)
Das Funktionensystem {ψ1 , ..., ψN } ist für beliebig großes N ∈ N linear unabhängig,
denn die Nulldarstellung
(a)
(a)
0 = λ1 ψ1 (r) + ... + λN ψN (r) =
N
X
λn r n e−r/2a
n=1
(133)
ist nur mit den trivialen Koeffizienten λ1 = ... = λN = 0 möglich.
5.1.3
Wellenfunktionen als Einheitsvektoren
Wie wir in Abschnitt 5.3.1 sehen werden, ist in H durch die Vorschrift
hψ1 |ψ2 i :=
Z
d3 rψ1∗ (r)ψ2 (r)
(134)
ein Skalarprodukt erklärt (vgl. Abschnitt 5.2.3). Die Normierungsbedingung (123),
Z
d3 r|ψ(r)|2 = 1
⇔
hψ|ψi = 1,
(135)
bedeutet also, daß nur Vektoren ψ der “Länge” 1 eine Rolle spielen. Die Dynamik eines
Quantenteilchens spielt sich gewissermaßen auf der ∞-dimensionalen Oberfläche der “Einheitskugel” im Raum H ab. Wir wollen diese Aussage präzisieren.
5.1.4
Dynamik
In der klassischen Mechanik wird die zeitliche Entwicklung (r(t), p(t)) des Zustands (r, p)
eines Teilchens durch eine DGl (Bewegungsgleichung) bestimmt, die von erster Ordnung
in der Zeit t ist. Fassen wir (r, p) als 6-komponentigen Spaltenvektor ξ auf,1 so kann diese
Gleichung geschrieben werden in der Form
d
dt
r
p
!
=
∂
H(r, p)
∂p
∂
− ∂r H(r, p)
!
(136)
,
mit der Hamilton-Funktion H(r, p) des Teilchens. Ist diese bekannt, so wird ξ(t) für alle
t > t0 eindeutig durch ξ(t0 ) vorherbestimmt, da Gl. (136) von erster Ordnung in t ist
(Determinismus).
1
Hier ist DPh = 6 die Dimension des Phasenraums. Allgemein ist DPh = 2N D, wobei N die Anzahl
der Teilchen des Systems (hier: N = 1) und D seine räumliche Dimension (hier: D = 3) ist.
25
Bsp. 2: Beim harmonischen Oszillator mit D = 1 (also DPh = 2) gilt
H(x, p) =
mω 2 2
p2
+
x.
2m
2
(137)
Daher lautet Gl. (136) in diesem Fall
d
dt
x(t)
p(t)
!
ẋ(t)
ṗ(t)
≡
!
=
!
1
p(t)
m
2
−mω x(t)
(138)
,
Die durch die Anfangsbedingung {x(0) = x0 , p(0) = p0 } eindeutig bestimmte Lösung ist
x(t)
p(t)
!
=
p0
x0 cos(ωt) + mω
sin(ωt)
p0 cos(ωt) − mωx0 sin(ωt)
!
(139)
.
Auch in der Quantenmechanik wird die zeitliche Entwicklung ψ(r, t) des Zustands eines
Teilchens durch seinen Zustand ψ(r, 0) zur Zeit t = 0 eindeutig vorherbestimmt (sofern
das System nicht von außen gestört wird). Entsprechend genügt ψ(r, t) einer partiellen
DGl von erster Ordnung in der Zeit t, der sog. Schrödinger-Gleichung,
ih̄
∂
ψ(r, t) = Ĥψ(r, t)
∂t
(D = 3).
(140)
Der Hamilton-Operator Ĥ ist allgemein ein hermitescher linearer Operator (Kapitel 7),
der aus der klassischen Hamiltonfunktion H(r, p) des jeweiligen Systems abgeleitet wird.
p2
+V (r) ersetzt durch
Dazu werden die drei klassischen Variablem px , py , pz in H(r, p) = 2m
die drei Komponenten p̂x , p̂y , p̂z des quantenmechanischen Impulsoperators p̂,




∂
−ih̄ ∂x
p̂x
 

∂ 
p̂ :=  p̂y  =  −ih̄ ∂y 
∂
p̂z
−ih̄ ∂z
⇒
2
p̂ :=
p̂2x + p̂2y + p̂2z
h̄2 ∂ 2
∂2
∂2 =−
.(141)
+
+
2m ∂x2 ∂y 2 ∂z 2
Bsp. 3a: Im Fall des harmonischen Oszillators mit D = 1 gilt
mω 2 2
h̄2 ∂ 2
+
x
Ĥ = −
2m ∂x2
2
(142)
und die Schrödinger-Gleichung (140) lautet explizit
ih̄
∂
h̄2 ∂ 2 ψ(x, t) mω 2 2
ψ(x, t) = −
+
x ψ(x, t).
∂t
2m ∂x2
2
26
(143)
Man kann zeigen, daß die partielle DGl (140) zu jeder Anfangsbedingung
ψ(r, t)
(t=0)
= ψ0 (r),
(144)
mit beliebig vorgegebener Funktion ψ0 (r), eine eindeutig bestimmte Lösung ψ(r, t) hat.
Bsp. 3b: Die Schrödinger-Gleichung (143) hat zur speziellen Anfangsbedingung
e−x
2 /2a2
ψ0 (x) = q √ ,
a π
a :=
s
h̄
mω
(145)
die eindeutige Lösung
ψ(x, t) = ψ0 (x) eiωt/2 .
(146)
Es handelt sich um den speziellen Fall einer stationären Lösung, denn wegen |eiωt/2 | = 1
ist die W’keitsdichte ρ(x, t) := |ψ(x, t)|2 = |ψ0 (x)|2 zeitlich konstant.
Die Hermitezität von Ĥ garantiert, daß sich bei der zeitlichen Entwicklung der Wellend R 3
funktion ψ(r, t) gemäß Gl. (140) deren Norm nicht ändert, dt
d r|ψ(r, t)|2 = 0.
Bsp. 3c: Im Fall des harmonischen Oszillators mit D = 1 haben wir
d
ih̄
dt
Z
∞
−∞
dx|ψ(x, t)|
2
Z
i
∂h ∗
ψ (x, t)ψ(x, t)
∂t
−∞
Z ∞
Z ∞
h ∂ψ i∗
h ∂ψ i
= −
dx ih̄
ψ+
dx ψ ∗ ih̄
∂t}
−∞
−∞
| {z
| {z∂t}
=
∞
dx ih̄
Ĥψ
2
= +
h̄
2m
Z
∞
−∞
Ĥψ
2
dx
∂2 ψ∗
h̄
ψ−
2
∂x
2m
Z
∞
−∞
dx ψ ∗
∂2ψ
.
∂x2
(147)
Für x → ±∞ muß gelten: ψ ∗ ∂ψ
→ 0. Daher liefert partielle Integration schließlich
∂x
h̄2 Z ∞
∂ψ ∗ ∂ψ
∂ψ ∗ ∂ψ
h̄2 Z ∞
d Z∞
2
dx|ψ(x, t)| = −
dx
dx
+
= 0.
ih̄
dt −∞
2m −∞
∂x ∂x 2m −∞
∂x ∂x
27
(148)
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