Rechenmethoden der Physik Prof. Dr. Jochen Wambach WS 2004/05 Vorbemerkungen zum Kurs: Anliegen: Diese Vorlesung soll helfen, das mathematische Rüstzeug und den rechnerischen Umgang damit für die Vorlesungen in der Physik im 1. und 2. Studienjahr bereitzustellen. Es handelt sich nicht um eine Mathematikvorlesung und sollte diese keinesfalls ersetzen! Wenn zur Veranschaulichung nötig wird auf einfache physikalische Beispiele, die aus der Schule geläufig sein sollten, zurückgegriffen. Die zweistündige Übung zum Stoff der Vorlesung ist fast wichtiger als die Vorlesung selbst. Für die Bestätigung der erfolgreichen Teilnahme an Vorlesung und Übungen müssen am Ende eine 2stündige Klasur geschrieben und die Übungleistungen der Hausübungen erbracht werden. Falls 50% der Hausübungen korrekt gelöst werden, korrigieren diese dann die Klausurnote um eine halbe Note nach oben und können somit über die erfolgreiche Teilnahme mitentscheiden. Da es sich in diesem Kurs um eine Studienleistung handelt, ist die Endnote zur Selbsteinschätzung gedacht. Voraussetzung: Differential- und Integralrechung aus der Oberstufe. Manches wird sicherlich eine Wiederholung sein, zumindest am Anfang. Aber das macht nichts: Man übt die Dinge ein, indem man sie öfters wiederholt und in verschiedenem Kontext erneut diskutiert. Dabei kann die Vorlesung nur Anregung zum Selbststudium! sein. Literaturverzeichnis [1] Kallenrode, Rechenmethoden der Physik. Mathematischer Begleiter zur Experimentalphysik, Springer Akademie-Verlag, Berlin [2] Wong, Mathematische Physik. Konzepte, Methoden, Übungen, Spektrum Verlag [3] Großmann, Mathematischer Einführungskurs für die Physik Teubner Studienbücher [4] Timker/Lambourne, Further Mathematics for the Physical Sciences Wiley & Sons, New York [5] Joos, Lehrbuch der Theoretischen Physik darin: Bd. I, Mathematische Hilfsmittel Aula [6] Greiner, Theoretische Physik, Bd. I Mechanik darin: Vektorechnung bis zu den Raumintegralen Harri Deutscher [7] Dransfeld/Kienle/Kalvius, Physik I darin: Hinweise zu Lehrbüchern zur mathematischen Einführung S.66/67 Oldenburg ii Inhalt 1 Vektoren im Raum 1.1 Vektoren im Raum . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Vektoralgebra . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Skalarprodukt und die Geometrie des 1.2.2 Vektorprodukt . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Spatprodukt . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Dreifaches Vektorprodukt . . . . . . . . . . . . . . . . Raumes . . . . . . . . . . . . . . . 2 Differentiation von Feldern 2.1 Ableitung eines Vektors nach einem Skalar . . . 2.2 Vektorielle Differentiation eines skalaren Feldes . 2.3 Der Gradientenoperator . . . . . . . . . . . . . 2.4 Der Laplace-Operator ∆ . . . . . . . . . . . . . 2.5 Vektorielle Differentiation eines Vektorfeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 5 5 8 9 10 . . . . . 12 12 13 15 19 20 3 Krummlinige Koordinatensysteme 24 3.1 Allgemeine Festlegung der Basisvektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.2 Zylinderkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.3 Kugelkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 4 Differentialoperatoren in krummlinigen Koordinaten 30 4.1 Vektorielle Differentialoperatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 5 Kurven-, Oberflächen- und Raumintegrale 5.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Kurvenintegrale von Skalar- und Vektorfeldern 5.3 Flächenintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Raum- oder Volumenintegrale . . . . . . . . . 5.5 Integralsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Der Gauß’sche Satz . . . . . . . . . . . 5.5.2 Green’scher Integralsatz . . . . . . . . 5.5.3 Satz von Stokes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 36 37 40 45 46 46 49 50 6 Differentialgleichungen 6.1 Gewöhnliche Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Differentialgleichungen erster Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Differentialgleichungen zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 52 53 57 iii . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 1 Vektoren im Raum 1.1 Vektoren im Raum Die Physik beschäftigt sich mit Ereignissen in Raum und Zeit. Gestützt auf alltägliche Erfahrungen wird in der Newtonschen Mechanik die Zeit als unabhängig vom Raum betrachtet und durch reelle Zahlen beschrieben. Reelle Zahlen werden auch als Skalare bezeichnet. Der dreidimensionale Raum ist unendlich ausgedehnt und wird durch eine Breite, Höhe und Tiefe charakterisiert. z z P ~ r y y x x Deshalb wird zur Beschreibung eines Punktes im Raum ein Tripel von Zahlen, ein Vektor benötigt: ~r = (x, y, z) . (1.1) Ein Vektor zeichnet sich durch seine Länge und Richtung aus. Aus der elementaren Geometrie ist bekannt, dass die Länge von ~r durch p r = |~r| = x2 + y 2 + z 2 ≥ 0 (1.2) gegeben ist. Die Richtung wird durch den Einheitsvektor ~er = ~r/r (1.3) bestimmt. Die Angabe von ~r durch ein Zahlentripel oder durch Betrag (Länge) und Richtung sind äquivalente Darstellungsweisen. Neben dem Ortsvektor treten in der Physik andere Vektoren auf, wie z.B. der Geschwindigkeitsund Beschleunigungsvektor, der Kraftvektor, die elektrische Feldstärke, etc. Auch für diese gilt, dass sie durch Angabe von Betrag und Richtung eindeutig bestimmt sind. 1 z In Analogie zum Ortsvektor lassen sie sich geometrisch darstellen. ~ a ~a ist eine gerichtete Strecke bestimmter Länge |~a| = a ≥ 0 ist die Länge von ~a |~a| = | − ~a|, aber −~a hat die umgekehrte Richtung B A ~b ~ a ~a 6= ~b, da |~a| = 6 |~b| . ~ a ~b ~a 6= ~b, da |~a| = 6 |~b| und Richtungen verschieden . Wie mit reellen Zahlen lassen sich auch mit Vektoren Rechenoperationen durchführen. Die einfachste ist die Addition zweier Vektoren, die sich geometrisch interpretieren lässt. Beispiel: Wir betrachten die Verschiebung eines Teilchens in der Ebene: B ~b C Die Verschiebung AC (Vektor ~c) ist gleich der ‘Summe’ der Verschiebungen von A nach B (Vektor ~a) und B nach C (Vektor ~b) ~a + ~b = ~c . (1.4) ~ c ~ a A Dies ist keine algebraische Summe, d.h. Verschiebungen sind nicht durch Zahlen gekennzeichnet. Dies lässt sich sofort auf drei Dimensionen erweitern und liefert folgende geometrische Konstruktionsvorschrift für die Summe zweier Vektoren: ~b ~b ~ a ~ c ~ c d~ ~ a ~ e Man setze ~b an die Spitze von ~a und konstruiere ~c als die Resultierende. Die Verallgemeinerung auf eine beliebige Anzahl von Vektoren ist evident. Aus dem bisher Gesagten lassen sich zwei wichtige Eigenschaften von Vektoren folgern: ~ a ~b ~a + ~b = ~b + ~a (kommutativ) ~ c ~b ~ a 2 ~b ~ c ~ a + ~b ~ a d~ = (~a+~b)+~c = ~a+(~b+~c) (assoziativ) ~b + ~ c d~ Wir können auch leicht die Länge des Summenvektors ~c geometrisch berechnen: C ~ c ~b θ ~ a A B D ~c = ~a + ~b, |~c| = c =? geometrische Konstruktion: (AC)2 = (AD)2 + (DC)2 AD = AB + BD = a + b cos θ, DC = b sin θ ⇒ c2 = (a + b cos θ)2 + (b sin θ)2 = a2 + 2ab cos θ + b2 √ ⇒ c = a2 + 2ab cos θ + b2 Die Subtraktion zweier Vektoren ~a − ~b ist definiert als die Addition von −~b zu ~a: ~a − ~b ≡ ~a + (−~b) (1.5) Daraus ergibt sich der Nullvektor als Spezialfall, wenn ~b = −~a ist: ~a − ~a = ~0 (1.6) Neben der Addition und Subtraktion können wir einen Vektor auch mit einer reellen Zahl (Skalar) multiplizieren: ~b = λ~a, mit λ ~ > 0 : b hat gleiche Richtung wie ~a ~ < 0 : b ist ~a entgegengesetzt ~b ~ a ~b ~ a und schließlich, in Verallgemeinerung des Ortsvektors, einen Einheitsvektor ~ea definieren: ~ea = ~a/|~a|, ⇒ |~ea | = 1 . Dies ist also ein Vektor vom Betrag eins in Richtung von ~a. Einheitsvektoren werden in der Physik häufig dazu benutzt, einer skalar formulierten Gleichung eine Richtung zuzuordnen. 1. Newtonsche Graviationskraft einer Masse M auf eine Masse m im Abstand ~r: ~ r ~ er M m FG = −G mM mit Gravitationskonstante G. r2 Sie wirkt entlang der Verbindungslinie ~r, also ~ r = −G mM ~e . F~G = −G mM r 2 |~ r| r2 r 3 2. Coulombkraft einer Ladung q1 auf q2 ~ r q2 1 q1 q2 er . Analog: F~C = 4πǫ 2 ~ 0 r Beachte: Vorzeichen ± je nachdem, ob sich Ladungen anziehen oder abstoßen. ~ er q1 Eine der wohl wichtigsten Anwendungen von Einheitsvektoren ist jedoch die Festlegung von Koordinatensystemen, die als Bezugssysteme“ für die Beschreibung physikalischer Vorgänge ” dienen. Wir behandeln zunächst den einfachsten Fall eines rechtwinkligen (kartesischen) Koordinatensystems. Dazu definieren wir drei Einheitsvektoren in Richtung der positiven x-, ybzw. z- Achse. Dies bezeichnet man auch als Rechtssystem. ~ ez ~ ey ~ ex ~ ey ~ ez ~ ex Rechtssystem ~ez zeigt in Richtung einer Rechtsschraube, wenn ~ex → ~ey auf dem kürzesten Weg gedreht wird. Linkssystem ~ez zeigt in Richtung einer Linksschraube, wenn ~ex → ~ey auf dem kürzesten Weg gedreht wird. Nach dem bisher Gesagten ist dann klar, dass sich der Ortsvektor wie folgt ‘zerlegen’ lässt: ~r = (x, y, z) = x~ex + y~ey + z~ez = x1~e1 + x2~e2 + x3~e3 = (x1 , x2 , x3 ) , (1.7) Mit Hilfe der drei Einheitsvetoren ~ei lässt sich natürlich auch jeder andere Vektor ~a darstellen als 3 X ~a = a1~e1 + a2~e2 + a3~e3 = ai~ei (1.8) i=1 und analog zu (1.3) ~a = a~ea . (1.9) Oft führt man für die Summe in (1.8) eine ‘Kurzschreibweise’ ein, die als ’Einsteinsche Summenkonvention’ bezeichnet wird 3 X ai~ei ≡ ai~ei , (1.10) i=1 d.h. über gleiche Indizes ist zu summieren! 4 1.2 Vektoralgebra Die Grundoperationen des vorigen Abschnitts sind durch die Vektoralgebra definiert, die die elementaren ‘Rechenregeln’ zum Umgang mit Vektoren angibt. Mit dem bisher Gesagten 1. Addition von Vektoren ~c = ~a + ~b = (ax + bx , ay + by , az + bz ) = (ai + bi )~ei . (1.11) 2. Multiplikation mit einem Skalar ~c = λ~a = (λax , λay , λaz ) = (λai )~ei λ∈R. (1.12) Wir sprechen von einer Algebra, wenn die Resultate dieser beiden Operationen wieder Vektoren sind. Der Nullvektor ist wie folgt definiert: ~0 = 0~e1 + 0~e2 + 0~e3 = (0, 0, 0) . (1.13) Daraus ergibt sich der zu ~a inverse Vektor (bzgl. der Addition), (−~a), durch ~a + (−~a) = ~0 , (1.14) (−~a) = −a1~e1 − a2~e2 − a3~e3 . (1.15) d.h. Gleichung (1.2) zeigt, dass (−~a) die gleiche Länge wie ~a hat. Da ~a und (−~a) entgegengesetzt gerichtet sind gilt ~e−a = −~ea . (1.16) 1.2.1 Skalarprodukt und die Geometrie des Raumes Die Beschreibung von ~a durch seine Länge und Richtung ~ea ist geometrisch, denn die Geometrie beschäftigt sich mit Maßen und Formen. Der Begriff der Länge ist ein Spezialfall des Skalarproduktes zweier Vektoren ~a und ~b. Dabei handelt es sich um eine reelle Zahl, die sich unter Koordinatentransformationen nicht ändert. A priori ist die ‘Multiplikation’ zweier Vektoren unklar und lässt Spielraum für sinnvolle Definitionen (Skalarprodukt und Vektorprodukt). Wir beginnen mit der geometrischen Definition des Skalarproduktes ~a · ~b = ab cos ϕ . (1.17) Die anschauliche Bedeutung ist die ‘Projektion von ~b auf ~a, multipliziert mit | ~a | oder umgekehrt. Sofort einsichtige Eigenschaften sind: 1. ~a · ~b = ab, falls ϕ = 0 2. ~a · ~b = −ab, falls ϕ = π 3. ~a · ~b = 0, falls ϕ = π/2 . 5 Mit Hilfe von Einheitsvektoren lässt sich das Skalarprodukt auch in Komponenten darstellen. Mit ~a = a1~e1 + a2~e2 + a3~e3 und der entsprechenden Zerlegung von ~b ergibt sich dann mit ~e1 · ~e1 = 1, ~e1 · ~e2 = 0 etc. . (1.18) Oder kompakt 1 für i = j 0 für i 6= j (1.19) ~a · ~b ≡ a1 b1 + a2 b2 + a3 b3 = ai bi . (1.20) ~ei · ~ej = δij , δij = wobei δij als ‘Kronecker-Delta’ bezeichnet wird, Mit dieser Beobachtung und der Eigenschaften der Summenbildung lassen sich leicht folgende Rechenregeln beweisen: ~a · ~b = ~b · ~a , ~a · (~b + ~c) = ~a · ~b + ~a · ~c . (1.21) Für die Länge von ~a gilt mit (1.17) a2 = ~a · ~a ≡ a2x + a2y + a2z = ai ai (1.22) q a =| ~a |= a2x + a2y + a2z . (1.23) dann Auch der Begriff der Richtung lässt sich leicht erklären. Der Einfachkeit halber betrachten wir einen zweidimensionalen Raum (Ebene) und zerlegen ~ea in seine Komponenten x und y bezüglich ~ex und ~ey y ~ ey ~ ea Θay Θax ~ ex x ~ea = cos(Θax )~ex + sin(Θax )~ey = cos(Θax )~ex + cos(Θay )~ey . (1.24) Dabei ist Θai der Richtungswinkel zwischen ~ea und der i-ten Achse. Die Komponenten von ~ea heißen Richtungskosinus. Diese Betrachtung lässt sich sofort auf den dreidimensionalen Raum übertragen und es gilt ~ea = cos(Θax )~ex + cos(Θay )~ey + cos(Θaz )~ez . (1.25) Mit ~ei ·~ej = δij kann jeder Richtungskosinus in (1.24) durch Bildung des Skalarproduktes isoliert werden, z.B. ~ea · ~ex = cos(Θax )~ex + cos(Θay )~ey + cos(Θaz )~ez · ~ex = cos(Θax ) . (1.26) 6