11. Fachtagung Palliative Geriatrie Berlin 30.09.2016 Ethisch-moralische Situationen …. im Leben eines Menschen mit Demenz. Wenn Selbstbestimmung Leiden verursacht. 11. Fachtagung Palliative Geriatrie, Berlin 30. September 2016: Session I 27.09.2016 Ursa Neuhaus 1 Zentrum Schönberg – ein Kompetenzzentrum für heute und morgen Demenz und Palliative Care Ursa Neuhaus, Leiterin Bildung, Zentrum Schönberg AG Zentrum Schönberg www.zentrumschoenberg.ch | [email protected] +41 31 388 66 11 Ursa Neuhaus, Bern Schweiz 1 11. Fachtagung Palliative Geriatrie Berlin 30.09.2016 Verlauf • • • • • • • • Ethisch-moralische Situationen Drei Geschichten Die Suche nach einem Entscheidungsfindungsmodell Der Prozess der Entscheidung – das Modell in 8 Schritten Anleitung zur Umsetzung Verstehen und Erzählen Das Gute Kritisches Nachdenken Ethisch-moralische Situationen Spannungsfelder prägen moralische Situationen: • Individuelles Wohl versus Sicherheit • Berufskodex der Pflege versus persönliche Werte • Ökonomische und strukturelle Organisationswerte versus persönliche berufliche Ansprüche an die Betreuung Wie können wir im Berufsalltag ethisch-moralische Situationen entdecken und erkennen? Ursa Neuhaus, Bern Schweiz 2 11. Fachtagung Palliative Geriatrie Berlin 30.09.2016 Drei Geschichten • Frau Portmann • Herr Boren • Frau Schlegel 27.09.2016 Ursa Neuhaus 5 Die Suche nach einem Entscheidungsfindungsmodell Wie können wir ethisch-moralische Situationen im Berufsalltag erkennen? Ethisch-moralische Situationen Wie kommen wir zu einer richtigen bzw. guten Lösung für die Betroffenen in der Situation? Wie können wir den Entscheidungsprozess während des Berufsalltag umsetzen? 27.09.2016 Ursa Neuhaus, Bern Schweiz Ursa Neuhaus 6 3 11. Fachtagung Palliative Geriatrie Berlin 30.09.2016 Der Prozess der Entscheidung – das Modell in 8 Schritten Eine ethische Entscheidungsfindung nach Neuhaus (2015) beginnt mit der Wahrnehmung und daran anknüpfenden Gefühle, Empfindungen und Ahnungen und endet mit dem aus der Situation gelernten Konsequenzen. • • • • • • • • Schritt 1 Situation beschreiben Schritt 2 Einflussfaktoren aufzeigen Schritt 3 Ethische Aspekte bezeichnen Schritt 4 Entscheidungsperson bestimmen Schritt 5 Handlungsmöglichkeiten beschreiben Schritt 6 Entscheidung durchführen Schritt 7 Handlung reflektieren Schritt 8 Konsequenzen ableiten Der Entscheidungsfindungsprozess – Schritt 1 + 2 Schritt 1 Situation beschreiben • Von der Ahnung zur Wahrnehmung. • Oft sind es Empfindungen und Gefühle, die uns auf eine moralische Situation aufmerksam machen. • Durch das Erzählen steigen unsere Gefühle und Empfindungen ins Bewusstsein (Steiner 1894/1978). Die Aufmerksamkeit lässt uns aufmerken (Waldenfels, 2004) um Unerwartetes als Kontrast zum Gewohnten zu bemerken. Schritt 2 Einflussfaktoren aufzeigen • Von der Wahrnehmung zum Verstehen. • Auf der Suche nach weiteren Details und anderen Perspektiven. • Konkrete Inhalte aus dem Alltag sollen so vertieft werden (Steiner 1894/1978), dass Hintergründe entdeckt und die Bedeutung der Situation durch die Perspektivenerweiterung besser verstanden werden können. Ursa Neuhaus, Bern Schweiz 4 11. Fachtagung Palliative Geriatrie Berlin 30.09.2016 Der Entscheidungsfindungsprozess – Schritt 3 Schritt 3 Ethische Aspekte bezeichnen • Vom Verstehen zur moralischen Kernfrage. • Durch die Vertiefung in neue Erkenntnisse beginnen wir das neue Wissen mit unserem Fachwissen, zum Beispiel auch in ethischen Theorien oder unserem Erfahrungsschatz, zu verbinden. • Wir können in das Denken untertauchen, um weitere Anregungen für die Erkenntnis aufnehmen zu können. Nach Steiner ist dies die Kraft der Liebe oder der Sorge um den andern in geistiger Art (1894/1978). • Es ist der Beginn der empathischen Gefühle durch die Vertiefung. • Dadurch bekommen wir ein Verständnis für die Welt, um an der Situation aufwachen zu können (Waldenfels 2012). Der Entscheidungsfindungsprozess – Schritt 4 Schritt 4 Entscheidungsperson oder Entscheidungspersonen bestimmen • Von der Kernfrage zum ethischen Individualismus und zur verantwortungsvollen Selbstbestimmung. • In jeder Situation finden wir Betroffene, die die Konsequenzen aus einer Entscheidung tragen werden und die darum auch alleine oder mit andern entscheiden sollen. • Bei der Entscheidungsfindung ist es wichtig zu wissen, wer die Entscheidung letztendlich treffen muss. Damit diese Person oder diese Personen aus Freiheit verantwortungsvoll und authentisch handeln können (Steiner, 1894/1978), müssen sie Beteiligte sein oder werden und Erkennen und Verstehen können. Ursa Neuhaus, Bern Schweiz 5 11. Fachtagung Palliative Geriatrie Berlin 30.09.2016 Der Entscheidungsfindungsprozess – Schritt 5 + 6 Schritt 5 Handlungsmöglichkeiten beschreiben • Vom Individualismus zu möglichen Handlungen. Das Gegebene bildet den Ausgangspunkt für das was werden möchte. • Konsequenzen aus dem Erkennen ziehen wir dann, wenn wir beginnen die gegebene Situation zu bewegen, zu verändern und umzugestalten. Neue mögliche Handlungen werden gesucht, Alternativen abgewogen und die Vielfalt von Handlungen aufgezeigt. Schritt 6 Entscheidung durchführen • Aus der Vielfalt der Möglichkeiten gilt es mit der Entscheidungsperson oder den Entscheidungspersonen die bestmögliche Handlung durchzuführen. Der Entscheidungsfindungsprozess – Schritt 7 + 8 Schritt 7 Handlung reflektieren • Nach der Durchführung zur Reflexion. • Die Reflexion über die Situation ist als bedeutsamen Schritt im Erkenntnisprozess zu betrachten. Durch die Reflexion wird das Denken beweglicher und ermöglicht, dass auch Unmögliches gedacht werden kann. Nachdenken und Reflektieren sind demnach für die Durchdringung einer Situation sehr wichtig. Schritt 8 Konsequenzen ableiten • Aus der Reflexion zu den Konsequenzen. • Das Nachdenken soll nicht nur die Vergangenheit sondern auch die Zukunft beleuchten. Die Situation kann dadurch auch in den Zusammenhang mit einer Organisation gebracht werden. Denn wie Heller und Krobath schreiben: „Es sind vor allem die Prozesse der Auseinandersetzung, die strukturiert und anlassbezogen stattfinden müssen, die die Wirksamkeit von Ethik in der Organisation befördern (2010, 61).“ • Die praktische Klugheit, die Phronesis nach Aristoteles, ist gefragt. Ursa Neuhaus, Bern Schweiz 6 11. Fachtagung Palliative Geriatrie Berlin 30.09.2016 Anleitung zur Umsetzung • • • • • • Eine Kultur der Reflexion Die Fähigkeit ein ethisches Argument zu formulieren Das Modell als Rahmen für ethische Fachgespräch Die Moderation des Fachgesprächs Das Protokollieren des Fachgesprächs Die regelmässige Durchführung von Fachgesprächen oder auch für schwierige Situationen im Alltag. Verstehen und Erzählen In der Auseinandersetzung, wie dieses Modell in der Praxis umgesetzt werden kann untersuchte ich das Verstehen und Erzählen. • Der Prozess des Verstehens ist vielfältig. Er kann analytisch, systemisch oder ganzheitlich geschehen, doch die klinische Erfahrung zeigt, dass praktisch tätige Menschen im Alltag oft unterschiedliche Methoden nebeneinander wählen, um zu einer guten Lösung zu kommen (Schrems 2013). Die Hermeneutik, die Kunst des Verstehens, kommt diesem Prozess als theoretische Grundlage nahe. • Den Wert des Narrativen wird u.a. von Paul Ricoeurs beschrieben. „Der wichtigste Unterschied, ... besteht darin, dass Menschen nur in einem sehr eingeschränkten Sinn die Autoren ihrer eigenen Lebensgeschichte genannt werden können. Anfang und Ende der eigenen Lebensgeschichte sind jedem Menschen narrativ entzogen – und vielleicht deshalb auch so schwer zu verstehen (Jung 2002, 146f).“ Die Leistung des Verstehens liegt demnach beim Erzähler oder bei der Erzählerin und nicht beim Menschen um den es sich handelt. Ursa Neuhaus, Bern Schweiz 7 11. Fachtagung Palliative Geriatrie Berlin 30.09.2016 Das Gute • Das Gute ist eine auf Gründen beruhende Bewertung, die von moralischer und nicht-moralischer Art sein kann (Foot 2004, 45). Gut ist, was lebensnotwendig ist. Es ist jedoch nicht die simple Lebensnotwendigkeit, sondern die, welche auf die Erhaltung des eigenen Gutes, des Wertes, hinblickt. Werte zeugen von Moral und sind also Teil unserer Natur als Vernunftwesen. Im Guten versteckt sich eine Vielzahl von Werten, Qualitäten und Besonderheiten. Darum ist das Gute auch nicht einfach zu finden und kann für eine Situation meist erst im Dialog mit den andern Beteiligten gefunden werden. Beim Guten ist es der „höchstmögliche Grad der Umsetzung“ in der Handlung, der dem Guten den Wert gibt (Birkenstock 2014, 214). Kritisches Nachdenken • Bereits 2009 habe ich das Modell in einer ersten Version ausgearbeitet und angewendet. Es erwies sich für Pflegende als guter Rahmen auf der Suche nach der bestmöglichen Lösung einer Situation. Eine detailliertere Anleitung für die Praxis mit Beispielen könnte jedoch das Modell für die Umsetzung noch tauglicher machen. • Die Ausarbeitung des Erkenntnisprozesses über die Handlung und bis zu den daraus folgenden Konsequenzen führte mich in eine dichte theoretische Welt, die ich weiter verfolgen werde. • Bedeutsam ist für mich immer noch der Schritt vier, der den ethischen Individualismus einerseits stützt, indem die für die Situation entscheidende Person gesucht wird. Andererseits bleibt der Kontext einer Situation immer im Blickwinkel. Im Team, bestmöglich im interdisziplinären Team, kann so Sorge für eine gute Lösung getragen werden. Ursa Neuhaus, Bern Schweiz 8 11. Fachtagung Palliative Geriatrie Berlin 30.09.2016 Schluss Der Bioethiker und Medizinethiker, Professor Giovanni Maio, schrieb (2015): • In einer von Ökonomie und Effizienz geprägten Zeit wird die Gabe, das Geben, immer mehr durch den Tausch ersetzt. Dies gilt auch und insbesondere für die Medizin. Heute ist das Geben von Aufmerksamkeit und Zeit, von Wertschätzung und authentischer Sorge um den Menschen eher die Ausnahme als die Regel. Literatur • • • • • • • • • • • Birkenstock, E. (2014): Mut zur gut begründeten Entscheidung. In: Becker, St., Brandenburg, H. Lehrbuch Gerontologie. Bern: Huber. Foot, Ph. (2004): Die Natur des Guten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Heller, A., Krobath, Th. (2010): Organisationsethik – eine kleine Epistemiologie. In: Krobath, Th., Heller, A. (Hg.): Handbuch der Organisationsethik. Freiburg i.Br.: Lambertus, 43-70. Jung, M. (2002, 2. Auflage): Hermeneutik. Hamburg: Junus. Maio, G. (Hg.) (2015, 2. Auflage): Ethik der Gabe. Humane Medizin zwischen Leistungserbringung und Sorge um den Andern. Freiburg: Herder. Neuhaus, U. (2015): Die ethische Entscheidungsfindung – das 8 Schritte Modell. Bern: ursa.neuhaus(at)bluewin.ch. Schrems, B. (2013): Fallarbeit in der Pflege. Wien: Facultas.wuv. Siep, L. (2004): Konkrete Ethik. Grundlagen der natur- und Kulturethik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Steiner, R. (1894/1978, 14. Auflage): Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Dornach: Rudolf Steiner Verlag. Waldenfels, B. (2004): Die Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt a.M.: Surhkamp. Waldenfels, B. (2012, 4. Auflage): Grundmotive einer Phänomenologoie des Fremden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 27.09.2016 Ursa Neuhaus, Bern Schweiz Ursa Neuhaus 18 9