Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung 1. Parlamentarismus und Regierungssysteme - Definition und Abgrenzung Zunächst muss zwischen zwei Parlamentarismusbegriffen unterschieden werden:1 1. Ein sehr weit gefasster Parlamentarismusbegriff nämlich, unter dem sämtliche Systeme zusammengefasst werden können, in denen ein Parlament existiert gleich welche Position es einnimmt und welche Funktionen es erfüllt. Zum einen schließt ein solcher Begriff die historischen Erscheinungsformen des Parlamentarismus mit ein: Engerer Parlamentarismus -begriff „Bis Ende des 18. Jahrhunderts repräsentierte ein Parlament privilegierte Interessen, die zwecks Geltendmachung ihres privilegierten Status das Recht auf Repräsentation beanspruchten. Die Redewendung ,ein demokratisches Parlament' stellte ein Paradoxon dar."2 Zum anderen erfüllt der Nationalsozialismus mit seinem „teuersten Gesangverein“ die Bedingungen dieses Begriffes ebenso wie die UdSSR z. B. während der Stalin-Ära. Westliche Demokratien fallen genauso darunter wie autoritäre Entwicklungsländer. „Der Umstand, dass die Redewendung ,ein demokratisches Parlament` sich im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte aus einem Paradoxon in einen Pleonasmus verwandelt hat,"3 macht deutlich, dass dieser Parlamentarismusbegriff heute unbrauchbar ist, weil er viel zu weit gefasst ist - es sei denn, man benötigt ihn zur Apologie gewisser Systeme. Dass er weitestgehend aus der Mode gekommen ist, liegt an seiner Unbrauchbarkeit. 2. Ein zweiter, engerer Parlamentarismusbegriff gibt sieh nicht zufrieden mit der Existenz eines machtlosen, die jeweiligen Herrschaftsgruppen nur „legitimierenden“ Parlaments. Hier wird verlangt, dass dem Parlament entweder exklusive Rechte oder zumindest Vetofunktionen in bestimmten politisch relevanten Bereichen- z.B. der Gesetzgebung, der Etatbewilligung oder der Regierungskontrolle - zustehen. Außerdem wird vorausgesetzt, dass das Parlament aus freien Wahlen hervorgegangen ist. Oder in der einprägsamen Definition Ernst Fraenkels: Weiterer Parlamentarismus -begriff „Das moderne Parlament ist ein in der Regel aus allgemeinen, auf regionaler Basis durchgeführten Wahlen hervorgehendes, vornehmlich mit höchster gesetzgeberischer Zuständigkeit ausgestattetes Staatsorgan, das aus Repräsentanten des Volkes zusammengesetzt ist, die weder an Weisungen ihrer Wähler gebunden noch von anderen Organen des Staates abhängig sind. Parlamente im echten Sinne besitzen nur diejenigen Staaten, die einer frei gewählten, aus mehr als einer Partei 1 Ähnlich die Einteilung z.B. bei Rausch, Parlament und Regierung, S. 17ff. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 154 3 a.a.O., S. 154 2 13 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung zusammengesetzten Volksrepräsentation einen verfassungsrechtlich garantierten selbständigen und maßgeblichen Einfluss auf die Bildung des Staatswillens einräumen, ihr ermöglichen, zur Bildung der öffentlichen Meinung beizutragen und die Regierung und Verwaltung einer wirksamen Kontrolle zu unterwerfen."4 Dieser Begriff des Parlamentarismus stellt gewissermaßen eine Oberkategorie dar für alle westlichen Demokratien. Er klammert zwar totalitäre und autoritäre Systeme aus, umfasst aber immer noch die unterschiedlichsten Regierungssysteme - vom Präsidialsystem der USA über die semipräsidentiellen Regierungssysteme z. B. Frankreichs oder der Weimarer Republik, über das Direktorialsystem der Schweiz bis hin zu den parlamentarischen Regierungssystemen Großbritanniens, der Bundesrepublik oder anderer westeuropäischer Länder. Aber auch dieser engere Begriff des Parlamentarismus ist noch zu weit, als dass er sich im politikwissenschaftlichen Sprachgebrauch hätte durchsetzen können. Zu früheren Zeiten war zwar eine Gleichsetzung von Parlamentarismus mit parlamentarischem Regierungssystem durchaus gebräuchlich: Das Brockhaus Konversations-Lexikon von 1892 z. B. definiert Parlamentarismus als „das Prinzip, dass die jedesmalige Majorität des Parlaments für die Ernennung der Minister und der andern politisch bedeutsamen Staatsbeamten maßgebend ist, wie dies in England, Italien, Belgien und einigen andern kleinern Staaten der Fall ist."5 Auch heute findet man noch ab und zu die Bezeichnung Parlamentarismus der Bundesrepublik - so z. B. im deutschen Titel des Standardwerkes von Gerhard Loewenberg „Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland" -, normalerweise aber spricht man vom parlamentarischen (Regierungs-)System der Bundesrepublik. Durchgesetzt hat sich also heute die Differenzierung des Parlamentarismusbegriffes in verschiedene Regierungssysteme. Stellt man zunächst nur das präsidentielle und das parlamentarische Regierungssystem einander gegenüber, so ergeben sich folgende formale Unterschiede:6 Regierungssysteme - Im präsidentiellen System der USA werden Präsident und Kongress in getrennten Wahlen bestellt, während im parlamentarischen Regierungssystem eine einzige Wahl über die Zusammensetzung von Parlament und Regierung entscheidet. In Großbritannien, dem Land des klassischen parlamentarischen Regierungssystems, steht - bedingt durch sein Zweiparteiensystem - der künftige Regierungschef mit der jeweiligen Wahl des Unterhauses fest. In Ländern mit Mehr- und Vielparteiensystemen ist eine solche „Direktwahl" des Regierungschefs durch Koalitionsaussagen im Wahlkampf oder durch den Gewinn einer absoluten Mandatsmehrheit durch eine Partei zwar auch möglich, aber hier kann die Regierung normalerweise erst in den Koalitionsverhandlungen nach der Wahl gebildet werden. 4 Fraenkel, Art. Parlament, S. 231 Brockhaus` Konversations-Lexikon in sechzehn Bänden – Leipzig u.a.: Brockhaus 1892 6 Zum Folgenden z.B. Fraenkel, a.a.O. (Anm. 4), S. 238 ff.; Beyme, Das präsidentielle Regierungssystem der Vereinigten Staaten, S. 1 f.; Rausch, Das parlamentarische Regierungssystem, S. 10ff. 5 14 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung 15 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung - Die Regierung wird im parlamentarischen Regierungssystem also vom Parlament bestellt, und sie kann von ihm - das Grundgesetz sieht hier allerdings einschränkende Bedingungen vor7 - auch wieder abberufen werden. Der Regierungschef und die Minister sind also direkt oder indirekt dem Parlament verantwortlich. Dem Kongress hingegen steht ein Abberufungsrecht im Normalfall nicht zu. Er kann den Präsidenten nicht wegen schlichter politischer Meinungsverschiedenheiten oder wegen veränderter Mehrheiten stürzen. Ihm bleibt nur die Waffe der Präsidentenanklage, das sog. „impeachment", d. h. er muss in einem justizähnlichen Verfahren dem Präsidenten strafrechtlich relevante Vergehen nachweisen. - Umgekehrt fehlt dem Präsidenten ein wichtiges Disziplinierungsmittel gegenüber dem Kongress: er kann ihn nicht - wie z. B. der britische Premierminister das Unterhaus - auflösen und Neuwahlen ausschreiben. - Während der Premierminister in Großbritannien dem Unterhaus angehören muss, kennen andere parlamentarische Regierungssysteme weniger rigorose Lösungen. In der Bundesrepublik z. B. müssen Bundeskanzler und Bundesminister nicht notwendigerweise dem Bundestag angehören, auch wenn dies bei der überwiegenden Anzahl der bisherigen Amtsinhaber der Fall war. Und es gibt parlamentarische Regierungssysteme - wie z. B. die Niederlande -, deren Verfassung eine Unvereinbarkeit von Abgeordnetenmandat und Ministeramt vorschreibt. Während die parlamentarischen Regierungssysteme also hinsichtlich der Inkompatibilität unterschiedliche Regelungen kennen, verlangt die Verfassung der Vereinigten Staaten, dass der Präsident und seine Regierungsmitglieder - mit Ausnahme des Vizepräsidenten, der gleichzeitig Vorsitzender des Senates ist keinen Sitz im Kongress innehaben dürfen. - Im parlamentarischen Regierungssystem besteht eine geteilte Exekutive: Die mehr repräsentativen Staatsaufgaben liegen in den Händen eines Präsidenten oder eines Monarchen, die eigentliche Regierungsmacht bleibt für den Regierungschef - den Premierminister, Kanzler oder Ministerpräsidenten - reserviert. In den Vereinigten Staaten hingegen vereinigt der Präsident die Funktionen des Staatsoberhauptes und des Regierungschefs in einer Person. Seine Minister sind allein ihm verantwortlich. - Dem Präsidenten der Vereinigten Staaten ist formal die Möglichkeit der Gesetzesinitiative verschlossen, wobei ihm die Praxis allerdings leicht gangbare Umwege bietet. Verfassungsrechtlich besitzt er nur die Möglichkeit, Gesetzesbeschlüsse des Kongresses mit seinem Veto zu belegen. Dieses präsidentielle Veto kann allerdings mit einer 2/3-Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses überstimmt werden. Die Regierung in einem parlamentarischen Regierungssystem hat hingegen die Möglichkeit der Gesetzesinitiative, und sie hat - was beim Vergleich der beiden Regierungssysteme nicht selten unerwähnt bleibt - teilweise auch, wie z. B. in Großbritannien oder in der Bundesrepublik, ein absolutes Vetorecht gegen Ausgabengesetze. 7 Siehe ausführlicher Kap. II, Abschn. 3 16 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung Es ist allerdings die Frage, ob alle westlichen Demokratien diesen beiden Regierungssystemen zugeordnet werden können. Winfried Steffani vertritt eine solche Position, er rückt dabei allerdings von der obigen, nicht nur in der Bundesrepublik gebräuchlichen Charakterisierung des präsidentiellen und des parlamentarischen Systems ab und wählt eine wesentlich einfachere Abgrenzung: bei ihm unterscheiden sich beide Systeme einzig durch die Abberufbarkeit bzw. Nichtabberufbarkeit der Regierung durch das jeweilige Parlament: Die Position Steffanis „Im präsidentiellen System stehen sich Regierung und Parlament in relativer Unabhängigkeit gegenüber, die Amtsdauer der Regierung bzw. des Regierungschefs (Präsident) ist in der Verfassung verbindlich festgestellt, und die Parlamentsmehrheit kann die Regierung bzw. den Regierungschef aus politischen Gründen nicht abberufen. In einem parlamentarischen System ist die Regierung demgegenüber in ihrer Amtsdauer und Amtsführung grundsätzlich vom Vertrauen der Parlamentsmehrheil abhängig, die über das Recht der Abberufung aus politischen Gründen (Misstrauensvotum) verfügt und deren Fraktionen durch Fraktions- und Koalitionsdisziplin für die Stabilität der Regierung Sorge zu tragen haben.“8 Bei dieser Definition hat Steffani sicherlich das wichtigste Unterscheidungsmerkmal beider Regierungssysteme in den Mittelpunkt gerückt, und mit ihr sind sämtliche Regierungssysteme der westlichen Demokratien entweder als parlamentarische oder präsidentielle Systeme zu umschreiben. Diesem Vorteil steht allerdings ein nicht unbedenklicher Nachteil entgegen: Regierungssysteme, die nur wenig miteinander gemein haben, wie z. B. dasjenige der Schweiz und der Vereinigten Staaten fallen in die Kategorie „präsidentielles System“. Die Bundesrepublik Deutschland und die V Republik Frankreichs wiederum stark voneinander abweichende Systeme - werden beide als parlamentarische Regierungssysteme geführt. Es erscheint deshalb angebrachter, die gängige engere Definition der beiden Regierungssysteme beizubehalten und für die diesen restriktiveren Definitionen nicht zuordenbaren Regierungssysteme mit der Direktorialverfassung und dem semipräsidentiellen Regierungssystem zwei weitere Typen von Regierungssystemen bereitzustellen. Die Direktorialverfassung - sie spielte zwar in den Verfassungsberatungen in Deutschland nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg eine gewisse Rolle, existiert aber realiter einzig in der Schweiz - zeichnet sich durch folgende Charakteristika aus: Direktorialverfassung - Das Parlament wählt zwar die Regierung, kann sie aber während der Legislaturperiode nicht abwählen. - Der Regierung steht umgekehrt kein Auflösungsrecht gegenüber dem Parlament zu. - Es besteht Inkompatibilität zwischen Regierungsamt und Abgeordnetenmandat. 8 Steffani, Zur Unterscheidung parlamentarischer und präsidentieller Regierungssysteme, S. 391; fortgeführt hat Steffani diese Diskussion in dem 1995 zum ersten Mal erschienenen Artikel „SemiPräsidentialismus?“ (jetzt in ders. Gewaltenteilung und Parteien, S. 89 ff.) 17 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung - Die Regierung bildet ein Kollegialorgan; die Funktion des Staatspräsidenten wird für die Dauer eines Jahres von einem Mitglied der Regierung im Rotationsverfahren mitübernommen. - Die Regierung hat die Möglichkeit der Gesetzesinitiative.9 Der zweite Zwischentypus, das semipräsidentielle Regierungssystem, weicht vom parlamentarischen Regierungssystem vor allem durch die unterschiedlichen Funktionen des Staatsoberhauptes ab. Im Wesentlichen zeichnen sieh solche Regierungssysteme durch folgende Charakteristika aus: Semipräsidentielles Regierungssystem - Der Staatspräsident wird durch direkte Wahlen10 legitimiert und er ist zumindest potentiell - mit beträchtlichen eigenen Rechten ausgestattet, nicht machtpolitisch weitgehend Statist wie im parlamentarischen Regierungssystem. Die Exekutive ist jedoch nicht - wie im präsidentiellen Regierungssystem - in einer Person vereinigt, sie ist aufgeteilt zwischen dem Staatspräsidenten und dem Regierungschef bzw. der Regierung. Die Machtverteilung zwischen beiden Polen der Exekutive kann - wie noch zu zeigen sein wird - beträchtlichen Schwankungen unterliegen. - Der Staatspräsident ernennt in diesem Regierungssystem zwar den Regierungschef in eigener Verantwortung, die Regierung ist aber nicht von ihm allein abhängig, sondern auch gegenüber dem Parlament verantwortlich und von ihm absetzbar. Es besteht also eine doppelte Verantwortung der Regierung sowohl gegenüber dem Staatspräsidenten als auch gegenüber dem Parlament. - Das Parlament kann im Normalfall durch die Regierung in Zusammenarbeit mit dem Präsidenten aufgelöst werden. - In den meisten Fällen steht das Gesetzesinitiativrecht auch der Exekutive zu. - Wie die parlamentarischen Regierungssysteme kennen auch die semipräsidentiellen Regierungssysteme keine einheitliche Regelung der Vereinbarkeit von Ministeramt und Abgeordnetenmandat: In Finnland oder in der Weimarer Republik können bzw. konnten die Regierungsmitglieder dem Parlament angehören, in Portugal oder Frankreich schreiben die Verfassungen Inkompatibilität vor. Als semipräsidentielle Regierungssysteme sind nach Maurice Duverger die V. Republik Frankreichs, die Weimarer Republik, Portugal, Finnland, Österreich, Irland und Island einzustufen.11 Seit der Veröffentlichung der Arbeit von 9 Das Funktionieren des schweizerischen Regierungssystems wird in hohem Maße von den dort sehr stark ausgebauten Mitwirkungsmöglichkeiten der Bevölkerung bei Sachentscheidungen beeinflusst. Da auf diese Problematik in Kapitel IV noch ausführlicher einzugehen sein wird, unterbleiben hier vorerst weitere Erörterungen. 10 Es gibt allerdings Ausnahmen: In Finnland z.B. entfällt die Wahl, wenn nur ein Kandidat antritt. 11 Duverger, Maurice: Le concept de règime semi-prèsidentiel – in: ders. (Hrsg.): Les régimes semi-prèsidentiels, S. 7. Allerdings normiert die im Jahre 2000 in Kraft tretende neue finnische Verfassung ein parlamentarisches Regierungssystem, wobei jedoch die Direktwahl des Staatspräsidenten erhalten bleibt. 13 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung Duverger haben vor allem im ehemaligen Ostblock diverse weitere Staaten ihr Regierungssystem nach diesem Muster konzipiert.12 Je nach aktueller Ausgestaltung des Parteiensystems und der Verfassungstradition kann sich das semipräsidentielle Regierungssystem allerdings in der Verfassungsrealität dem parlamentarischen System mehr oder weniger annähern. Maurice Duverger unterscheidet denn auch zu Recht zwischen wirklichen und scheinbaren semipräsidentiellen Systemen.13 Zu den letzteren rechnet er wegen der geringen Bedeutung des Staatspräsidenten in der Verfassungsrealität Irland, Island und Österreich.14 Während der Weimarer Republik verdankte der Reichspräsident seine Machtposition weniger als vielfach angenommen der Verfassung, sondern in erster Linie dem stark polarisierten Parteiensystem, dessen Träger zu einer Mehrheitsbildung schwer bzw. überhaupt nicht in der Lage waren.15 Im Falle eines stabilen Parteiensystems hätte sich die Weimarer Republik nicht wesentlich von einem parlamentarischen Regierungssystem unterschieden, nur unter den Bedingungen des Weimarer Parteiensystems konnte der Reichspräsident seine zum Schluss der Republik so verhängnisvolle Rolle spielen. Das Beispiel der V. Republik Frankreichs zeigt allerdings, dass das Parteiensystem nicht der alleinige Faktor ist, der die Machtverteilung zwischen Präsident und Regierungschef bedingt. Im Gegensatz zur Weimarer Republik ist das französische Parteiensystem in der V. Republik als relativ stabil zu betrachten. Für die in diesem Fall zu erwartende Machtdominanz des Premierministers gegenüber dem Staatspräsidenten bringt die V. Republik jedoch keine Argumente. Im Gegenteil: Die starke Stellung, die der französische Staatspräsident über die lange Zeit der V. Republik innehatte, geht im wesentlichen nicht auf die Verfassung zurück, sondern auf das Verfassungsverständnis des ersten Staatspräsidenten General de Gaulle. Dieser hatte durch verschiedene, recht eigenwillige Machtverteilung im semipräsidentiellen Regierungssystem 12 Zu dieser Entwicklung in Mittel- und Osteuropa siehe das Sonderheft „The postcommunist presidency“ des „East European constitutional review“ (Jg. 2 (1993) H. 4 / Jg. 3 (1994) H.1); Rüb, Friedbert W.: Schach dem Parlament! – Über semipräsdentielle Regierungssysteme in einigen postkommunistischen Gesellschaften. – in: Leviathan Jg. 22 (1994) S. 260-292; siehe auch: Steinsdorff, Sylvia von: Die Verfassungsgenese der Zweiten Russischen und der Fünften Französischen Republik im Vergleich. – in: ZParl Jg. 26 (1995) S. 486-504; Furtak, Robert K.: Staatspräsident – Regierung – Parlament in Frankreich und in Russland. Verfassungsnorm und Verfassungspraxis. – in: ZPol Jg. 6 (1996) S. 945-968; Thibaut, Bernhard: Präsidentielle, parlamentarische und hybride Regierungssysteme? Institutionen und Demokratieentwicklung in der Dritten Welt und in den Transformationsstaaten Osteuropas. – in: ZPol Jg. 8 (1998) S. 5-37 13 Duverger, a.a.O. (Anm. 11), S. 8 ff. 14 Zu den eher belächelten Versuchen des österreichischen Bundespräsidenten Thomas Klestil, seine Position zu stärken, z.B.: Perger, Werner A.: Wer ist der Schönste im Land? – in: Die Zeit vom 10.12.1993, S. 7; Razumkovsky, Andreas: Wer kontrolliert wessen Macht? – in: FAZ vom 20.8.1993, S. 10; Küppers, Bernhard: Ohne Anschlussfurcht und Minderwertigkeitskomplex. – in: SZ vom 8.12.1993, S. 11; ders., Ein Hindenburg in Österreichs Verfassung- - in: SZ vom 18.10.1994, S. 4. In der Folge der Nationalratswahl von 1999, die erhebliche Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung nach sich zog, zeigte sich dann allerdings die relativ starke Position des Präsidenten (siehe z.B. Frank, Michael: In Wien regiert der Präsident. – in: SZ vom 14.10.1999, S.4) 15 Ausführlicher zum Regierungssystem der Weimarer Republik siehe Kap. II, Abschnitte 4 und 5 14 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung Verfassungsinterpretationen16 den Ministerpräsidenten weitgehend entmachtet und sich selbst die führende Funktion in der Exekutive gesichert. Das Verfassungsverständnis de Gaulles hat die V Republik Frankreichs derart geprägt, dass nicht nur seine direkten Nachfolger, sondern auch Francois Mitterrand, der in den sechziger Jahren den General des permanenten Staatsstreiches bezichtigte, dessen Regierungspraxis weitgehend übernahmen. Jedoch konnte Mitterrand als Präsident seine starke Stellung nur so lange halten, wie er im Parlament über eine eigene Mehrheit verfügte. Zu Zeiten der so genannten „cohabitation" - so die französische Bezeichnung für die Konstellation, in der der Staatspräsident einer Partei angehört, die in der Nationalversammlung in der Minderheit ist - ist der Premierminister der stärkste Mann im französischen Regierungssystem, und das System funktioniert weitgehend nach den Regeln des parlamentarischen Regierungssystems. Hinsichtlich der Tendenz allerdings, dass in semipräsidentiellen Regierungssystemen dem Staatspräsidenten vor allem in Krisensituationen und bei einer Instabilität des Parteiensystems wichtige Funktionen zukommen, dürfte Frankreich keine Ausnahme machen, auch wenn es in „normalen Zeiten" von der in semipräsidentiellen Systemen üblichen Machtverteilung zwischen Präsident und Regierungschef abweicht. Trotz ihrer formalen Eigenheiten und Abweichungen ist den verschiedenen Regierungssystemen eines gemeinsam: Sie versuchen auf unterschiedlichem Wege, einem Machmonopol im jeweiligen System vorzubeugen und der vor allem mit dem Namen Montesquieu verbundenen Idee der Gewaltenteilung gerecht zu werden. Im Folgenden sollen deshalb zunächst die Grundpositionen Montesquieus dargestellt werden. In einem weiteren Schritt gilt es, sie aus ihrem historischen Kontext herauszulösen und zu fragen, wie die Montesquieuschen Ideen heute insbesondere im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik zum Tragen kommen. 2. Montesquieus Gewaltenteilungslehre und die Notwendigkeit einer Neuinterpretation Betrachtet man den Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes - „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt" -, so könnte man bei isolierter Auslegung dieses Artikels zu der These kommen, unsere Verfassung schließe sich Montesquieu an und wolle ein rein gewaltenteilendes Modell verwirklichen. Doch eine solche These ist in zweifacher Hinsicht fragwürdig: Zum einen stellt sie eine Missinterpretation Montesquieus dar, zum anderen verkennt sie, dass in anderen Artikeln des Grundgesetzes - wie noch zu zeigen sein wird - eine große Anzahl Grundgesetz und Gewaltenteilung 16 16 Siehe hierzu im Deutschen vor allem Zürn, Peter: Die republikanische Monarchie. Zur Struktur der Verfassung der V. Republik Frankreichs. – München: Beck 1995, S. 49 ff. (= Münchener Studien zur Politik 5); zum Regierungssystem der V. Republik allgemein im Deutschen vor allem: Grote, Rainer: das Regierungssystem der V. französischen Republik. Verfassungstheorie und –praxis. – Baden-Baden: Nomos 1995 (= Beiträge zum ausländischen und vergleichenden öffentlichen Recht 6) 15 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung gewaltendurchbrechender Elemente angelegt ist. Die Diskussion um die Gewaltenteilung begann nicht mit Montesquieu. Sie hat ihre Anfänge im griechischen Altertum und sie reißt im Mittelalter nicht ab.17 Auch hatte Montesquieu in John Locke (1632-1704) einen Vorläufer, der gewichtige Teile seiner Theorie vorwegnahm. Doch Montesquieu (1689-1755) verhalf der Idee der Gewaltenteilung zum Durchbruch, und er ist derjenige Denker, auf den man sich in der Folgezeit bei der Erörterung von Gewaltenteilungsproblemen immer wieder bezogen hat. Er wurde schon früh zum „Orakel, das zu dieser Frage immer befragt und zitiert wird.“18 Montesquieus Vorstellungen von gewaltenteilenden Regelungen sind im Wesentlichen im 6. Kapitel des 11. Buches seines Werkes „Vom Geist der Gesetze" niedergelegt, das erstmals 1748 in Genf erschien.19 Hier findet sich auch derjenige Kernsatz seiner Lehre, der immer wieder zitiert wird: Die Position Montesquieus "Alles wäre verloren, wenn entweder ein einziger Mensch oder eine Körperschaft, sei es der Mächtigen, des Adels oder des Volkes, die folgenden drei Gewalten ausüben würde: diejenige, Gesetze zu erlassen, diejenige, öffentliche Beschlüsse auszuführen, sowie diejenige, Verbrechen und private Streitigkeiten zu richten."20 Die häufig vertretene Meinung jedoch, Montesquieu wolle auf eine totale Unabhängigkeit der drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative hinaus, ist nicht zu belegen. Im Gegenteil: in dem erwähnten 6. Kapitel lässt sich eine größere Anzahl von gewaltendurchbrechenden und -vermischenden Regelungen nachweisen. Montesquieu gesteht z. B. dem Monarchen ein absolutes Vetorecht gegen Entscheidungen der Legislative zu, um der Gefahr vorzubeugen, dass die Legislative „despotisch" wird. Dem Parlament räumt Montesquieu das Recht ein, nachträglich darüber zu wachen, ob die Exekutive seine Gesetze richtig ausführt. Außerdem steht dem Parlament bei Montesquieu die Kompetenz zu, die Minister und Beamten des Königs einem Gerichtsverfahren zu unterziehen, wenn sie sich über die Gesetze hinwegsetzen. Um hier nur noch ein Beispiel zu zitieren: Montesquieu teilt dem Oberhaus neben seinen gesetzgebenden Befugnissen auch judikative Kompetenzen zu. Die Adligen sollen nämlich nicht von ordentlichen Gerichten abgeurteilt werden, sondern von der Ersten Kammer des Parlaments. Seine Begründung: Gewaltendurchbrechungen bei Montesquieu 17 Zu den Vorläufern Montesquieus siehe Rostock, Michael: Die antike Theorie der Organisation staatlicher Macht. Studien zur Geschichte der Gewaltenteilungslehre. – Meisenheim: Hain 1975 (= Schriften zur Politischen Wissenschaft 8); Gwyn, W.B.: The meaning of the separation of powers. An analysis of the doctrine from its origins to the adoption of the United States Constitution. – Den Haag: Nijhoff 1965 (= Tulane studies in political science 9) oder Vile, M.J.C.: Constitutionalism and the separation of powers. – Oxford: Clarendon Press 1967, S. 21 ff. 18 James Madison: Federalist Nr. 47. – in: Hamilton/Madison/Jay: The Federalist Papers, S. 301 19 Zum Folgenden siehe vor allem Draht, Martin: Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht. – in: Rausch (Hrsg.): Zur heutigen Problematik, S. 21 ff. 20 Von einer Ausnahme (siehe Anm. 23) abgesehen sind die folgenden Montesquieu-Zitate alle dem 6. Kapitel des 11. Buches entnommen. 16 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung „Die Großen haben immer Neider. Wenn sie vom Volke gerichtet würden, könnten sie in Gefahr geraten. Nicht einmal die Vergünstigung der geringsten Bürgers eines freien Staates würden sie genießen: sie würden nicht von ihresgleichen gerichtet werden. Daher ist es nötig, dass die Adligen vor den aus Adligen zusammengesetzten Zweig der legislativen Körperschaft zitiert werden statt vor die ordentlichen Gerichte der Nation." Diese Beispiele dürften ausreichend belegen, dass Montesquieu nicht auf einer strikten Gewaltentrennung besteht und dass er sich nicht auf institutionelle Mechanismen allein verlässt, sondern die gesellschaftlichen Gruppierungen der damaligen Zeit in seine gewaltenbalancierenden Überlegungen einbezieht. Montesquieus Gewaltenteilungslehre ist nur verständlich, wenn man neben den institutionellen Regelungen auch seine Vorstellungen von der sozialen bzw. gesellschaftlichen Ebene der Gewaltenteilung im Auge behält. Wie wichtig diese Ebene der Gewaltenteilung für Montesquieu ist, zeigt sich in einem „Versehen", auf das Martin Draht21 aufmerksam gemacht hat und das sich wiederum im 6. Kapitel des II. Buches findet: „So sieht also die Verfassung, von der wir gesprochen haben, in ihren Grundzügen aus. Die Legislative setzt sich aus zwei Teilen zusammen, die sich durch ihr wechselseitiges Verhinderungsrecht gegenseitig an die Kette legen. Beide werden durch die exekutive Gewalt gebunden (lies), welche ihrerseits wiederum durch die Legislative gebunden wird. Diese drei Gewalten ... " Obwohl Montesquieu in diesem Zusammenhang die Judikative überhaupt nicht erwähnt, spricht er von drei Gewalten. Damit meint er den an der Spitze der Exekutive stehenden Monarchen, den die Erste Kammer stellenden Adel und das in der zweiten Kammer vertretene Bürgertum. Die immense Bedeutung der sozialen Ebene der Gewaltenteilung wird auch in dem obigen Zitat deutlich, in dem es Montesquieu um den Schutz des Adels bei Gerichtsprozessen geht. Und sie zeigt sich auch in den weiteren Ausführungen Montesquieus über das Gerichtswesen. Obwohl sie angeblich unter den Menschen besonders gefürchtet sei, bezeichnet Montesquieu die Judikative, sobald sie nicht als Repressionsmittel gegen eine gesellschaftliche Gruppe missbraucht werden kann, nämlich als „unsichtbar und nicht existent" („invisible et nulle") oder als „gewissermaßen gar keine Gewalt" („en quelque facon nulle"). Montesquieu geht es im Wesentlichen nicht um eine funktionelle und personelle Trennung der drei Staatsgewalten, es geht ihm - worauf u. a. Werner Kägi22 richtigerweise aufmerksam gemacht hat - in erster Linie um die „Idee der dignite humaine", die nur in Freiheit verwirklicht werden könne. Freiheit und Menschenwürde will Montesquieu gegen Anarchie und Despotismus verteidigen mittels einer gesetzlichen Ordnung, die Machtmissbrauch möglichst ausschließt. Zur Verhinderung des Machtmissbrauches sei es nötig, dass eine Gewalt die andere hindere („... il faut que ... le pouvoir arrete le pouvoir"),23was nur Freiheit und Menschenwürde als Ziele Montesquieus 21 Draht, a.a.O. (Anm. 19), S. 28 Kägi, Werner: Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung. – in: Rausch (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 19), S. 288 ff. 23 Vom Geist der Gesetze, 11. Buch, 4. Kapitel 22 17 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung möglich ist, wenn keine totale Abschottung zwischen den Gewalten verlangt wird. Montesquieu ist letztlich - so wird man etwas überspitzt zusammenfassen können - eher ein Theoretiker der Gewaltenhemmung und -vermischung als ein Theoretiker der Gewaltenteilung. Seit Montesquieu ist die Lehre der Gewaltenteilung ein Dauerstreitpunkt bei der Diskussion um eine möglichst sinnvolle Gestaltung der Regierungssysteme. Dieses Problem spielte z. B. schon bei der Gründung der Vereinigten Staaten eine gewichtige Rolle: U. a. kritisierten die Verfassungsgegner, dass die vorgesehene neue Verfassung zu viele Gewaltendurchbrechungen enthalte, während die Befürworter richtigerweise argumentierten, dass es neben den gewaltenteilenden Elementen auch Gewaltenvermischungen in einer Verfassung geben müsse.24 Im Deutschland des 19. Jahrhunderts wurde die Gewaltenteilungslehre Montesquieus von der herrschenden Lehre der Staatsrechtler gänzlich abgelehnt.25 Man warf ihr u. a. vor, dass sie das Parlament allen anderen Staatsgewalten überordne und die Einheit der Staatsgewalt gefährde. Und man formulierte mit dem aus Frankreich importierten „Monarchischen Prinzip" eine „Gegenlehre"26, die den Monarchen zum alleinigen Souverän erklärte, der die Staatsgewalt nicht teilen, sondern andere Institutionen nur an ihrer Ausübung beteiligen dürfe. Dieses monarchische Prinzip konnte in Deutschland letztlich erst mit dem Ende des Ersten Weltkrieges überwunden werden.27 Will man heute unter Ausblendung der supranationalen Ebene, der in diesem Zusammenhang kein geringes Gewicht zukommt, die gewaltenteilenden Elemente in einem politischen System herausarbeiten, so wird man sich nicht auf den institutionellen Bereich beschränken dürfen. Man wird sich vielmehr daran erinnern müssen, dass bei Montesquieu neben der institutionellen die soziale Ebene der Gewaltenteilung stand. Dieses Faktum schließt einfache Übertragungen Montesquieuscher Ideen auf die heutige Zeit schlicht aus. Die Ständegesellschaft, die Montesquieus Werk prägte, gehört der Vergangenheit an. Andere gewaltenbeschränkende Elemente sind hinzugekommen: Erinnert sei hier nur an den erstmals in der amerikanischen Verfassung festgeschriebenen föderativen Staatsaufbau, an die Bedeutung der Grundrechte, an die Montesquieu gänzlich unbekannten modernen Parteien und Interessengruppen. Die gewaltenteilenden, vermischenden und -hemmenden Faktoren sind gegenüber der Zeit von Übertragung Montesquieus in die Gegenwart 24 Hierzu insbesondere Hamilton/Madison/Jay, a.a.O. (Anm. 18), Federalist Nr. 47-51; zu der damaligen Diskussion siehe: Bailyn, Bernard: The debate on the Constitution. Federalist and Antifederalist speeches, articles, and letters during the struggle over ratification. – New York: The Library of America 1993, Bd. II, S. 121 ff. 25 Siehe z.B. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus. – Berlin: Duncker und Humblot 1958, S. 60, S. 89. S. 94 u.ö. (= Schriften zum Öffentlichen Recht 1) 26 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 653; ähnlich Kaufmann, Erich: Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips. – in: ders.: Autorität und Freiheit. Von der konstitutionellen Monarchie bis zur Bonner parlamentarischen Demokratie. – Göttingen: Schwartz 1960, S. 5 f. (= Gesammelte Schriften 1) 27 Siehe ausführlicher hierzu Kap. II, Abschn. 3 18 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung Montesquieu beträchtlich angewachsen, was allerdings auch dringend nötig war, da der moderne Staat einen Macht- und Aufgabenzuwachs zu verzeichnen hat, von dem ein Denker des 18. Jahrhunderts noch nicht einmal träumen konnte. Einen griffigen Katalog derjenigen Faktoren, die bei der Verwirklichung der Montesquieuschen Grundideen - Erhaltung von Freiheit und Menschenwürde sowie Verhinderung von staatlichem Machtmissbrauch - heute eine gewichtige Rolle spielen, hat z. B. Winfried Steffani formuliert. Er unterscheidet folgende Ebenen - Steffani selbst spricht nicht von Ebenen, sondern von verschiedenen Lehren - der Gewaltenteilung:28 1. die staatsrechtliche, horizontale Ebene der Gewaltenteilung: Sie beruht im Wesentlichen auf der gängigen Unterscheidung von Legislative, Exekutive und Judikative, ist aber durch die Einführung des parlamentarischen Regierungssystems und durch die modernen Parteiensysteme erheblich modifiziert worden; Gewaltenteilende Ebenen heute 2. die temporale Ebene der Gewaltenteilung: Sie erinnert daran, dass in jeder westlichen Demokratie die Dauer von Parlamentsmandaten und Regierungsämtern begrenzt ist und dass sie durch Wahlen beendet bzw. erneuert werden können. Während die Parteien in einem parlamentarischen Regierungssystem auf der staatsrechtlichen Ebene teilweise zur Gewaltenvermischung beitragen, stellen sie auf der temporalen Ebene die wichtigsten Garanten der Verhinderung von Machtmissbrauch dar, da sie den Wählern Alternativen anbieten und so verhindern, dass eine „temporäre Vertrauensautokratie"29 in eine Einparteiendiktatur umschlägt; 3. die föderative Ebene der Gewaltenteilung: Zum einen beinhaltet eine föderative Verfassung teilweise entscheidende Machtbegrenzungen für die politischen Institutionen des Zentralstaates; zum anderen haben die Einzelstaaten einen in den verschiedenen politischen Systemen unterschiedlich geregelten Einfluss auf den Zentralstaat, wie der Deutsche Bundesrat oder der amerikanische Senat zeigen. Es muss in diesem Zusammenhang auch daran erinnert werden, dass die bis vor einigen Jahren noch für selbstverständlich gehaltene Aushöhlung des föderalistischen Prinzips durch den modernen Sozial- und Leistungsstaat bei weitem nicht so automatisch abläuft, wie vielfach angenommen. In der Bundesrepublik belegen dies die verstärkten Mitwirkungsrechte, die die Länder in jüngster Zeit für sich erkämpften.30 Die Versuche Ronald Reagans in den USA, Kompetenzen an die Einzelstaaten zurückzuverlagern, waren zwar nicht sonderlich erfolgreich, aber sie machten doch deutlich, dass die Machtverlagerung von den Einzelstaaten zum Zentralstaat keinen automatischen Prozess darstellt. In jüngster Zeit unterstreichen die Entwicklungen in einer wachsenden Zahl westlicher Demokratien diese Beobachtung; 4. die konstitutionelle Ebene der Gewaltenteilung: Hier muss vor allem auf die Verfassung verwiesen werden. Sie schränkt in den meisten westlichen Demokra- 28 Zum folgenden Steffani, Parlamentarische und präsidentielle Demokratie, S. 19 ff. Steffani, a.a.O., S. 23 30 siehe Abschn. 4 dieses Kapitels 29 19 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung tien die Entscheidungsspielräume der jeweiligen Parlamentsmehrheiten ein, weil für Verfassungsänderungen Zwei-Drittel-Mehrheiten verlangt werden. Das Grundgesetz geht noch einen Schritt weiter, indem es im Artikel 79 Abs. 3 bestimmte Änderungen der Verfassung31 gänzlich untersagt. Die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte und die starke Position des Bundesverfassungsgerichts stellen für die Parlamentsmehrheiten weitere Einschränkungen ihrer politischen Gestaltungsmöglichkeiten dar; 5. die dezisive Ebene der Gewaltenteilung: Sie verdeutlicht, dass der politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozess sich heute nicht allein auf staatlicher Ebene abspielt und so auch nicht ausschließlich mit staatsrechtlichen Kategorien beschrieben werden kann. Die Einbeziehung der gewaltenhemmenden Wirkung von Parteien, Interessenverbänden und Öffentlicher Meinung ist in diesem Zusammenhang unerlässlich; 6. die soziale Ebene der Gewaltenteilung: Trotz der Ablösung des Ständestaates hat sieh die heutige Gesellschaft nicht zu einer „nivellierten MittelstandsGesellschaft"32 entwickelt. Unterschiedliche Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und „ökonomischen Potenzen"33 verlangen von den politischen Parteien unterschiedliche Angebote und Lösungsvorschläge für anstehende politische Probleme. Entscheidend im Zusammenhang mit dem hier interessierenden Thema ist in erster Linie die horizontale Ebene der Gewaltenteilung. Es wurde oben bereits darauf verwiesen, dass das Grundgesetz eine große Anzahl gewaltenvermischender Elemente festgeschrieben hat. Es kommt - so wird man nach den Darlegungen über die Montesquieusche Gewaltenteilungskonzeption sagen können - dessen Lehre näher als die Forderungen mancher Autoren und Journalisten, die sieh von der Verstärkung gewaltenteilender Elemente positive Reformimpulse für das politische System erwarten. Um hier nur einige dieser gewaltenvermischenden Elemente des Grundgesetzes aufzuführen: Gewaltenvermischungen des Grundgesetzes 1. Die gewichtigste Gewaltendurchbrechung stellt das vom Grundgesetz normierte parlamentarische Regierungssystem selbst dar. Auf die hieraus resultierenden gegenseitigen Abhängigkeiten von Bundesregierung und Bundestag wird unten noch ausführlich einzugehen sein.34 2. Das Grundgesetz schreibt keine Inkompatibilität, d. h. Unvereinbarkeit von Bundestagsmandat und Regierungsamt, fest. Ein Minister kann Mitglied des Parlamentes sein, er muss es nicht. Nebenbei: Das Gesetz, das die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre regelt, geht einen Schritt weiter: Es schreibt sogar vor, dass die Parlamentarischen Staatssekretäre - von Ausnahmen abgesehen dem Bundestag angehören müssen. 31 Ausführlicher siehe Kap. II, Abschn. 6 Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend – Düsseldorf: Diederichs 1963 (Sonderausgabe) S. 179 f., S. 328 33 Steffani, a.a.O. (Anm. 28), S. 35 34 Siehe vor allem Kap. III, Abschn. 3 und Kap. V, Abschn. 1 b) 32 20 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung 3. Die Bundesregierung ist an der Gesetzgebung beteiligt und nicht auf die Ausführung von Gesetzen beschränkt. Sie hat vom Grundgesetz das Recht zur Gesetzesinitiative eingeräumt bekommen und sie hat ein Vetorecht gegenüber Gesetzesbeschlüssen des Parlamentes, die Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeminderungen mit sich bringen (Art. 113 Abs. 1 GG). 4. Art. 50 GG, der die Aufgaben des Bundesrates festlegt, bestimmt, dass der Bundesrat an der Gesetzgebung und an der Verwaltung des Bundes mitwirkt. Darüber hinaus sind die Mitglieder dieser gemeinhin als gesetzgebende Körperschaft betrachteten Kammer ausschließlich Länderminister: Mitglieder der Länderexekutiven werden also auf Bundesebene legislativ und exekutiv tätig. 5. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts werden je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt. Über die Wahl der Verfassungsrichter wirkt die Legislative in die Judikative hinein. Umgekehrt beschränkt das Bundesverfassungsgericht den Gestaltungsbereich der Legislative und wird in der Auslegung der Verfassung selbst rechtsschöpferisch tätig. Völlig zurecht stellt deshalb auch Ulrich Scheuner fest: Wo eine solche Verfassungsgerichtsbarkeit „besteht, ist jedenfalls ein Verfassungssystem ausgeschlossen, in dem der Gesetzgeber, wie im englischen parlamentarischen Regime, eine nicht beschränkte volle Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit besitzt. Er wird nun an die Verfassung gebunden und neben ihn tritt ein anderes Organ, das diese Begrenzung kontrolliert. Ein mäßigendes, gewaltenteilendes Element ist unverkennbar. Diese Kontrolle entfaltet sich vor allem gegenüber dem Gesetzgeber, ist aber nicht auf ihn beschränkt."35 Die Liste der Gewaltendurchbrechungen des Grundgesetzes ließe sich ohne Schwierigkeiten fortsetzen. Anstatt jedoch hier nach Vollständigkeit zu suchen, dürfte es sinnvoller sein, auch für die Verfassung der Vereinigten Staaten, die in der westlichen Welt als diejenige gilt, die der Forderung nach Gewaltenteilung am ehesten Rechnung trägt, nachzuweisen, dass sie ebenfalls eine beträchtliche Anzahl gewaltenvermischender Elemente enthält. Zwar schreibt sie Inkompatibilität vor, jedoch in einem Fall wird sie durchbrochen: Der Vizepräsident der Vereinigten Staaten ist gleichzeitig Präsident des amerikanischen Senates. Er ist zwar nur bei Stimmengleichheit der Senatoren stimmberechtigt, aber in Sonderfällen kommt dieser Regelung doch erhebliche Bedeutung zu. Auch wenn der Präsident der Vereinigten Staaten im Gegensatz zum deutschen Bundeskanzler über eine direkte Legitimation durch das Volk verfügt, benötigt er für die Ernennung seiner Minister und Beamten - mit Ausnahme seines persönlichen Mitarbeiterstabes - die Zustimmung des Senates. Dass der Präsident auch im Gesetzgebungsprozess - über seine Vetomöglichkeiten hinaus - eine gewichtigte Rolle spielt, ist unbestritten. Auch diese Liste ließe sich erheblich verlängern. Die wohl am häufigsten zitierte und griffigste Kurzbeschreibung des amerikanischen Regierungssystems von Richard Neustadt stellt diese Gewaltendurchbrechungen deutlich heraus: der Verfassungskonvent von 1787 habe kein Regierungssystem Gewaltenvermischungen in den USA 35 Scheuner, Ulrich: Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung. Zum ersten Thema der Staatsrechtslehrtagung 1980. – in: DÖV Jg. 33 (1980) S. 474 21 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung mit total von einander getrennten Gewalten angestrebt, er habe ein Regierungssystem mit getrennten Institutionen geschaffen, die sich die Ausübung der Gewalten teilen („a government of separated institutions sharing powers").36 Und folgerichtig sprechen die Amerikaner in Bezug auf ihr Regierungssystem selten isoliert von einer „separation of powers", sie betonen jeweils auch das Prinzip der „cheques and balances" und stellen so die gewaltenvermischenden neben die gewaltenteilenden Elemente ihrer Verfassung. Man kann nun berechtigterweise einwenden, die Feststellung, dass alle westlichen Demokratien gewaltenvermischende Elemente aufweisen, sei allein kein Argument gegen die Forderung nach einer verstärkten Gewaltenteilung. Es bedarf deshalb - klammert man die nicht in Frage zu stellende Unabhängigkeit der Judikative aus - zweier weiterer Warnungen. Zum einen wird die Forderung nach Einhaltung bzw. nach Verstärkung der Gewaltenteilung nicht selten einseitig zugunsten einer bestimmten Institution eingesetzt. Wirft man z. B. einen Blick in die seit einiger Zeit zugänglichen Protokolle des ersten Kabinetts Adenauer, so finden sich immer wieder Stellen, wo die Bundesregierung unter teilweise ausdrücklicher Berufung auf das Gewaltenteilungsprinzip37 die Ansicht vertritt, dass der Bundestag nicht in ihren Bereich hineinwirken dürfe.38 Diese Haltung hinderte die damalige Bundesregierung jedoch nicht daran, dauernd zu versuchen, umgekehrt in den Kompetenzbereich des Bundestages hineinzuregieren.39 Zum anderen ist zu bedenken, dass die heutigen westlichen Demokratien durch ein mehr oder weniger deutliches Machtübergewicht der Regierungen gegenüber den Parlamenten geprägt sind. Die Wandlung des liberalen Nachtwächterstaates des 19. Jahrhunderts in den modernen Leistungsstaat hat zu einer immensen Ausweitung der Staatsaufgaben geführt, die in erster Linie von den Regierungen bewältigt werden müssen. Die „Internationalisierung der Staatspolitik",40 das stetig wachsende Gewicht internationaler und supranationaler Organisationen man denke nur an die Europäische Union - bringt für die Parlamente erhebliche Probleme mit sich, da sie auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen selten über den Status eines Erfüllungsgehilfen der Regierung hinauskommen. Und auch die sich ausweitende politische Planung stärkt in erster Linie Regierungen und Bürokratien. Offensichtlicher Beleg für dieses Machtübergewicht der Regierungen sind ihre großen Beamtenapparate, die die Hilfsdienste der Parlamente - auch in den USA, wo der Kongress über die vergleichsweise besten personellen Ressourcen sämtlicher westlicher Parlamente verfügt - deutlich übertreffen. Die Forderung nach einer verstärkten Gewaltenteilung läuft somit in erster Linie darauf hinaus, dass die Regierung als mächtigste Institution des Regierungssystems vor Zugriffen des Parlamentes geschützt wird. Ein Parlament, Staatsleitung zur gesamten Hand von Parlament und Regierung 36 Neustadt, Richard: Presidential power and the modern presidents. The politics of leadership from Roosevelt to Reagan. – New York: Free Press 1990 (3. Aufl.) S. 29 37 Bundesarchiv (Hrsg.), Die Kabinettsprotokolle, Bd. 1, S. 183 38 Bundesarchiv (Hrsg.), a.a.O., S. 149 39 Bundesarchiv (Hrsg.), a.a.O., S. 83 ff., S. 100, S. 134 u.ö. 40 Wilhelm Hennis, Aufgaben einer modernen Regierungslehre. – in: Stammen (Hrsg.): Strukturwandel der modernen Regierung, S. 496 22 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung dem man die Mitwirkung an der Außenpolitik oder an der politischen Planung versagt und das man auf die Ratifizierung der entsprechenden Regierungsentscheidungen beschränkt, hat in einem parlamentarischen Regierungssystem letztlich nicht einmal mehr die Möglichkeit, die entsprechenden Entscheidungen abzulehnen, da die jeweilige Mehrheit der von ihr getragenen Regierung mit einem solchen Votum indirekt das Misstrauen ausspräche. Es kann also letztlich nicht darum gehen, den Entscheidungsspielraum der Regierung im außenpolitischen, im Planungsbereich oder in anderen Kompetenzen unter Bezugnahme auf Gewaltenteilungsforderungen möglichst vor „Übergriffen" des Parlamentes zu schützen. Es kommt vielmehr umgekehrt darauf an, der Regierung ein möglichst wirksames Gegengewicht entgegenzustellen. Und dies ist letztlich nur möglich, wenn man anerkennt, dass die „Staatsleitung ... Regierung und Parlament gewissermaßen zur gesamten Hand" zusteht.41 Und wenn der Bundestag dann einmal auf dem Weg ist, durch die seit geraumer Zeit steigende Bedeutung der Koalitionsrunden und -arbeitskreise mit dieser „Staatsleitung zur gesamten Hand" Ernst zu machen,42 sollte man ihn nicht mit Hinweisen auf die Gewaltenteilung zurückpfeifen.43 Das gängige Argument gegen eine solche Folgerung Getont, dass hierdurch die Verantwortung für politische Entscheidungen verwischt würde: Weil verschiedene Staatsorgane zuständig seien, bleibe unklar, wer letztlich die Verantwortung für eine bestimmte Entscheidung trage. So gewichtig diese These auch sein mag, sie ist nicht ohne Gegenargumente. So stellt Wilhelm Kewenig fest, dass die richtige Alternative nicht „Gewaltenhemmung durch klare Zuordnung der Verantwortlichkeiten oder keine Gewaltenhemmung wegen Mitund Mischverantwortung", sondern „Gewaltenhemmung durch Mitregierung oder keine Gewaltenhemmung trotz klarer Trennung der Verantwortlichkeiten" laute.44 Weiterhin: In einem parlamentarischen Regierungssystem und in einem modernen Parteienstaat unterscheidet der Wähler, dem es in erster Linie möglich sein muss, 'die Verantwortung für politische Entscheidungen zuzuordnen, nicht zwischen Parlament und Regierung, sondern richtigerweise zwischen Regierungsmehrheit und Regierung auf der einen und der Opposition auf der anderen Seite. Bei vielen gewichtigen Entscheidungen werden dem Wähler klare Alternativen geboten: Regierungsmehrheit und Regierung stehen hinter einem Gesetz, die Oppositionsparteien lehnen es ab. Die Verantwortung für diese Entscheidung kann der Wähler eindeutig zuordnen, und er kann - wenn ihn die Haltung derjenigen Partei, die er bisher bevorzugt hat, nicht überzeugt - gegebenenfalls bei der nächsten Wahl Konsequenzen ziehen. Die Lokalisierung der Verantwortung ist interessanterweise in dem stärker von gewaltenteilenden Elementen geprägten präsidentiellen Regierungssystem der Vereinigten Staaten deutlich schwieriger als Gewaltenteilung für politische Verantwortung 41 Friesenhahn, Ernst: Parlament und Regierung im modernen Staat. – in: Stammen (Hrsg.), a.a.O., S. 143 42 Hierzu ausführlicher Kap. V., Abschn. 3 43 So aber Schreckenberger, Informelle Verfahren der Entscheidungsvorbereitung, S. 342 44 Kewenig, Wilhelm: Zur Revision des Grundgesetzes: Planung im Spannungsverhältnis von Regierung und Parlament. – in: DÖV Jg. 26 (1973) S. 30 23 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung im parlamentarischen Regierungssystem z. B. der Bundesrepublik. Das präsidentielle Regierungssystem selbst wird richtigerweise von Leon D. Eilstein neben den Vorwahlen - als die wesentliche Ursache dafür bezeichnet, dass die Abgeordneten des amerikanischen Kongresses meist quer über die Fraktionsgrenzen abstimmen.45 Die einzelnen politischen Entscheidungen werden von unterschiedlich zusammengesetzten Mehrheiten getragen. In dem stark fragmentierten Parteiensystem der Vereinigten Staaten kann der Wähler nicht die Demokraten oder die Republikaner für bestimme Entscheidungen verantwortlich machen; er kann sich bei seiner Wahlentscheidung nur danach richten, wie der jeweilige Abgeordnete seines Wahlkreises sich in bestimmten wichtigen Entscheidungen verhalten hat. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Diskussion um ein „more responsible two-party System"46 - ein Parteiensystem also, das eine klarere Zuordnung politischer Verantwortung ermöglicht - seit den fünfziger Jahren in den Vereinigten Staaten nicht mehr abreißt. 3. Regierung plus Parlamentsmehrheit contra Opposition Das parlamentarische Regierungssystem tastet zwar rein formal die Eigenständigkeit des Parlamentes nicht an. Aber die dem Gewaltenteilungsdenken zugrundeliegende Vorstellung, dass ein eigenständiges Parlament als Ganzes einer von ihm unabhängigen Regierung gegenüberstünde, gerät zur Fiktion. Die politischen Grenzlinie verläuft in erster Linie nicht mehr zwischen dem Parlament auf der einen und der Regierung auf der anderen Seite, die entscheidende Trennungslinie liegt in einem parlamentarischen System zwischen der Regierungs- bzw. Parlamentsmehrheit und der Regierung auf der einen sowie der Opposition auf der anderen Seite. Die Regierungsmehrheit, die heute einen Regierungschef wählt, kann morgen nicht so tun, als ob sie mit dessen Person und Regierung nichts verbinde: Durch eine Verweigerung der Zusammenarbeit mit dem von ihr gestellten Regierungschef würde sie sich selbst einen Fehler bescheinigen - nämlich denjenigen, den falschen Kanzler gewählt zu haben. Die Brücke, über die Parlamentsmehrheit und Regierung im heutigen parlamentarischen Regierungssystem verbunden sind, bilden die Parteien. Jedoch muss dies nicht unbedingt bedeuten, dass Regierung und Parlamentsmehrheit eine absolute Einheit darstellen. Die unterschiedliche Intensität der Beziehungen zwischen diesen beiden Organen hängt in erster Linie ab von der Anzahl der Parteien, die zur Bildung einer Regierung notwendig sind: - Die häufig beschworene Einheit von Regierung und Regierungsmehrheit kommt am ehesten dann zustande, wenn nur eine Partei die Regierung stellt. Das ist definitionsgemäß in Zweiparteiensystemen der Fall, kann aber in Ausnahmefällen auch in Mehrparteiensystemen vorkommen. Z. B. hätte Adenauer nach der Wahl von 1957 allein mit der CDU/CSU eine Regierung bilden können, er stützte seine Regierung und Regierungsmehrheit im Zweiparteiensystem 45 Epstein, Leon D.: A comparative study of Canadian parties. – in: APSR Jg. 58 (1964) S. 55 “Toward a more responsible two-party-system” war der Titel der berühmten, von der American Political Science Association im Jahre 1950 herausgegebenen Denkschrift, die als Beilage zu Heft 3 (1950) der American Science Review erschien. 46 24 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung Regierung dann allerdings nicht nur auf die absolute Mehrheit der CDU/CSU, sondern schloss - wie in Anbetracht der Wahlabsprachen zu erwarten war - eine Koalition mit der DP Aber auch wenn nur eine Partei die Regierung stellt, ist es unwahrscheinlich, dass beide Seiten sich immer einig sind. Sie werden zwar versuchen, ihre Differenzen vor der Öffentlichkeit zu verbergen, aber interne Streitigkeiten werden nicht ausbleiben. Die Regierung kann hier darauf setzen, dass sie in der Regierungsmehrheit eine treue Gefolgschaft hat, aber sie darf diese Treue nicht allzu sehr strapazieren, will sie keine Palastrevolutionen heraufbeschwören. - Keine Einheit von Regierung und Regierungsmehrheit, aber eine relative gute Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten ist dann zu erwarten, wenn zwar mehrere Parteien für eint Regierungsbildung nötig sind, wenn aber vor der Wahl klar ist, welche Parteien im Falle eines Wahlsieges bereit sind, zusammen eine Regierung zu bilden. Durch diese Festlegung vor der Wahl binden sich die Parteien selbst gegenüber ihren Wählern. Es ist für sie mit erheblichen Gefahren verbunden, wenn sie während der Legislaturperiode von diesem Versprechen abrücken. Ein solches „Blocksystem" hat sich spätestens seit Anfang der 60er Jahre in der Bundesrepublik herausgebildet, auch wenn es nicht immer reibungslos funktioniert. Die F.D.P. hat seitdem bei Bundestagswahlen jeweils zu erkennen gegeben, mit welcher Partei sie eine Koalition eingehen wollte. 1969 hat sie ihren Wechsel zur SPD zumindest angedeutet, in den folgenden Jahren war jeweils klar, mit welchem Partner sie sich zu einer Koalition verbünden würde. Dass sie 1982 in der Mitte der Legislaturperiode die Fronten wechselte, brachte für sie bei Wählern und Mitgliedern erhebliche Probleme. Durch die schnell folgende Neuwahl des Bundestages wurde dieser Schwenk der F.D.P allerdings sanktioniert. Die Wählerschaft der Bundesrepublik erwartet vor der Wahl Auskunft oder zumindest deutliche Signale darüber, welche Parteien im Falle eines Wahlsieges miteinander koalieren werden. Parteien, die sich dieser Erwartung zu entziehen versuchen, müssen mit Stimmenverlusten rechnen. Bei den Bundestagswahlen 1987 schlug es z. B. für die SPD negativ zu Buche, dass sich ihr Spitzenkandidat Johannes Rau zwar weigerte, eine Koalition mit den GRÜNEN zu akzeptieren, zugleich aber keine Lösung für den Fall anbieten wollte, dass weder die SPD alleine noch die CDU/CSU zusammen mit der F.D.P eine absolute Mehrheit erhalten sollten. Und auch im Jahre 1994 musste sich der SPD-Spitzenkandidat Scharping immer wieder Kritik anhören, weil er nicht bereit war, eine Koalitionsaussage zu machen. Im Falle eines solchen „Blocksystems" ist zwar eine einigermaßen kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Regierung und Regierungsmehrheit zu erwarten, eine Einheit zwischen beiden Seiten wird jedoch eher die Ausnahme bleiben. Die Streitigkeiten werden eher öffentlich ausgetragen als im Falle einer Einparteienregierung, denn jede der beiden Seiten ist daran interessiert, auf Kosten des Regierungspartners bei der Wählerschaft Punkte zu sammeln. Ein Vielparteiensystem, bei dem vor der Wahl nicht klar ist, wer mit wem eine Regierung bildet, kann noch am ehesten dazu führen, dass Parlament und - im Mehrparteiensystem - im Vielparteiensystem 25 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung Regierung gemäß den klassischen Vorstellungen einander gegenüberstehen. Es liegt in der Logik eines Systems, in dem mehr als drei Parteien zur Regierungsbildung notwendig sind, dass sich die einzelnen Parteien vor der Wahl bestenfalls vage festlegen, um nicht von vornherein eine Regierungsbildung unmöglich zu machen. In solchen Systemen - die IV Republik Frankreichs oder das politische System des Nachkriegsitaliens liefern die Beispiele - bildet der Regierungssturz den Normalfall. Oder: Je eher in einem parlamentarischen Regierungssystem das Parlament noch als Gegenüber der Regierung betrachtet werden kann, desto instabiler ist gewöhnlich dieses System. Doch nicht nur die Beziehungen zwischen Regierung und Regierungsmehrheit gestalten sich in den verschiedenen politischen Systemen unterschiedlich aus und unterliegen mit der Zeit Veränderungen; dies gilt auch für die Haltung der Opposition zu Regierung und Regierungsmehrheit. Klammert man das Problem der außerparlamentarischen Opposition - derjenigen Gruppierungen also, die nicht im Parlament vertreten sind und durch Demonstrationen, Blockaden und ähnliche Strategien ihre Gegenposition zur herrschenden Mehrheit zu verdeutlichen versuchen - hier aus, so ist die Opposition einfach zu umschreiben: Sie wird durch diejenigen Parteien gebildet, die im jeweiligen Parlament in der Minderheit sind und die Aufgabe haben, die Regierung zu kontrollieren, zu kritisieren und ihr Alternativen gegenüberzustellen. So klar diese Aufgabenumschreibung im ersten Augenblick erscheint, die Erwartungen, denen sich eine Opposition gegenübersieht, sind doch sehr unterschiedlich. Beeinflusst von einer Arbeit des amerikanischen Politikwissenschaftlers Robert A. Dahl47 haben sich in der Bundesrepublik vor allem die Begriffe der kompetitiven und der kooperativen Opposition durchgesetzt. Eine kompetitive Opposition sieht ihre Aufgabe in erster Linie darin, eine klare Gegenposition zu den Regierungsentscheidungen bereitzustellen. Sie zielt mit ihrer Kritik am Regierungshandeln nicht auf eine Verbesserung z. B. von Gesetzesvorlagen der Regierung. Ihr Blick gilt vielmehr den nächsten Wahlen: Der Wählerschaft sollen die Mängel der Politik der Regierung deutlich gemacht, und sie soll dazu veranlasst werden, sich bei der nächsten Wahl zugunsten der derzeitigen Opposition zu entscheiden. Die Sachalternativen werden nicht selten durch personelle Alternativen unterstrichen: in Großbritannien z. B. steht dem Premierminister der Oppositionsführer (Leader of the Opposition) mit seinem Schattenkabinett gegenüber, in dem verschiedene Schattenminister für unterschiedliche Politikbereiche zuständig sind und mit dem verdeutlicht werden soll, dass die jeweilige Opposition kompetente Fachleute und potentielle Minister in ihren Reihen hat.48 Versteht sich eine Opposition in erster Linie als kompetitives Gegenüber zur Regierung, so wird die Detailarbeit in den Ausschüssen bedeutungslos. Der Ort der scharfen Auseinandersetzungen Formen der Opposition Kompetitive Opposition 47 Dahl, Patterns of opposition. – in: ders. (Hrsg.): Political oppositions in western democracies, S. 332 ff. Dahls Typologie ist allerdings wesentlich komplexer. 48 Hierzu vor allem Punnett, R.M.: Front-bench opposition. The role of the Leader of the Opposition, the shadow cabinet and the shadow government in British politics. – London: Heinemann 1973 26 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung zwischen Regierung und Opposition ist das Parlamentsplenum. Hier wenden sich Regierung und Regierungsmehrheit sowie Opposition an die Wählerschaft: Die eine Seite mit dem Ziel der Rechtfertigung ihrer Entscheidungen, die andere Seite mit der Absicht, die Mängel und Fehler der Regierungspolitik herauszustellen. Die kooperative Opposition hingegen denkt nicht in erster Linie an die nächsten Wahlen; ihr kommt es vor allem darauf an, ihre eigenen Vorstellungen nicht nur als Alternativen zu den Regierungsentscheidungen darzustellen, sondern sie soweit wie möglich in den konkreten Gesetzesentscheidungen unterzubringen. Sie folgt also dem sprichwörtlichen Motto: Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Solche konkreten Erfolge kann sie aber nur dann erzielen, wenn sie darauf verzichtet, der Regierung öffentlich ihre Inkompetenz nachzuweisen. Sie ist gezwungen, über Detailverhandlungen in den Ausschüssen zu versuchen, der Regierung und der Regierungsmehrheit möglichst viele Zugeständnisse abzuringen. Wird ein solches Oppositionsverhalten auf die Spitze getrieben, so findet die wesentliche Parlamentsarbeit annähernd ausschließlich in den Ausschüssen statt, das Plenum hingegen, in dem die unterschiedlichen Positionen von Mehrheit und Minderheit der Öffentlichkeit vermittelt und ihr gegenüber begründet werden sollen, verliert seine Funktion. Der Wähler kann die Verantwortung für Entscheidungen nicht mehr zurechnen, da für ihn die Kompromisse nur schwer über- und durchschaubar sind. So einleuchtend diese Unterscheidung auf den ersten Blick auch ist, sie trägt Probleme in sich. Um hier nur die wichtigsten anzusprechen: Kooperative Opposition Probleme - Es gibt zwar rein kompetitive Oppositionsparteien, sie sind jedoch meist nur von geringer Bedeutung im jeweiligen politischen System. Existiert jedoch eine große Partei, die es sich leisten kann, auf strikten Oppositionskurs zur Mehrheit zu gehen, ist dies ein ernstes Anzeichen für die Instabilität des betreffenden Systems. Eine rein kooperative Opposition ist hingegen schwer vorstellbar: Sie vernachlässigt nicht nur ihre eigentlichen Aufgaben, sie verspielt auch die Chance, sich dem Wähler als künftige Regierungspartei zu empfehlen. - Eine strikt kompetitive Opposition, die in allen Politikfeldern einen totalen Konfrontationskurs gegen die Regierungsmehrheit einschlägt, ist letztlich nur bei einer Partei denkbar, die auch das politische System insgesamt in Frage stellt. Denn spätestens nach einem Regierungswechsel wird ihr deutlich werden, dass sie zwar teilweise neue Schwerpunkte setzen kann, ihr Handlungsspielraum in allen westlichen Demokratien aber erheblichen Beschränkungen unterliegt.49 Sie wird einsehen müssen, dass sich Alternativen wesentlich leichter anbieten als durchsetzen lassen. Kann sie ihre eigenen Vorstellungen aus der Oppositionszeit im Falle einer Regierungsübernahme in wesentlichen politischen 49 Siehe hierzu Rose, Richard: Do parties make a difference? – London u.a.: Macmillan 1980; Pager, Edward C.: Die “do parties make a difference”-Diskussion in Großbritannien. – in: Blanke/Wollmann (Hrsg.): Die alte Bundesrepublik, S. 239 ff.; oder für die Bundesrepublik: Schmidt, Manfred G.: Machtwechsel in der Bundesrepublik (1949-1990). Ein Kommentar aus der Perspektive der vergleichenden Politikforschung. – in: Blanke/Wollmann, a.a.O., S. 179 ff. 27 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung Problembereichen dann nicht umsetzen, verliert sie notwendigerweise an Glaubwürdigkeit. - Die Begriffe der kompetitiven und kooperativen Opposition entbehren bis heute einer empirischen Absicherung, sie unterliegen weitgehend subjektiven Bewertungen. Diejenigen Autoren, die mit dem Verhalten der Opposition in der Bundesrepublik bis in die sechziger Jahre nicht zufrieden waren, forderten im Normalfall eine stärker kompetitive Opposition, und sie verwiesen vor allem auf das britische Beispiel50 Doch einerseits ist die englische Opposition nicht die strikte Nein-Sagerin, als die sie bei uns gerne hingestellt wird. Zum anderen belegt gerade das englische Beispiel die Subjektivität der Begriffe: So wurde z. B. das Verhalten der konservativen Opposition in Großbritannien zwischen 1945 und 1951 von drei Autoren völlig unterschiedlich bewertet, nämlich zum einen als kooperativ, zum anderen als kompetitiv und zum dritten als Mischform zwischen den beiden Extremformen des Oppositionsverhaltens.51 Trotz der hier aufgeführten Bedenken wird man der Unterscheidung zwischen kooperativem und kompetitivem Oppositionsverhalten einen gewissen Erklärungswert nicht absprechen können: Dass die GRÜNEN oder die PDS im Bundestag ein deutlich kompetitiveres Verhalten als die SPD oder jetzt die CDU/CSU praktizierten bzw. praktizieren, dürfte unstreitig sein. Man wird auch mit Hilfe dieser Begriffe Phasen unterschiedlichen Oppositionsverhaltens in der Bundesrepublik ausmachen können.52 Man sollte aber immer im Auge behalten, dass eine Opposition zumindest dann, wenn sie selbst die Regierung übernehmen Unterschiedliches Oppositionsverhalten 50 z.B. Hereth, Die parlamentarische Opposition, S. 121, S. 142 ff.; Wilhelm Hennis: Der Deutsche Bundestag 1949-1965. Leistung und Reformaufgaben. – in: Der Monat H. 215 (August 1966) S. 29 f.; heute zu einem solchen Vergleich und zur britischen Opposition im Deutschen vor allem Helms, Wettbewerb und Kooperation, S. 51 ff., S. 154 ff. 51 Ivor Jennings (Parliament. – Cambridge: Cambridge U.P. 1961 (2. Aufl.) S. 181) beurteilt das Verhalten der damaligen Opposition als weitgehend kooperativ, Bernard Crick (Two theories of opposition. – in: New Statesman vom 18.6.1960, S. 882) hingegen betrachtet es als weitgehend kompetetiv, obwohl er einen anderen Ausdruck wählt. Eine vermittelnde Position vertritt J.D. Hoffman (The Conservative Party in opposition 1945-1951. – London: Macgibbon & Kee 1964, S. 269 52 So z.B. Manfred Friedrich: Parlamentarische Opposition in der Bundesrepublik: Wandel und Konstanz. – in: Oberreuter (Hrsg.): Parlamentarische Opposition, S. 234 ff. Man sollte hier aber einige Vorsicht walten lassen. Die SPD war jedenfalls nicht die Nein-Sager-Partei, zu der sie in den 50er Jahren insbesondere von der CDU/CSU und von Teilen der Öffentlichkeit gemacht wurde (zum Abstimmungsverhalten im ersten Bundestag: Kralewski/Neunreither: Oppositionelles Verhalten, S. 33 ff.). Ein frühes Beispiel des moderaten Oppositionsverständnisses der SPD formulierte z.B. Erwin Schoettle noch im Frankfurter Wirtschaftsrat, als die SPD bei der Wahl der Direktoren im Sommer 1947 scheiterte: „Es wird nicht die Form einer hemmungslosen Opposition sein, ... (es sollte vielmehr) die Form einer praktischen, konstruktiven Opposition gegen Maßnahmen sein, von denen wir sicher sind, dass sie sich zum Schaden des deutschen Volkes auswirken werden. Wir werden uns darum bemühen, den Vorschlägen, die wir missbilligen, bessere Vorschläge entgegenzustellen, und wir werden diejenigen, die die Träger einer anderen wirtschaftspolitischen Auffassung sind, bei jeder Gelegenheit zwingen, Farbe zu bekennen.“ zit. Nach Benz, Wolfgang: Opposition gegen Adenauers Deutschlandpolitik. – in: Weber, Jürgen (Hrsg.): Die Republik der fünfziger Jahre. Adenauers Deutschlandpolitik auf dem Prüfstand. – München: Olzog 1989, S. 51 (= Akademiebeiträge zur politischen Bildung 22)) 28 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung will, im Normalfall gezwungen ist, sowohl kompetitiv als auch kooperativ zu agieren. Sie muss glaubwürdig bleiben und sie muss Alternativen zeigen: Sie wird nicht immer von vornherein Nein sagen können zu Regierungsvorschlägen, vor allem dann nicht, wenn ihr von Regierungsseite die Zusammenarbeit angeboten wird. Sie wird aber auch nicht in eine immerwährende Zusammenarbeit mit der Regierung einsteigen können. Die Diskussionen in der SPD am Beginn der 13. Legislaturperiode sind nur ein Beispiel dafür, dass auch die Oppositionsfraktionen selbst in dieser Frage nicht immer einig sind. Ein SPD-Abgeordneter brachte seine Forderung nach einem kompetitiveren Vorgehen seiner Partei in diesem Zusammenhang auf die griffige Formel: „Die SPD diskutiert schon wie eine Regierungsfraktion. Es gibt zwar ein Regierungsprogramm, aber kein Kampfprogramm"53 Eine Mischung aus kompetitivem und kooperativem Oppositionsverhalten liegt letztlich auch in der Konsequenz der Aufgaben einer Opposition im parlamentarischen Regierungssystem.54 Wie bereits erwähnt, bildet die „klassische Trias Kritik, Kontrolle, Alternative"55 die Grundlage für die Aufgabe einer parlamentarischen Opposition. Man kann den Katalog der Oppositionsaufgaben auch länger fassen,56 entscheidend ist jedoch nicht der Umfang, sondern die Definition der einzelnen Punkte. Der Dreierkatalog dürfte ausreichen, wenn man die einzelnen Aufgaben umfassend umschreibt: Unter Alternative hat man dann sowohl Sach- als auch Personalalternativen zu verstehen; Kontrolle hat zu beinhalten, dass die Opposition die Regierungspolitik auf ihre Verfassungs- und Gesetzeskonformität hin überwacht; Kritik schließlich darf nicht als bloße Nörgelei im Detail oder pauschale Distanzierung verstanden werden, sondern muss auch die Bereitschaft zur konkreten Mitarbeit, zur Verbesserung von Regierungs- und Mehrheitsvorschlägen umfassen. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass diese Aufgaben nicht allein parlamentsintern verstanden werden können, sondern auch darauf abzielen müssen, diejenigen Wählerkreise, die mit der jeweiligen Regierungspolitik nicht einverstanden sind, zu integrieren, so sind - wie immer der Katalog ausfällt - die wichtigsten Oppositionsaufgaben umschrieben.57 Oppositionsaufgaben 53 Zit. Nach Deupmann, Ulrich: „Wie, bitte, geht’s zum Kabinettstisch? – in: SZ vom 31.3.1995, S. 3; siehe auch: Bannas, Günter: Bonn ist nicht Mainz. – in: FAZ vom 31.3.1995, S. 16 54 Ähnlich Werner, Camilla: Das Dilemma parlamentarischer Opposition. – in: Herzog u.a.: Parlament und Gesellschaft, S. 184 ff. 55 Oberreuter, Institutionalisierung der Opposition? – in: ders. (Hrsg.), a.a.O., (Anm. 52), S. 271 56 So z.B. Steffani, Winfried: Art. Opposition. – in: Sontheimer, Kurt / Hans H. Röhring (Hrsg.): Handbuch des politischen Systems der Bundesrepublik, S. 430 57 Ausführlicher zum Oppositionsverhalten siehe Kap. V, Abschn. 1 c) 29 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung 4. Der Bundesrat - Ländervertretung, Oppositionsorgan oder verlängerter Arm der Bundesregierung? Da der Bundesrat im Folgenden weitestgehend ausgeblendet bleibt,58 soll in diesem Kapitel, in dem es in erster Linie um gewaltenteilende Aspekte geht, wenigstens kurz auf ihn eingegangen werden. Im Parlamentarischen Rat war die Ausgestaltung der föderalistischen Ordnung wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird59 - zwischen den Parteien am heftigsten umstritten. Die endgültige Regelung, auf die sich der Parlamentarische Rat einigte, sah dann eine nach der Einwohnerzahl der Bundesländer gestaffelte Mitgliederzahl im Bundesrat vor: Jedes Land hatte nach Art. 51 Abs. 2 GG mindestens drei, Länder mit mehr als zwei Millionen Einwohnern verfügten über vier und Länder mit mehr als sechs Millionen Einwohnern über fünf Stimmen. Diese Bestimmung wurde im Rahmen der deutschen Vereinigung geändert. Für die kleineren Länder blieb es bei der alten Regelung: Weiterhin hat jedes Land mindestens drei Stimmen, und Länder mit mehr als zwei Millionen Einwohnern verfügen auch heute über vier Stimmen. Aber für die größeren Länder erfolgte eine Differenzierung: Ländern mit mehr als sechs Millionen Einwohnern stehen heute fünf und Ländern mit mehr als sieben Millionen Einwohnern sechs Stimmen im Bundesrat zu, was die in Tabelle 1 aufgeführte Stimmenverteilung Zusammensetzung des Bundesrates 58 Innerhalb dieser Reihe wird der Bundesrat bei Laufer / Münch, Das föderative System, insbesondere S. 108 ff., ausführlich behandelt. 59 Siehe Kapitel II, Abschn. 6 30 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung ergibt. Die Stimmen eines Landes können jeweils nur geschlossen abgegeben werden. Dem Bundesrat können nur Mitglieder von Landesregierungen angehören (Art. 51 Abs. 1 GG). Der den Bundesrat betreffende Abschnitt des Grundgesetzes beschränkt sich hinsichtlich seiner Kompetenzen auf die lapidare Formulierung: „Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit". Durch eine Grundgesetzänderung im Jahre 1992 erhielt der Bundesrat darüber hinaus eine Mitwirkungsbefugnis „in Angelegenheiten der Europäischen Union." (Art. 50 GG). Eine genauere Spezifizierung der Kompetenzen erfolgt an anderen Stellen des Grundgesetzes. Doch der Bundesrat entwickelte sich anders, als die Verfassungsväter und -mütter es sich vorgestellt hatten. In Anbetracht der bisherigen Stabilität des politischen Systems der Bundesrepublik hat er zwar seine ihm vom Parlamentarischen Rat zugedachte Rolle einer Reserve für einen funktionsuntüchtigen Bundestag im Gesetzgebungsnotstand60 bislang nicht übernehmen müssen. Er konnte aber seine Kompetenzen - insbesondere durch eine extensive Interpretation derjenigen Gesetze, die er als zustimmungspflichtig betrachtet61 - wesentlich ausdehnen und seine Position gegenüber dem im Parlamentarischen Rat gefundenen Kompromiss, der von einen deutlich niedrigeren Anteil zustimmungspflichtiger Gesetze ausgegangen war, erheblich stärken.62 Die Dynamik des föderalistischen Systems der Bundesrepublik, die einerseits zu einer Schwächung der Länder, andererseits aber zu einer Stärkung des Bundesrates führte, war für den Parlamentarischen Rat nicht vorhersehbar. Und auch seine Hoffnung, dass die Entscheidungen des Bundesrates weitestgehend „sachlichen" Kriterien folgen und die Herrschaft der Parteien einschränken würden, erfüllte sich nur in einem sehr bedingten Rahmen. Die wachsende Polarisierung zwischen der CDU/CSU auf der einen und der SPD auf der anderen Seite, die die Bonner Bühne nach 1949 prägte, konnte nicht ohne Rückwirkungen auf das Abstimmungsverhalten der Länderregierungen im Bundesrat bleiben.63 Sie gerieten zunehmend unter den Druck der „Bonner Verhältnisse". Von der Regierungskoalition auf Bundesebene abweichende Regierungsmehrheiten in den Bundesländern waren am Beginn der Bundesrepublik noch vergleichsweise häufig. Das zähe Ringen um die Frage der Zustimmungsbedürftigkeit der Westverträge in den Jahren 1952 und 1953, in dem der baden-württembergischen Landesregierung, die sich aus SPD, F.D.P und BHE zusammensetzte, die entscheidende Rolle zukam, war der bedeutsamste Konflikt zwischen dem Bundesrat auf der einen und der Bundestagsmehrheit bzw. der Bundesregierung auf der anderen. Seite am Anfang der Bundesrepublik.64 Spätestens seit Mitte der 50er Jahre wurden auch im Bundesrat die Länder- durch Stärkung des Bundesrates „Parteipolitisierung“ des Bundesrates 60 Siehe hierzu Kap. III, Abschn. 3 Siehe hierzu ausführlicher Kap. V., Abschn. 1 c) 62 Neunreither, Der Bundesrat zwischen Politik und Verwaltung, S. 64 ff. 63 Zum Folgenden vor allem Lehmbruch: Parteienwettbewerb im Bundesstaat, S. 136 ff. 64 Hierzu ausführlich Baring, Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie, S. 261 ff.; siehe auch Schwarz, Die Ära Adenauer 1949-1957, S. 169 ff. 61 31 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung die Parteiinteressen dominiert. Dies fiel zunächst nicht allzusehr auf, da die Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat weitgehend identisch waren. Jedoch machte spätestens das Ausscheren der F.D.P. aus der Koalition mit der CDU in Nordrhein-Westfalen im Jahre 1956 die parteipolitische Bedeutung des Bundesrates deutlich: Die ED.P. verfolgte mit dieser Aktion auf Landesebene u. a. ein bundespolitisches Ziel, nämlich die Verhinderung eines von der CDU/CSU geplanten Wahlgesetzes. Hinsichtlich der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung der Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat sind drei unterschiedliche Konstellationen zu unterscheiden: Zum einen eine absolute Mehrheit der Länder im Bundesrat, deren Regierung von der Bundestagsopposition geführt werden; dies war „nur" während des größten Teils der sozialliberalen Koalition, während einer relativ kurzen Zeit 1990 und von 1996 bis 1998 der Fall. Zum zweiten: Eine Übereinstimmung der Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat; dies galt für eine sehr kurze Zeitspanne im Sommer 1955, von 1961 bis zum Ende der Großen Koalition, vom Regierungswechsel 1982 bis 1990, von 1990 bis 1991 sowie für einige Monate am Beginn der Regierung Schröder 1998/99. Über einen ähnlich langen Zeitraum herrschte zum dritten ein „Zwitterzustand": Weder die Parteien der Bonner Regierungsmehrheit noch die Oppositionsparteien verfügten bis 1961 - sieht man von dem erwähnten kurzen Zwischenspiel 1955 ab -, zwischen 1969 und 1971, zwischen 1991 und 1996 sowie seit dem Frühjahr 1998 über eine absolute Mehrheit im Bundesrat. In diesen Zeiträumen waren Länderregierungen das Zünglein an der Waage, an denen sowohl die Bonner Regierungs- als auch die Oppositionsparteien beteiligt waren. Allerdings sind auch in solchen „Zwitterzuständen" unterschiedliche Gewichte der Opposition bzw. Regierungsmehrheit im Bundesrat auszumachen: Zwischen 1969 und 1972 kann man trotz des Schwebezustandes von einer CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat sprechen, in den 90er Jahren war lange eine De-facto-SPD-Mehrheit vorhanden, obwohl die Stimmenzahl der SPD-geführten Länder, deren Regierungen weder die CDU noch die F.D.P angehörten, knapp unter der absoluten Mehrheit lag.65 Das Zurücktreten der bundesstaatlichen hinter die parteienstaatliche Komponente wird insbesondere dann augenscheinlich, wenn die Bundestagsopposition im Bundesrat die besseren Karten hat. Übereinstimmende Mehrheiten in Bundesrat und Bundestag hingegen schränken den Entscheidungsspielraum des Länderorgans ein, der Bundesrat kann in diesem Fall zwar die politischen Ziele von Bundesregierung und Bundestagsmehrheit bei Zustimmungsgesetzen teilweise deutlich - modifizieren, aber er kann sie aus Gründen der Parteisolidarität nur in Ausnahmefällen blockieren. Stimmen hingegen die Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat - wie z. B. während der sozialliberalen Koalition und in den letzten Jahren der Regierung Kohl - nicht überein, so kann sich der Bundesrat teilweise zu einem effektiven Gegengewicht zur Bundesregierung und zur Bundestagsmehrheit entwickeln. Spektakulärstes 65 Mehrheiten im Bundesrat Partielles Gegengewicht zur Regierungsmehrheit Zählung nach Schindler, Datenhandbuch, Bd. II, S. 2437 ff. 32 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung Beispiel war in der Legislaturperiode 1994-1998 die Blockade des Steuerpaketes der Bundesregierung (Reform der Einkommensteuer) durch die SPD-geführte Mehrheit des Bundesrates - eine Strategie von immenser Bedeutung, die möglicherweise zum Wahlsieg der SPD bei der Bundestagswahl 1998 beitrug. Die Regierungsmehrheit muss in derartigen Konstellationen bei zustimmungspflichtigen Gesetzen auf die Bundesratsmehrheit Rücksicht nehmen - intensive Verhandlungen zur Kompromissfindung sind nötig, da ohne die Zustimmung des Bundesrates in diesem Bereich nichts durchsetzbar ist. So wurden z. B. am 10. 6. 1994 in einer einzigen Sitzung des Bundesrates 13 Gesetzbeschlüsse der Regierungsmehrheit im Bundestag gestoppt:66 Sechs Vorlagen lehnte der Bundesrat ab, zu sieben weiteren rief er den Vermittlungsausschuss an,67 der unter solcher Bedingung Hochkonjunktur hat. Das Ergebnis ist - worauf insbesondere Gerhard Lehmbruch verweist68 - eine Situation, die einer Großen Koalition ähnelt. Und für den Wähler ergibt sieh das Problem, dass er die Verantwortung für viele gesetzgeberische Entscheidungen parteipolitisch nicht mehr zuordnen kann. Man mag diese zeit- und teilweise Außerkraftsetzung des Mehrheitsprinzips durch die divergierenden Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat bedauern. Man sollte darüber jedoch nicht vergessen, dass nicht allein dieses Prinzip bestimmend für das westliche Demokratieverständnis ist. Auch Gewaltenteilung und Rechtsstaat z. B. sind Instrumente, die das Mehrheitsprinzip einschränken sollen. Hinsichtlich der Lokalisierbarkeit von Verantwortung wird man darüber hinaus auf die USA oder auf die Schweiz verweisen können, wo sieh in diesem Zusammenhang weit gravierendere Probleme ergeben als in der Bundesrepublik. Während der sozialliberalen Koalition kam die These auf, die später immer dann Hochkonjunktur hatte, wenn die Opposition im Bundestag über die Mehrheit im Bundesrat verfügte, nämlich die Umfunktionierung des Bundesrates zu einem Instrument der Opposition sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.69 Zumindest in einem Punkt hatte der Bundesrat seine Position damals tatsächlich auch überzogen. Er vertrat nämlich die Ansicht, dass Novellierungen von zustimmungspflichtigen Gesetzen auch dann seiner erneuten Zustimmung bedürften, wenn die veränderten Passagen selbst nicht zustimmungsbedürftig sind. In seinem Urteil aus dem Jahre 1974 hat das Bundesverfassungsgericht diese Ansicht des Bundesrates korrigiert.70 Bewertung Bei der Beurteilung des Machtzuwachses des Bundesrates gegenüber den Vorstellungen des Parlamentarischen Rates wird man jedoch die Entwicklung des föderalistischen Systems in der Bundesrepublik insgesamt zu berücksichtigen haben. Wie an anderer Stelle zu zeigen sein wird,71 hat der Bund heute de facto 66 SZ vom 11./12.6.1994, S. 1; Das Parlament Nr. 24 vom 17.6.1994, S. 22 Siehe hierzu ausführlicher Kap. IV, Abschn. 1 d) 68 Hierzu z.B. Lehmbruch a.a.O., S. 144 ff.; Fromme, Gesetzgebung im Widerstreit, S. 21 ff.; Laufer / Münch, a.a.O. (Anm. 58), S. 147 ff. 69 BVerfGE, Bd. 37, S. 363 ff. 70 Siehe Kap. V, Abschn. 1 c) 71 Siehe Kap. V, Abschn. 1 c) 67 33 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel I: Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung alle wichtigen Gesetzgebungsbereiche an sich gezogen oder sich zumindest ein Mitwirkungsrecht gesichert.72 Den Ländern ist nur noch ein kleiner Restbereich an eigenständiger Gesetzgebungskompetenz verblieben, woran auch die jüngsten Rückübertragungen von Kompetenzen an die Länder nichts Wesentliches geändert haben.73 Die Machtausweitung des Bundes trug zum Anstieg der zustimmungspflichtigen Gesetze ebenso bei wie das ausgiebige Hineinregieren des Bundes in die Verwaltungen der Bundesländer. Art. 84 Abs. 1 GG sieht nämlich vor, dass Bundesgesetze von den Ländern „als eigene Angelegenheit" ausgeführt werden und dass Gesetze, die die Länder im Verwaltungsverfahren einschränken, der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Ein Teil ihrer Kompetenzverluste ist für die Länder durch den Machtzuwachs des Bundesrates also wieder ausgeglichen worden. Als einer der ersten hat Konrad Hesse darauf aufmerksam gemacht, dass die Bedeutung des Föderalismus für das gewaltenteilende System der Bundesrepublik heute immer weniger in der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern liegt. Stattdessen ist der Bundesrat zu einem gewichtigen gewaltenteilenden Organ geworden.74 Berücksichtigt man diese Gesamtentwicklung, so wird man den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit auch für einen Bundesrat, der gewichtige Gesetzespläne der Bundesregierung und der Bundestagsmehrheit blockiert, nicht aufrechterhalten können. Die Vorwürfe an den Bundesrat von Seiten der Regierung und der Regierungsmehrheit im Bundestag, er treibe Blockadepolitik,75 werden im Falle unterschiedlicher Mehrheiten immer wieder auftauchen. Da aber inzwischen Regierungen sowohl der SPD als auch der CDU/CSU solche Klagen gegen den Bundesrat erhoben haben, sollte man sie nicht allzu schwer gewichten. 72 Laufer / Münch, a.a.O. (Anm. 58), S. 95 ff. Siehe hierzu Kap. V., Abschn. 1 c) 74 Hesse, Konrad: Der unitarische Bundestaat. – Karlsruhe: Müller 1962, S. 26 ff. 75 So wiederum der Vorwurf der Regierung in der erwähnten Sitzung vom 10.6.1994 (SZ vom 11./12.6.1994, S.1) 73 34