Reisereportage 2 - Michaela Doepke

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BUDDHISMUS
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S. E. Togden Rinpoche, ehem. Minister von Ladakh. Er gab in
Tingmosgang Belehrungen zum großen Drikung-Powa.
© Mitsue Nagase
SPECIAL L A D A K H
L A D A K H SPECIAL
Text und Fotos: MICHAELA DOEPKE
Ladakh im westlichen Himalaja wird auch Klein-Tibet genannt.
Hier ist die traditionelle tibetische Klosterkultur noch lebendig.
Im Gefolge und auf Einladung des Drikung-Thronhalters
Drikung Kyabgön Chetsang bereisten wir etliche alte Klöster
und tauchten in eine andere Welt ein.
B
ei wolkenlosem, strahlend
blauem Himmel landen wir
mit dem Flugzeug in über
3 500 Meter Höhe nahe der
Hauptstadt Leh. Ringsum
türmen sich Gebirgsketten, die sich wie
bizarre Mondlandschaften emporheben, zerklüftet von dunklen Wolkenschatten. Die Flutkatastrophe vom Vorjahr steckt hier noch vielen Menschen
in den Knochen. Ladakh, ein Land voller Spiritualität und Geheimnisse, Kontraste und Gegensätze. Dank der Atemübungen des Pranayama-Trainings
bleibt mir die übliche Höhenkrankheit
erspart. Zur Eingewöhnung schlafen
wir die erste Nacht in einem Hotel in
Leh. Die touristische und bunte Stadt
ist Ausgangspunkt für viele Trekkingtouren und Ausflüge in die abgelegenen Klöster der Umgebung.
Dank unserer Seminarreiseleiterin
Inka Jochum, einer der ersten Schülerinnen von S. H. Drikung Kyabgön
Chetsang, haben wir die Ehre, in seinem Gefolge etliche Drikung-Klöster
bereisen zu dürfen und an den Feierlichkeiten zu seinem Geburtstag sowie
der Einweihung des neuen Bodhi-Stupa
in Tingmosgang teilzunehmen. „Templing“ nennt Inka unsere Klostertour humorvoll und kreiert ein neues Wort.
Spiritualität liegt hier förmlich in der
Luft und verbindet Mensch und Natur:
Bunte Gebetsfahnen und Manisteine
mit heiligen Texten und Mantren zieren
die kargen grauen Bergmassive, die
Steinwüsten gleichen. Kein Wunder:
Unter den rund 270 000 Einwohnern,
überwiegend tibetischen Ursprungs,
leben im dünn besiedelten Ladakh
heute noch etwa 3 000 Mönche und
Lamas, die von den Ladakhis hoch verehrt werden.
Derzeit gibt es unter dem Dach der
Drikung-Linie in Ladakh drei Hauptklöster und 85 kleinere Klöster mit insgesamt 660 Mönchen und 100 Nonnen. Eines der Klöster ist Phyang,
Wohnsitz von S. H. dem Drikung Kyabgön Chetsang, dem Oberhaupt der Drikung-Linie in Ladakh. Von hier aus starten wir im Konvoi mit 30 Fahrzeugen
unsere Klostertour. Auf den offenen Ladeflächen stehen nicht nur Mönche,
sondern auch festlich gekleidete Einheimische, um Rinpoche auf der Fahrt zu
den Feierlichkeiten in Tingmosgang das
Geleit zu geben. „Jullee, Jullee!“, rufen
sie uns zur Begrüßung zu. Diese liebenswürdigen Menschen bestechen
durch ihre Freundlichkeit und ihre
überwältigend farbigen Trachten: Ladakhi-Männer mit kunstvollen Blumenhüten, Frauen mit dem Perak, einer
kostbaren Kopfbedeckung, überreich
geschmückt mit Türkisen. Aber am
meisten faszinieren mich die alten Menschen: diese schönen, lebendigen Gesichter, die wie Landkarten von einem
harten, aber zufriedenem Leben gezeichnet sind. Viele auf Stöcke gestützte
Alte erklimmen mühsam die kilometerlange Anhöhe zum Kloster Tserkamo
nach Tingmosgang, wollen sich aber
beim Einstieg in unser Auto nicht helfen lassen. Hoch geachtet von der ladakhischen Gesellschaft, bewahren sie bis
zuletzt ihren Stolz, ihre Würde. Viele
Frauen in ihren überreich geschmückten Trachten tragen lachend und in der
Hitze schwitzend ihre Kleinkinder auf
dem Rücken den Anstieg zum Kloster
hinauf. Manche sind sogar von weither
aus Tibet zu Fuß über die Grenze gekommen, nur um Chetsang Rinpoche
einmal im Leben zu sehen und Initiatio-
Oben: Frauen aus Ladakh in den
landesüblichen Festtrachten
Unten: Mönche der Drikung-Linie beim großen
Klosterfest in Tingmosgang, zu dem rund
6 000 Menschen angereist kamen.
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Traditionelle Cham-Tänze beim Klosterfest in Tingmosgang zu Ehren des Drikung-Thronhalters:
Mönche verkörpern mit eindrucksvollen Masken und Gewändern Schutzgottheiten und Dämonen.
nen von ihm zu erhalten. Sie strahlen
trotz der immensen Anstrengungen,
die sie auf sich genommen haben, um
bei diesem großen Fest dabei sein zu
können.
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Prunkvolles Klosterfest
mit traditionellen Cham-Tänzen
Ladakhs prunkvolle Klosterfeste sind
berühmt. Rund 6 000 Menschen sind
von weither nach Tingmosgang gekommen, um den Geburtstag des DrikungThronhalters zu feiern. Sie wollen eine
Woche lang seinen kostbaren Mahamudra-Belehrungen lauschen sowie den
Belehrungen von S. E. Togden Rinpoche zum Großen Drikung Phowa. Unter den wenigen Westlern, die sonnengeschützt auf einer Empore sitzen, sind
Deutsche, Russen, Estländer und
Schweden. Bei seinem festlichen, von
Trompetenklängen begleiteten Einzug
grüßt der Drikung-Thronhalter die
bunte, dicht gedrängte Menge, geschützt von einem großen gelben Sonnenschirm, der über ihn gehalten wird.
Es herrscht Volksfeststimmung, und
dennoch atmet die Atmosphäre tiefe
Spiritualität und Hingabe an die Lehren. Bunte Gebetsfahnen flattern im
Wind, und die Silbe „Hung“ erscheint
in riesigen bunten Lettern auf Bergwände im Umkreis gemalt.
Auf dem Vorplatz halten Yogis in magischer Stimmung Feuerrituale ab.
Nach einer Tempelumrundung von S.
H. unter den Klängen von Trompeten,
Trommeln und Klangschalen wird anlässlich der Segnung der Bodhi-Stupa
eine zeremonielle Puja mit vielfältigen
Ritualen für Gebet, Opferung und Reinigung abgehalten, in deren Verlauf
mehrere Stunden lang Gebetstexte rezitiert und Mantren gesungen werden.
Die Luft flirrt vor Hitze. Gegen Mittag werden zu Ehren des DrikungThronhalters die seltenen traditionellen
und sakralen Cham-Tänze aufgeführt,
die als kultische Maskentänze nur einmal pro Jahr stattfinden und noch aus
der vorbuddhistischen Bön-Tradition
stammen. Die Mönche verkleiden sich
bei diesem Spektakel zur Belustigung
der Bevölkerung mit schweren Masken
und kostbaren Brokatkostümen. Sie
praktizieren tanzend in den Rollen von
Meditations- und Schutzgottheiten,
Spaßmachern und Dämonen. Besonders beeindruckend: der tanzende 72jährige Togden Rinpoche, ehemals Minister von Ladakh, unter der Maske der
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Beschützerin der Drikung-Linie Achi.
Jeden Tag bildet sich während der Belehrungen bei schönstem Wetter zum
Staunen der Zuschauer im konzentriert
geistigen Energiefeld der Gebetszeremonien ein Regenbogen am azurblauen, wolkenlosen Himmel, einmal sogar
kreisförmig um die Sonne herum.
Mit dem Orakel auf dem
Chang-la-Pass
Sieben Tage vergehen wie im Flug, und
am Ende bedankt sich Drikung Kyabgön
Chetsang bei uns Westlern dafür, dass
wir die kostbare Gelegenheit zu Dhar-
ma-Belehrungen genutzt haben. Es sei
besser, sich um andere zu kümmern,
als den Buddhas zu opfern. Zuletzt
ermahnt er uns: „Kümmert euch um
unseren Planeten Erde und seid euren
Mitmenschen von Nutzen!“
Aufbruch im Nieselregen – für viele
Praktizierende ein deutliches und bekanntes Zeichen für den Segen der Linien-Lamas nach der Puja am Ende von
mehrtägigen Belehrungen. Die meisten
Westler reisen nun ab. Aber wir folgen
Drikung Kyabgön Chetsang in der Autokolonne bei seinen Besuchen im nahen Nonnenkloster, übernachten im
Gästehaus des Klosters Phyang und
Was mag das Orakel wohl erblicken? Dralha Wangchuk, ein Orakel in traditioneller Tracht während
einer Puja-Zeremonie auf dem Chang-la-Pass
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Oben links: Typisch für Ladakh sind die kargen grauen Bergmassive, die oft Mondlandschaften gleichen.
Oben rechts: Gebetszeremonie auf dem Chang-la-Pass in über 5 000 Metern Höhe
Unten: Tradtionelle Begüßungszeremonien für den Thronhalter der Drikung-Linie Drikung Kyabgön
Chetsang in Tingmosgang
fahren an den Klöstern Shey, Tikse und
Hemis vorbei. Weiter geht die Fahrt
durch karge Steinlandschaften und
über hohe Pässe, schließlich über den
5 500 Meter hohen Chang-la-Pass in
dünner Luft Richtung Sharchukhul, im
Sperrgebiet nahe der tibetischen Grenze, wofür wir ein spezielles Visum brauchen. Mitten auf dem Chang-la-Pass
hält die lange Autokolonne, die von einem Polizei- und einem Regierungsauto angeführt wird. Überall auf der
Fahrtstrecke entlang den Dörfern haben Ladakhis am Straßenrand schon
Stunden vor der Ankunft S. H. ehrfurchtsvoll zum Empfang bereitgestanden. Nun eilen sie ihm entgegen. Auf
einer Wiese neben der Straße haben sie
für ihn ein orangefarbenes Festzelt auf-
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gestellt und liebevoll ein Picknick zubereitet. Masala- und Buttertee wird auch
uns gereicht. Yaks grasen in Sichtweite.
S. H. Drikung Kyabgön Chetsang hält
eine Puja im Freien ab, und Dralha
Wangchuk, ein Orakel in traditioneller
Tracht, wiegt sich zitternd in Trance.
Bei der Ankunft im Kloster Sharchukhul bereitet die einheimische Bevölkerung dem Oberhaupt der DrikungLinie einen überwältigenden Empfang
und führt traditionelle Tänze der Gegend auf. Wir übernachten auf Matratzen in einem Zimmer der Klostermönche, in dem tagsüber ein Mönch in der
Ecke Tormas knetet, bewundern die
Kunstschätze und wertvollen Buddhastatuen im alten Tempel und besuchen
die Mönchsschule mit ihren 40 kleinen
Mönchen im Grundschulalter. Wir sind
sehr dankbar, im Haupttempel an den
Beschützer-Pujas für Mahakala und
Achi teilnehmen zu dürfen, und wissen
unser Glück zu schätzen, zur richtigen
Zeit am richtigen Ort zu sein und die alte Klosterkultur Tibets in Ladakh erleben zu können. Der Tourismus ist auch
hier auf dem Vormarsch, und wer weiß,
wie lange das noch möglich ist!
Hinweis: Die Seminarreise nach Ladakh erfolgte im August 2011 unter Leitung von Inka Jochum, Gründerin und Vorstand von
DANA e. V., Gesellschaft zur Erhaltung tibetischer Kultur und Medizin.
Weitere Infos: www.dana-ev.de
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Interview mit
S. H. Drikung Kyabgön Chetsang
Oberhaupt der Drikung-Kagyü-Linie
Buddhismus aktuell: Eure Heiligkeit, es
ist eine große Ehre für mich, Sie anlässlich
der großen Feierlichkeiten in Tingmosgang
interviewen zu dürfen. Als Chefredakteurin von Buddhismus aktuell, der Zeitschrift der Deutschen Buddhistischen Union, möchte ich Ihnen im Namen unserer
Leserinnen und Leser gern einige Fragen
stellen. Würden Sie mir freundlicherweise
etwas über die Drikung-Linie erzählen?
S. H. Drikung Kyabgön Chetsang: In Tibet gibt es vier Haupttraditionen des
Buddhismus: Sakya, Gelug, Nyingma
und Kagyü. Die Drikung-Kagyü-Linie ist
Teil der Kagyü-Linie und über 800 Jahre
alt. Sie ist der Tradition des Übersetzers
Marpa zugeordnet und hat dort ihren
Ursprung. Marpa selbst reiste dreimal
nach Indien und viermal nach Nepal
und studierte und praktizierte den
Dharma über 20 Jahre hinweg. Schließlich übersetzte er all die Texte, die er studiert hatte, vom Sanskrit ins Tibetische
und brachte sie nach Tibet, wo er letztendlich lehrte und Schüler wie Milarepa
hatte. Milarepas Schüler wiederum war
Gampopa, der selbst wieder vier große
Schüler hatte. Diese waren Karmapa
© Elmar R. Gruber
Während der großen Feierlichkeiten
in Tingmosgang anlässlich der
Einweihung des Bodhi-Stupa sowie
des Geburtstags S. H. Drikung
Kyabgön Chetsang hatte Michaela
Doepke die seltene Gelegenheit,
eine Privataudienz zu erhalten.
Eindrucksvoll äußerte sich der
Thronhalter der Drikung-Linie im
Gespräch über die große Kraft
von Gedanken, Gebeten und Ritualen, die Frieden für Mensch und
Umwelt bewirken sollen.
„Der Geist geht
allem voran“
Dusum Khyenpa, Phagmodrupa, Tsalpa
Tsondru Dragpa and Barom Darma
Wangchug. Und von den Schülern
Phagmodrupas war Lord Jigten Sumgön
der Gründer der Drikung-Kagyü-Linie.
Dieser gründete den Sitz der DrikungKagyü im Jahr 1179 in Drikung Thil in
Tibet. Das ist jetzt über 800 Jahre her.
Ich selbst bin der 37. Nachfolger auf
dem Thron Lord Jigten Sumgöns. In
Tibet kümmert sich S. H. Chungtsang
Rinpoche um die Linie. Außerhalb Tibets, in Indien, Nepal, Ladakh und im
weiteren Ausland, habe ich mich um
das Gedeihen der Linie bemüht. Im Augenblick haben wir mehr als 100 Klöster
in Ladakh, Nepal und Indien sowie etwa
100 weitere Klöster in Tibet. Im Westen
und in anderen Ländern gibt es derzeit
etwas mehr als 100 Dharma-Zentren.
So sieht es im Augenblick aus.
Und S. H. Chungtsang Rinpoche ist in
Tibet? Darf er dort in seinem Kloster
praktizieren?
In Tibet hat S. H. Chungtsang leider
nicht die Möglichkeit, in einem Kloster
zu praktizieren oder zu lehren. Es gibt
jedoch in Tibet ein Amt für religiöse Angelegenheiten, welches Teil der Chinesischen Buddhistischen Vereinigung ist.
Und S. H. Chungtsang Rinpoche ist Generalsekretär einer Abteilung der Buddhistischen Vereinigung und hatte
mehrmals die Gelegenheit, einige europäische Länder zu bereisen. Das waren offizielle Reisen, die vom Staatli-
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Links: Besuch in der kleinen Mönchsschule in Sharchukul, im Sperrgebiet nahe der tibetischen Grenze
Rechts: S. E. Togden Rinpoche und S. H. Drikung Kyabgön Chetsang bei der Begrüßungszeremonie
chen Amt für religiöse Angelegenheiten
organisiert wurden. So etwas ist möglich, aber einen Tempel oder ein Kloster
zu besuchen oder zu praktizieren und
Belehrungen zu geben, wird ihm nicht
gestattet.
Von der spirituellen Atmosphäre hier war
ich sehr beeindruckt. Man spürt, dass die
Menschen in Ladakh einen sehr tiefen
Glauben besitzen. Ist Buddhismus für Sie
mehr eine Religion oder eher eine Philosophie?
Im Vergleich zu westlichen Menschen
folgen die Menschen hier ihrem Glauben. Sie lassen sich von ihrer Hingabe,
von ihrem Vertrauen leiten. Aber sie
haben nicht viel philosophisches Wissen. Im Westen dagegen sind die meisten Menschen gebildet und besitzen
einen Universitätsabschluss. Seit 1960
etwa gedeiht der Buddhismus in westlichen Ländern, sodass es inzwischen einige große Gelehrte gibt. Es wurden
viele Dharma-Bücher geschrieben, und
philosophisch gesehen wurde viel erreicht.
Aber auch hier in Ladakh hat sich seit
1960 einiges verändert. In den Klöstern
gibt es jetzt Schulen für die jungen
Mönche, die verschiedene Unterrichtsfächer anbieten. Es steht den jungen
Mönchen offen, an unterschiedlichen
Shedras zu studieren, an anderen Akademien und Klöstern in Indien, um ihr
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Studium zu erweitern und zu vertiefen
… Aber vor allem sind die Menschen
hier sehr religiös und lassen sich von
ihrem Glauben leiten. Ich beobachte
auch, dass die Menschen in Ladakh und
Tibet es vorziehen, Ermächtigungen zu
erhalten – Langlebensermächtigungen
und so weiter ... Manche wollen ihren
Reichtum vermehren. Sie erhalten die
Ermächtigungen und hoffen, dass die
Geschäfte gut gehen.
Leute aus dem Westen mögen dagegen lieber Belehrungen über Mahamudra oder Dzogchen. Sie wollen die Essenz des Dharma erforschen, zum Inneren der Lehre vordringen. Ihr
Interesse geht mehr in diese Richtung,
und sie überprüfen und versuchen zu
verstehen. Ich sehe das als ein sehr gutes Zeichen.
Ich meine, man kann den Buddhismus nicht als Religion im Sinne des
Christentums bezeichnen, weil im
Buddhismus der blinde Glaube nicht
gefördert wird. Glaube sollte auf geistigem Verstehen und logischem Denken
beruhen, und aus dieser Perspektive ist
es keine Religion. Wir sind jedoch angehalten, Zuflucht zu Buddha, Dharma
und Sangha zu nehmen. In diesem
Sinne gibt es religiöse Aspekte, aber es
ist nicht Religion im Sinne des Christentums, welches völlig auf Glauben
basiert. Der Buddhismus ist der modernen Wissenschaft sehr nahe, denn
er lehrt das Gesetz „des abhängigen
Entstehens“ von Ursache und Wirkung, Karma und Auswirkung und so
weiter.
Der Buddha erklärte die Abhängigkeit von Ursache und Bedingungen am
Beispiel der Erzeugung von Feuer. In
früheren Zeiten brauchte man dazu
zwei Stückchen Holz, und um diese aneinander zu reiben, brauchte man eine
Person und die Bemühungen dieser
Person. Wenn all das zusammenkam
und zusammenwirkte, dann entstand
als Resultat das Feuer, auf Grund der gegenseitigen Abhängigkeit. Das ist ein
Beispiel für alle Erscheinungsformen.
Alles, was entsteht, entsteht durch die
gegenseitige Abhängigkeit von Ursache
und Bedingungen. Und wenn man
dann die Erscheinungsform kritisch
analysiert, findet man letztendlich kein
Objekt, dem man eine endgültige Identität zuschreiben könnte. Deswegen ist
alles, was abhängig entstanden ist, von
Natur aus leer. Und deshalb bringt der
Buddhismus viele Nachforschungen
mit sich, viele Analysen. Deswegen
kann man nicht ganz davon sprechen,
dass der Buddhismus eine Religion ist,
denn er ist nicht nur Glaube.
Können Sie unseren Lesern freundlicherweise erklären, worin Sie die Stärke und
die Kraft der Lehren des Buddha sehen?
Der Geist geht allem voran. Deshalb ist
alles, gut oder böse, durch den Geist be-
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stimmt. Heilsame wie unheilsame Gedanken entstehen im Geist. Der Geist ist
die Grundlage. Deshalb ist die wichtigste Aufgabe im Dharma, den Geist zu
befrieden und zu zähmen. Dafür haben
wir die Praktiken von Liebender Güte
und Mitgefühl. Die Buddhas und Bodhisattvas haben bereits große Gebete für
unser Glück, für den Frieden in der Welt
und für alle fühlenden Wesen gemacht.
Wenn wir uns zusätzlich selbst in Liebe
und Mitgefühl üben und für Frieden
und Harmonie in der Welt beten, dann
kann das eine große Auswirkung in dieser Welt und in diesem Zeitalter haben.
Viele Menschen aus dem Westen waren sehr beeindruckt, als sich plötzlich
während der Belehrungen und Einweihungen hier in Tingmosgang jeden Tag ein
Regenbogen am strahlend blauen Himmel
wie aus dem Nichts manifestierte. Wir
spürten, dass sehr, sehr viel Kraft von diesen Gebeten und Ritualen ausgeht. Derzeit erleben wir viele Umweltkatastrophen
wie jüngst in Fukushima in Japan oder
auch die Flutkatastrophe vor einem Jahr
in Ladakh. Sind Sie eigentlich der Überzeugung, dass Gebete den Geist der Menschen und unsere Umwelt oder sogar das
Wetter maßgeblich beeinflussen können?
Ich glaube, dass Gebete wie zum Beispiel die Praxis der Liebenden Güte
durchaus einen Einfluss haben und Veränderungen hervorbringen können. Jemand, der die Liebende-Güte-Meditation perfekt beherrscht, kann nicht mit
Waffen verletzt werden. Das können wir
am Leben des Buddha sehen. Kurz vor
seiner Erleuchtung haben die Dämonen
versucht, seinen Geist abzulenken, ihn
zu zerstören, und sie haben mit Steinen
und Waffen nach ihm geworfen. Aber
alle Waffen haben sich in Blumen verwandelt, sie konnten ihm nichts anhaben. Und das ist ein Beispiel für die
Kraft wahrhafter Liebender Güte.
Ich meine auch, dass alle Buddhas
und Bodhisattvas sehr wirksame Gebete
für das Wohlergehen aller Lebewesen in
der Welt bereithalten und dass dies auch
auf andere Religionen zutrifft. Es gibt
viele Gebete für das Wohl fühlender Wesen. Und wenn wir darüber hinaus jetzt
auch unseren eigenen Geist transformieren und Liebende Güte und Mitgefühl entwickeln, dann können wir wundersame Verwandlungen, unvorstellbare Veränderungen hervorrufen … Wenn
wir Liebe und Mitgefühl entwickeln,
dann ruft das ein Gefühl der Freude und
des Glücks hervor, nicht nur für
menschliche Wesen, sondern auch für
formlose Wesen wie die Geister und die
Wesen der Erde und anderer Elemente.
Sie werden zufrieden und glücklich,
und dann erzeugen sie erstaunliche
Dinge wie Wolken, Regenbogen, Regentropfen und andere Glück verheißende
Zeichen. All das geschieht aufgrund der
Abhängigkeit vieler Elemente. Um diese wunderbaren Dinge entstehen zu lassen, braucht es die Beteiligung vieler
Aspekte.
Die meisten Menschen im Westen glauben nicht, sondern folgen eher der Ratio
und verlangen ständig Beweise für bestimmte Phänomene. Für uns Westler
waren die spirituellen Erlebnisse hier in
Tingmosgang eine wichtige Botschaft und
überzeugten uns davon, dass wir unseren
Geist durch die Praxis tatsächlich transformieren und dadurch sehr viel Positives
für die Mit- und Umwelt bewirken können. Durch welche Geisteshaltung können wir Ihrer Ansicht nach noch mehr
Respekt vor der Natur erlangen?
In den Bäumen, in den Bergen, in den
Felsen existieren unzählige Lebewesen.
Diese sind ihre Wohnstätten. Es ist ihr
Zuhause. Wenn wir ihr Heim zerstören,
dann werden sie unruhig. Und als Resultat sehen wir eine Vielzahl von Katastrophen … Wenn wir die Natur durch
unsere Handlungen zerstören, dann
zerstören wir auch das Leben, das Heim
vieler Lebewesen. In früheren Zeiten,
als ich noch sehr jung war, gab es bestimmte Vorschriften in Tibet. So war es
nicht erlaubt, Bäume im Wald zu fällen,
und es war nicht erlaubt, wilde Tiere zu
jagen. Tiere wie Leoparden kreuzten die
Wege der Menschen, und die Menschen
mussten anhalten, weil diese Tiere ihnen auf ihrem Weg begegneten. Das
heißt in Tibet „nagyal“ und „lungyal“.
„Nagyal“ bedeutet, dass die Berge versiegelt, geschützt sind, und „lungyal“,
dass die Tiere, das Wild geschützt sind.
So war die Situation in jener Zeit, und
deshalb gab es auch weniger Naturkatastrophen, weniger Überflutungen und
so weiter. Generell ist es durchaus möglich, dass wir einige Katastrophen erleben. Aber heutzutage gibt es zu viele davon. Und das hat damit zu tun, dass es
viel Missachtung gegenüber den Elementen, der Umwelt gibt. Es ist die Folge dieser Achtlosigkeit der Menschen,
dass wir heute mehr Katastrophen erleben als früher.
Übersetzung aus dem Englischen:
Ani Konchog Jinpa Chodron (Jutta Gassner)
Das Interview wurde von Michaela Doepke
im August 2011 im Kloster Tserkamo in
Tingmosgang in Ladakh geführt.
Weitere Infos: www.drikung.org
S. H. Drikung Kyabgön Chetsang mit Michaela Doepke
Hinweis: S. H. Drikung Kyabgön Chetsang Rinpoche hat im Westen drei neue Milarepa-Retreat-Zentren gegründet. Diese befinden sich
in Ungarn, in Neuseeland und in Schneverdingen in Deutschland. Um einen Bau ohne Hindernisse zu erwirken, hatte er in diesen Zentren vor Baubeginn persönlich Erdrituale ausgeführt.
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Kurzbiografie: S. H. Drikung Kyabgön Chetsang
© Elmar Gruber
Aus dem Herzen Tibets
S. H. mit Buchautor Elmar R. Gruber (r.)
Seine Heiligkeit Drikung Kyabgön Chetsang,
der 37. Thronhalter der Drikung-Kagyü-Linie,
ist als die siebte Reinkarnation des Chetsang
Rinpoche eine Manifestation von Chenrezig
(Avalokiteshvara). Drikung Kyabgön Chetsang, Konchog Tenzin Kunsang Thrinle Lhündrup, wurde 1946 in die aristokratische Familie Tsarong in Lhasa geboren. Viele wunderbare Zeichen und Visionen begleiteten seine
Geburt.
Seine Reinkarnation wurde durch eine Vision des Drikung-Regenten, Tritsab Gyabra
Rinpoche, und durch zahlreiche zusätzliche
Divinationen, unter anderen von Taktra Rinpoche, dem Regenten Tibets, und S. H. dem 16.
Karmapa zweifelsfrei bestätigt.
1950 erfolgte die formelle Inthronisierung
als Drikung Kyabgön Chetsang in Drikung Thil,
dem Hauptkloster des Drikung-Kagyü-Ordens. Seine klösterliche Ausbildung stand unter der Anleitung seiner spirituellen Lehrmeister und Mentoren (Yongzin) Tritsab Gyabra
Rinpoche und Ayang Thubten Rinpoche. Im
Alter von elf Jahren erteilte er während des
Drikung Phowa Chenmo im Affenjahr 1956 in
Drongur eine Langlebenseinweihung – seine
erste öffentliche Belehrung und Übertragung.
Bald danach begann er seine philosophischen
Studien an der buddhistischen Hochschule
Nyima Changra von Drikung. Obwohl er vier
Jahre jünger war, studierte er gemeinsam mit
dem zweiten Drikung-Linienhalter, Chungtsang Rinpoche.
Vor und nach dem tibetischen Volksaufstand von 1959 wurde mehrfach der Versuch
unternommen, auch Chetsang und Chungtsang Rinpoche außer Landes in Sicherheit zu
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bringen. Diese Versuche scheiterten am Widerstand des Klosterverwalters. Rinpoches
Familie hatte bereits 1956 das Land verlassen.
Tritsab Gyabra, der einige Jahre davor das
Kloster verlassen hatte, nahm Rinpoche bei
sich in Lhasa auf.
Während der Kulturrevolution kamen ab
1966 Unterricht und Geschäftsleben in Tibet
zum Erliegen. Während Lhasa im Chaos versank, entging Rinpoche mehrfach dem Tod nur
mit knapper Not. 1969 wurde er einer Kommune in der Nähe von Lhasa zugewiesen, wo er
die härtesten Arbeiten verrichten musste:
Feldarbeit im Frühjahr und Sommer, Holzfällen auf hohen Bergen im Herbst, Gülle in Lhasa ausschaufeln im Winter. Da es für ihn keine
Zukunftsperspektive mehr gab, entschloss er
sich 1975 zur Flucht. Allein und ohne Hilfe gelangte er über hohe Pässe und Gletscher nach
Nepal und schließlich nach Dharamsala in die
Residenz des Dalai Lama. Anschließend begab er sich in die USA, wohin seine Eltern mittlerweile ausgewandert waren. Dort lernte er
Englisch, während er sich seinen Lebensunterhalt in der Küche eines McDonald’s-Restaurants verdiente.
Nach drei Jahren in den USA kehrte er 1978
nach Indien zurück, um als Thronhalter die
Führung des Drikung-Kagyü-Ordens zu übernehmen. Im Kloster Lamayuru in Ladakh unterzog er sich der traditionellen Drei-JahresKlausur. Er studierte mit zahlreichen bedeutenden Lamas und Rinpoches verschiedener
Schulen und erhielt von ihnen viele Ermächtigungen und Unterweisungen. Als einen seiner
wichtigsten Lehrer betrachtet er Dilgo Khyentse Rinpoche. Buddhistische Philosophie studierte er unter Khenpo Noryang im DrukpaKagyü-Kloster Sangnag Chöling in Bhutan.
Im Jahre 1985 legte Drikung Kyabgön in
Bodhgaya vor S. H. dem Dalai Lama die
Gelübde eines voll ordinierten Mönchs ab.
Seit 1987 gibt Chetsang Rinpoche in vielen
Ländern der Welt Unterweisungen.
Kurzbiografie von Dr. Elmar R. Gruber, Autor
des Buches „Aus dem Herzen Tibets“, einer
Biografie von S. H. Drikung Kyabgön Chetsang,
erschienen im O.W. Barth Verlag.
Tibetisches Studienzentrum:
Drikung Kagyü Institut
S. H. Drikung Kyabgön Chetsang gründete als
Ersatz für sein zerstörtes Stammkloster Drikung Thil westlich von Lhasa das Drikung
Kagyü Institut zur Pflege der religiösen Grundlagen des tibetischen Buddhismus in Dehra
Dun. Das Institut unterhält als Studienzentrum für Tibet und die Himalajaregion unter
anderem das Kloster Jangchubling mit 200
Mönchen, das Kloster Samtenling für etwa 90
tibetische Nonnen, das Kagyü College, eine
Hochschule für tibetische Studien, und die
Songtsen-Bibliothek, eine Stätte zur Sammlung, Katalogisierung und wissenschaftlichen
Aufbereitung von Manuskripten (Kangyur,
Tengyur sowie die ältesten Informationen
über Tibet und den Himalaja aus den Höhlen
von Dunhuang). Mit der Songtsen-Bibliothek
verfolgt S. H. Drikung Kyabgön Chetsang seine Vision von der umfassenden Erhaltung der
tibetischen Kultur und Religion. Bei der Aufarbeitung der sensationellen Funde dieser ältesten Quellentexte des Buddhismus arbeitet
S. H. Drikung Kyabgön Chetsang mit der British Library in London zusammen.
Weitere Infos unter: www.drikung.org
Ihre Hilfe: Mit Ihren Spenden wird tibetischen
Mönchen im Exil die Gelegenheit gegeben, die
tibetische Hochschulausbildung abzuschließen.
Auf dem Lehrplan stehen buddhistische Philosophie, tibetische und englische Sprache, Literatur, Mathematik, Sozialwissenschaften und
EDV mit abschließender Drei-Jahres-Klausur.
Diese Studienzentren bieten auch Studien- und
Unterkunftsmöglichkeiten für westliche Studenten und Besucher.
Infos und Spendenmöglichkeit: DANA e. V.,
Gesellschaft zur Erhaltung tibetischer Kultur
und Medizin, www.dana-ev.de
Weitere DANA-Hilfsprojekte: Men-Tse-Khang,
Dharamsala – Tibetan Medical and Astrological
Institute; TCV – Tibetan Children’s Villages,
Dharamsala
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