BUDDHISMUS 12 aktuell 2 | 12 S. E. Togden Rinpoche, ehem. Minister von Ladakh. Er gab in Tingmosgang Belehrungen zum großen Drikung-Powa. © Mitsue Nagase SPECIAL L A D A K H L A D A K H SPECIAL Text und Fotos: MICHAELA DOEPKE Ladakh im westlichen Himalaja wird auch Klein-Tibet genannt. Hier ist die traditionelle tibetische Klosterkultur noch lebendig. Im Gefolge und auf Einladung des Drikung-Thronhalters Drikung Kyabgön Chetsang bereisten wir etliche alte Klöster und tauchten in eine andere Welt ein. B ei wolkenlosem, strahlend blauem Himmel landen wir mit dem Flugzeug in über 3 500 Meter Höhe nahe der Hauptstadt Leh. Ringsum türmen sich Gebirgsketten, die sich wie bizarre Mondlandschaften emporheben, zerklüftet von dunklen Wolkenschatten. Die Flutkatastrophe vom Vorjahr steckt hier noch vielen Menschen in den Knochen. Ladakh, ein Land voller Spiritualität und Geheimnisse, Kontraste und Gegensätze. Dank der Atemübungen des Pranayama-Trainings bleibt mir die übliche Höhenkrankheit erspart. Zur Eingewöhnung schlafen wir die erste Nacht in einem Hotel in Leh. Die touristische und bunte Stadt ist Ausgangspunkt für viele Trekkingtouren und Ausflüge in die abgelegenen Klöster der Umgebung. Dank unserer Seminarreiseleiterin Inka Jochum, einer der ersten Schülerinnen von S. H. Drikung Kyabgön Chetsang, haben wir die Ehre, in seinem Gefolge etliche Drikung-Klöster bereisen zu dürfen und an den Feierlichkeiten zu seinem Geburtstag sowie der Einweihung des neuen Bodhi-Stupa in Tingmosgang teilzunehmen. „Templing“ nennt Inka unsere Klostertour humorvoll und kreiert ein neues Wort. Spiritualität liegt hier förmlich in der Luft und verbindet Mensch und Natur: Bunte Gebetsfahnen und Manisteine mit heiligen Texten und Mantren zieren die kargen grauen Bergmassive, die Steinwüsten gleichen. Kein Wunder: Unter den rund 270 000 Einwohnern, überwiegend tibetischen Ursprungs, leben im dünn besiedelten Ladakh heute noch etwa 3 000 Mönche und Lamas, die von den Ladakhis hoch verehrt werden. Derzeit gibt es unter dem Dach der Drikung-Linie in Ladakh drei Hauptklöster und 85 kleinere Klöster mit insgesamt 660 Mönchen und 100 Nonnen. Eines der Klöster ist Phyang, Wohnsitz von S. H. dem Drikung Kyabgön Chetsang, dem Oberhaupt der Drikung-Linie in Ladakh. Von hier aus starten wir im Konvoi mit 30 Fahrzeugen unsere Klostertour. Auf den offenen Ladeflächen stehen nicht nur Mönche, sondern auch festlich gekleidete Einheimische, um Rinpoche auf der Fahrt zu den Feierlichkeiten in Tingmosgang das Geleit zu geben. „Jullee, Jullee!“, rufen sie uns zur Begrüßung zu. Diese liebenswürdigen Menschen bestechen durch ihre Freundlichkeit und ihre überwältigend farbigen Trachten: Ladakhi-Männer mit kunstvollen Blumenhüten, Frauen mit dem Perak, einer kostbaren Kopfbedeckung, überreich geschmückt mit Türkisen. Aber am meisten faszinieren mich die alten Menschen: diese schönen, lebendigen Gesichter, die wie Landkarten von einem harten, aber zufriedenem Leben gezeichnet sind. Viele auf Stöcke gestützte Alte erklimmen mühsam die kilometerlange Anhöhe zum Kloster Tserkamo nach Tingmosgang, wollen sich aber beim Einstieg in unser Auto nicht helfen lassen. Hoch geachtet von der ladakhischen Gesellschaft, bewahren sie bis zuletzt ihren Stolz, ihre Würde. Viele Frauen in ihren überreich geschmückten Trachten tragen lachend und in der Hitze schwitzend ihre Kleinkinder auf dem Rücken den Anstieg zum Kloster hinauf. Manche sind sogar von weither aus Tibet zu Fuß über die Grenze gekommen, nur um Chetsang Rinpoche einmal im Leben zu sehen und Initiatio- Oben: Frauen aus Ladakh in den landesüblichen Festtrachten Unten: Mönche der Drikung-Linie beim großen Klosterfest in Tingmosgang, zu dem rund 6 000 Menschen angereist kamen. BUDDHISMUS aktuell 2 | 12 13 SPECIAL L A D A K H Traditionelle Cham-Tänze beim Klosterfest in Tingmosgang zu Ehren des Drikung-Thronhalters: Mönche verkörpern mit eindrucksvollen Masken und Gewändern Schutzgottheiten und Dämonen. nen von ihm zu erhalten. Sie strahlen trotz der immensen Anstrengungen, die sie auf sich genommen haben, um bei diesem großen Fest dabei sein zu können. 14 BUDDHISMUS aktuell 2 | 12 Prunkvolles Klosterfest mit traditionellen Cham-Tänzen Ladakhs prunkvolle Klosterfeste sind berühmt. Rund 6 000 Menschen sind von weither nach Tingmosgang gekommen, um den Geburtstag des DrikungThronhalters zu feiern. Sie wollen eine Woche lang seinen kostbaren Mahamudra-Belehrungen lauschen sowie den Belehrungen von S. E. Togden Rinpoche zum Großen Drikung Phowa. Unter den wenigen Westlern, die sonnengeschützt auf einer Empore sitzen, sind Deutsche, Russen, Estländer und Schweden. Bei seinem festlichen, von Trompetenklängen begleiteten Einzug grüßt der Drikung-Thronhalter die bunte, dicht gedrängte Menge, geschützt von einem großen gelben Sonnenschirm, der über ihn gehalten wird. Es herrscht Volksfeststimmung, und dennoch atmet die Atmosphäre tiefe Spiritualität und Hingabe an die Lehren. Bunte Gebetsfahnen flattern im Wind, und die Silbe „Hung“ erscheint in riesigen bunten Lettern auf Bergwände im Umkreis gemalt. Auf dem Vorplatz halten Yogis in magischer Stimmung Feuerrituale ab. Nach einer Tempelumrundung von S. H. unter den Klängen von Trompeten, Trommeln und Klangschalen wird anlässlich der Segnung der Bodhi-Stupa eine zeremonielle Puja mit vielfältigen Ritualen für Gebet, Opferung und Reinigung abgehalten, in deren Verlauf mehrere Stunden lang Gebetstexte rezitiert und Mantren gesungen werden. Die Luft flirrt vor Hitze. Gegen Mittag werden zu Ehren des DrikungThronhalters die seltenen traditionellen und sakralen Cham-Tänze aufgeführt, die als kultische Maskentänze nur einmal pro Jahr stattfinden und noch aus der vorbuddhistischen Bön-Tradition stammen. Die Mönche verkleiden sich bei diesem Spektakel zur Belustigung der Bevölkerung mit schweren Masken und kostbaren Brokatkostümen. Sie praktizieren tanzend in den Rollen von Meditations- und Schutzgottheiten, Spaßmachern und Dämonen. Besonders beeindruckend: der tanzende 72jährige Togden Rinpoche, ehemals Minister von Ladakh, unter der Maske der L A D A K H SPECIAL Beschützerin der Drikung-Linie Achi. Jeden Tag bildet sich während der Belehrungen bei schönstem Wetter zum Staunen der Zuschauer im konzentriert geistigen Energiefeld der Gebetszeremonien ein Regenbogen am azurblauen, wolkenlosen Himmel, einmal sogar kreisförmig um die Sonne herum. Mit dem Orakel auf dem Chang-la-Pass Sieben Tage vergehen wie im Flug, und am Ende bedankt sich Drikung Kyabgön Chetsang bei uns Westlern dafür, dass wir die kostbare Gelegenheit zu Dhar- ma-Belehrungen genutzt haben. Es sei besser, sich um andere zu kümmern, als den Buddhas zu opfern. Zuletzt ermahnt er uns: „Kümmert euch um unseren Planeten Erde und seid euren Mitmenschen von Nutzen!“ Aufbruch im Nieselregen – für viele Praktizierende ein deutliches und bekanntes Zeichen für den Segen der Linien-Lamas nach der Puja am Ende von mehrtägigen Belehrungen. Die meisten Westler reisen nun ab. Aber wir folgen Drikung Kyabgön Chetsang in der Autokolonne bei seinen Besuchen im nahen Nonnenkloster, übernachten im Gästehaus des Klosters Phyang und Was mag das Orakel wohl erblicken? Dralha Wangchuk, ein Orakel in traditioneller Tracht während einer Puja-Zeremonie auf dem Chang-la-Pass BUDDHISMUS aktuell 2 | 12 15 SPECIAL L A D A K H Oben links: Typisch für Ladakh sind die kargen grauen Bergmassive, die oft Mondlandschaften gleichen. Oben rechts: Gebetszeremonie auf dem Chang-la-Pass in über 5 000 Metern Höhe Unten: Tradtionelle Begüßungszeremonien für den Thronhalter der Drikung-Linie Drikung Kyabgön Chetsang in Tingmosgang fahren an den Klöstern Shey, Tikse und Hemis vorbei. Weiter geht die Fahrt durch karge Steinlandschaften und über hohe Pässe, schließlich über den 5 500 Meter hohen Chang-la-Pass in dünner Luft Richtung Sharchukhul, im Sperrgebiet nahe der tibetischen Grenze, wofür wir ein spezielles Visum brauchen. Mitten auf dem Chang-la-Pass hält die lange Autokolonne, die von einem Polizei- und einem Regierungsauto angeführt wird. Überall auf der Fahrtstrecke entlang den Dörfern haben Ladakhis am Straßenrand schon Stunden vor der Ankunft S. H. ehrfurchtsvoll zum Empfang bereitgestanden. Nun eilen sie ihm entgegen. Auf einer Wiese neben der Straße haben sie für ihn ein orangefarbenes Festzelt auf- 16 BUDDHISMUS aktuell 2 | 12 gestellt und liebevoll ein Picknick zubereitet. Masala- und Buttertee wird auch uns gereicht. Yaks grasen in Sichtweite. S. H. Drikung Kyabgön Chetsang hält eine Puja im Freien ab, und Dralha Wangchuk, ein Orakel in traditioneller Tracht, wiegt sich zitternd in Trance. Bei der Ankunft im Kloster Sharchukhul bereitet die einheimische Bevölkerung dem Oberhaupt der DrikungLinie einen überwältigenden Empfang und führt traditionelle Tänze der Gegend auf. Wir übernachten auf Matratzen in einem Zimmer der Klostermönche, in dem tagsüber ein Mönch in der Ecke Tormas knetet, bewundern die Kunstschätze und wertvollen Buddhastatuen im alten Tempel und besuchen die Mönchsschule mit ihren 40 kleinen Mönchen im Grundschulalter. Wir sind sehr dankbar, im Haupttempel an den Beschützer-Pujas für Mahakala und Achi teilnehmen zu dürfen, und wissen unser Glück zu schätzen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und die alte Klosterkultur Tibets in Ladakh erleben zu können. Der Tourismus ist auch hier auf dem Vormarsch, und wer weiß, wie lange das noch möglich ist! Hinweis: Die Seminarreise nach Ladakh erfolgte im August 2011 unter Leitung von Inka Jochum, Gründerin und Vorstand von DANA e. V., Gesellschaft zur Erhaltung tibetischer Kultur und Medizin. Weitere Infos: www.dana-ev.de L A D A K H SPECIAL { Interview mit S. H. Drikung Kyabgön Chetsang Oberhaupt der Drikung-Kagyü-Linie Buddhismus aktuell: Eure Heiligkeit, es ist eine große Ehre für mich, Sie anlässlich der großen Feierlichkeiten in Tingmosgang interviewen zu dürfen. Als Chefredakteurin von Buddhismus aktuell, der Zeitschrift der Deutschen Buddhistischen Union, möchte ich Ihnen im Namen unserer Leserinnen und Leser gern einige Fragen stellen. Würden Sie mir freundlicherweise etwas über die Drikung-Linie erzählen? S. H. Drikung Kyabgön Chetsang: In Tibet gibt es vier Haupttraditionen des Buddhismus: Sakya, Gelug, Nyingma und Kagyü. Die Drikung-Kagyü-Linie ist Teil der Kagyü-Linie und über 800 Jahre alt. Sie ist der Tradition des Übersetzers Marpa zugeordnet und hat dort ihren Ursprung. Marpa selbst reiste dreimal nach Indien und viermal nach Nepal und studierte und praktizierte den Dharma über 20 Jahre hinweg. Schließlich übersetzte er all die Texte, die er studiert hatte, vom Sanskrit ins Tibetische und brachte sie nach Tibet, wo er letztendlich lehrte und Schüler wie Milarepa hatte. Milarepas Schüler wiederum war Gampopa, der selbst wieder vier große Schüler hatte. Diese waren Karmapa © Elmar R. Gruber Während der großen Feierlichkeiten in Tingmosgang anlässlich der Einweihung des Bodhi-Stupa sowie des Geburtstags S. H. Drikung Kyabgön Chetsang hatte Michaela Doepke die seltene Gelegenheit, eine Privataudienz zu erhalten. Eindrucksvoll äußerte sich der Thronhalter der Drikung-Linie im Gespräch über die große Kraft von Gedanken, Gebeten und Ritualen, die Frieden für Mensch und Umwelt bewirken sollen. „Der Geist geht allem voran“ Dusum Khyenpa, Phagmodrupa, Tsalpa Tsondru Dragpa and Barom Darma Wangchug. Und von den Schülern Phagmodrupas war Lord Jigten Sumgön der Gründer der Drikung-Kagyü-Linie. Dieser gründete den Sitz der DrikungKagyü im Jahr 1179 in Drikung Thil in Tibet. Das ist jetzt über 800 Jahre her. Ich selbst bin der 37. Nachfolger auf dem Thron Lord Jigten Sumgöns. In Tibet kümmert sich S. H. Chungtsang Rinpoche um die Linie. Außerhalb Tibets, in Indien, Nepal, Ladakh und im weiteren Ausland, habe ich mich um das Gedeihen der Linie bemüht. Im Augenblick haben wir mehr als 100 Klöster in Ladakh, Nepal und Indien sowie etwa 100 weitere Klöster in Tibet. Im Westen und in anderen Ländern gibt es derzeit etwas mehr als 100 Dharma-Zentren. So sieht es im Augenblick aus. Und S. H. Chungtsang Rinpoche ist in Tibet? Darf er dort in seinem Kloster praktizieren? In Tibet hat S. H. Chungtsang leider nicht die Möglichkeit, in einem Kloster zu praktizieren oder zu lehren. Es gibt jedoch in Tibet ein Amt für religiöse Angelegenheiten, welches Teil der Chinesischen Buddhistischen Vereinigung ist. Und S. H. Chungtsang Rinpoche ist Generalsekretär einer Abteilung der Buddhistischen Vereinigung und hatte mehrmals die Gelegenheit, einige europäische Länder zu bereisen. Das waren offizielle Reisen, die vom Staatli- BUDDHISMUS aktuell 2 | 12 17 SPECIAL L A D A K H Links: Besuch in der kleinen Mönchsschule in Sharchukul, im Sperrgebiet nahe der tibetischen Grenze Rechts: S. E. Togden Rinpoche und S. H. Drikung Kyabgön Chetsang bei der Begrüßungszeremonie chen Amt für religiöse Angelegenheiten organisiert wurden. So etwas ist möglich, aber einen Tempel oder ein Kloster zu besuchen oder zu praktizieren und Belehrungen zu geben, wird ihm nicht gestattet. Von der spirituellen Atmosphäre hier war ich sehr beeindruckt. Man spürt, dass die Menschen in Ladakh einen sehr tiefen Glauben besitzen. Ist Buddhismus für Sie mehr eine Religion oder eher eine Philosophie? Im Vergleich zu westlichen Menschen folgen die Menschen hier ihrem Glauben. Sie lassen sich von ihrer Hingabe, von ihrem Vertrauen leiten. Aber sie haben nicht viel philosophisches Wissen. Im Westen dagegen sind die meisten Menschen gebildet und besitzen einen Universitätsabschluss. Seit 1960 etwa gedeiht der Buddhismus in westlichen Ländern, sodass es inzwischen einige große Gelehrte gibt. Es wurden viele Dharma-Bücher geschrieben, und philosophisch gesehen wurde viel erreicht. Aber auch hier in Ladakh hat sich seit 1960 einiges verändert. In den Klöstern gibt es jetzt Schulen für die jungen Mönche, die verschiedene Unterrichtsfächer anbieten. Es steht den jungen Mönchen offen, an unterschiedlichen Shedras zu studieren, an anderen Akademien und Klöstern in Indien, um ihr 18 BUDDHISMUS aktuell 2 | 12 Studium zu erweitern und zu vertiefen … Aber vor allem sind die Menschen hier sehr religiös und lassen sich von ihrem Glauben leiten. Ich beobachte auch, dass die Menschen in Ladakh und Tibet es vorziehen, Ermächtigungen zu erhalten – Langlebensermächtigungen und so weiter ... Manche wollen ihren Reichtum vermehren. Sie erhalten die Ermächtigungen und hoffen, dass die Geschäfte gut gehen. Leute aus dem Westen mögen dagegen lieber Belehrungen über Mahamudra oder Dzogchen. Sie wollen die Essenz des Dharma erforschen, zum Inneren der Lehre vordringen. Ihr Interesse geht mehr in diese Richtung, und sie überprüfen und versuchen zu verstehen. Ich sehe das als ein sehr gutes Zeichen. Ich meine, man kann den Buddhismus nicht als Religion im Sinne des Christentums bezeichnen, weil im Buddhismus der blinde Glaube nicht gefördert wird. Glaube sollte auf geistigem Verstehen und logischem Denken beruhen, und aus dieser Perspektive ist es keine Religion. Wir sind jedoch angehalten, Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha zu nehmen. In diesem Sinne gibt es religiöse Aspekte, aber es ist nicht Religion im Sinne des Christentums, welches völlig auf Glauben basiert. Der Buddhismus ist der modernen Wissenschaft sehr nahe, denn er lehrt das Gesetz „des abhängigen Entstehens“ von Ursache und Wirkung, Karma und Auswirkung und so weiter. Der Buddha erklärte die Abhängigkeit von Ursache und Bedingungen am Beispiel der Erzeugung von Feuer. In früheren Zeiten brauchte man dazu zwei Stückchen Holz, und um diese aneinander zu reiben, brauchte man eine Person und die Bemühungen dieser Person. Wenn all das zusammenkam und zusammenwirkte, dann entstand als Resultat das Feuer, auf Grund der gegenseitigen Abhängigkeit. Das ist ein Beispiel für alle Erscheinungsformen. Alles, was entsteht, entsteht durch die gegenseitige Abhängigkeit von Ursache und Bedingungen. Und wenn man dann die Erscheinungsform kritisch analysiert, findet man letztendlich kein Objekt, dem man eine endgültige Identität zuschreiben könnte. Deswegen ist alles, was abhängig entstanden ist, von Natur aus leer. Und deshalb bringt der Buddhismus viele Nachforschungen mit sich, viele Analysen. Deswegen kann man nicht ganz davon sprechen, dass der Buddhismus eine Religion ist, denn er ist nicht nur Glaube. Können Sie unseren Lesern freundlicherweise erklären, worin Sie die Stärke und die Kraft der Lehren des Buddha sehen? Der Geist geht allem voran. Deshalb ist alles, gut oder böse, durch den Geist be- L A D A K H SPECIAL stimmt. Heilsame wie unheilsame Gedanken entstehen im Geist. Der Geist ist die Grundlage. Deshalb ist die wichtigste Aufgabe im Dharma, den Geist zu befrieden und zu zähmen. Dafür haben wir die Praktiken von Liebender Güte und Mitgefühl. Die Buddhas und Bodhisattvas haben bereits große Gebete für unser Glück, für den Frieden in der Welt und für alle fühlenden Wesen gemacht. Wenn wir uns zusätzlich selbst in Liebe und Mitgefühl üben und für Frieden und Harmonie in der Welt beten, dann kann das eine große Auswirkung in dieser Welt und in diesem Zeitalter haben. Viele Menschen aus dem Westen waren sehr beeindruckt, als sich plötzlich während der Belehrungen und Einweihungen hier in Tingmosgang jeden Tag ein Regenbogen am strahlend blauen Himmel wie aus dem Nichts manifestierte. Wir spürten, dass sehr, sehr viel Kraft von diesen Gebeten und Ritualen ausgeht. Derzeit erleben wir viele Umweltkatastrophen wie jüngst in Fukushima in Japan oder auch die Flutkatastrophe vor einem Jahr in Ladakh. Sind Sie eigentlich der Überzeugung, dass Gebete den Geist der Menschen und unsere Umwelt oder sogar das Wetter maßgeblich beeinflussen können? Ich glaube, dass Gebete wie zum Beispiel die Praxis der Liebenden Güte durchaus einen Einfluss haben und Veränderungen hervorbringen können. Jemand, der die Liebende-Güte-Meditation perfekt beherrscht, kann nicht mit Waffen verletzt werden. Das können wir am Leben des Buddha sehen. Kurz vor seiner Erleuchtung haben die Dämonen versucht, seinen Geist abzulenken, ihn zu zerstören, und sie haben mit Steinen und Waffen nach ihm geworfen. Aber alle Waffen haben sich in Blumen verwandelt, sie konnten ihm nichts anhaben. Und das ist ein Beispiel für die Kraft wahrhafter Liebender Güte. Ich meine auch, dass alle Buddhas und Bodhisattvas sehr wirksame Gebete für das Wohlergehen aller Lebewesen in der Welt bereithalten und dass dies auch auf andere Religionen zutrifft. Es gibt viele Gebete für das Wohl fühlender Wesen. Und wenn wir darüber hinaus jetzt auch unseren eigenen Geist transformieren und Liebende Güte und Mitgefühl entwickeln, dann können wir wundersame Verwandlungen, unvorstellbare Veränderungen hervorrufen … Wenn wir Liebe und Mitgefühl entwickeln, dann ruft das ein Gefühl der Freude und des Glücks hervor, nicht nur für menschliche Wesen, sondern auch für formlose Wesen wie die Geister und die Wesen der Erde und anderer Elemente. Sie werden zufrieden und glücklich, und dann erzeugen sie erstaunliche Dinge wie Wolken, Regenbogen, Regentropfen und andere Glück verheißende Zeichen. All das geschieht aufgrund der Abhängigkeit vieler Elemente. Um diese wunderbaren Dinge entstehen zu lassen, braucht es die Beteiligung vieler Aspekte. Die meisten Menschen im Westen glauben nicht, sondern folgen eher der Ratio und verlangen ständig Beweise für bestimmte Phänomene. Für uns Westler waren die spirituellen Erlebnisse hier in Tingmosgang eine wichtige Botschaft und überzeugten uns davon, dass wir unseren Geist durch die Praxis tatsächlich transformieren und dadurch sehr viel Positives für die Mit- und Umwelt bewirken können. Durch welche Geisteshaltung können wir Ihrer Ansicht nach noch mehr Respekt vor der Natur erlangen? In den Bäumen, in den Bergen, in den Felsen existieren unzählige Lebewesen. Diese sind ihre Wohnstätten. Es ist ihr Zuhause. Wenn wir ihr Heim zerstören, dann werden sie unruhig. Und als Resultat sehen wir eine Vielzahl von Katastrophen … Wenn wir die Natur durch unsere Handlungen zerstören, dann zerstören wir auch das Leben, das Heim vieler Lebewesen. In früheren Zeiten, als ich noch sehr jung war, gab es bestimmte Vorschriften in Tibet. So war es nicht erlaubt, Bäume im Wald zu fällen, und es war nicht erlaubt, wilde Tiere zu jagen. Tiere wie Leoparden kreuzten die Wege der Menschen, und die Menschen mussten anhalten, weil diese Tiere ihnen auf ihrem Weg begegneten. Das heißt in Tibet „nagyal“ und „lungyal“. „Nagyal“ bedeutet, dass die Berge versiegelt, geschützt sind, und „lungyal“, dass die Tiere, das Wild geschützt sind. So war die Situation in jener Zeit, und deshalb gab es auch weniger Naturkatastrophen, weniger Überflutungen und so weiter. Generell ist es durchaus möglich, dass wir einige Katastrophen erleben. Aber heutzutage gibt es zu viele davon. Und das hat damit zu tun, dass es viel Missachtung gegenüber den Elementen, der Umwelt gibt. Es ist die Folge dieser Achtlosigkeit der Menschen, dass wir heute mehr Katastrophen erleben als früher. Übersetzung aus dem Englischen: Ani Konchog Jinpa Chodron (Jutta Gassner) Das Interview wurde von Michaela Doepke im August 2011 im Kloster Tserkamo in Tingmosgang in Ladakh geführt. Weitere Infos: www.drikung.org S. H. Drikung Kyabgön Chetsang mit Michaela Doepke Hinweis: S. H. Drikung Kyabgön Chetsang Rinpoche hat im Westen drei neue Milarepa-Retreat-Zentren gegründet. Diese befinden sich in Ungarn, in Neuseeland und in Schneverdingen in Deutschland. Um einen Bau ohne Hindernisse zu erwirken, hatte er in diesen Zentren vor Baubeginn persönlich Erdrituale ausgeführt. BUDDHISMUS aktuell 2 | 12 19 Kurzbiografie: S. H. Drikung Kyabgön Chetsang © Elmar Gruber Aus dem Herzen Tibets S. H. mit Buchautor Elmar R. Gruber (r.) Seine Heiligkeit Drikung Kyabgön Chetsang, der 37. Thronhalter der Drikung-Kagyü-Linie, ist als die siebte Reinkarnation des Chetsang Rinpoche eine Manifestation von Chenrezig (Avalokiteshvara). Drikung Kyabgön Chetsang, Konchog Tenzin Kunsang Thrinle Lhündrup, wurde 1946 in die aristokratische Familie Tsarong in Lhasa geboren. Viele wunderbare Zeichen und Visionen begleiteten seine Geburt. Seine Reinkarnation wurde durch eine Vision des Drikung-Regenten, Tritsab Gyabra Rinpoche, und durch zahlreiche zusätzliche Divinationen, unter anderen von Taktra Rinpoche, dem Regenten Tibets, und S. H. dem 16. Karmapa zweifelsfrei bestätigt. 1950 erfolgte die formelle Inthronisierung als Drikung Kyabgön Chetsang in Drikung Thil, dem Hauptkloster des Drikung-Kagyü-Ordens. Seine klösterliche Ausbildung stand unter der Anleitung seiner spirituellen Lehrmeister und Mentoren (Yongzin) Tritsab Gyabra Rinpoche und Ayang Thubten Rinpoche. Im Alter von elf Jahren erteilte er während des Drikung Phowa Chenmo im Affenjahr 1956 in Drongur eine Langlebenseinweihung – seine erste öffentliche Belehrung und Übertragung. Bald danach begann er seine philosophischen Studien an der buddhistischen Hochschule Nyima Changra von Drikung. Obwohl er vier Jahre jünger war, studierte er gemeinsam mit dem zweiten Drikung-Linienhalter, Chungtsang Rinpoche. Vor und nach dem tibetischen Volksaufstand von 1959 wurde mehrfach der Versuch unternommen, auch Chetsang und Chungtsang Rinpoche außer Landes in Sicherheit zu 20 BUDDHISMUS aktuell 2 | 12 bringen. Diese Versuche scheiterten am Widerstand des Klosterverwalters. Rinpoches Familie hatte bereits 1956 das Land verlassen. Tritsab Gyabra, der einige Jahre davor das Kloster verlassen hatte, nahm Rinpoche bei sich in Lhasa auf. Während der Kulturrevolution kamen ab 1966 Unterricht und Geschäftsleben in Tibet zum Erliegen. Während Lhasa im Chaos versank, entging Rinpoche mehrfach dem Tod nur mit knapper Not. 1969 wurde er einer Kommune in der Nähe von Lhasa zugewiesen, wo er die härtesten Arbeiten verrichten musste: Feldarbeit im Frühjahr und Sommer, Holzfällen auf hohen Bergen im Herbst, Gülle in Lhasa ausschaufeln im Winter. Da es für ihn keine Zukunftsperspektive mehr gab, entschloss er sich 1975 zur Flucht. Allein und ohne Hilfe gelangte er über hohe Pässe und Gletscher nach Nepal und schließlich nach Dharamsala in die Residenz des Dalai Lama. Anschließend begab er sich in die USA, wohin seine Eltern mittlerweile ausgewandert waren. Dort lernte er Englisch, während er sich seinen Lebensunterhalt in der Küche eines McDonald’s-Restaurants verdiente. Nach drei Jahren in den USA kehrte er 1978 nach Indien zurück, um als Thronhalter die Führung des Drikung-Kagyü-Ordens zu übernehmen. Im Kloster Lamayuru in Ladakh unterzog er sich der traditionellen Drei-JahresKlausur. Er studierte mit zahlreichen bedeutenden Lamas und Rinpoches verschiedener Schulen und erhielt von ihnen viele Ermächtigungen und Unterweisungen. Als einen seiner wichtigsten Lehrer betrachtet er Dilgo Khyentse Rinpoche. Buddhistische Philosophie studierte er unter Khenpo Noryang im DrukpaKagyü-Kloster Sangnag Chöling in Bhutan. Im Jahre 1985 legte Drikung Kyabgön in Bodhgaya vor S. H. dem Dalai Lama die Gelübde eines voll ordinierten Mönchs ab. Seit 1987 gibt Chetsang Rinpoche in vielen Ländern der Welt Unterweisungen. Kurzbiografie von Dr. Elmar R. Gruber, Autor des Buches „Aus dem Herzen Tibets“, einer Biografie von S. H. Drikung Kyabgön Chetsang, erschienen im O.W. Barth Verlag. Tibetisches Studienzentrum: Drikung Kagyü Institut S. H. Drikung Kyabgön Chetsang gründete als Ersatz für sein zerstörtes Stammkloster Drikung Thil westlich von Lhasa das Drikung Kagyü Institut zur Pflege der religiösen Grundlagen des tibetischen Buddhismus in Dehra Dun. Das Institut unterhält als Studienzentrum für Tibet und die Himalajaregion unter anderem das Kloster Jangchubling mit 200 Mönchen, das Kloster Samtenling für etwa 90 tibetische Nonnen, das Kagyü College, eine Hochschule für tibetische Studien, und die Songtsen-Bibliothek, eine Stätte zur Sammlung, Katalogisierung und wissenschaftlichen Aufbereitung von Manuskripten (Kangyur, Tengyur sowie die ältesten Informationen über Tibet und den Himalaja aus den Höhlen von Dunhuang). Mit der Songtsen-Bibliothek verfolgt S. H. Drikung Kyabgön Chetsang seine Vision von der umfassenden Erhaltung der tibetischen Kultur und Religion. Bei der Aufarbeitung der sensationellen Funde dieser ältesten Quellentexte des Buddhismus arbeitet S. H. Drikung Kyabgön Chetsang mit der British Library in London zusammen. Weitere Infos unter: www.drikung.org Ihre Hilfe: Mit Ihren Spenden wird tibetischen Mönchen im Exil die Gelegenheit gegeben, die tibetische Hochschulausbildung abzuschließen. Auf dem Lehrplan stehen buddhistische Philosophie, tibetische und englische Sprache, Literatur, Mathematik, Sozialwissenschaften und EDV mit abschließender Drei-Jahres-Klausur. Diese Studienzentren bieten auch Studien- und Unterkunftsmöglichkeiten für westliche Studenten und Besucher. Infos und Spendenmöglichkeit: DANA e. V., Gesellschaft zur Erhaltung tibetischer Kultur und Medizin, www.dana-ev.de Weitere DANA-Hilfsprojekte: Men-Tse-Khang, Dharamsala – Tibetan Medical and Astrological Institute; TCV – Tibetan Children’s Villages, Dharamsala