Diplomarbeit als

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DANKSAGUNG
Eine abgeschlossene Diplomarbeit vor sich zu haben ist ein großartiges Gefühl, aber noch
viel großartiger ist es zu wissen, dass es rund um mich so hilfsbereite, kreative,
unterstützende und aufmunternde Menschen gibt, die diesen ganzen Prozess der
Diplomarbeit – von den ersten Gedanken bis zu den letzten geschriebenen Wörtern mitgetragen haben.
DANKE – ein kleines Wort, aber ein großartiges Gefühl - möchte ich all jenen Bekannten,
Freunden, Verwandten und ExpertInnen sagen, die mir geholfen haben, nun dort zu sein,
wo ich hin wollte.
Eine ganz herzliches DANKE möchte ich meiner Diplomarbeitsbetreuerin Maga. DSA
Michaela Pichler aussprechen, die meine Ideen von Anfang an so aufgeschlossen
unterstützte und immer ein motivierendes Wort parat hatte, die auf jede noch so kleine
Frage sofort antwortete und den gesamten Prozess mit so viel Hilfe und Unterstützung
mitgestaltete.
Bedanken möchte ich mich auch bei allen SozialarbeiterInnen und LeiterInnen der
Jugendämter in Tirol, die meine Fragebögen trotz großem Zeitdruck und hohen
beruflichen Anforderungen ausfüllten, sowie bei der Abteilung Jugendwohlfahrt, die meine
Forschungsarbeit unterstützte. DANKE für die vielen hilfreichen Informationen. Nur
dadurch, war es mir möglich, diese Diplomarbeit zu verfassen.
Ein ganz besonderes DANKE gilt dem Leiter der Jugendwohlfahrt Innsbruck Land DSA
Georg Sponring und meiner Praktikumsbetreuerin DSA Iris Ciresa, die mir beide bereits
bei der Konzeption der Fragebögen hilfreiche Anregungen und Ideen gaben.
Für die Gestaltung der Fragebögen möchte ich auch all jenen FreundInnen,
StudienkollegInnen und Familienmitgliedern danken, die sich bereit erklärten bei meinem
Praetest mitzuwirken. Danke für die vielen guten sprachlichen, formellen und inhaltlichen
Tipps. Bei meiner Freundin Katharina Pargger möchte ich mich für die Übersetzungshilfe
bedanken und bei Maga. Susanne Zoller-Mathies vom Sozialpädagogischen Institut für die
qualitativ hochwertigen Hinweise und Empfehlungen zum empirischen Teil meiner
Diplomarbeit.
Ein ganz besonderes DANKE möchte ich an meine Eltern richten, an meine Mama fürs
Korrekturlesen und an meinen Papa für alle Computertipps und –tricks.
DANKE auch an meinen Freund für das große Verständnis und den guten Zuspruch.
Allen meinen FreundInnen, meiner Familie und meinen StudienkollegInnen möchte ich für
die schönen Pausen und Zeiten zum Entspannen und Krafttanken danken. Vor allem
diese Zeiten haben mich gestärkt, mich ermutigt, angeregt und vorangebracht.
DANKE euch allen für die große Unterstützung.
Manche werden als gut und manche als schlecht betrachtet,
und beiden wird Unrecht getan.
(kubanisches Sprichwort)
Bedeutung ethischer Aspekte
im Prozess der Entscheidungsfindung
über die Fremdunterbringung von Kindern
und Jugendlichen in der Jugendwohlfahrt Tirol
Diplomarbeit
Zur Erlangung des akademischen Grades
Magistra (FH)
„für sozialwissenschaftliche Berufe“
Fachhochschul-Studiengang:
„Soziale Arbeit“
Management Center Innsbruck
Betreuerin:
DSA Magª. Michaela Pichler
Verfasserin:
Christine Habernig
0410243009
Abgabedatum
04.April 2008
KURZFASSUNG
Diese Diplomarbeit beschäftigt sich mit der Bedeutung ethischer Aspekte im Prozess der
Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen in der
Jugendwohlfahrt Tirol. Ziel der Diplomarbeit ist es, die enge Verbindung zwischen Ethik
und Sozialer Arbeit insbesondere bei der Entscheidung für oder gegen eine Fremdunterbringung aufzuzeigen sowie Hilfsmechanismen zur ethischen Entscheidungsfindung zu
beschreiben. Ethische Aspekte können eine Unterstützung und Orientierungshilfe für
SozialarbeiterInnen sein und ihnen helfen, adäquate und sichere Entscheidungen zu
treffen, sowie immer wieder eigene Vorannahmen zu hinterfragen und zu reflektieren. Der
Schwerpunkt dieser Diplomarbeit liegt auf der Erhebung der Bedeutung ethischer Aspekte
im Entscheidungsprozess über eine Fremdunterbringung in den neun Referaten der
Jugendwohlfahrt in Tirol.
Diese Diplomarbeit gliedert sich in einen theoretischen und einen empirischen Teil.
Im theoretischen Teil werden ethische Aspekte mit dem Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen verknüpft. Die
Bedeutung ethischer Aspekte im Prozess der Entscheidungsfindung wird vor allem durch
die Beschreibung der Ethik als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit erkennbar.
Verschiedene Werte, ethische Theorien und Ausrichtungen wirken sich auf den Prozess
der Entscheidungsfindung aus. Ebenso werden ethische Dilemmata, mit denen sich
SozialarbeiterInnen bei der Entscheidungsfindung konfrontiert sehen, beschrieben.
Weiters wird der Frage nachgegangen, was ethische Kodizes im Prozess der
Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung leisten können. Darüber hinaus
werden rechtliche und allgemeine Informationen zu Fremdunterbringung und zum Prozess
der Entscheidungsfindung angeführt und Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung
vorgestellt. Der empirische Teil gibt die Untersuchungsergebnisse zur Bedeutung
ethischer Einflussgrößen im Prozess der Entscheidungsfindung über Fremdunterbringung
in den neun Referaten der Tiroler Jugendwohlfahrt wieder. Die Auswertung der
Fragebögen der SozialarbeiterInnen, LeiterInnen und StudentInnen wurde analysiert und
miteinander verglichen. Zusätzlich wurden markante Ergebnisse kommentiert und
interpretiert um so die wichtigsten Aussagen der Befragung zu verdeutlichen.
Die gewonnenen Ergebnisse zeigen, dass der Prozess der Entscheidungsfindung über
eine Fremdunterbringung je nach Jugendwohlfahrtsreferat, Alter, Geschlecht etc.
unterschiedlich ist. Weiters wird deutlich, dass die SozialarbeiterInnen und LeiterInnen
hinsichtlich ethischer Aspekte für den Prozess der Entscheidungsfindung sehr offen sind
und großteils den Wunsch nach mehr Wissen in diesem Bereich äußern.
ABSTRACT
My thesis deals with the impact of ethical aspects on the process of making decisions on
out-of-home care for children and adolescents in youth welfare in Tyrol. The aim of this
thesis is to create awareness of the strong connection between ethics and social work
particularly in the decisions on out-of-home care. Furthermore it is proposed to show
diverse helping mechanisms for ethical decision making. Since ethical aspects are a
support and orientation guide for social workers, they enable them to take an appropriate
and assured decision. Moreover, ethical aspects help social workers to question and
reflect on their own stereotypes and attitudes. The emphasis of this thesis is to investigate
the impact of ethical aspects in the decision-making of out-of-home care in the nine
departments of youth welfare in Tyrol.
This thesis is divided in a theoretical and an empirical part. In the theoretical part ethical
aspects are linked with the decision-making of out-of-home care for children and
adolescents. The description of ethics as a science related to social work shows the
impact of ethical aspects on the process of making decisions. Several values, ethical
theories and orientations have an effect on decision-making. Moreover, various ethical
dilemmas are described which social workers have to deal with in their decision-making.
Besides all that, this thesis attempts to answer the question what codes of ethics can
provide in the decision-making on out-of-home care. Furthermore, legal and general
information about out-of-home care and decision-making is given. Additionally, models for
ethical decision-making are introduced. The empirical part contains the results of the
investigation into the impact of ethical influencing variables on the decision-making on outof-home care in the nine Tyrolean departments of youth welfare. The evaluation of the
questionnaires of the social workers, the heads of the youth welfare departments and
students have been analysed and compared with each other. Moreover, striking outcomes
have been commentated and interpreted to show the paramount conclusions of this
investigation.
The attained results point out that there are significant differences in the process of making
decisions on out-of-home care regarding age, sex, the specific department etc.
Furthermore it becomes apparent that social workers and the heads of the youth welfare
departments are interested in and open for ethical aspects in the decision-making on outof-home care. Even the wish for more information and knowledge in this concern is
expressed.
INHALTSVERZEICHNIS
1
EINLEITUNG .............................................................................................. 1
1.1
Zugang zum Thema ....................................................................................................1
1.2
Ziele der Diplomarbeit ................................................................................................3
1.3
Vorgehen .....................................................................................................................4
2
THEORETISCHER HINTERGRUND ZUM THEMA ................................... 5
2.1
Ethik und Soziale Arbeit .............................................................................................5
2.1.1
Begriffserklärung........................................................................................................5
2.1.2
Ethik als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit ......................................................9
2.1.3
Werte in der Sozialen Arbeit, insbesondere bei der Fremdunterbringung von
Kindern und Jugendlichen .......................................................................................13
2.1.4
Dilemmata in der Sozialen Arbeit, insbesondere bei der Fremdunterbringung von
Kindern und Jugendlichen .......................................................................................16
2.1.5
Ethische Theorien....................................................................................................21
2.1.6
Code of Ethics .........................................................................................................26
2.1.7
Zusammenfassung ..................................................................................................29
2.2
Fremdunterbringung.................................................................................................30
2.2.1
Rechtliche Grundlage der Fremdunterbringung ........................................................31
2.2.2
Auswirkungen einer Fremdunterbringung auf Kinder und Jugendliche......................34
2.2.3
Zusammenfassung ..................................................................................................36
2.3
Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung..........................................37
2.3.1
Prozess der Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung ..........................37
2.3.2
Stellenwert der Ethik in der Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung ...42
2.3.3
Zusammenfassung ..................................................................................................44
2.4
Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung ........................................................45
2.4.1
Leitfaden zur ethischen Entscheidungsfindung (Reamer) .........................................45
2.4.2
Vierstufiges Modell des ethischen Entscheidungsprozesses (Gruber) ......................46
2.4.3
Ethical Assessment Screen (Dolgoff, Loewenberg) ..................................................47
2.4.4
Ethical Principle Screen (Dolgoff, Loewenberg)........................................................48
2.4.5
Gerwirth’s Hierarchy ................................................................................................49
2.4.6
Zusammenfassung ..................................................................................................50
Seite I
3
UNTERSUCHUNG DER ETHISCHEN EINFLUSSGRÖßEN IM PROZESS
DER ENTSCHEIDUNGSFINDUNG ÜBER EINE FREMDUNTERBRINGUNG
IN DEN TIROLER JUGENDWOHLFAHRTSREFERATEN ......................51
3.1
Angabe der Hypothesen ...........................................................................................51
3.2
Beschreibung der gewählten Methode ....................................................................52
3.3
Untersuchungsergebnisse .......................................................................................57
3.3.1
Ethische Aspekte bei der Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung ......57
3.3.2
Einfluss von Werten bei der Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung ..61
3.3.3
Dilemmata bei der Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung.................62
3.3.4
Ethische Theorien und Ausrichtungen in der Entscheidungsfindung über eine
Fremdunterbringung ................................................................................................67
3.3.5
Anwendung ethischer Richtlinien bei der Entscheidungsfindung über eine
Fremdunterbringung ................................................................................................71
4
3.3.6
Prozess der Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung in der Praxis ......74
3.3.7
Anwendung und Bewertung der Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung .........88
3.3.8
Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse ...................................................94
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK ................................................97
LITERATURVERZEICHNIS............................................................................101
ANHANG ........................................................................................................105
Seite II
TABELLENVERZEICHNIS
Tabelle 1: Volle Erziehung – Anzahl der Minderjährigen (außer Pflegekinder) am 31.12.2006.30
Tabelle 2: Beruf .....................................................................................................................53
Tabelle 3: Anwendung ethischer Richtlinien bei der Entscheidungsfindung .............................72
Tabelle 4: Grundeinstellung der SozialarbeiterInnen in der Entscheidungsfindung ..................77
Tabelle 5: Häufigkeit von Meinungsverschiedenheiten und Höhe der Zufriedenheit der
SozialarbeiterInnen in der Entscheidungsfindung ....................................................82
Tabelle 6: Belastung auf Grund der Entscheidung über Fremdunterbringung ..........................84
Seite III
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1: Vierstufiges Modell des ethischen Entscheidungsprozesses..............................46
Abbildung 2: „Ethical Principle Screen“ ..................................................................................48
Abbildung 3: Dienstjahre .....................................................................................................53
Abbildung 4: Beteiligung der Referate ...................................................................................54
Abbildung 5: Geschlecht ......................................................................................................54
Abbildung 6: Alter..................................................................................................................54
Abbildung 7: Dienstjahre .......................................................................................................54
Abbildung 8: Familienstand ...................................................................................................54
Abbildung 9: Beruf ................................................................................................................54
Abbildung 10: (Ethische) Aspekte in der Entscheidungsfindung .............................................57
Abbildung 11: Wichtige Eigenschaften in der Entscheidungsfindung ......................................59
Abbildung 12: Werte in der Entscheidungsfindung .................................................................61
Abbildung 13: Dilemmata in der Entscheidungsfindung..........................................................62
Abbildung 14: Gesellschaftliche und individuelle Werte in der Entscheidungsfindung.............64
Abbildung 15: Spannungsfeld Ideal- vs. Rationallösung .........................................................65
Abbildung 16: Häufigkeit der Ideal- oder Rationallösung ........................................................65
Abbildung 17: Verhältnis von ethischen Richtlinien und rechtlichen Grundlagen in der
Entscheidungsfindung.....................................................................................66
Abbildung 18: Grundhaltung in der Entscheidungsfindung .....................................................67
Abbildung 19: Verhältnis von Deontologie und Teleologie......................................................68
Abbildung 20: Wunsch nach ethischen Richtlinien für die Entscheidungsfindung ...................68
Abbildung 21: Anwendung ethischer Richtlinien.....................................................................71
Abbildung 22: Bekanntheit ethischer Richtlinien.....................................................................71
Abbildung 23: Besprechungen bei der Entscheidungsfindung ................................................74
Abbildung 24: Wichtige Schritte im Prozess der Entscheidungsfindung..................................75
Abbildung 25: Personenspezifische Unterschiede in der Entscheidungsfindung.....................76
Abbildung 26: Berücksichtigung spezifischer Interessen in der Entscheidungsfindung ...........78
Abbildung 27: Einfluss der SozialarbeiterInnen und der betroffenen Partei in der
Entscheidungsfindung .....................................................................................80
Abbildung 28: Verantwortung in der Entscheidungsfindung....................................................81
Abbildung 29: Häufigkeit der Anwendung folgender Hilfsmittel in der Entscheidungsfindung ..85
Abbildung 30: Einfluss des Modells 1 im Prozess der Entscheidungsfindung .........................88
Abbildung 31: Einschätzung der Brauchbarkeit des Modells 1 ...............................................89
Abbildung 32: Einfluss des Modells 2 im Prozess der Entscheidungsfindung .........................90
Abbildung 33: Einschätzung der Brauchbarkeit des Modells 2 ...............................................91
Abbildung 34: Einfluss des Modells 3 im Prozess der Entscheidungsfindung .........................92
Abbildung 35: Einschätzung der Brauchbarkeit des Modells 3 ...............................................93
Abbildung 36: Rangordnung der ethischen Prinzipien aus Sicht der StudentInnen und
LeiterInnen im Vergleich zum „Ethical Principle Screen“ von Dolgoff und
Loewenberg ....................................................................................................93
Abbildung 37: Einschätzung der Brauchbarkeit des Modells 4 ...............................................94
Seite IV
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
a.a.O.
am angegebenen Ort
ebd.
ebenda
vgl.
vergleiche
bzw.
beziehungsweise
ca.
circa
z. B.
zum Beispiel
f., ff.
folgende Seite(n)
zit. n.
zitiert nach
Kap.
Kapitel
Abb.
Abbildung
Abs.
Absatz
TJWG
Tiroler Jugendwohlfahrtsgesetz
ABGB
Allgemein Bürgerliches Gesetzbuch
IFSW
International Federation of Social Workers
IASSW
International Association of Schools of Social Work
NASW
National Association of Social Workers
OBDS
österreichischer Berufsverband der SozialarbeiterInnen
Seite V
Einleitung
1 EINLEITUNG
1.1
ZUGANG ZUM THEMA
“…the press portrays social workers either as indecisive wimps who fail to protect children
from death, or as authoritarian bullies who unjustifiably snatch children form their parents.
Either way, the social workers are to blame“
(Franklin zit. n. Banks 1995, 19).
Ich möchte meine Diplomarbeit mit diesem Zitat beginnen, da meines Erachtens bereits in
dieser Aussage deutlich wird, welches ethische Dilemma die Fremdunterbringung von
Kindern und Jugendlichen darstellt.
Im Rahmen meiner Praktika, die ich während meiner Ausbildung zur Sozialarbeiterin
absolvierte, beschäftigte ich mich intensiv mit der Thematik, wie der Entscheidungsfindungsprozess bei Fremdunterbringungen verläuft und mit welchen Schwierigkeiten sich
SozialarbeiterInnen dabei auseinandersetzen müssen.
Die ersten Erfahrungen in Bezug auf Fremdunterbringung sammelte ich in meinem
Informationspraktikum in der Jugendwohlfahrt Imst.
Da ich für mein Berufspraktikum eine jugendwohlfahrtsähnliche Einrichtung namens
APPOGG in Malta wählte, konnte ich die dort gewonnenen Erfahrungen und erlebten
Praktiken bezüglich Fremdunterbringung mit dem Prozess der Entscheidungsfindung über
Fremdunterbringung in der Jugendwohlfahrt Imst vergleichen. Dabei stellte ich fest, dass
es im englischsprachigen Raum viel mehr Literatur und eine sehr intensive Auseinandersetzung mit der Thematik der ethischen Entscheidungsfindung in der Sozialen Arbeit gibt.
An Hand ethischer Richtlinien wird z. B. in Amerika, Großbritannien, Australien, Kanada
etc. versucht die Qualität der sozialen Arbeit zu steigern und allgemein gültige Standards,
Einschätzungsraster sowie Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung festzulegen. In
Österreich ist bezüglich ethischer Richtlinien für die Soziale Arbeit bzw. im engeren Sinn
für die Jugendwohlfahrt bisher nur wenig Forschungsarbeit geleistet worden.
Aus diesem Grund beschloss ich mich im Rahmen meiner Diplomarbeit mit dieser
Thematik auseinanderzusetzen und wählte dazu als Untersuchungsfeld die neun Referate
der Jugendwohlfahrt in Tirol, in denen ich die SozialarbeiterInnen und LeiterInnen zum
Thema des ethischen Einflusses bei ihren Entscheidungen über eine Fremdunterbringung
befragte.
Seite 1
Einleitung
Nicht nur im Bereich der Jugendwohlfahrt, sondern in allen Arbeitsbereichen der Sozialen
Arbeit sehen sich SozialarbeiterInnen auf Grund des sozialpolitischen Auftrags ihrer
Profession und des Augenmerks auf menschliche Interaktionen immer wieder mit Entscheidungsprozessen und Urteilen konfrontiert. Dabei beschäftigen sich SozialarbeiterInnen mit ethischen Dilemmata und müssen somit Werte gegeneinander abwägen.
Auch im Bereich der Jugendwohlfahrt bestätigten sich erst kürzlich im Fall „Luca“ wieder
die Aktualität und die Schwierigkeiten, bei derartigen Dilemmata die „richtige“
Entscheidung zu treffen. In diesem Fall verstarb der nur 17 Monate alte Luca im
November 2007 auf Grund schwerer Misshandlungen durch den Freund der Mutter. Trotz
ärztlicher Untersuchungen und Vorwarnungen, trotz vorhandener Checklisten und
informierter Kinderschutzgruppe blieb der Bub bis zu seinem Tod bei seiner Mutter
untergebracht. Dieser Fall löste viele Diskussionen aus und im Nachhinein glauben alle
ExpertInnen zu wissen, wie „richtig“ vorgegangen werden hätte müssen. Doch wie kann im
Vorhinein bei so komplexen Fällen wie dem erwähnten beurteilt werden, welche
Entscheidung die „richtige“ ist? Gibt es überhaupt eine generell „richtige“ Entscheidung
und wie kann das „Für und Wider“ einer Fremdunterbringung abgewogen werden?
Kurz nach dem Tod des Kindes Luca wurden in den Medien vermehrt auch aus anderen
Regionen Fälle von Kindesmisshandlungen und –vernachlässigungen gemeldet sowie die
Forderungen nach Fremdunterbringung laut, wie zum Beispiel in Tirol in den Bezirken
Landeck und Imst. Das Thema scheint wie eh und je aktuell zu sein und auch die
Gesellschaft zu bewegen. Nicht nur in unserer Gegenwart, sondern bereits vor vielen
Jahrzehnten war die Thematik der Fremdunterbringung vorhanden und wurde in
literarischen Werken aufgegriffen, wie zum Beispiel in Bertold Brechts „Kaukasischem
Kreidekreis“ bzw. „Augsburger Kreidekreis“. Brecht beschreibt in diesen Werken bereits
1944 den Konflikt zwischen einer Pflegemutter und der leiblichen Mutter eines Kindes, und
das Dilemma des Richters, einer der beiden die Obsorge des Kindes zusprechen zu
müssen. Ebenso wird in der Bibel in „Salomos Urteil“ (1. Buch der Könige, 3. Kapitel, 16 –
28) das Dilemma, die Entscheidung über den Aufenthalt eines Kindes bestimmen zu
müssen, beschrieben.
In allen erwähnten Beispielen wird deutlich, dass Entscheidungen, die einen so
maßgeblichen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Lebens eines Kindes oder Jugendlichen haben, keine einfachen Entscheidungen sind, sondern auf Grund der Komplexität
Seite 2
Einleitung
und der vielen verschiedenen Anforderungen ein gründliches Überlegen, Abwägen und
Abklären voraussetzen.
Aus diesem Grund stellt es für mich eine große Herausforderung dar, mich der Thematik
der Entscheidungsfindung über Fremdunterbringung unter ethischen Aspekten in meiner
Diplomarbeit zu widmen und zu beschreiben, was ethische Aspekte dabei leisten und wie
sie zur ethischen Entscheidungsfindung beitragen können.
1.2
ZIELE DER DIPLOMARBEIT
Das Ziel meiner Diplomarbeit liegt darin, die Bedeutung von Ethik in der sozialen Arbeit
bzw. dem Bereich Jugendwohlfahrt hervorzuheben und darauf hinzuweisen, dass es bei
Entscheidungen über die Fremdunterbringung, die den weiteren Verlauf des Lebens eines
Kindes/Jugendlichen maßgeblich beeinflussen, wichtig ist, eine allgemeine Grundlage und
klare Richtlinien zu haben.
Ethische Aspekte sowie Grundprinzipien und Richtlinien können eine Unterstützung und
Orientierungshilfe für SozialarbeiterInnen sein und ihnen helfen, adäquate und sichere
Entscheidungen zu treffen, sowie immer wieder eigene Vorannahmen zu hinterfragen und
zu reflektieren. Weiters möchte ich die Codes of Ethics verschiedener Länder (Amerika,
Kanada, Australien, Großbritannien, …) mit dem österreichischen Ethikkodex vergleichen
und dessen Bekanntheitsgrad in den Referaten der Jugendwohlfahrt erfragen. Zusätzlich
ist es mein Ziel aus den ethischen Theorien jene Aspekte herauszufiltern, die für die
Entscheidungen über Fremdunterbringungen auch in Tirol als hilfreich erachtet werden
können. Auf Grund der recherchierten englischsprachigen Literatur über Ethik möchte ich
Modellvorschläge zur ethischen Entscheidungsfindung einbringen und diese nach dem
Grad ihrer Sinnhaftigkeit für den Prozess der Entscheidungsfindung über Fremdunterbringungen analysieren. Ein weiteres Ziel ist es zu erkennen, wie der Prozess der
Entscheidungsfindung in den neun Referaten der Jugendwohlfahrt in Tirol abläuft und
Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu beschreiben.
Meine Diplomarbeit ist somit ein Versuch Antwort darauf zu finden, wie hilfreich und
unterstützend ethische Richtlinien und Aspekte bei der Entscheidungsfindung über
Fremdunterbringungen sein können, bzw. wie hilfreich und brauchbar diese von Seiten der
in der Jugendwohlfahrt tätigen SozialarbeiterInnen eingeschätzt werden und in welchem
Ausmaß ethische Aspekte bereits bei derartigen Entscheidungen in der Jugendwohlfahrt
Tirol einfließen.
Seite 3
Einleitung
1.3
VORGEHEN
Diese Diplomarbeit ist in einen theoretischen und einen empirischen Teil gegliedert.
Im theoretischen Teil werden ethische Aspekte mit dem Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen verknüpft. Diese
Verknüpfung ist in vier Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel wird die Verbindung von Ethik
und Sozialer Arbeit beschrieben, indem wichtige ethische Begriffe der Ethik und Sozialen
Arbeit definiert werden und der enge Zusammenhang zwischen Ethik und Sozialer Arbeit
erläutert wird. Darüber hinaus werden Werte, Dilemmata und ethische Theorien, die für die
Soziale Arbeit von Bedeutung sind, näher beschrieben und Ethikkodizes aus Österreich
und weiteren Ländern analysiert und miteinander verglichen. Im zweiten Kapitel werden,
neben der Angabe der Statistik zu Fremdunterbringung in Tirol, die rechtliche Grundlage
und die Auswirkungen von Fremdunterbringungen auf Kinder und Jugendliche angeführt.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem Prozess der Entscheidungsfindung über die
Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen in der Jugendwohlfahrt. Dabei werden
vor allem Orientierungshilfen, Checklisten und Leitlinien, die in Österreich verwendet
werden,
herangezogen
und
zusätzlich
der
Stellenwert
der
Ethik
in
der
Entscheidungsfindung beschrieben. Im vierten Kapitel werden 5 Modelle der ethischen
Entscheidungsfindung für den Bereich der Sozialen Arbeit näher erklärt.
Im empirischen Teil werden zu Beginn die Hypothesen der Untersuchung angeführt und
im Weiteren die Methode angegeben, indem die Vorgehensweise, die Untersuchungsgruppe und der Aufbau der Fragebögen beschrieben wurden. Der Schwerpunkt des
empirischen Teils liegt in der Darstellung der Untersuchungsergebnisse. Die Auswertung
der einzelnen Fragen der Fragebögen der SozialarbeiterInnen, LeiterInnen und StudentInnen wurde analysiert und bei zielgruppenübergreifenden Fragen miteinander verglichen.
Zusätzlich wurden markante Ergebnisse kommentiert und interpretiert um so die
wichtigsten Aussagen der Befragung zu verdeutlichen.
Abschließend wird in der Zusammenfassung und im Ausblick die Bedeutung ethischer
Aspekte für den Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von
Kindern und Jugendlichen in der Jugendwohlfahrt in Tirol unterstrichen.
Seite 4
Ethik und Soziale Arbeit
2 TH E O RE TIS C HE R HIN TE R G R U ND
2.1
ZUM
THEMA
ETHIK UND SOZIALE ARBEIT
2 . 1. 1 B E G R I F F S E R K L Ä R U N G
Bevor näher auf die Verbindung zwischen Ethik und Sozialer Arbeit eingegangen wird,
sollen hier wesentliche Begriffe definiert werden, die im Rahmen dieser Diplomarbeit im
Zusammenhang mit Ethik und Sozialer Arbeit verwendet werden.
ETHIK
Ethik wird als die Theorie rechten und guten Lebens bezeichnet und reflektiert moralisches
Verhalten. Autoren, die sich intensiv mit Ethik befassen, definieren den Begriff Ethik durch
die Heraushebung verschiedener Gesichtspunkte unterschiedlich.
Für Sarah Banks ist Ethik die „Wissenschaft der Moral“ bzw. des moralischen Handelns.
In diesem Sinne beschreibt Ethik, was Menschen tun und nicht tun sollen (vgl. Banks
1995, 3 f.).
Ähnlich wie Banks definieren Chris Beckett, Ralph Dolgoff und Frank M. Loewenberg
Ethik als „Handlungsanleitungen“ bzw. als „Verhaltenskodex“, die bei der moralischen
Entscheidungsfindung die Menschen durch klare Richtlinien befähigen zwischen „richtig“
und „falsch“ zu unterscheiden. Diese Richtlinien leiten sich aus einem genau definierten
Wertesystem ab (vgl. Beckett 2006, 24; Dolgoff, Loewenberg 2005, 18).
Dolgoff und Loewenberg greifen dabei auf folgende Definition zurück: „Ethics is not
primarily concerned with getting people to do what they believe to be right, but rather with
helping them to decide what is right“ (Jones, Sontag, Beckner & Fogelin zit. n. Dolgoff,
Loewenberg 2005, 18).
Hans Günther Gruber beschreibt Ethik as jene Teildisziplin der Philosophie, die Antwort
auf die Frage „Was soll ich tun?“ zu geben versucht – eine der drei Fragen, die sich
bereits Kant stellte (Gruber 2005, 11).
Der Soziologe Niklas Luhmann und der Human-, Natur-, Sozialwissenschaftler und
Philosoph Mario Bunge, zwei wichtige Begründer der Systemtheorien in der Sozialen
Arbeit, befassten sich neben dem systemtheoretischen Paradigma auch mit ethischen
Norm- und Wertetheorien.
Seite 5
Ethik und Soziale Arbeit
Luhmann beschreibt Ethik als Moral, die durch Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung zur Ethik wird. „Ethik ist … die Beschreibung der Moral. …eine Reflexionstheorie der
Moral“ (Luhmann zit. n. Klassen 2004, 128).
Mario Bunge vertritt eine sehr umfassende ethische Doktrin, die sich im Wesentlichen
durch mehrere Aspekte auszeichnet. Laut Bunge lassen sich alle moralischen Prinzipien in
der moralischen Maxime „Erfreue dich des Lebens und verhilf anderen, sich des Lebens
zu erfreuen!“ zusammenfassen. Moral bezieht sich auf eine reale Welt mit konkreten
richtigen und falschen Handlungen, obwohl nur wenige Werte objektiv sind. Weiters ist die
Existenz von moralischen Gefühlen und Intuitionen nicht subjektiver Natur. Bunge führt
noch weitere Perspektiven an, die das Wesen der Ethik aus seiner Sicht ausmachen. Er
beschreibt Ethik sowohl für die Wissenschaft als auch für die Profession in Form
professioneller ethischer Codes als sehr wichtig. Auch zu Themen wie Menschenwürde
und gerechte Gesellschaft bezieht Bunge im Rahmen seiner ethischen Theorien Stellung
(vgl. Bunge zit. n. Klassen 2004, 133, 138).
Eine weitere Definition, die Norman Linzer verwendet, lautet kurz und bündig: „Ethics is
values in action“ (Levy zit. n. Linzer 1999, 35). Damit ist gemeint, dass jene Werte, die
normative Handlungsanleitungen repräsentieren, sobald sie in die Tat umgesetzt werden,
zur „Ethik“ werden (vlg. Linzer 1999, 35).
MORAL
Unter „Moral“, die die Ausgangslage für die Ethik bildet, versteht Luhmann die
Unterscheidung von „gut“ und „böse“. Er versteht darunter „eine besondere Art von
Kommunikation, die Hinweise auf Achtung oder Missachtung mitführt“ (Luhmann zit. n.
Klassen 2004, 127).
Bei Bunge bezieht sich Moral auf beabsichtigte menschliche Handlungen, die moralisch
richtig, falsch oder neutral sein können, je nachdem, ob sie die Ausübung von moralischen
Rechten und Pflichten fördern, behindern oder unberührt lassen (vgl. Bunge zit. n. Klassen
2004, 131 f.).
W ERTE
Chris Beckett definiert Werte als “the regard that something is held to deserve, the
importance or preciousness of something” (Beckett 2006, 6).
Laut Beckett spielt die Wichtigkeit und Kostbarkeit in der Betrachtungsweise eines
konkreten Objektes eine wesentliche Rolle. Er ergänzt diese Auffassung mit einer zweiten
Seite 6
Ethik und Soziale Arbeit
Definition, nämlich: „A person’s principles or standards of behaviour: one’s judgement
about what is important in life“ (ebd.)
Werte zeichnen sich, laut Beckett, durch den anhaltenden Glauben aus, dass bestimmte
persönliche oder gesellschaftlich Verhaltensmaßstäbe und –regeln vor anderen entgegengesetzten Verhaltensweisen bevorzugt werden sollten. Somit bestimmen Werte „what a
person thinks he ought to do which may or may not be the same as what he wants to do,
what is in his interest to, or what in fact he actually does“ (Central Council for Education
and Training in Social Work zit. n. Beckett 2006, 7). “Sollen” und “wollen” können laut
dieser Definition einander widersprechen oder identisch sein. Werte sind aber durch das
„Sollen“, nicht aber unbedingt durch das „Wollen“ gekennzeichnet. (vgl. ebd.).
Norman Linzer bezeichnet Werte als handlungsorientierte Entscheidungshilfen. „When
several choices of action are available, values lead the individual to choose one and to
commit oneself to act on it” (Linzer 1999, 9).
Luhmann beschreibt Werte als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, die die
Funktion haben, eine gemeinsame Grundlage für die in der Gesellschaft (re)produzierten
Kommunikationen zu schaffen (vgl. Luhmann zit. n. Klassen 126).
Laut Bunge haben alle Werte ihren Ursprung in bestimmten Bedürfnissen oder Wünschen
(vgl. Bunge zit. n. Klassen 2004, 129f).
NORMEN
Normen sind in ethischer Hinsicht inhaltlich konkretisierte Sollensforderungen, die auf die
Verbindlichkeit menschlichen Handelns abzielen. Ethische Normen formulieren somit
allgemein Anspruchsaspekte des menschlichen Handelns. Gleichermaßen stellen sie aber
auch Lösungsvorgaben dar, die den Einzelnen bei Entscheidungen entlasten und somit
Hilfe zu einem sachgerechten Entscheid bieten sollen (Gruber 2005, 26).
Luhmann bezeichnet Normen als „Verhaltenserwartungen, die sich durch faktisches
Verhalten nicht irritieren lassen“. An ihnen wird auch dann festgehalten, wenn die
Verhaltenserwartungen enttäuscht werden (vgl. Luhmann zit. n. Klassen 2004, 128).
Bunge beschreibt moralischen Normen als Regeln für soziales Verhalten. Die Funktion
dieser Normen besteht dabei darin, menschengerechte Werte durch die faire Verteilung
von Rechten und Pflichten zu verwirklichen (vgl. Bunge zit. n. Klassen 2004, 132 f.).
Seite 7
Ethik und Soziale Arbeit
DILEMMA
Unter Dilemma wird die unangenehme Lage, zwischen zwei Übeln wählen zu müssen,
verstanden (vgl. Microsoft Encarta Enzyklopädie Professional 2005).
Ein Dilemma hat somit immer mit einer Zwangslage bzw. einer „Zwickmühle“ zu tun. Im
Gegensatz zum Konflikt, bei dem ebenfalls zwei nicht vereinbare Interessen aufeinander
stoßen, handelt es sich beim Dilemma immer um zwei „Übel“, zwischen denen man sich
entscheiden muss (vgl. Gruber 2005, 189).
Von moralischen Dilemmata wird dann gesprochen, wenn eine Person oder auch eine
Gruppe zwei oder mehrere Verpflichtungen in einer Situation gleichzeitig einhalten soll,
aber nur eine Verpflichtung erfüllt werden kann. Die Wahl der einen Verpflichtung schließt
die Verletzung einer oder mehrerer anderer Verpflichtungen ein (Höffe 1992, 188).
FREMDUNTERBRINGUNG
Wenn die Pflege und Erziehung von Kindern und Jugendlichen kurz- oder langfristig auf
eine andere Familie oder auf eine Einrichtung übertragen werden, bezeichnet man dies als
Fremdunterbringung. Dies kann zum einen von den obsorgeberechtigten Eltern selbst
oder zum anderen durch Anordnung einer Behörde geschehen. Im Falle einer
behördlichen Anordnung wird zwischen (1) der Fremdunterbringung mit Einwilligung der
Erziehungsberechtigten und (2) der Fremdunterbringung gegen deren Einwilligung
unterschieden (vgl. Blandow zit. n. Leitner 2001, 6).
Gesetzlich
geregelt
ist
die
Fremdunterbringung
bzw.
„Volle
Erziehung“
im
Jugendwohlfahrtsgesetz. Laut Tiroler Jugendwohlfahrtsgesetz ist die „volle Erziehung“
§ 14 TJWG Abs.1, dann zu gewähren, „wenn die Erziehungsberechtigten nicht in der Lage
sind, die zum Wohl eines Minderjährigen erforderliche Erziehung zu gewährleisten, und
die Unterstützung der Erziehung nach § 13 nicht ausreicht.“ (TJWG 2006, § 14 Abs. 1).
Seite 8
Ethik und Soziale Arbeit
2 . 1. 2 E T H I K AL S B E Z U G S W I S S E N S C H AF T D E R S O Z I AL E N A R B E I T
Die enge Verbindung zwischen Sozialer Arbeit und Ethik lässt sich bereits in der Definition
Sozialer Arbeit deutlich erkennen. Die Profession Soziale Arbeit wird laut der International
Federation of Social Workers (IFSW) und der International Association of Schools of
Social Work (IAASW) als jene Profession beschrieben, die sich für sozialen Wandel, die
Lösung von Problemen in menschlichen Beziehungen sowie für die Befähigung und
Befreiung von Menschen einsetzt und dabei das Ziel verfolgt das Wohlergehen zu fördern.
Dabei stützt sich Soziale Arbeit auf Theorien menschlichen Verhaltens und sozialer
Systeme und interveniert an jenen Stellen, wo Menschen mit ihrer Umwelt in
Wechselwirkung stehen. Die Grundlage für die Soziale Arbeit sind die Prinzipien der
Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit (vgl. IFSW, IASSW: Ethik in der Sozialen
Arbeit 2004).
Ethik bildet laut dieser Definition durch die Prinzipien der Menschenrechte und der
sozialen Gerechtigkeit das Fundament der Sozialen Arbeit.
Da sich SozialarbeiterInnen mit verschiedensten widerstreitenden Interessen konfrontiert
sehen, wie zum Beispiel der Doppelrolle, einerseits HelferIn und anderseits auch
KontrolleurIn zu sein, sich zwischen den unterschiedlichen Interessen ihrer KlientInnen
und denen der Gesellschaft nach Effizienz und Nützlichkeit zu bewegen und der Tatsache
der begrenzten Ressourcen trotz hohem Bedarf an Unterstützungsangeboten etc.,
müssen sich SozialarbeiterInnen in ihrer Profession mit Dilemmata auseinandersetzen und
diese reflektieren sowie ethisch informierte Entscheidungen darüber treffen, wie in jedem
Einzelfall gehandelt werden soll. Diese Herausforderungen machen Ethik für SozialarbeiterInnen zu einer sehr wichtigen Bezugswissenschaft (vgl. ebd.).
Die Entscheidung über ethische Dilemmata ist ein Prozess, der gründliches Überlegen
erfordert und nicht durch Intuition oder Erfahrungswissen beschleunigt werden kann.
Jedes ethische Dilemma ist unterschiedlich und spezifisch. Trotzdem können ethische
Richtlinien, Prinzipien und Theorien durch die Beschreibung generalisierter ethischer
Aspekte Entscheidungshilfen für die diversen ethischen Konfliktsituationen bieten. Ziel
ethischer Richtlinien ist es nicht, eine Vereinheitlichung der so differenten Situationen zu
erzeugen. Diese Anforderung können ethische Standards schon allein auf Grund der
Eigentümlichkeit und Besonderheit jeder KlientInnengeschichte nicht leisten. Vielmehr soll
das eigenständige Durchdenken, das Betrachten aus unterschiedlichen Blickwinkeln und
somit die Vielschichtigkeit in der Entscheidungsfindung gefördert und unterstützt werden.
Seite 9
Ethik und Soziale Arbeit
Allen Entscheidungen gemeinsam muss aber die Ausrichtung an der Ethik bleiben (vgl.
Linzer 1999, 2003).
Um diese ethische Ausrichtung zu sichern, beschreibt auch die International Federation of
Social Work in Zusammenarbeit mit der International Association of Schools of Social
Work ethische Prinzipien der Sozialen Arbeit. Unter dem Aspekt der Menschenrechte und
Menschenwürde sollen das Recht auf Selbstbestimmung geachtet, das Recht auf
Beteiligung gefördert, jede Person ganzheitlich behandelt und Stärken und Ressourcen
des Individuums, der Gruppe und der Gemeinschaft erkannt und entwickelt werden.
Weiters sollen SozialarbeiterInnen nach dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit handeln
und somit negative Diskriminierung zurückweisen, Verschiedenheit anerkennen, Ressourcen gerecht verteilen, sich ungerechter Politik und Praktiken widersetzen und solidarisch
arbeiten bzw. Exklusion, Stigmatisierung und Unterdrückung zurückweisen. (vgl. IFSW,
IASSW: Ethik in der Sozialen Arbeit 2004).
Die Forderung nach klaren allgemeingültigen ethischen Prinzipien und Standards bezieht
sich auf die Profession Soziale Arbeit im Gesamten, sowie in spezifischen Ausführungen
auch auf einzelne Handlungsfelder wie z. B. die Jugendwohlfahrt. Bezogen auf die vielen
verschiedenen Arbeitsbereiche der Sozialen Arbeit muss es neben den breit gefassten
und allgemein gehaltenen ethischen Richtlinien ergänzend auch gezielte ethische
Standards geben, die den spezifischen Arbeitskontext betreffen. Jener Kodex der auf die
gesamte Soziale Arbeit ausgerichtet ist, wird als „code of professional ethics“ bezeichnet
(vgl. Beckett 2006, 66).
Beckett nennt vier ethische Aspekte, die er als relevant für die Soziale Arbeit betrachtet,
da diese in den verschiedensten Bereichen der Sozialen Arbeit erkennbar sind. Diese vier
Aspekte sind:
•
die Etablierung eines Code of Ethics um eine traditionelle professionelle Ethik zu
sichern
•
besondere Beachtung der Sozialen Gerechtigkeit und Engagement, gegen Ungerechtigkeit
aufzutreten um
unterdrückten
und an den Rand gedrängten
Bevölkerungsgruppen eine gerechte Chance zu geben
•
Respekt für jedes Individuum
•
Anerkennung der eigenen Grenzen als SozialarbeiterInnen bzw. die Anerkennung
des eigenen sozialarbeiterischen Kompetenzbereichs.
(vgl. a.a.O. 80 f.)
Seite 10
Ethik und Soziale Arbeit
Neben diesen vier Aspekten, die bei der Vermeidung, Aufdeckung und Beseitigung von
sozialen Problemen von großer Bedeutung sind, beschreibt Gruber (2005) weitere
Bestimmungsmomente des ethischen Handlungsentscheids. Unter den Aspekten der
eigenen Gesinnung, der Handlungsziele, der eingesetzten Mittel und Methoden, sowie der
vorhersehbaren Folgen nennt er unter anderen folgende Punkte, die bei den Überlegungen und der Reflexion moralischen Verhaltens und Handelns genau betrachtet werden
sollen:
•
die Gefahr für das Kind in der momentanen Situation
•
die eigene Grundeinstellung
•
eigene bisherige Erfahrungen
•
die eigene ethische Werthaltung
•
die beabsichtigten Handlungsziele
•
die geplanten Interventionsmittel bzw. das beabsichtigte Vorgehen
•
die ethische Bewertung der Intervention an sich
•
erwartete positive und/oder negative Handlungsfolgen
•
Umfang und Dauer der Nebenwirkungen
•
Anzahl der von Nebenwirkungen betroffenen Menschen
•
schwerwiegende Gründe, die die etwaigen negativen Folgen rechtfertigen
•
Verhältnis zwischen den unangenehmen „Nebenwirkungen“ der Intervention und
den unangenehmen Folgen eines Interventionsverzichts
•
Limitierung der Nebenwirkungen auf das geringstmögliche Maß.
(vgl. Gruber 2005, 159 - 206)
Gruber sieht die Ethik als wichtige Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit, da die Ethik
der Sozialen Arbeit ihre wissenschaftlich fundierte Einsichten über lebenswichtige ethische
Güter, Werte und Normen zur Verfügung stellt und der Sozialen Arbeit somit hilft, ihr Tun
zu reflektieren und ihre Ziele vor sich und der Gesellschaft zu begründen (vgl. a.a.O. 22).
Frederic Reamer (2006) greift in seinem Buch „Social Work Values and Ethics“ auf neun
„core professional virtues“, also auf professionelle Grundtugenden zurück, die bereits 1970
von Tom Beauchamp und James Childress benannt wurden und sich als entscheidend für
professionelle Sozialarbeit erwiesen. Die enge Verbindung zwischen Ethik und Sozialer
Arbeit lässt sich in den folgenden neun ethischen Grundeigenschaften, die aus Reamers
Sicht in die sozialarbeiterische Arbeit einfließen sollten, erkennen:
Seite 11
Ethik und Soziale Arbeit
•
Mitgefühl
•
Urteilsvermögen
•
Vertrauenswürdigkeit
•
Zuverlässigkeit; Integrität
•
Gewissenhaftigkeit
•
Schadensvermeidung
•
Eigenständigkeit / Willensfreiheit
•
Wohltätigkeit
•
Gerechtigkeit.
(vgl. Reamer 2006, 31 - 33)
Biestek fasste schon zu Beginn der 60er Jahre sieben ethische „Grundsätze der helfenden
Beziehung“ zusammen. In diesen Grundsätzen erwähnte er damals bereits die Annahme
des anderen, die nichtrichtende Haltung, die Selbstbestimmung des Klienten [!] und die
Verschwiegenheit (vgl. Biestek 1970, 25 – 130).
Auch die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen ist in ethischen Überlegungen verwurzelt. Die Frage, ab wann SozialarbeiterInnen der Jugendwohlfahrt berechtigt
sind, in das Leben von Familien und insbesondere von Kindern einzugreifen, muss
gründlich überlegt und es müssen alle „Für und Wider“ abgewogen werden. Schwierig ist
diese Entscheidung vor allem auch deshalb, weil die „Selbstbestimmung“ ein wichtiger
Grundwert der Sozialen Arbeit ist. Gegen diesen Wert wird bei der Fremdunterbringung
verstoßen, da das Recht auf „Selbstbestimmung“ nicht als absolut angesehen werden
kann. Brian Simmons (2003) meint dazu in seinem Ausbildungshandbuch „Child Welfare
Ethics and Values“: “Individuals are not free to do whatever they want whenever they
want. This kind of a system is called anarchy” (Simmons 2003, 42).
Simmons ist daher der ethischen Auffassung, dass SozialarbeiterInnen die Verpflichtung
haben im Namen der machtlosen und ungeschützten Kinder, die sich nicht selber
schützen können, in das Familienleben einzugreifen. Diese Verpflichtung, sich für das
Wohl und den Schutz der Kinder einzusetzen, ist die ethische Basis der Fremdunterbringung (vgl. ebd.).
Seite 12
Ethik und Soziale Arbeit
2 . 1. 3 W E R T E I N D E R S O Z I AL E N A R B E I T , I N S B E S O N D E R E B E I D E R
FREMDUNTERBRINGUNG VON KINDERN UND JUGENDLI CHEN
Jeder/jede SozialarbeiterIn wird im Rahmen seines/ihres Berufslebens mit Anforderungen,
die aus unterschiedlichsten Werthaltungen entspringen, konfrontiert.
Beckett (2006) beschreibt das Spannungsfeld zwischen den persönlichen, professionellen,
institutionellen bzw. organisationsbezogenen und gesellschaftlichen Werten aus einer
mikro- und makroethischen Perspektive. Zum einen können vom mikroethisch, also
individuell geprägten Standpunkt aus die genannten Werte innerhalb einer Person in
Konflikt geraten, zum anderen wird das Spannungsfeld durch dieselben Werte anderer
Personen und Professionen (makroethisch) zusätzlich erweitert (vgl. Beckett 2006,
21 – 23).
Um trotz Wertdiffusion ethischen Entscheidungen gewachsen zu sein, bedarf es einer
intensiven Auseinandersetzung und Bewusstmachung der verschiedenen Werthaltungen,
sowie der Definition der eigenen professionellen Werte, die Klarheit darüber geben sollen,
welche Haltung man in schwierigen Situationen als SozialarbeiterIn einnehmen soll.
Ziel der bewussten Beschäftigung mit Werten ist es, Konflikte zwischen den verschiedenen Werten zu reduzieren und somit bessere ethische Entscheidungen auf Basis der
Bedürfnisse der KlientInnen und der Aufrechterhaltung der eigenen ethischen Integrität zu
treffen. Ralpf Dolgoff und Frank Loewenberg (2005) heben besonders die Auseinandersetzung mit folgenden Werten hervor:
1. individuelle Werte, denen unabhängig von anderen Bedeutung beigemessen wird
2. Gruppenwerte, die für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe wichtig sind
3. gesellschaftliche Werte, die vom gesamten gesellschaftlichen System oder zumindest von politischen VertreterInnen getragen werden
4. professionelle Werte, die die Profession der Sozialen Arbeit maßgeblich beeinflussen.
(vgl. Dolgoff, Loewenberg 2005, 51, 52)
Die National Association of Social Workers (NASW) definiert in den „Standards for the
Classification of Social Work Practice” folgende professionellen Grundwerte der Sozialen
Arbeit:
•
commitment to the primary importance of the individual in society
•
respect for the confidentiality of relationships with clients
Seite 13
Ethik und Soziale Arbeit
•
commitment to social change to meet socially recognized needs
•
willingness to keep personal feelings and needs separate from professional
relationships
•
willingness to transmit knowledge and skills to others
•
respect and appreciation for individual and group differences
•
commitment to develop clients’ ability to help themselves
•
willingness to persist in efforts on behalf of clients despite frustration
•
commitment to social justice and the economic, physical, and mental well-being of
all members of society
•
commitment to high standards of personal and professional conduct.
(NASW Standards for the Classification of Social Work Practice zit. n. Reamer
2006, 21)
Auch im Code of Ethics der National Association of Social Workers werden Grundwerte
der Sozialen Arbeit benannt und mit klaren ethischen Handlungsanweisungen verknüpft.
Diese sechs Grundwerte beinhalten, dass SozialarbeiterInnen sich zum Ziel setzen:
1. bedürftigen Menschen zu helfen und zu versuchen soziale Probleme zu
bekämpfen
2. sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen
3. die Menschenwürde jeder Person zu respektieren
4. die Bedeutung menschlicher Beziehungen und Kontakte (an) zu erkennen
5. vertrauensvoll und zuverlässig zu sein
6. sich der eigenen Kompetenz bewusst zu sein und nur innerhalb dieser zu handeln
sowie auch das eigene professionelle Expertentum weiter zu entwickeln und zu
verbessern.
(vgl. NASW Code of Ethics 1999)
Gruber nennt im Gegensatz zu den sechs genannten „core values“ des NASW Code of
Ethics nur vier Werte, die er als Basis für alle weiteren Wertungen und Normierungen in
der
Praxis
der
Sozialen
Arbeit
sieht.
Diese
vier
Grundwerte
sind
(1)
die
Eigenverantwortlichkeit, (2) die Gerechtigkeit, (3) die Solidarität und (4) die Toleranz (vgl.
Gruber 2005, 50).
Im Sinne der Eigenverantwortung meint Gruber: „Jeder Mensch kann nicht nur, er muss
als Person sein Handeln selbst verantworten“ (a.a.O. 59).
Seite 14
Ethik und Soziale Arbeit
Aus diesem Grundwert leitet Gruber für das sozialarbeiterische Handeln das Ziel ab
Verantwortung und Mündigkeit zu fördern und nennt dabei das Prinzip der Subsidiarität,
das er mit der Faustregel: „Soviel Hilfe wie nötig, soviel Eigenständigkeit wie möglich“
vergleicht (vgl. a.a.O. 65 – 67).
In Bezug auf die Sicherung des Kindeswohls und somit von besonderer Relevanz für die
Jugendwohlfahrt beschreibt Simmons (2003) in seinem Ausbildungshandbuch zwölf „Core
Child Welfare Values“. Diese beinhalten detaillierte Ausführungen zu den Werten Schutz
für Kinder, Erhaltung und Stärkung der Familie, Respekt für die Familien und alle
involvierten Personen, Selbstbestimmung der KlientInnen und individuelle Interventionen
abgestimmt auf die Bedürfnisse des Kindes und die spezielle Situation. Weiters sind für
die SozialarbeiterInnen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen Werte wie die
Einhaltung der eigenen Grenzen in Bezug auf den sozialarbeiterischen Kompetenzbereich, Loyalität und Aufrichtigkeit, sowie Gewissenhaftigkeit, Sorgsamkeit und Ehrlichkeit wichtig. Auch die Verschwiegenheitspflicht bzw. Vertraulichkeit sind für einen professionellen, wertschätzenden Umgang mit Kindern unabdingbar (vgl. Simmons 2003, 10 f.).
Im Vergleich dazu definiert die National Society for the Prevention of Cruelty to Children
(NSPCC) sechs Grundwerte, die auf die UN Kinderrechtskonvention aufbauen.
1. Children must be protected from all forms of violence and exploitation.
2. Everyone has a responsibility to support the care and protection of children.
3. We listen to children and young people, respect their views and respond to them
directly.
4. Children should be encouraged and enabled to fulfil their potential.
5. We challenge inequalities for children and young people.
6. Every child must have someone to turn to.
(NSPCC zit. n. Beckett 2006, 12)
Die ethische Gestalt der Sozialen Arbeit ist all diesen Erläuterungen nach von
Grundwerten geprägt, die das Wesen der Sozialen Arbeit maßgeblich beeinflussen. Diese
Werte können, wie beschrieben, auch miteinander konkurrieren und in Konflikt geraten.
Durch eine gewissenhafte Auseinandersetzung verhelfen sie aber zu mehr Klarheit und
einer selbstbewussten sozialarbeiterischen Haltung, die vor allem zur Bewältigung
ethischer Dilemmata einen wesentlichen Beitrag leistet.
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Ethik und Soziale Arbeit
2 . 1. 4 D I L E M M AT A I N D E R S O Z I AL E N A R B E I T , I N S B E S O N D E R E B E I D E R
FREMDUNTERBRINGUNG VON KINDERN UND JUGENDLI CHEN
Neben den genannten Werten, die untereinander in Konflikt geraten können, treten in der
Sozialen Arbeit eine Reihe von ethischen Dilemmata auf, die ebenso eine große
Herausforderung an die SozialarbeiterInnen stellen.
Von ethischen Dilemmata wird dann gesprochen, wenn SozialarbeiterInnen vor der
schwierigen Entscheidung zwischen zwei gleichermaßen unerwünschten Alternativen
stehen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Konflikte zwischen moralischen
Prinzipien, wodurch die Abwägung, welche Entscheidung die „richtige“ ist, erschwert wird
(vgl. Banks 1995, 12).
Banks nennt dazu als Beispiel die Entscheidung über die Fremdunterbringung eines
Kindes. Wenn das Kind aus der Familie genommen wird, ist das weder für das Kind noch
für die Mutter eine ideale Lösung, da das Kind in einer außerfamiliären Umgebung
untergebracht werden muss, was viele unangenehme Folgen für das Kind mit sich bringen
kann. Als zweite Alternative beschreibt Banks, das Kind in der Obsorge der Eltern in der
gewohnten Umgebung zu belassen. Diese Alternative birgt aber im Beispiel von Banks die
Gefahr der Misshandlung, wodurch dem Kind Verletzungen oder gar der Tod drohen
könnten (vgl. a.a.O. 22).
Bezogen auf dieses und ähnliche Dilemmata in der Sozialen Arbeit meint Banks
hinsichtlich der Tatsache zwischen zwei Übeln entscheiden zu müssen Folgendes: „[This]
seems to sum up quite well how it often feels to be a social worker in a „no win“ situation“
(ebd.).
Laut Banks stehen SozialarbeiterInnen zusätzlich vor der Schwierigkeit einen geeigneten
Kompromiss zwischen den vielen Verpflichtungen zu finden, die sie unterschiedlichen
Interessensgruppen gegenüber haben. Die Gratwanderung zwischen den Anforderungen
der KlientInnen, der eigenen Profession, der sozialen Einrichtung und der Gesellschaft,
stellt ein zusätzliches Konfliktpotential dar (vgl. a.a.O. 122).
Im Code of Ethics der National Association of Social Workers werden die ethischen
Standards in Verantwortungsbereiche gegliedert, die SozialarbeiterInnen unterschiedlichen Gruppen gegenüber wahrnehmen müssen. Neben den vier von Banks genannten
Anforderungsstellern, nämlich KlientInnen, die eigene Profession, soziale Einrichtungen
und die Gesellschaft, werden im Code of Ethics der NASW zusätzlich Verpflichtungen
Seite 16
Ethik und Soziale Arbeit
gegenüber den KollegInnen, und der Qualität der Professionalität an sich formuliert (vgl.
NASW Code of Ethics 1999).
Die Schwierigkeit besteht darin, den Anforderungen und Verpflichtungen bestmöglich
gerecht zu werden, was mitunter in Fällen, in denen Anforderungen verschiedener
Gruppen unvereinbar und widersprüchlich sind, ein Ding der Unmöglichkeit sein kann.
Auch die International Federation of Social Workers beschreibt im Wesentlichen vier
Dilemmata, die sich aus den genannten entgegengesetzten Anforderungen und Verpflichtungen der SozialarbeiterInnen ergeben. Diese Dilemmata entstehen durch:
1. den Loyalitätskonflikt der SozialarbeiterInnen durch widerstreitende Interessen
z. B. wenn eigene Interessen sich von denen der KlientInnen unterscheiden oder
Interessen der KlientInnen sich mit denen des Dienstgebers nicht vereinbaren
lassen etc.
2. das zweifache Mandat der SozialarbeiterInnen, einerseits HelferInnen, andererseits KontrolleurInnen zu sein
3. unterschiedliche Anforderungen, einerseits die Pflicht, die Interessen ihrer
KlientInnen zu schützen, und die gesellschaftlichen Erfordernisse nach Effizienz
und Nützlichkeit
4. die Tatsache, dass Ressourcen der Gesellschaft begrenzt sind.
(vgl. IFSW, IASSW: Ethik in der Sozialen Arbeit 2004)
Ergänzend zum eben genannten Punkt 4 der IFSW und IASSW beschreiben sowohl
Beckett als auch Dolgoff und Loewenberg, dass häufig Ideallösungen auf Grund der
limitierten möglichen Ressourcen nicht umgesetzt werden können (vgl. Beckett 2006, 92;
Dolgoff, Loewenberg 2005, 130 ff.).
Dolgoff und Loewenberg schreiben dazu: „ If they [the resources] were unlimited, there
would be no problem in providing all persons with the help they need. In the real world,
there are never enough resources for everything that should be done. Life is like a zerosum game” (ebd.).
Gruber (2005) beschreibt das Dilemma, zwischen der Ranghöhe und der Dringlichkeit von
Werten entscheiden zu müssen. Dabei bezieht er sich auf Max Scheler, der meint, dass
bestimmte „Güter“ in ihrem Wert höher eingestuft werden als andere. Diese höheren
Werte sind z. B. Werte wie Gerechtigkeit, Freundschaft, Liebe, Güte, aber auch geistige
Werte, wie Wissenschaft, Kunst und Religion, die als dauerhafter und sinnstiftender
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Ethik und Soziale Arbeit
empfunden werden. Sie können im Gegensatz zu materiellen und vitalen Werte nicht
verbraucht und abgenützt werden (vgl. Scheler zit. n. Gruber 2005, 198).
Andererseits können diese höheren Werte nur dann erreicht werden, wenn rangniedrigere
Werte erfüllt sind. Gruber dazu: „Ranghöhe und Dringlichkeit eines Wertes fallen nicht
zusammen. Geistig-personale Werte sind zwar ranghöher; aber sie haben zu ihrer
Realisierung die vital-materiellen Werte zur Voraussetzung“ (ebd.).
Ähnlich wie in den beschriebenen Dilemmata der IFSW nennt Gruber das Dilemma, das
sich aus dem Spannungsfeld des Wohls des Einzelnen und dem Wohl der Gemeinschaft
ergibt (vgl. a.a.O. 199).
Auch Frederic Reamer (2006) beschreibt in seinen Büchern „Social Work Values and
Ethics“ und „Ethical dilemmas in social service“ eine Vielzahl ethischer Dilemmata in der
Sozialen Arbeit. Neben einigen der bereits genannten Dilemmata nennt Reamer zusätzlich
den Konflikt, zwischen professionellen und persönlichen Werten entscheiden zu müssen.
In Bezug auf den Jugendwohlfahrtsbereich beschreibt er die „Zwickmühle“, in der sich
SozialarbeiterInnen befinden, wenn die Erziehungspraktiken ihrer KlientInnen nicht mit den
eigenen Vorstellungen übereinstimmen. SozialarbeiterInnen müssen dabei abwägen, ob
sie ihre Bedenken kundtun, oder sich im Sinne des Respekts und der Selbstbestimmung
zurücknehmen, solange es sich nicht um eine grobe Gefährdung des Kindeswohls handelt
(vgl. Reamer 2006, 33 f.).
Weiters legt Reamer das Dilemma zwischen eigenen kulturellen oder religiösen Werten
und den kulturellen und religiösen Werten der KlientInnen dar. Dazu nennt er zur
Veranschaulichung die Thematik der Abtreibung oder auch Scheidungsproblematiken, die
häufig mit persönlichen kulturell und/oder religiös geprägten Vorstellungen in engem
Zusammenhang stehen (vgl. a.a.O. 35 f.).
Auch zwischen unterschiedlichen Betrachtungsweisen bezüglich des Ursprungs sozialer
Probleme kann es zu Spannungen kommen. Einerseits kann die Ausgangslage sozialer
Schieflagen als Folge vielfältiger sozialer Gegebenheiten, Kräfte und Ungerechtigkeiten
gesehen werden, die die KlientInnen in ihre Situation gezwungen haben. Aus einer
anderen Perspektive betrachtet, könnte die aktuelle KlientInnensituation auch als
freiwillige und bewusste Entscheidung für die spezifische Art der Lebensführung
angesehen werden. So kann Armut, um diese von den beiden genannten Blickwinkeln aus
zu betrachten, einerseits als strukturell bedingt und somit als Resultat ungleich verteilter
Ressourcen, Mangel an Unterstützungsleistungen durch den Staat und politisches
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Ethik und Soziale Arbeit
Versagen etc. oder andererseits als Ergebnis von individueller Faulheit und Auflehnung
gesehen werden. Diese beiden Sichtweisen sind in Diskussionen über verschiedenste
soziale Probleme, wie Straffälligkeit, Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Substanzenmissbrauch
und Sucht, etc. erkennbar (vgl. a.a.O. 37 f.).
Das Setzen professioneller Grenzen und das Vermeiden von Konfusion verschiedener
Rollen, wie zum Beispiel das Verschwimmen der professionellen Grenzen in Richtung
freundschaftliche Beziehung, erfordert von SozialarbeiterInnen ein sehr bewusstes
Umgehen
und
eine
gründliche
Reflexion
um
einem
diesbezüglichen
Dilemma
vorzubeugen (vgl. a.a.O. 108 ff.).
Darüber hinaus beschreibt Reamer (1993) auch die Schwierigkeit sich bei Entscheidungen
auf der einen Seite an Gesetzen und Politik und auf der anderen Seite an den eigenen
sozialarbeiterischen Interventionszielen orientieren zu müssen. Wenn diese einander
widersprechen, befindet sich der/die SozialarbeiterIn in einem weiteren Dilemma (vgl.
Reamer 1993, 94 ff.).
Als schwierige Situation für die Profession Soziale Arbeit erachtet Reamer auch die
Entscheidung darüber, ob KlientInnen über tragische Ereignisse informiert werden sollen
oder ob es in gewissen Fällen auch gerechtfertigt ist, dies zu unterlassen im Sinne einer
emotionalen Schonung der KlientInnen (vgl. a.a.O. 67 ff.).
Einer weiteren sehr problematischen und nicht eindeutig zu beurteilenden Entscheidung
stehen
SozialarbeiterInnen
dann
gegenüber,
wenn
sie
zwischen
Grundrechten
verschiedener Personen oder zwei verschiedenen einander widersprechenden Rechten
einer Person urteilen müssen. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn das Wohl einer Person
durch die Handlungen einer anderen Person gefährdet ist. Die konkurrierenden Rechte
sind in solchen Situationen das Recht auf Wohlbefinden des einen und das Recht auf
Freiheit des anderen Individuums. Zwei Rechte, die innerhalb einer Person einander
widersprechen können, sind z. B. im Falle von selbstverletzendem Verhalten oder
Suizidalität zum einen das Recht auf Selbstbestimmung und zum anderen das Recht auf
Wohlergehen derselben Person. Welches Recht höher zu bewerten ist, stellt eine schwer
zu beantwortende Frage dar (vgl. a.a.O. 62, 63).
Einige dieser genannten Dilemmata treten auch in der Jugendwohlfahrt bei Entscheidungen über Fremdunterbringungen von Kindern und Jugendlichen auf. Von besonderer
Relevanz für diese Entscheidungsfindung ist das Dilemma über die Verschwiegenheit und
Geheimhaltung persönlich anvertrauter Informationen versus die Angabepflicht und
Seite 19
Ethik und Soziale Arbeit
Aufdeckung zum Schutz und Erhalt von Leben, Gesundheit und körperlicher
Unversehrtheit, sowie dem Wohl des Kindes (vgl. a.a.O. 87 ff.; Reamer 1993, 100ff; Linzer
1999, 47 - 52; Dolgoff, Loewenberg 2005, 73 ff.).
Auch die Verletzung des Wertes der Selbstbestimmung auf Grund der Notwendigkeit von
Seiten der Jugendwohlfahrt in das Familienleben einzugreifen sowie im Falle den Eltern
die Obsorge zu entziehen stellt ein Dilemma bei der Entscheidungsfindung über
Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen dar (vgl. Reamer 2006, 98 ff.; Reamer
1993, 76 ff.; Linzer 1999, 135 ff.; Dolgoff, Loewenberg 2005, 105 ff.).
Zusätzlich
befinden
sich
SozialarbeiterInnen
auch
dann
in
einer
schwer
zu
entscheidenden Situation, wenn das Einverständnis der Erziehungsberechtigten bei
Fremdunterbringungen nicht zu Stande kommt und somit mittels gerichtlichen Entscheids
über die „volle Erziehung“ verfügt werden muss (vgl. Reamer 1993, 110 ff.; Beckett 2006,
86 ff.).
Weitere ethische Dilemmata, denen sich SozialarbeiterInnen bei der Entscheidung über
Fremdunterbringung stellen müssen, die jedoch nicht explizit in der Literatur zu finden
waren, sind meines Erachtens nach z. B. die Entscheidung darüber, ob eine ambulante
Erziehungshilfe für die jeweilige Situation ausreichend oder eine Fremdunterbringung
erforderlich ist bzw. ob es notwendig ist, die Fremdunterbringung fortzuführen oder ob es
zu einer Rückführung in die Familie kommen kann.
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Ethik und Soziale Arbeit
2 . 1. 5 E T H I S C H E T H E O R I E N
Für den Umgang mit ethischen Dilemmata gibt es aus ethischer Sicht keine eindeutige
Antwort. Vielmehr ist Ethik von verschiedenen Ansätzen geprägt, die, obgleich alle darauf
abzielen „richtiges“ und „gutes“ Verhalten herzustellen, zu gleichen oder aber auch zu
ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen können.
Im Lexikon der Ethik (1992) werden unter dem Überbegriff der Normativen Ethik vier
ethische Positionen unterschieden. Diese sind:
1. die theologische Ethik, die sich als Maßstab den Willen Gottes zur Beurteilung von
„gutem“ menschlichen Verhalten nimmt
2. der Utilitarismus, der das Wohlergehen aller Betroffenen als das höchste
erstrebenswerte Ziel ansieht
3. die egoistische Ethik, die das Selbstinteresse und somit das eigene langfristige
Wohl einer Person oder Gruppe in den Mittelpunkt rückt
4. die deontologische Ethik, die sich an explizit festgelegten Maximen und Pflichten,
die von allen Erdenbürgern einzuhalten sind, orientiert.
(vgl. Höffe 1992, 201 f.)
Für die Soziale Arbeit sind im Wesentlichen zwei dieser Hauptkategorien wichtig, nämlich
(1) die deontologische Ethik mit ihren Schwerpunkten der Gesetzmäßigkeiten, Pflichten
und der Handlung selbst und (2) die teleologische bzw. utilitaristische Ethik mit ihrem
Fokus auf die Folgen und den Nutzen aus den jeweiligen Handlungen (vgl. Reamer 2006,
65 - 72; Reamer 1993, 13 - 20; Linzer 1999, 41 – 46).
Beckett fügt diesen beiden sozialarbeiterisch relevanten Theorien noch eine dritte hinzu
die er „virtue ethics“ nennt. Diese Ethik rückt die Tugenden und das Werteverständnis der
Akteure/Akteurinnen ins Zentrum der Betrachtung. Im Fokus steht nicht die Handlung
selbst, sondern die ausführende Person mit ihren Tugenden (vgl. Beckett 2006, 33 - 43).
Beckett schreibt dazu: „It surely is important for social workers not just to follow rules but to
be courageous and kind and honest“ (a.a.O. 42).
Auch Sarah Banks (1995) betont im Wesentlichen die deontologische und teleologische
Ethik als adäquate Theorien für die Praxis der Sozialen Arbeit, fügt diesen beiden aber als
dritten geeigneten Ansatz die „Ethics of Care“ – die Fürsorgeethik – hinzu. Aus der
Fürsorge-Perspektive betrachtet, haben die Gemeinschaft und das In-Beziehung-Stehen
zu anderen einen hohen Stellenwert. Dabei gewinnen, im Gegensatz zur GerechtigkeitsSeite 21
Ethik und Soziale Arbeit
perspektive, Werte wie Anteilnahme, Kommunikation, Einfühlsamkeit, Beteiligung und
Hilfsbereitschaft sowie die Fürsorge besondere Bedeutung (vgl. Banks 1995, 34 f.).
Im Folgenden werden die teleologische und die deontologische Ethik in ihren Besonderheiten näher beschrieben.
TELEOLOGISCHE
ETHIK
Die Teleologie leitet sich vom griechischen Wort „telos“ ab, dass so viel wie „Vollendung,
Erfüllung, Zweck oder Ziel“ bedeutet und ist der Auffassung, dass alle Entwicklung zweckund zielgerichtet auf feststehende ideelle Ziele zustrebt (vgl. Microsoft Encarta
Enzyklopädie Professional 2005).
Eine Form der teleologischen Ethik ist der Utilitarismus. Der Begriff Utilitarismus, der sich
aus dem lateinischen „utilis“ (=„nützlich“) ableitet, orientiert sich am Prinzip der
Nützlichkeit, das jene Handlungen als sittlich geboten sieht, deren Folgen für das Glück
aller optimal sind (Höffe 1992, 285).
Der Utilitarismus wiederum leitet sich aus dem Konsequenzialismus ab, der Handlungen
danach bewertet, ob die daraus entstanden Folgen bzw. Konsequenzen wünschenswert
sind oder nicht. Beim Utilitarismus wird darüber hinaus davon ausgegangen, dass eine
Handlung dann „gut“ und „richtig“ ist, wenn sich aus ihr das größte Glück bzw. der größte
Nutzen für die größtmögliche Anzahl von Menschen ergibt (vgl. Beckett 2006, 39).
In den meisten Fällen ist es daher erforderlich, den Vorteil der einen Person gegen den
Nachteil einer andern Person abzuwägen. Ziel des utilitaristischen Nutzenkalküls ist es
nämlich nicht nur die Vor- und Nachteile einer Person zu berücksichtigen, sondern alle
Subjekte in die Überlegungen mit einzubeziehen, die von der Entscheidung betroffen sind
(vgl. Reamer 2006, 67).
Der Utilitarismus wird wiederum in zwei verschiedene Formen untergliedert, nämlich in
den Akt- und den Regelutilitarismus. Der Aktutilitarismus konzentriert sich vor allem auf die
Handlung an sich und ist darauf ausgerichtet alle möglichen Konsequenzen und ihre
Wahrscheinlichkeit in Betracht zu ziehen um auf dieser Grundlage die Entscheidung
darüber zu treffen, welche das größtmögliche Glück zur Folge hat. Der Regelutilitarismus
hingegen sucht zuerst nach Regeln für das Handeln. Dabei spielen Überlegungen, welche
Konsequenzen es hätte, die erwogene Regel immer zu befolgen, in die Entscheidung ein.
Jene Regel, deren Befolgung dauerhaft das meiste Glück nach sich zieht, wird als am
besten geeignet betrachtet. Bei der Entscheidung nach dem Regelutilitarismus werden
Seite 22
Ethik und Soziale Arbeit
auch die langfristigen Konsequenzen mit einbezogen (vgl. Reamer 2006, 67 f.; Beckett
2006, 39 f.; Linzer 1999, 44).
Neben diesen beiden und anderen Formen des Utilitarismus, die sich mit der Maximierung
des Glücks für die Menschen befassen, gibt es zusätzlich den „negativen“ Utilitarismus,
der auf die Minimierung des Leides der Menschen ausgerichtet ist (vgl. Reamer 2006, 69).
All diese beschriebenen Handlungsbewertungen auf Grund der daraus resultierenden
Folgen und die Zurückweisung fester moralischer Grundsätze und Pflichten fassen Dolgoff
und Loewenberg unter den Begriff des ethischen Relativismus zusammen (vgl. Dolgoff,
Loewenberg 2005, 42).
DEONTOLOGISCHE ETHIK
Die Deontologie leitet sich vom griechischen „deon“ ab, was übersetzt „das Erforderliche“
und „die Pflicht“ bedeutet. Der wohl bekannteste Vertreter dieser Theorie ist Immanuel
Kant. Im Mittelpunkt seiner Philosophie steht die Vernunft, die er als das betrachtete, was
allen Menschen gemeinsam ist und somit Ausgangspunkt ethischen Handelns sein muss.
Er suchte nach Begründungen und Grundsätzen, die fall-, personen- und kultur- sowie
epochenunabhängig unbedingt von Gültigkeit sind und denen somit alle vernünftigen
Wesen zustimmen müssen. Kant formulierte dazu den kategorischen Imperativ, der wohl
einer der bekanntesten ethischen Grundsätze darstellt: „Handle nur nach derjenigen
Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“
(Schneider 2001, 30).
Wesentlich für die deontologische Ethik ist, dass Handlungen nicht am Wertemaßstab der
Handlungsfolgen bewertet werden, sondern es vielmehr um die Gesinnung und die
Motivation der Handlung geht. Handlungen werden demnach von Natur aus als „richtig
oder falsch“ bzw. „gut oder schlecht“ angesehen, ohne dabei die Folgen der Handlung zu
berücksichtigen (vgl. Reamer 2006, 65; Beckett 2006, 33; Linzer 1999, 41 f.).
Dolgoff und Loewenberg bezeichnen diesen Ansatz als ethischen Absolutismus (vgl.
Dolgoff, Loewenberg 2005, 43).
Seite 23
Ethik und Soziale Arbeit
KRITIK AN DEN BEI DEN THEORIEN
Obwohl ethische Theorien SozialarbeiterInnen helfen sollten, sich der eigenen
Standpunkte klarer bewusst zu werden und somit Entscheidungen gründlicher reflektieren
zu können, bieten sie keine eindeutigen Handlungsanweisungen darüber, was letztendlich
getan werden soll. Sowohl deontologische als auch teleologische Prinzipien weisen
kritikwürdige Schwachstellen auf. Sie können auch je nach subjektiver Auslegung als
Begründung für divergente Interessen verwendet werden. Die Interpretation dieser beiden
Theorien trägt somit immer die Handschrift derjenigen/desjenigen, der die Entscheidung
fällt (vgl. Reamer 1993, 16 ff; Reamer 2006, 65, 67 f.; Schneider 2001, 28 ff.; Banks 1995,
28ff., 33; Linzer 1999, 42 f.; Hartsell 2006).
AUSRICHTUNGEN
Im Laufe der Geschichte der Sozialen Arbeit haben sich sechs bedeutende Ausrichtungen
im Hinblick auf die Grundwerte der Sozialen Arbeit herauskristallisiert. Diese sind:
1. die paternalistische1 Ausrichtung, durch welche KlientInnen durch professionelle
sozialarbeiterische Unterstützung zu einem eigenständigen Leben befähigt werden
sollen
2. die Ausrichtung an sozialer Gerechtigkeit
3. die religiöse Ausrichtung
4. die objektiv sachliche Ausrichtung, welche als Orientierungshilfe allgemein gültige
Werte und ethische Richtlinien heranzieht
5. die defensive bzw. verteidigende Ausrichtung, die sich mit den Gefahren der
Sozialarbeit und den notwendigen Schutzmaßnahmen auseinandersetzt
6. die moralfreie Ausrichtung, die davon ausgeht, dass keine ethischen Werte, normativen Konzepte und Richtlinien für die Praxis der Sozialen Arbeit vonnöten sind.
Diese spezifischen abgeleiteten Theorien konnten sich im Gegensatz zu anderen über
längere Zeit halten und haben nach wie vor Einfluss auf die Praxis der Sozialen Arbeit
(vgl. Reamer 2006, 18 - 20).
Dolgoff und Loewenberg (2005) nennen fünf zeitgenössische Ansätze der ethischen
Entscheidungsfindung. Ebenso wie Reamer erwähnen sie die objektiv sachliche sowie die
religiöse Ausrichtung. Unter dem Begriff der situationsbezogenen Ethik fassen sie ähnliche
1
Paternalismus: Bestreben andere zu bevormunden; Handlung , die gegen den Willen, aber auf
das Wohl eines anderen gerichtet ist
Seite 24
Ethik und Soziale Arbeit
Aspekte wie Reamer unter der moralfreien Ethik zusammen und beschreiben diese als
gesetz- und richtlinienfreie Ethik, die sich nur an der konkreten Situation orientiert.
Zusätzlich zu diesen drei Ansätzen beschreiben Dolgoff und Reamer die humanistische
Ethik, die eine idealistische und grundlegend positive und optimistische Perspektive
bezüglich der Zukunft hervorhebt (vgl. Dolgoff, Loewenberg 2005, 46 ff.).
Dieser Zugang wird von ihnen folgendermaßen beschrieben: „This approach stresses the
capacity, opportunity, and responsibility of every person to make choices that make sense
to him or her” (a.a.O. 47).
Als fünften Ansatz beschreiben Dolgoff und Reamer die feministische Ethik, die mit der
bereits von Sarah Banks in Kapitel 2.1.5 erwähnten „Ethics of care” vergleichbar ist (vgl.
a.a.O. 50).
All diese ethischen Ansätze und Theorien sollen SozialarbeiterInnen darin unterstützen
bewusste ethische Entscheidungen zu treffen. Genaue ethische Prinzipien und Standards
zur Sicherung des ethischen Verhaltens von SozialarbeiterInnen finden sich in den Codes
of Ethics.
Seite 25
Ethik und Soziale Arbeit
2 . 1. 6 C O D E O F E T H I C S
Die Fähigkeit und Verpflichtung ethisch zu handeln, sind für die Qualität der Sozialen
Arbeit wesentliche Aspekte und setzen ethisches Bewusstsein der SozialarbeiterInnen
voraus.
„Codes
of
Ethics“
bzw.
zu
deutsch
„ethische
Kodizes“
sollen
es
SozialarbeiterInnen ermöglichen, in Übereinstimmung mit den Richtlinien ihres Landes zu
handeln (vgl. IFSW, IASSW: Ethik in der Sozialen Arbeit 2004).
Die International Federation of Social Workers setzte sich deshalb zum Ziel eine Anzahl
von grundlegenden Prinzipien der Sozialen Arbeit zu formulieren, die an die jeweilige
kulturelle und soziale Umgebung angepasst werden sollen. Ethische Richtlinien können
darüber hinaus eine Anleitung für die Wahl der Methoden bei ethischen Dilemmata bieten.
(vgl. IFSW The Ethics of Social Work Principles and Standards 1994).
Dolgoff und Loewenberg beschreiben den Zweck von Codes of Ethics folgendermaßen:
“Ethical principles do not describe professional practice, but provide screens for assessing
practice options for their rightness or wrongness. Codes of professional ethics identify and
describe the ethical behaviour expected of professional practitioners” (Dolgoff,
Loewenberg 2005, 20).
Codes of Ethics sollen also SozialarbeiterInnen als Orientierungshilfe bei schwierigen
Entscheidungen dienen. Sie sind vor allem dann von großer Wichtigkeit, wenn
SozialarbeiterInnen
alleine
Entscheidungen
treffen
müssen,
wenn
einzuleitende
Maßnahmen von hoher Komplexität sind und wenn es sich um eine auf Vertrauen
beruhende Beziehung zwischen SozialarbeiterIn und KlientIn handelt, die z. B. die
Vermögensverwaltung oder Entscheidungen über das Leben des Klienten/der Klientin
involviert. Außerdem bieten Codes of Ethics sowohl für KlientInnen einen Schutz vor
verschiedensten Arten des Amtsmissbrauchs als auch für SozialarbeiterInnen einen
Schutz bei Gerichtsverfahren. Alle Berufspflichten werden in einem Code of Ethics klar
definiert und festgehalten. Darüber hinaus verhelfen Ethikkodizes, nach innen und außen
Professionalität und Integrität zu demonstrieren und leisten einen Beitrag zum Bestreben
als Profession anerkannt zu werden. Auch die Identität der SozialarbeiterInnen wird durch
klar formulierte gemeinsame Prinzipien und Standards gefördert und gestärkt. Dies soll
aber nicht bedeuten, dass Soziale Arbeit, der keine ethischen Richtlinien zu Grunde
liegen, unprofessionell ist (vgl. Banks 1995, 71ff., 89).
Auch Pantuček (1999) meint, dass SozialarbeiterInnen bei vielen Entscheidungen z. B.
jenen, die sich auf die Biographie der KlientInnen auswirken, mit Unsicherheit und
Seite 26
Ethik und Soziale Arbeit
Komplexität konfrontiert sind. Diese Entscheidungen lassen sich zwar leichter bewältigen,
wenn strikt nach den Institutionsnormen vorgegangen wird, es führt aber dazu, dass die
EntscheidungsträgerInnen ihre Eigenverantwortung verleugnen. Wenn sie die eigene
Verantwortung wahrnehmen, kann dies allerdings schnell zur Überforderung führen und
somit auch zu Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit. Um sicher und selbstbewusst
verantwortlich handeln zu können, bedarf es institutioneller sowie professioneller Regeln
(vgl. Pantuček 1999, 180 f.).
Codes of Ethics dienen SozialarbeiterInnen demzufolge als wichtige Entscheidungshilfen
gerade in schwierigen Fällen, in denen schnell entschieden und gehandelt werden muss.
Obwohl jeder Fall unterschiedlich ist und auch spezifische Überlegungen in die
Entscheidung einfließen müssen, gibt es gewisse Gemeinsamkeiten und Überschneidungen. Diese werden in den Codes of Ethics angeführt. Die Prinzipien und Standards in den
Kodizes sind allgemein gehalten in der Absicht eine fallspezifische Abstimmung auf die
jeweilig einzigartige Situation zu ermöglichen (vgl. Dolgoff, Loewenberg 2005, 33).
VERGLEICH VON CODES OF ETHI CS
Gemäß der International Federation of Social Workers (IFSW) und der International
Association of Schools of Social Work (IASSW) existieren sowohl allgemeine als auch für
einzelne Länder spezifische Probleme in der Praxis der Sozialen Arbeit. Aus diesem
Grund beschränkten sich diese beiden Organisationen auf die Formulierung allgemeiner
Prinzipien, die als Basis für detailliertere länderspezifische ethische Kodizes dienen sollen.
Die Darstellung der Prinzipien der IFSW und IASSW möchten SozialarbeiterInnen in aller
Welt ermutigen Herausforderungen und Dilemmata der Sozialen Arbeit gründlich zu
reflektieren um ethisch informierte und fundierte Entscheidungen treffen zu können (vgl.
IFSW, IASSW: Ethik in der Sozialen Arbeit 2004).
Die Codes of Ethics von Amerika, Australien, Deutschland, Großbritannien und Kanada,
die für diese Diplomarbeit herangezogen wurden, sind inhaltlich ähnlich aufgebaut. Alle
geben eine Einführung in den jeweiligen Code, erklären den Zweck ethischer Richtlinien,
geben die grundlegenden Werte der Sozialen Arbeit an und erläutern in unterschiedlich
detaillierter Ausführung im Weiteren ethische Prinzipien und Standards der Sozialen
Arbeit.
Bezüglich der Standards werden in den Codes of Ethics der genannten Länder ähnliche
Verantwortungsbereiche der SozialarbeiterInnen genannt.
Seite 27
Ethik und Soziale Arbeit
Im Dokument „The Ethics of Social Work Principles and Standards“ des IFSW werden als
Grundlage für länderspezifische Weiterentwicklung Standards zum allgemeinen ethischen
Verhalten sowie Standards der Sozialen Arbeit in Bezug auf KlientInnen, auf Dienststellen
und Organisation, auf KollegInnen und auf den Beruf beschrieben (vgl. IFSW The Ethics of
Social Work Principles and Standards 1994).
Aufbauend auf diesem Kodex verfasste der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit
zusätzliche Standards bezüglich des Verhaltens gegenüber Angehörigen anderer Berufe
und des Verhaltens in der Öffentlichkeit sowie klar vorgegebene Verfahrensregeln (DBSH
Berufsethische Prinzipien des DBSH 1997).
Die Australian Association of Social Workers (AASW) erwähnt einige der genannten
Standards und ergänzt die ethische Verantwortung in “particular settings”, worunter vor
allem Regeln für die Dokumentation, Administration und Supervision fallen (vgl. AASW
Code of Ethics 1999).
Der Code of Ethics der National Association of Social Workers fügt zu einigen der
genannten Standards Richtlinien hinzu um die Professionalität und Qualität der Sozialen
Arbeit sowie die ethische Verpflichtung hinsichtlich der Gesellschaft zu sichern (vgl. NASW
Code of Ethics 1999).
In der detaillierten Ausführung des kanadischen Ethikkodex werden zusätzlich Standards
zu den Bereichen der Selbstständigkeit in der Sozialen Arbeit („private practice“) und im
Bereich der Forschung angeführt (vgl. CASW Guidlines for ethical practice 2005).
Ausschließlich im britischen Code of Ethics werden ethische Standards für SozialarbeiterInnen zur Sicherung des verantwortungsbewussten Umgangs in besonderen Rollen
erwähnt, wie z. B. im Management, als Supervisor, Trainer oder Ausbildner etc (vgl.
BASW Code of Ethics 2002).
Im Vergleich zu diesen Ethikkodizes, die einen Umfang von 16 bis 33 Seiten aufweisen,
gibt es von Seiten des österreichischen Berufsverbandes der SozialarbeiterInnen eine
zweiseitige
Ausführung
zu
ethischen
Standards,
die
die
Berufspflichten
für
SozialarbeiterInnen beschreiben. Dieses Schriftstück (siehe Anhang) weist im Gegensatz
zu den Codes of Ethics der genannten Länder weder eine Gliederung in verschiedene
Teile, noch Prinzipien und Verantwortungsbereiche auf. Es werden lediglich 14
Berufspflichten der SozialarbeiterInnen genannt (vgl. OBDS Ethische Standards –
Berufspflichten für SozialarbeiterInnen 2004).
Seite 28
Ethik und Soziale Arbeit
Neben diesem Dokument bezieht sich der OBDS auf seiner Homepage (http://www.wiensozialarbeit.at/) auf den bewusst allgemein gehaltenen Ethikkodex des IFSW (siehe
Anhang), der ursprünglich als Grundlage für länderspezifische detaillierte Ausführungen
gedacht ist (vgl. IFSW, IASSW: Ethik in der Sozialen Arbeit 2004).
2 . 1. 7 Z U S AM M E N F AS S U N G
In diesem Kapitel wurde die Bedeutung der Ethik für die Soziale Arbeit und insbesondere
für den Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern und
Jugendlichen beschrieben.
Die enge Verbindung zwischen Sozialer Arbeit und Ethik lässt sich bereits in der Definition
Sozialer Arbeit deutlich erkennen, in der die Prinzipien der Menschenrechte und der
sozialen Gerechtigkeit als Grundlage der Sozialen Arbeit genannt werden. Darüber hinaus
werden SozialarbeiterInnen in allen Berufsfeldern mit Anforderungen konfrontiert, die aus
unterschiedlichsten Werthaltungen entspringen und miteinander in Konflikt geraten
können. Professionelle Werte und ethische Überlegungen sind demnach für die Praxis der
Sozialen Arbeit unabdingbar. Das Wesen der Sozialen Arbeit ist maßgeblich von diesen
ethischen Grundwerten geprägt, welche jedoch in schwierigen Fällen kontrovers sein
können. Im Falle ethischer Dilemmata kann eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit
ethischen Ansätzen, Theorien und Modellen dazu verhelfen mehr Klarheit und Sicherheit
über den Prozess der Entscheidungsfindung zu erhalten um die Dilemmata bestmöglich
unter Berücksichtung ethischer Aspekte zu bewältigen.
Auch Codes of Ethics versuchen anhand von klar definierten ethischen Prinzipien und
Standards SozialarbeiterInnen zu bewussten ethischen Entscheidungen zu befähigen.
Die Qualität der Sozialen Arbeit ist maßgeblich geprägt von der Fähigkeit als auch
Verpflichtung der SozialarbeiterInnen ethisch zu handeln. Dafür ist das Bewusstsein über
Ethik als Basis der Sozialen Arbeit und die Auseinandersetzung mit ethischen Aspekten
eine maßgebliche Voraussetzung.
Seite 29
Fremdunterbringung
2.2
FREMDUNTERBRINGUNG
Als Fremdunterbringung wird die kurz- oder langfristige Übertragung der Pflege und
Erziehung von Kindern und Jugendlichen auf eine andere Familie oder auf eine
Einrichtung
bezeichnet.
Eine
Fremdunterbringung
kann
zum
einen
von
den
obsorgeberechtigten Eltern selbst oder zum anderen durch Anordnung einer Behörde
eingeleitet werden, wobei im zweiten Fall zwischen (1) der Fremdunterbringung mit
Einwilligung der Erziehungsberechtigten und (2) der Fremdunterbringung gegen deren
Einwilligung unterschieden wird (vgl. Blandow zit. n. Leitner 2001, 6).
Die folgende Tabelle zeigt die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die in den
vergangenen Jahren in Tirol fremd untergebracht waren.
Tabelle 1: Volle Erziehung – Anzahl der Minderjährigen (außer Pflegekinder) am 31.12.2006
(Quelle: Amt der Tiroler Landesregierung 2005/06, 159)
Von den insgesamt 437 Kindern, für die 2006 in Tirol die Maßnahme der Vollen Erziehung
erteilt wurde, wurden 350 auf Grund einer Vereinbarung und 87 auf Grund einer
gerichtlichen Verfügung fremd untergebracht (vgl. Bundesministerium für Gesundheit
Familie und Jugend 2006, 3).
Diese Zahlen beinhalten nicht die zusätzlichen Pflegekinder, die von anderen Personen
als von bis zum dritten Grad Verwandten oder Verschwägerten, von Wahleltern oder vom
Vormund gepflegt und erzogen werden. Für das Jahr 2006 waren in Tirol zusätzlich 292
Kinder bei Pflegeeltern untergebracht (vgl. Amt der Tiroler Landesregierung: 2005/06,
160).
Der durchschnittliche Nettoaufwand für eine volle Erziehung belief sich im Berichtsjahr
2006 auf 18.908 Euro (vgl. a.a.O. 159).
Insgesamt betrugen die Aufwendungen für die volle Erziehung im Jahr 2006 12.432.150
Euro, für das Pflegegeld zusätzlich 1.849.684 Euro (vgl. a.a.O. 162).
Seite 30
Fremdunterbringung
2 . 2. 1 R E C H T L I C H E G R U N D L AG E D E R F R E M D U N T E R B R I N G U N G
Im Jugendwohlfahrtsgesetz, dem Tiroler Jugendwohlfahrtsgesetz und dem Allgemeinen
Bürgerlichen Gesetzbuch finden sich Rechtstexte/Paragraphen, die den Prozess der
Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung gesetzlich festlegen.
So wird in den „Grundsätzen für die Besorgung der Aufgaben der öffentlichen Jugendwohlfahrt“ des TJWG in Paragraph 2 Folgendes vorgeschrieben:
§ 2 (1) „Die öffentliche Jugendwohlfahrt hat die Familie bei der Erfüllung ihrer
Aufgaben der Pflege und Erziehung Minderjähriger zu beraten und zu unterstützen.
Die Familie soll befähigt werden, diese Aufgaben unter Beachtung des Grundsatzes
der gewaltlosen Erziehung soweit wie möglich selbst wahrzunehmen.“
(TJWG 2006 § 2 Abs. 1).
Wenn für das Wohl des Kindes nicht ausreichend gesorgt ist, hat die Jugendwohlfahrt
einzuschreiten. Allerdings ist das gelindeste noch zum Ziel führende Mittel zu wählen.
(2) „Bei der Gewährung von Hilfen der öffentlichen Jugendwohlfahrt ist die
grundlegende Bedeutung der Familie für die Entfaltung des Minderjährigen zu
beachten. In Bindungen zur Familie oder zu familienähnlichen Einrichtungen darf
nur insoweit eingegriffen werden, als das Wohl des Minderjährigen dies erfordert.
Dies ist insbesondere der Fall, wenn zur Durchsetzung von Erziehungszielen
Gewalt angewendet oder körperliches oder seelisches Leid zugefügt wird.“
(a.a.O. § 2 Abs. 2).
In den weiteren Absätzen wird die Berücksichtigung der Entwicklungsmöglichkeiten des
Minderjährigen hinsichtlich Fähigkeiten, Neigungen und Bedürfnissen, sowie das
gesellschaftliche Umfeld des Minderjährigen erwähnt. Es ist jene Hilfe zu gewähren, die
der Persönlichkeit des Minderjährigen und seinen Lebensverhältnissen entspricht.
Zusätzlich wird die Zusammenarbeit mit den Minderjährigen, den Erziehungsberechtigten
und den gesetzlichen Vertretern thematisiert. Die Aufgaben der öffentlichen Jugendwohlfahrt müssen unter Berücksichtigung der allgemein anerkannten wissenschaftlichen
Erkenntnisse und darauf aufbauende Methoden angewendet werden. (vgl. a.a.O. § 2 Abs.
3 - 6).
Hinsichtlich der vollen Erziehung wird zusätzlich in Paragraph 14 Absatz 1 des Tiroler
Jugendwohlfahrtsgesetzes festgehalten, dass die „volle Erziehung dann zu gewähren ist,
wenn die Erziehungsberechtigten nicht in der Lage sind, die zum Wohl eines Minderjähri-
Seite 31
Fremdunterbringung
gen erforderliche Erziehung zu gewährleisten, und die Unterstützung der Erziehung nach
§ 13 nicht ausreicht.“ (a.a.O. § 14 Abs. 1).
Im Absatz 2 wird beschrieben, dass sich die volle Erziehung auf die Pflege und Erziehung
eines Minderjährigen in einer Pflegefamilie, in einer Kinderdorffamilie, in einer
familienähnlichen Einrichtung, in einem Heim, in einer sonstigen Einrichtung oder durch
nicht ortsfeste Formen der Pädagogik beziehen kann, wenn die Jugendwohlfahrt mit der
Pflege und Erziehung zur Gänze betraut wurde (vgl. a.a.O. § 14 Abs. 2).
Werden die elterlichen Pflichten vernachlässigt, dann besteht eine Gefährdung des
Kindeswohls, die die Judikatur in drei Gruppen der Gefährdung unterscheidet, nämlich (1)
die grobe Vernachlässigung der elterlichen Pflichten, (2) die Unfähigkeit Pflege und
Erziehung wahrzunehmen, wobei es egal ist, ob die Unfähigkeit verschuldet oder nicht
verschuldet ist und (3) den Missbrauch des Erziehungsrechtes (vgl. Posch zit. n. Leitner
2001, 12).
In Paragraph 15 des Tiroler Jugendwohlfahrtsgesetzes ist die „Durchführung der Hilfen zur
Erziehung“ geregelt. Die Hilfen zur Erziehung können laut Absatz 1 auf Grund einer
schriftlichen Vereinbarung zwischen dem Land Tirol (Jugendwohlfahrtsbehörde) und den
Erziehungsberechtigten oder auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung gewährt werden.
Weiters wird im Absatz 2 vorgeschrieben, dass Minderjährige ab dem Alter von zehn
Jahren jedenfalls und unter zehn Jahren nach Tunlichkeit zu hören sind. Wenn die
Erziehungsberechtigten der Hilfe zur Erziehung nicht zustimmen, wird von der
Jugendwohlfahrtsbehörde bei Gericht die Verfügung der Maßnahme, die zum Wohl des
Minderjährigen erforderlich ist, beantragt (§ 3). Im vierten Paragraphen wird festgehalten,
dass eine Maßnahme der Hilfe zur Erziehung dann zu ändern oder aufzuheben ist, wenn
es das Wohl des Minderjährigen erfordert bzw. wenn die Maßnahme dem Wohl des
Kindes nicht mehr förderlich ist (vgl. TJWG 2006, § 15 Abs. 1 – 4).
In den weiteren Erläuterungen der Tiroler Landesregierung zu diesem Paragraph sowie im
ABGB Paragraph 215 Absatz 1 wird angeführt, dass in jenen Fällen, in denen Gefahr in
Verzug besteht, also die gerichtliche Verfügung nicht ohne Gefährdung des Wohles des
Kindes abgewartet werden kann, die Jugendwohlfahrtsbehörde die erforderlichen
Maßnahmen der Pflege und Erziehung vorläufig bis zur Wirkung der gerichtlichen
Entscheidung selbst treffen kann. Die Jugendwohlfahrtsbehörde muss aber unverzüglich,
spätestens innerhalb von acht Tagen, die erforderliche gerichtliche Verfügung beantragen,
da ansonsten die Maßnahme rückgängig gemacht wird. Ex lege außer Kraft tritt die
Seite 32
Fremdunterbringung
Maßnahme auch dann, wenn das Gericht die vorgenommene Maßnahme nicht genehmigt
(vgl. a.a.O. Erläuterungen zu § 15; ABGB 2000, § 215 Abs.1).
Die Jugendwohlfahrtsbehörde ist laut Paragraph 215 des ABGB im Umfang der
getroffenen Maßnahme vorläufig mit der Obsorge betraut (vgl. a.a.O.).
Im ABGB wird hinsichtlich der Fremdunterbringung im Paragraph 176 „Entziehung oder
Einschränkung der Obsorge“ Folgendes festgehalten:
§ 176. (1) „Gefährden die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen
Kindes, so hat das Gericht, von wem immer es angerufen wird, die zur Sicherung
des Wohles des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen. Besonders darf das
Gericht die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise, auch gesetzlich vorgesehene
Einwilligungs- und Zustimmungsrechte, entziehen. Im Einzelfall kann das Gericht
auch eine gesetzlich erforderliche Einwilligung oder Zustimmung ersetzen, wenn
keine gerechtfertigten Gründe für die Weigerung vorliegen.“
(ABGB, § 176 Abs. 1).
In der UN-Kinderrechtskonvention (1989), die in 54 Artikeln Kindern umfassende Schutz-,
Förder- und Beteiligungsrechte zuerkennt, sind mehrere Artikel für den Prozess der
Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen zu
beachten. Zum einen wird im Artikel 3 die Orientierung am Wohl des Kindes
vorgeschrieben. Darüber hinaus wird im Artikel 9 das Recht auf gemeinsames Leben mit
den Eltern festgehalten, das eine Trennung nur aus bestimmten Gründen erlaubt. Im
Artikel 12 wird die Berücksichtigung des Kindeswillens und im Artikel 20 werden
Bestimmungen für die von der Familie getrennt lebenden Kinder genannt. Der Artikel 27
beschreibt das Recht des Kindes auf einen seiner geistigen, körperlichen, seelischen und
sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard (vgl. UN-Kinderrechtskonvention
1989).
Seite 33
Fremdunterbringung
2 . 2. 2 A U S W I R K U N G E N E I N E R F R E M D U N T E R B R I N G U N G AU F K I N D E R U N D
JUGENDLICHE
„… eine Fremdunterbringung bedeutet ganz grundsätzlich immer ein Doppeltes: Trauma
und Chance“ (Magistrat Graz 2000, 11.6).
Im Qualitätskatalog der Grazer Jugendwohlfahrt (2000) wird beschrieben, dass
Fremdunterbringung einerseits ein Trauma durch die negativen Sozialisationserfahrungen
in der Familie und das Verlassen der Familie als selbstverständlichen Ort des
Aufwachsens als auch andererseits eine Chance, hilfreiche Unterstützung und einen
neuen
Lebenszusammenhang
zu
finden,
sein
kann.
Durch
diese
konträren
widersprüchlichen Auswirkungen, die eine Fremdunterbringung haben kann, sehen sich
auch
SozialarbeiterInnen
Fremdunterbringung
als
mit
einer
sehr
schwierigen
„Leistungsangebot“
ist
Entscheidung
daher
keine
konfrontiert.
„entweder-oder“
Entscheidung, sondern erfordert immer „sowohl – als auch“ Überlegungen. Mit
Fremdunterbringungen muss sehr vorsichtig umgegangen werden. Es müssen auch
negative Auswirkungen in die Entscheidung miteinbezogen werden (vgl. ebd.).
Längere Trennungserlebnisse sind laut John Bowlby, dem Begründer der Bindungstheorie, mit dem Erleiden körperlicher Verletzungen, Verbrennungen oder Entzündungen
vergleichbar. Den phasentypischen Trauerprozess, der nach Trennungen einsetzt,
vergleicht Bowlby mit dem Prozess der Wundheilung. Längere Trennungen von
Bindungspersonen stellen für Kinder traumatische Erfahrung dar, die das Risiko zur
Entwicklungsbeeinträchtigung in sich bergen (vgl. Bowlby zit. n. Suess 2007, 10).
Der Prozess der Trennung erfolgt in drei Phasen, (1) der Phase des Protests, bei dem das
Kind mit Gefühlen des Ärgers, Kummers und der Furcht umgehen muss, (2) der Phase der
Verzweiflung, in der das Kind sich zurückzieht und trauert, und (3) der Phase der
Ablösung, in der sich das Kind wieder seiner Umwelt zuwendet. In der dritten Phase wird
in den meisten Fällen davon ausgegangen, dass das Kind alles gut überstanden habe,
was jedoch eine zweifelhafte Schlussfolgerung ist (vgl. a.a.O. 9).
Obwohl jede Trennung eine schwierige Situation für Kinder/Jugendliche darstellt, wirkt sie
sich nicht per se negativ auf deren weitere Entwicklung aus. Die Auswirkungen hängen
maßgeblich von der Form der Trennung und vom Alter des Kindes ab (vgl. a.a.O. 10).
Häufige psychische Folgen von Trennungserlebnissen sind z. B. Angst, Bindungssuche
mit Trennungsprotest, Weinen, Rufen, Suchen der Bindungsperson, Desorganisation,
Seite 34
Fremdunterbringung
Resignation, Anpassung, Verstummen, Trauer bis Depression und psychosomatische
Symptome wie Einnässen, Schlafstörungen und Essstörungen (vgl. Brisch 2007, 46).
Traumatische Bedingungen und die für eine längere Zeit andauernde körperliche
Übererregung nach einem Trennungserlebnis können zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen. Kindspezifische Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung
sind z. B. das wiederholende Durchspielen der traumatischen Situation, verschiedenste
Verhaltensauffälligkeiten wie unter anderem aggressives oder depressives Verhalten oder
Aufmerksamkeits-
und
Hyperaktivitätsstörungen,
rascher
Wechsel
von
Affekten,
Verstummen, Sprachlosigkeit, Lernstörungen, Entwicklungsrückschritte, Wachstumsstillstand und psychosomatische Störungen wie etwa Einnässen, Einkoten, Schlafstörungen
etc. (vgl. a.a.O. 48).
Außerdem können Trennungs- und Verlusttraumata in der frühen Kindheit zu Bindungsstörungen führen. Diese Bindungsstörungen stellen eine schwerwiegende Gefährdung des
Kindeswohls dar, da sie mangelnde Beziehungsfähigkeit, weniger pro-soziales Verhalten
im Konflikt, geringe Stresstoleranz bei Belastungen und ein erhöhtes Risiko für die
Entwicklung psychosomatischer Störungen und dissoziativer Erkrankungen nach sich
ziehen (vgl. a.a.O. 49).
Brisch (2006, 2007) unterscheidet sechs Formen von Bindungsstörungen, die auch häufig
bei Heimkindern erkennbar sind:
•
Kein Bindungsverhalten (Typ I): Diese Kinder zeigen überhaupt kein Bindungsverhalten gegenüber ihrer Bezugsperson.
•
Undifferenziertes Bindungsverhalten (Typ II a): Diese Kinder verhalten sich
freundlich gegenüber allen Bezugspersonen und machen keinen Unterschied darin,
ob die Person ihnen fremd ist, oder ob sie diese schon länger kennen.
•
Unfallrisikoverhalten (Typ II b): Diese Kinder suchen in Gefahrensituationen nicht
nach sichernden Bindungspersonen.
•
Übersteigertes Bindungsverhalten (Typ III): Diese Kinder klammern „exzessiv“ und
sind nur in absoluter Nähe zu ihrer Bezugsperson emotional beruhigt.
•
Gehemmtes Bindungsverhalten (Typ IV): Diese Kindern setzen Trennungen nur
geringen oder gar kein Widerstand entgegen.
•
Aggressives
Bindungsverhalten
(Typ
V):
Diese
Kinder
gestalten
die
Bindungsbeziehungen vorzugsweise durch körperliche und/oder verbale Aggres-
Seite 35
Fremdunterbringung
sionen. Sie bringen so ihren eindeutigen Wunsch nach Nähe gegenüber der
Bindungsperson zum Ausdruck.
•
Bindungsverhalten mit Rollenumkehr (Typ VI): Diese Kinder werden überfürsorglich
zu ihrer Bindungsperson und übernehmen für diese Verantwortung. Das Kind
verzichtet bereitwillig auf eigene Bedürfnisse, sobald die Bindungsperson
signalisiert, dass sie Unterstützung benötigt.
•
Psychosomatische Symptomatik (Typ VII): Bei diesen Kindern treten vermehrt
psychosomatische Symptome wie z. B. Wachstumsretardierung auf.
(vgl. a.a.O. 50 – 52; Brisch 2006, 83 – 91)
Trotz dieser möglichen negativen Auswirkungen ist es bei akuter Gefährdung des
Kindeswohls unabdingbar eine „Notfallmaßnahme“ einzuleiten und das Kind von den
Bezugspersonen zu entfernen. In den meisten Fällen geschieht das so rasch, dass diese
Maßnahme mit dem Kind oder den Eltern nicht vorbesprochen oder geplant werden kann.
Bei der Entscheidung über eine Fremdunterbringung ist es unbedingt notwendig die
möglichen negativen Auswirkungen mitzubedenken. Die Auswirkungen sollen durch einen
geeigneten Unterbringungsplatz so gering wie möglich gehalten werden, indem die
kindlichen Bindungsbedürfnisse beruhigt und dem Kind eine Chance für neue Erfahrungen
der Bindungssicherheit gegeben wird (vgl. Brisch 2007, 55).
2 . 2. 3 Z U S AM M E N F AS S U N G
In diesem Kapitel wurden verschiedene Aspekte in Bezug auf die Fremdunterbringung von
Kindern und Jugendlichen zusammengefasst. Die Statistik über die Fremdunterbringungen
von Kindern und Jugendlichen in Tirol zeigt, dass im Jahr 2006 437 Fremdunterbringungen
notwendig
waren.
Rechtstexte
des
Jugendwohlfahrtsgesetzes,
des
Tiroler
Jugendwohlfahrtsgesetzes und des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches sowie auch
die in der UN-Kinderrechtskonvention festgehaltenen Kinderrechte geben die Rahmenbedingungen für den Prozess der Entscheidungsfindung vor. Ein Kind darf nur dann von
seinen Bezugspersonen getrennt werden, wenn das Wohl des Minderjährigen dies
unbedingt erfordert. Dabei ist stets das gelindeste noch zum Ziel führende Mittel zu
wählen.
Fremdunterbringung
kann
auf
Grund
der
vielen
möglichen
negativen
Nebenwirkungen nie eine Ideallösung sein. Jede Fremdunterbringung stellt für das Kind
eine Krise dar, kann aber im besten Fall auch zu einer Chance für neue Erfahrungen der
Bindungssicherheit werden und eine Möglichkeit, einen neuen Lebenszusammenhang zu
finden, darstellen.
Seite 36
Entscheidungsfindung über Fremdunterbringungen
2.3
ENTSCHEIDUNGSFINDUNG ÜBER EINE FREMDUNTERBRINGUNG
Die Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung stellt einen sehr komplexen
Prozess dar, in den Überlegungen über die Folgewirkungen für das Kind und die Familie,
über die regionalen Möglichkeiten sowohl der ambulanten Betreuung als auch der
Fremdunterbringungsplätze sowie die unterschiedlichen Perspektiven der beteiligten
Akteure/Akteurinnen einfließen sollen. Im Zentrum der Entscheidungsfindung steht die
Sicherung des Kindeswohls, die im Produktplan der Tiroler Jugendwohlfahrtsabteilung wie
folgt definiert ist:
„“Kindeswohl" hat die Absicherung der physisch-materiellen Grundbedürfnisse des
Kindes zur Voraussetzung und beruht auf der Erfahrung förderlicher (Familien-)
Beziehungen. Grundlage jeder förderlichen Beziehung ist Wertschätzung und speziell in Hinblick auf die Beziehung zwischen Erziehenden und Kindern - eine auf
die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes Bedacht nehmende Haltung der
Erwachsenen.“ (Amt der Tiroler Landesregierung 2002, III/2).
Wenn das Wohl des Kindes in der eigenen Familie nicht gewahrt ist, wird eine
Fremdunterbringung zur Sicherung des Kindeswohls notwendig.
Im Folgenden wird in Kapitel 2.3.1 beschrieben, wie der Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen in der Literatur
dargestellt wird sowie in Kapitel 2.3.2, welcher Stellenwert der Ethik im Prozess der
Entscheidungsfindung zukommt.
2.3. 1
P ROZE SS DER E NTSC HE IDU NGS FI NDU NG ÜBER E IN E F REMDUNTE RBRINGUNG
Im Prozess der Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung sehen sich die
SozialarbeiterInnen mit dem Dilemma konfrontiert, einerseits das Kind/den Jugendlichen
wenn nötig so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone zu bringen und andererseits so
wenig wie möglich in das Familienleben einzugreifen und das gelindeste noch zum Ziel
führende Mittel zu wählen (vgl. Magistrat Graz 2000, 7.3).
Um die für die jeweilige Situation unter Berücksichtigung aller Informationen beste
Entscheidung zu treffen, werden in der Literatur verschiedenste Aspekte, Qualitätsstandards und Leitlinien für den Prozess der Entscheidungsfindung beschrieben, die
SozialarbeiterInnen
dabei
unterstützen
sollen,
gründlich
überlegte
und
sichere
Entscheidungen zu treffen.
Seite 37
Entscheidungsfindung über Fremdunterbringungen
Im Qualitätskatalog der Grazer Jugendwohlfahrt (2000), der vorgibt, an welchen
Qualitätskriterien sich die SozialarbeiterInnen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit orientieren
sollen, wird die gesamte Prozessgestaltung der Hilfe zur Erziehung außerhalb der
Herkunftsfamilie wie folgt beschrieben:
1. Problemklärung/Anamnese
2. Indikationsabklärung (= Abklärung der unbedingten Notwendigkeit einer
Fremdunterbringung)
3. Art der Fremdunterbringung (Heim, Pflegeeltern,…)
4. Risikoeinschätzung (Gewährleistung des Kindeswohls)
5. HelferInnenkonferenz/Teambesprechung
6. Suche und Auswahl der indizierten stationären Hilfe zur Erziehung
7. Hilfevereinbarung/Hilfeplan
8. Abschied und Aufnahme (Wechsel)
9. Nachsorge, Beratung und Begleitung der Herkunftsfamilie.
(vgl. Magistrat Graz 2000, 11.8 – 11.15)
Die Schritte 1 bis 5 sind für den Prozess der Entscheidungsfindung von besonderer
Relevanz, wogegen die Schritte 6 bis 9 sich mehr auf den Prozess nach der Entscheidung
für eine Fremdunterbringung beziehen.
In der Abteilung der Tiroler Jugendwohlfahrt (2002) werden Qualitätsstandards für den
Prozess der Entscheidungsfindung im Produktplan der Tiroler Jugendwohlfahrtsreferate
beschrieben. Dieser beinhaltet neben Produkten zur „Rechtsvertretung für Kinder“ (Ausübung der Obsorge, Sicherstellung des Geldunterhaltes, Klärung der Abstammung,…) und
Produkten der „mittelbar klientenbezogenen Arbeitsbereiche“ (Pflegeeltern zur Verfügung
stellen, Adoption, Tagesmütter,...) auch Produkte zur „unmittelbar klientenbezogenen
Sozialarbeit“, die Qualitätsstandards zur Sicherung des Kindeswohls beinhalten und somit
von Bedeutung für den Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung
von Kindern und Jugendlichen sind. Die Produkte der „unmittelbar klientenbezogenen
Sozialarbeit“ sind:
1. die Beratung,
2. die Hilfen zur Erziehung entweder durch die „Unterstützung der Erziehung“
(ambulante Betreuung) oder durch die „volle Erziehung“ (Fremdunterbringungen
von Kindern und Jugendlichen),
Seite 38
Entscheidungsfindung über Fremdunterbringungen
3. die Gefährdungsabklärung und die Überprüfung von Pflege und Erziehung in
Ausübung der Obsorge zur Sicherung des Schutzes für das Kind/den Jugendlichen
sowie
4. das Verfassen von Berichten und Stellungnahmen für Behörden.
(vgl. Amt der Tiroler Landesregierung 2002, IV)
Vor allem die Gefährdungsabklärung und die Überprüfung von Pflege und Erziehung in
Ausübung der Obsorge sind für den Prozess der Entscheidungsfindung wesentliche
Schritte, die die Entscheidung darüber, ob eine Fremdunterbringung notwendig oder eine
ambulante Betreuung ausreichend ist, maßgeblich beeinflussen. Zu diesem Zweck wird im
Produktplan der Tiroler Jugendwohlfahrt eine „Checkliste zur Überprüfung des
Kindeswohls“ beschrieben, die ein Hilfsmittel für den Abklärungsprozess darstellt. Diese
Checkliste dient dazu, die Lebenssituation eines Kindes und seiner Familie sowie die
Dynamik und die prägenden Umstände auf psycho-sozialer und auf physisch materieller
Ebene zu erfassen. Sie dient somit als „Handwerkzeug“ um beurteilen zu können, ob die
Erziehungsberechtigten fähig sind für das Wohl des Kindes/Jugendlichen ausreichend zu
sorgen und als Reflexionshilfe für die Beurteilung der Gesamtsituation einer Familie (vgl.
a.a.O. III/2).
Die „Checkliste zur Überprüfung des Kindeswohls“ beinhaltet 5 Qualitätsstandards, die
unter Berücksichtigung verschiedener Indikatoren, Faktoren, die zur Sicherung des
Kindeswohls vorhanden sein müssen, beschreiben. Diese sind:
1. die physisch - materiellen Grundbedürfnisse der Familie
2. die Beziehungsgestaltung in der Familie
3. die Entwicklung des Kindes
4. die Alltagskompetenzen der erziehenden Personen und
5. die elterliche Verantwortung.
(vgl. ebd.)
Das Amt der burgendländischen Landesregierung entwickelte als Hilfsmittel für den
Abklärungsprozess „Leitlinien zum Kindeswohl“ mit dem Ziel „des Schutzes ohne Risiko
für alle Kinder dieses Landes“ (Amt der burgenländischen Landesregierung 1998, 9).
Diese
Leitlinien legen
das Augenmerk
in der
Gefährdungsabklärung
auf
vier
Zugangswege. Diese Zugangswege sind:
Seite 39
Entscheidungsfindung über Fremdunterbringungen
1. das Sozialverhalten, bei dem darauf geachtet wird, inwieweit Kinder/Jugendliche
Verantwortung übernehmen, Grenzen setzen und die Bedürfnisse anderer
wahrnehmen und auf diese Rücksicht nehmen können
2. der Verstand, bei dem der Schwerpunkt darauf liegt, inwieweit Kinder/Jugendliche
gefördert und gefordert werden ihr geistiges Potential zu nutzen, wie sie ihren
Willen äußern und wie weit das Gewissen entwickelt ist
3. das Gefühlsleben, in dem das Ausmaß, in dem Kinder Sicherheit bekommen und
Geborgenheit und Zufriedenheit erfahren sowie die Fähigkeit, Gefühle aller Art
wahrnehmen und erleben zu können, ausschlaggebend zur Beurteilung des
Kindeswohls ist und
4. der Körper, bei dem vor allem dem Schutz der Intimsphäre, der Sicherstellung der
Ernährung, des Wachstums und der medizinischen Versorgung als auch der
faktischen ordentlichen Pflege große Bedeutung beigemessen wird.
(vgl. a.a.O. 11 - 28)
Die Leitlinien zum Kindeswohl dienen dazu den Prozess der Entscheidungsfindung über
eine Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen zu erleichtern, in dem sie
SozialarbeiterInnen dabei unterstützen wichtige Informationen für die Beurteilung der
Gefährdung des Kindeswohls durch die vier Zugangswege zu erlangen.
Zusätzlich wurden vom SOS-Kinderdorf, der International Foster Care Organisation und
der Fédération Internationale de Communautés Educatives (2007) Qualitätsstandards
entwickelt um die Situation und die Entwicklungschancen von fremd untergebrachten
Kindern zu verbessern. Unter dem Namen „Quality4Children“ werden 18 Standards für die
Betreuung von fremd unterbrachten Kindern und jungen Erwachsenen in Europa in drei
Betreuungsphasen
untergliedert,
nämlich
(1)
den
Entscheidungsfindungs-
und
Aufnahmeprozess, (2) den Betreuungsprozess und (3) den Verselbstständigungsprozess,
in dem das Kind bzw. der/die junge Erwachsene im eigenen Selbstständigwerden
unterstützt wird. Im Entscheidungsfindungs- und Aufnahmeprozess werden sechs
Qualitätsstandards genannt, die den Prozess der Entscheidungsfindung über die
Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen von Seiten der Jugendwohlfahrt
betreffen und die Qualität des Prozesses zu Gunsten bestmöglicher Entwicklungschancen
des Kindes/Jugendlichen steigern sollen. Diese sechs Standards lauten:
Seite 40
Entscheidungsfindung über Fremdunterbringungen
1. Das Kind und seine Herkunftsfamilie werden während des Entscheidungsfindungsprozesses unterstützt.
2. Das Kind wird befähigt, am Entscheidungsfindungsprozess aktiv teilzunehmen.
3. Ein professionell gestalteter Entscheidungsfindungsprozess stellt die bestmögliche
Betreuung für das Kind sicher.
4. Geschwister werden gemeinsam betreut.
5. Der Wechsel in das neue Zuhause wird gut vorbereitet und sensibel durchgeführt.
6. Der Betreuungsprozess während der Fremdunterbringung folgt einem individuellen
Betreuungsplan.
(FICE, IFCO, SOS-Kinderdorf 2007, 13 – 15)
All die genannten Standards, Leitlinien und Checklisten sollen Orientierungshilfen für die
SozialarbeiterInnen in ihrer Entscheidungsfindung sein.
Nichts desto trotz wäre es bei Entscheidungen wie der Fremdunterbringung eines Kindes,
die maßgeblich in das Schicksal eines Menschen eingreifen, unverantwortlich diese
Entscheidung alleine zu tragen. Jeder/jede SozialarbeiterIn ist der eigenen selektiven oft
auch vorurteilsbehafteten Wahrnehmung ausgesetzt und würde somit bei einer alleinigen
Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung ein sehr persönliches Urteil fällen.
Aus diesem Grund wird der Teamarbeit, der kollegialen Kontrolle und Supervision im
Prozess der Entscheidungsfindung hohe Bedeutung beigemessen (vgl. Leitner 2001, 39).
Auch im Qualitätskatalog der Grazer Jugendwohlfahrt (2000) wird die Thematik der
personenspezifischen Unterschiede in der Entscheidungsfindung unter anderem auf
Grund der widersprüchlichen Grundeinstellung hinsichtlich der Fremdunterbringung
angeschnitten.
„Es gibt unterschiedliche, ja gegensätzliche Einstellungen. Während einerseits eine
schnelle Hilfe zur Erziehung (Fremdunterbringung) von Kindern im Interesse der
Förderung ihrer Entwicklung, zu ihrem Schutz, aber auch zu ihrer Disziplinierung
und Bestrafung gefordert wird …, werden Hilfen zur Erziehung außerhalb der
Herkunftsfamilie von den beteiligten Familienmitgliedern, nicht zuletzt aber von den
Fachkräften andererseits auch kritisch gesehen und es wird sogar vor ihnen
gewarnt“ (Magistrat Graz 2000, 11.4).
Zu dieser unterschiedlichen personenspezifischen Grundeinstellung in Bezug auf die
Fremdunterbringung ergibt sich eine zusätzliche Schwierigkeit dadurch, dass die Hilfen zur
Erziehung außerhalb der Herkunftsfamilie in einem Kontext kontroverser Meinungen,
Seite 41
Entscheidungsfindung über Fremdunterbringungen
Urteile und Vorurteile bedacht, entschieden und umgesetzt werden müssen. SozialarbeiterInnen müssen daher zwischen den Meinungen verschiedenster Akteure/Akteurinnen
abwägen und ihnen unterschiedlich viel Bedeutung beimessen (vgl. a.a.O. 11.5).
Obwohl es grundsätzlich eine Hilfe im Prozess der Entscheidungsfindung darstellt,
Entscheidungen nicht alleine zu treffen, erhöht sich die Komplexität des Entscheidungsfindungsprozesses in vielen Fällen gerade durch die enge Zusammenarbeit zwischen
dem/der SozialarbeiterIn und dem/der LeiterIn. In vielen Fällen ist nicht geklärt, wer
letztendlich die Verantwortung für die Entscheidung trägt. Durch einander widersprechende Grundeinstellungen kann es durch die geteilte Verantwortung im Prozess der
Entscheidungsfindung auch zu Spannungen und Meinungsverschiedenheiten kommen
(vgl. Beckett 2006, 92).
Auch wenn die Beurteilung der jeweiligen Sachlage noch so professionell und gewissenhaft erfolgt, kann die Möglichkeit einer subjektiven Fehleinschätzung nie ganz ausgeschlossen werden. Aus diesem Grund sind ethische Entscheidungen häufig mit
Unsicherheiten verbunden und stellen für die SozialarbeiterInnen eine enorme psychische
Belastung und Zumutung dar (vgl. Gruber 2005, 228).
Von besonderer Bedeutung sind daher Hilfsmechanismen wie z. B. das gründliche
Reflektieren der Interventionen sowie angewendeten Mittel und Methoden, die als
Grundlage ethisch verantwortlichen Handelns dienen (vgl. a.a.O. 160).
2 . 3. 2 S T E L L E N W E R T D E R E T H I K I N D E R E N T S C H E I D U N G S F I N D U N G Ü B E R E I N E
FREMDUNTERBRINGUNG
Der Stellenwert der Ethik in der Entscheidungsfindung lässt sich bereits in der
Auseinadersetzung mit dem Begriff des „Kindeswohls“ erkennen, der ein sehr
interpretationsbedürftiger Begriff ist und für die Anwendung in der Praxis inhaltlich unter
Berücksichtigung
theoretischer
Ansätze
sowie
kultureller,
gesellschaftlicher
und
persönlicher Werthaltungen bestimmt und ausgedeutet werden muss. Die Schwierigkeit
dabei liegt aber darin, dass das jeweilige Kind selbst die wohl „größte Variable“ bei der
Definition des Kindeswohls darstellt und es demzufolge so etwas wie ein allgemeingültiges
Kindeswohl nicht geben kann, da für jedes Kind individuell bestimmt werden muss, was
sein Wohl ausmacht, es sichern oder gefährden könnte. Obwohl das Kindeswohl demnach
nicht absolut definiert werden kann, ist es trotzdem aus praktischen, vor allem aber auch
aus ethischen Gründen notwendig, Voraussetzungen für das Kindeswohl zu vereinbaren
Seite 42
Entscheidungsfindung über Fremdunterbringungen
und daraus Anforderungen an das Umfeld des Kindes abzuleiten. Durch die Verbindung
zwischen dem einerseits definierten Rahmen und dem anderseits undefinierbaren Kern
des Begriffs „Kindeswohl“ soll es möglich werden einerseits eine gemeinsame Vorstellung
über das, was für das Wohl des Kindes „wichtig“ und „richtig“ ist, zu haben und dennoch
die Individualität jedes einzelnen Kindes zu berücksichtigen (vgl. Amt der Tiroler
Landesregierung 2002, III/2).
Auch im Qualitätskatalog der Grazer Jugendwohlfahrt ist die Bedeutung der Ethik
erkennbar, indem erwähnt wird, dass es beim Schutz für das Kind immer um zwei Aspekte
geht, nämlich um den Schutz des Kindes und den Schutz seiner Eltern vor Scheitern,
Schande, Unglück und Strafe. Dabei stehen SozialarbeiterInnen im Auftrag des Staates
immer vor der doppelten Aufgabe und somit vor einem ethischen Dilemma, einerseits die
Kompetenzen und die Kräfte der Eltern zu fördern und andererseits für den Fall, dass
Eltern ihrer Pflicht, ihre Kinder gut zu versorgen, nicht nachkommen, das Kind vor
Misshandlungen und Vernachlässigung sowie vor entwicklungsschädigenden Konsequenzen zu schützen (vgl. Magistrat Graz 2000, 8.2).
Das doppelte Mandat sich gleichzeitig in den Rollen des Helfers/der Helferin und des
Kontrolleurs/der Kontrolleurin zu befinden, führt zu einem widersprüchlichen fachlichen
Profil das sowohl die BürgerInnen als auch die Jugendwohlfahrtsträger selbst verwirrt.
Umso wichtiger ist es, sich im Prozess der Entscheidungsfindung mit den Rollenzuschreibungen und Rollenübernahmen unter ethischen Aspekten sowie mit kulturellen,
religiösen und weltanschaulichen Wertvorstellungen auseinanderzusetzen. Diese ethische
Auseinandersetzung soll SozialarbeiterInnen auch dabei unterstützen, die Balance
zwischen den eigenen Machtansprüchen und den Machtvorurteilen und Rollenzuschreibungen in der Bevölkerung zu halten. Darüber hinaus ist Ethik ein wichtiges und
geeignetes
Instrument
dafür,
einen
ganzheitlichen
Blick
unter
Berücksichtigung
verschiedenster Perspektiven auf den jeweiligen Fall zu werfen. Bei der Entscheidungsfindung ist eine offene Begegnung der verschiedenen Sichtweisen und Bewertungen,
insbesondere von Eltern-Kind-Beziehungen und familialen Wertsystemen, von großer
Wichtigkeit um sowohl eine einseitige Wahrnehmung und normative Dogmatisierung als
auch ethische Beliebigkeit zu vermeiden (vgl. a.a.O. 8.4 – 8.6).
Daher werden im Qualitätskatalog der Grazer Jugendwohlfahrt acht Qualitätsstandards
angegeben, die sich zum Teil mit einigen Grundwerten, die in Kapitel 2.1.3 „Werte in der
Sozialen Arbeit, insbesondere bei der Fremdunterbringung“ beschrieben wurden, decken.
Seite 43
Entscheidungsfindung über Fremdunterbringungen
Diese Qualitätsstandards beinhalten (1) die Kindzentrierung, (2) die Achtung und Wahrung
der Familienintegrität, (3) die strukturelle Zurückhaltung bei staatlichen Eingriffen, (3)
Kontinuitätswahrung, (5) Bedarfsgerechtigkeit und Fachlichkeit, (6) die bestmögliche
Förderung,
(7)
die
Partnerschaftlichkeit
und
Klientenfreundlichkeit
und
(8)
die
Qualitätssicherung, Prozessdokumentation und Ergebniskontrolle (vgl. a.a.O. 11.6 – 11.8).
2 . 3. 3 Z U S AM M E N F AS S U N G
In diesem Kapitel wurde der Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen beschrieben, in dessen Fokus die Sicherung des
Kindeswohls steht. In diesem Prozess sind die SozialarbeiterInnen mit vielen Schwierigkeiten rund um die Entscheidung konfrontiert, ob das Kind/der Jugendliche so schnell wie
möglich aus der Gefahrenzone zu bringen ist oder ob es die Situation noch zulässt das
Kind in der Familie zu belassen. Welche dieser Alternativen das gelindeste noch zum Ziel
führende Mittel darstellt, ist in den meisten Fällen schwer zu entscheiden. In einigen
Bundesländern wurden daher Qualitätsstandards, Checklisten und Leitlinien entwickelt um
ein einheitliches Vorgehen und ein einheitliches Miteinbeziehen verschiedener Aspekte in
die Entscheidungsfindung zu sichern. Diese sollen als Hilfsmittel im Abklärungsprozess
verwendet werden und dienen der Sicherung des Kindeswohls bzw. dem Schutz ohne
Risiko für Kinder und Jugendliche. Durch die Anwendung dieser Leitfäden, Checklisten
und Standards werden vielseitige wichtige Informationen strukturiert wahrgenommen und
somit der Entscheidungsprozess erleichtert.
Als zusätzliche Erleichterung für die Entscheidungsfindung dienen auch Teamarbeit,
kollegiale Kontrolle und Supervision, da es bei Entscheidungen wie der Fremdunterbringung, die einen maßgeblichen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Lebens von
Kindern und Jugendlichen haben, unverantwortlich wäre, Entscheidungen alleine zu
tragen. Ebenso ist die regelmäßige Reflexion ein wichtiges Werkzeug um personenspezifische Unterschiede auf Grund widersprüchlicher Grundeinstellungen auszugleichen
sowie den Einfluss der Meinung verschiedenster Akteure/Akteurinnen bewusst wahrzunehmen und abzuwägen.
Um die Qualität des Prozesses der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung zu
wahren, wird mehr und mehr auf die Ethik als wichtiges Instrument im Entscheidungsfindungsprozess hingewiesen.
Seite 44
Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung
2.4
MODELLE ZUR ETHISCHEN ENTSCHEIDUNGSFINDUNG
Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung sollen SozialarbeiterInnen bei schwierigen
ethischen Entscheidungen darin unterstützen, schrittweise ethische Aspekte durchzudenken und Lösungsmöglichkeiten auf ethischer Basis zu reflektieren. In jenen
Situationen, in denen es aus ethischer Perspektive keine eindeutig richtige oder falsche
Handlungsweise gibt, ist es notwendig systematisch und schrittweise einzelne ethische
Überlegungen durchzugehen um mehr Klarheit und Sicherheit für den Prozess der
Entscheidungsfindung zu erlangen und ethisch entscheiden zu können.
Im Folgenden werden einige ausgewählte Modelle vorgestellt, die verschiedene Autoren
für die ethische Entscheidungsfindung in der sozialen Arbeit entwickelt haben.
2 . 4. 1 L E I TF AD E N Z U R E T H I S C H E N E N T S C H E I D U N G S F I N D U N G (R E AM E R )
Frederic Reamer beschreibt in seinem Buch „Social Work Values and Ethics“ einen
Leitfaden zur ethischen Entscheidungsfindung, welchen er „The Ethics Decision-making
Framework“ nennt. Reamer erachtet ein systematisches Vorgehen in der ethischen
Entscheidungsfindung als wichtig um sicherzustellen, dass alle Aspekte des ethischen
Dilemmas behandelt und durchdacht worden sind. Zu diesem Zweck entwickelte er ein
Modell, das aus sieben klar formulierten Schritten besteht und dazu dient, die Qualität der
ethischen Entscheidungen der SozialarbeiterInnen zu erhöhen (vgl. Reamer 2006, 73).
Dieses Modell gibt folgende Schritte für den Prozess der Entscheidungsfindung vor:
1) Identifizierung der ethischen Themenbereiche des Falles einschließlich konkurrieren-
der Werte und Pflichten der Sozialen Arbeit
2) Identifizierung der Personen, Gruppen, Organisationen, die von der ethischen Ent-
scheidung betroffen sein könnten
3) vorläufige Identifizierung aller durchführbaren Handlungsmöglichkeiten und möglichen
beteiligten Akteure/Akteurinnen sowie Vor- und Nachteile (unter Berücksichtigung der
Effizienz und Effektivität)
4) genaues Durchüberlegen von Argumenten um geeignete Handlungsmöglichkeiten
herauszufinden an Hand von:
a) ethischen Richtlinien und gesetzlichen Prinzipien
b) ethischen Theorien, Prinzipien und Leitlinien
c) Theorien und Prinzipien der Sozialen Arbeit
Seite 45
Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung
d) persönlichen Werten (z. B. Religion, Kultur, ethische Werte und politische Ideologie)
5) Beratung mit KollegInnen und ExpertInnen (Fallbesprechung im Team, Leiter, Supervision)
6) Treffen der Entscheidung und Dokumentation des Entscheidungsfindungsprozesses
7) Beobachtung, Evaluierung und Dokumentation der Entscheidung und des weiteren
Verlaufs
(vgl. Reamer 2006, 73)
2.4.2
V IERSTUFIGES M ODELL DES ETHISCHEN E NTSCHEIDUNGSPROZESSES (G RUBER )
Hans-Günter Gruber definiert in seinem Buch „Ethisch denken und handeln“ die Findung
eines begründeten Handlungsentscheids als Ziel des ethischen Entscheidungsprozesses.
Er entwickelte dazu folgende Schritte des ethischen Entscheidungsprozesses:
Abbildung 1: Vierstufiges Modell des ethischen Entscheidungsprozesses
1. Gesinnung
2. Eingesetzte Mittel
• Ist der Wille
zur Übelminimierung
als Rückvergewisserung der
guten Gesinnung erkennbar?
• Sind die Mittel geeignet
zur Zielerreichung?
• Stehen die Mittel in einem
angemessenen Verhältnis
zum Ziel?
4. Folgen
3. Ziel
• Übelabwägung und
Übelminimierung
• Vorzugsregeln zur
Bestimmung des geringstmöglichen Übels
• Abwägung der Güter und
Werte nach den Kriterien
- Ranghöhe und Dringlichkeit
- Gemeinwohl und Eigenwohl
• Gesetz der Gradualität
(Quelle: Gruber 2005, 215)
Als ersten Schritt beschreibt Gruber die genaue Bestimmung des Konflikts sowie das
Herausfinden der eigenen Gesinnung und Zielsetzung. Dabei soll herausgefunden
werden, welche Motive, Absichten, Interessen und Grundhaltung hinter der Entscheidung
stehen.
In einem zweiten Schritt werden die Vor- und Nachteile möglicher Handlungsalternativen
in Form von Methoden und Interventionen durchüberlegt. Hierbei geht es vor allem um die
Eignung der Mittel bzw. Methode für die Zielerreichung sowie auch darum, ob die Mittel in
Seite 46
Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung
einem angemessenen Verhältnis zum Ziel stehen. Im Mittelpunkt steht die Frage der
professionellen Beurteilung der konkreten Situation und vorhersehbaren Folgen.
Im dritten Schritt wird die Entscheidung getroffen und ethisch nachvollziehbar und
transparent begründet. Die Entscheidung soll auf die Fähigkeiten, Interessen und
Bedürfnisse der KlientInnen abgestimmt sein, ohne sie dabei zu überfordern. Darüber
hinaus soll sicher gestellt sein, dass das gewünschte Ziel durch die angewendete Methode
erreicht werden kann und die Entscheidung auf die Dringlichkeit der Intervention und das
Gleichgewicht des Wohls der KlientInnen und anderer Akteure/Akteurinnen überprüft
wurde.
Der vierte Schritt ist besonders wichtig für die „Rückvergewisserung der guten Gesinnung“
und Zielausrichtung. Vor allem dann, wenn unangenehme Folgen bewusst in Kauf
genommen werden, ist es wichtig sich genau zu überlegen, welche kurzfristig und
langfristig vorhersehbaren Folgen durch die Entscheidung entstehen können. Alle Folgen
sollen auf die Entstehung von Unannehmlichkeiten und die Minimierung dieser überprüft
werden (Gruber 2005, 215 f.).
2 . 4. 3 E T H I C AL A S S E S S M E N T S C R E E N (D O L G O F F , L O E W E N B E R G )
Dolgoff und Loewenberg gehen davon aus, dass SozialarbeiterInnen, in deren Entscheidungen ethische Aspekte einfließen, vorhandene Optionen anders betrachten und
einschätzen als jene SozialarbeiterInnen, die ethischen Aspekten weniger Bedeutung
beimessen. Dolgoff und Loewenberg stellen in ihrem Buch „Ethical Decision for Social
Work Practice“ ein Modell vor, das sie „Ethical Assessment Screen“ nennen. Das folgende
Modell soll SozialarbeiterInnen befähigen ethische Aspekte zu erkennen, abzuklären und
in die Entscheidungsfindung zu integrieren (vgl. Dolgoff, Loewenberg 2005, 58).
1) Identifizierung eigener bedeutender Werte in Bezug auf einen konkreten ethischen
Konflikt
2) Identifizierung anderer sozialer Werte, die für die konkrete ethische Entscheidung
relevant sind
3) Identifizierung maßgebender professioneller Werte und Ethik
4) Minimierung möglicher ethischer Konflikte der drei genannten Wertegruppen
(Punkt 1 bis 3)
5) Identifizierung alternativer ethischer Möglichkeiten in einer konkreten Konfliktsituation
Seite 47
Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung
6) Identifizierung alternativer ethischer Möglichkeiten, die am ehesten die KlientInnen
und die Rechte und das Wohlergehen anderer schützen könnten
7) Identifizierung alternativer Handlungen, die am ehesten gesellschaftlichen Interessen
und Rechten entsprechen
8) Minimierung möglicher Konflikte zwischen den Rechten von KlientInnen, anderer und
der Gesellschaft
9) Identifizierung alternativer Handlungen, die das „geringste mögliche Übel“ mit sich
bringen
10) Identifizierung der Effektivität und Effizienz und Ethik der alternativen Handlungen
11) Identifizierung und Abwägung von kurz- und langfristigen ethischen Folgen
(vgl. Dolgoff, Loewenberg 2005, 60)
2 . 4. 4 E T H I C AL P R I N C I P L E S C R E E N (D O L G O F F , L OE W E N B E R G )
Ein weiteres Modell, das Dolgoff und Loewenberg in ihrem Buch „Ethical Decision for
Social Work Practice“ beschreiben, stellt ethische Prinzipien in einer Rangordnung in Form
einer Pyramide dar. Dieses Modell, das Dolgoff und Loewenberg „Ethical Principle Screen“
nennen, wird vor allem dann angewendet, wenn zwei oder mehrere ethische Argumente
einander widersprechen. In solchen Fällen kann eine klare Rangordnung ethischer
Prinzipien die Entscheidungsfindung erleichtern (vgl. Dolgoff, Loewenberg 2005, 63).
Obwohl es sehr schwierig ist, eine solche allgemeingültige Rangordnung zu erstellen,
erachten Dolgoff und Loewenberg dies als Notwendigkeit für die Soziale Arbeit. „Even
though some social workers disagree, we believe that the preferred way of resolving such
conflicts among ethical principles is a lexical ordering of these principles – that is, rankordering them from the most important to the least important.“ (a.a.O. 64).
Abbildung 2: „Ethical Principle Screen“
Sicherung/Schutz des Lebens
Gleichberechtigung für alle und Recht auf Individualität
Selbstbestimmung und Freiheit
geringster Schaden
Qualität für das Leben
Privatsphäre und Verschwiegenheitspflicht
Aufrichtigkeit und Transparenz
(Quelle: vgl. Dolgoff, Loewenberg 2005, 65)
Seite 48
Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung
Dolgoff und Loewenberg weisen aber darauf hin, dass eine Rangordnung ethischer
Prinzipien nur als Richtschnur verstanden werden kann und keine Zauberformel
darstellen, die blind auf alle Fälle angewendet werden kann (vgl. a.a.O. 64).
Der „Ethical Principle Screen“ wird nur in jenen Fällen angewendet, in denen keine Regel
des Code of Ethics angewendet werden kann. Wenn es z. B. im Code of Ethics keine
Anweisungen zum spezifischen Problem gibt oder sich Anweisungen des Codes
widersprechen, da deren Befolgung zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde, ist es
sinnvoll den „Ethical Principle Screen“ anzuwenden. Dieser gibt vor, dass ein höher
geordnetes Prinzip Vorrang gegenüber einem niedriger eingestuften Prinzip hat (vgl.
a.a.O. 64, 65).
2 . 4. 5 G E R W I R T H ’ S H I E R AR C H Y
Gerwirth vertritt die Auffassung, dass in Konfliktfällen eine Wertehierarchie notwendig ist.
Aus diesem Grund führt er eine Reihe von Richtlinien an, die schwierige Entscheidungen
erleichtern. In jenen Fällen, in denen das Wohl einer Person gefährdet ist, können
Maßnahmen zur Verhinderung des Übergriffes, auch wenn diese mit Zwang durchgesetzt
werden müssen, gerechtfertigt sein. In solchen Situationen, in denen das generelle Prinzip
„niemanden zu etwas zu zwingen“ aufgehoben wird, muss aber immer darauf geachtet
werden, ob die Maßnahme zur Verhinderung der Fremdgefährdung notwendig ist und im
richtigen Ausmaß eingesetzt wird (vgl. Reamer 1993, 61; Reamer 2006, 70, 71).
Resultierend aus diesen Argumenten entwickelte Gerwirth folgende Leitlinien für jene
Fälle, in denen Werte und Pflichten in Konflikt miteinander geraten:
1. Regeln gegen die grundlegende Verletzung der notwendigen Handlungsvoraussetzungen (wie Leben, Gesundheit, Nahrung, Obdach, mentale Ausgeglichenheit)
haben Vorrang gegenüber Regeln gegen Verstöße wie etwa Lügen oder die
Weitergabe von vertraulichen Informationen oder die Gefährdung von zusätzlichen
Gütern wie Erholung, Bildung und Besitz.
2. Das Recht eines Individuums auf grundlegendes Wohlergehen (als notwendige
Handlungsvoraussetzung) hat Vorrang gegenüber dem Recht eines anderen
Individuums auf Freiheit.
3. Das Recht eines Individuums auf Freiheit hat Vorrang gegenüber seinem Recht auf
grundlegendes Wohlergehen.
Seite 49
Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung
4. Die Verpflichtung, Gesetze, Regeln und Vorschriften einzuhalten, welchen man
freiwillig zugestimmt hat, setzt gewöhnlich das Recht zur bewusst entschiedenen
Durchführung von Handlungen, welche diesen Gesetzen, Regeln und Vorschriften
widersprechen, außer Kraft.
5. Das Recht von Individuen auf Wohlergehen kann in Konfliktfällen Gesetze, Regeln,
Vorschriften und Abmachungen freiwillig beigetretener Interessensverbände außer
Kraft setzen.
6. Die Verpflichtung, grundlegenden Schaden wie Hunger zu verhindern und
öffentliche Güter wie Unterkunft, Bildung und staatliche Unterstützung zu fördern,
setzt das Recht auf eigenen Besitz außer Kraft.
(vgl. Reamer 1993, 62 - 65)
2 . 4. 6 Z U S AM M E N F AS S U N G
In diesem Kapitel wurden 5 Modelle beschrieben, die SozialarbeiterInnen im Prozess der
Entscheidungsfindung bei schwierigen Fällen einen Leitfaden ethischer Überlegungen und
Aspekte anbieten. Diese Modelle sollen helfen ethische Aspekte durchzudenken und
Lösungsmöglichkeiten auf ethischer Basis zu reflektieren.
Da in manchen Fällen ethische Prinzipien einander widersprechen und miteinander
unvereinbar sind, kann nicht in allen Fällen eine eindeutig richtige Handlungsweise aus
ethischer Perspektive empfohlen werden. Die beschriebenen Modelle bieten für solche
Situationen eine Leitlinie um systematisch und schrittweise einzelne ethische Überlegungen durchzugehen und daraus mehr Klarheit und Sicherheit für die ethische Entscheidungsfindung zu erlangen.
All diese Modelle dienen als Leitfaden um ethisch gründlich durchdachte Entscheidungen
treffen zu können und somit die Qualität des Entscheidungsprozesses sicherzustellen.
Seite 50
Angabe der Hypothesen
3 UN TE R S U C HU NG DE R E TH IS C HE N EINF LU SS GR Öß EN IM PR O ZE SS
D E R EN TS C HE IDU NG SF IND UN G Ü BE R E INE FR EM D UN TE RB R IN G UN G IN D E N TIR O LE R JUG EN DW O HL F AH R TS R EF ER ATE N
3.1
ANGABE DER HYPOTHESEN
In der Auseinandersetzung mit Ethik als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit, dem
Prozess der Entscheidungsfindung bei der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen und den Modellvorschlägen zur ethischen Entscheidungsfindung stellte ich
Vergleiche zu meinen bisherigen Erfahrungen aus meinen Praktika in Imst und Malta her
und leitete daraus Hypothesen ab, die im Rahmen meiner Diplomarbeit bewiesen oder
widerlegt werden sollen. Meine Hypothesen, die darüber hinaus durch Gespräche mit
ExpertInnen beeinflusst wurden, möchte ich im folgenden Abschnitt darlegen.
•
Im Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern
und Jugendlichen fließen in den neun Referaten der Tiroler Jugendwohlfahrt nur in
einem geringen Ausmaß ethische Modelle und Richtlinien ein.
•
Ethische Richtlinien und Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung, die im
Prozess der Entscheidungsfindung als ethische Orientierungshilfe dienen sollen,
sind den in der Tiroler Jugendwohlfahrt tätigen SozialarbeiterInnen großteils nicht
bekannt.
•
Im Prozess der Entscheidungsfindung wenden nicht alle SozialarbeiterInnen der
Tiroler Jugendwohlfahrt die gleichen ethischen Theorien und Ausrichtungen an.
•
In der Bedeutung ethischer Aspekte im Prozess der Entscheidungsfindung für oder
gegen eine Fremdunterbringung gibt es personenspezifische Unterschiede, die auf
Merkmale wie Alter, Geschlecht, eigene Erfahrungen, Dienstjahre, eigener
Familienstand (Kinder, …) etc. zurückzuführen sind.
•
Die SozialarbeiterInnen der Tiroler Jugendwohlfahrt sehen erhöhten Bedarf an
ethischen Orientierungshilfen für den Prozess der Entscheidungsfindung.
Seite 51
Beschreibung der gewählten Methode
3.2
BESCHREIBUNG DER GEWÄHLTEN METHODE
Um die genannten Hypothesen in der Praxis zu überprüfen, wurden Fragebögen an die 72
in der Jugendwohlfahrt tätigen SozialarbeiterInnen und 9 LeiterInnen ausgesendet.
VORGEHENSW EISE
Die Fragebögen, die für SozialarbeiterInnen und LeiterInnen unterschiedliche Schwerpunkte aufwiesen, wurden entsprechend dem Inhalt des theoretischen Teils der Diplomarbeit entwickelt. Bevor die Fragebögen ausgesendet wurden, fand eine Praetest-Phase
statt, in der fünf ausgewählte StudentInnen des Fachhochschulstudiengangs Soziale
Arbeit (7. Semester), sowie drei ExpertInnen aus dem Bereich Jugendwohlfahrt und acht
Personen
aus
dem
nicht
sozialarbeiterischen
Kontext
den
Fragebogen
auf
Verständlichkeit, Vollständigkeit und Ausdruck überprüften. Zusätzlich wurde die Abteilung
Jugendwohlfahrt über die Diplomarbeit und die Aussendung der Fragebögen informiert.
Die Abteilung Jugendwohlfahrt unterstützte die Befragung, indem sie an die neun Referate
der Jugendwohlfahrt ein Ersuchen um Beteiligung an der Befragung aussendete.
Zusätzlich erging von Seiten meiner Diplomarbeitsbetreuerin am Management Center
Innsbruck, Studiengang Soziale Arbeit, ein Schreiben an die neun Referate mit der Bitte
um Unterstützung der Diplomarbeiten der StudentInnen.
Die Fragebögen wurden Mitte Oktober an die neun LeiterInnen sowie an die 72 in der
Jugendwohlfahrt tätigen SozialarbeiterInnen ausgesendet. 52 Fragebögen wurden
ausgefüllt zurückgesendet, was einer Rücklaufquote von 64 Prozent entspricht.
Zusätzlich wurden die Modelle der ethischen Entscheidungsfindung im Rahmen der
Vorlesung „Ethik der Sozialarbeit“ 28 StudentInnen des Fachhochschulstudiengangs
Soziale Arbeit des 7. Semesters vorgestellt und deren Einschätzung bezüglich der
Anwendbarkeit der vier Modelle als Orientierungshilfe in der Praxis mittels eines
Bewertungsrasters erfragt.
Die Fragebögen der SozialarbeiterInnen und LeiterInnen sowie der Bewertungsraster der
StudentInnen wurden mit dem Programm Excel ausgewertet, indem Häufigkeiten und
Mittelwerte errechnet wurden. Die Ergebnisse der LeiterInnen konnten auf diesem Weg
mit den Ergebnissen der SozialarbeiterInnen und StudentInnen bei überschneidenden
Fragen verglichen werden.
Seite 52
Beschreibung der gewählten Methode
BESCHREI BUNG DER UNTERSUCHUNGSGRUPPE
Das Profil der Untersuchungsgruppe, das sich aus den 52 erhaltenen Fragebögen, davon
43 Fragebögen der SozialarbeiterInnen und 9 der LeiterInnen, ableiten lässt, ergibt
folgendes Bild:
LEITERINNEN:
Abbildung 3: Dienstjahre
Tabelle 2: Beruf
Beruf
1
1
N=9
7
1-3 J
5-10 J
Anzahl
SozialarbeiterIn
2
DSA + Ehe- und FamilienberaterIn
1
DSA+ JuristIn
2
DSA+ PsychotherapeutIn
1
DSA + SupervisorIn
1
Jugend- und ErziehungsberaterIn
1
SozialmanagerIn
1
>10 J
Alle neun LeiterInnen füllten den Fragebogen aus. 7 LeiterInnen sind bereits länger als 10
Jahre in der Jugendwohlfahrt tätig. Ein/eine LeiterIn arbeitet bereits zwischen 5 und 10
Jahren in der Jugendwohlfahrt und einer/eine weniger als 3 Jahre (siehe Abb. 3).
7 LeiterInnen sind ausgebildete SozialarbeiterInnen. Von diesen 7 haben 5 eine
zusätzliche
Ausbildung,
zwei
als
JuristIn,
drei
weitere
jeweils
als
Ehe-
und
FamilienberaterIn, PsychotherapeutIn oder SupervisorIn. Zwei LeiterInnen sind von ihrer
Ausbildung her keine SozialarbeiterInnen, sondern Jugend- und ErziehungsberaterIn oder
SozialmanagerIn.
Seite 53
Beschreibung der gewählten Methode
SOZIALARBEITERINNEN:
Abbildung 4: Beteiligung der Referate
Abbildung 5: Geschlecht
4
5
8
4
6
2
N=43
N=43
5
4
4
4
35
5
weiblich
IBK Land
Kitzbühel
Lienz
IBK Stadt
Kufstein
Reutte
Abbildung 6: Alter
5
männlich
keine Angabe
Imst
Landeck
Schwaz
Abbildung 7: Dienstjahre
1
4
10
5
N=43
N=43
22
4
6
17
8
4
25 - 30
31 - 35
36 - 40
41 - 50
Abbildung 8: Familienstand
> 50
?
<1J
1-3J
N=43
26
keine Kinder
5 - 10 J
> 10 J
Abbildung 9: Beruf
35
SozialarbeiterInnen
17
3-5J
DSA / HTL-Technik
1
DSA / Mag.BWL
1
Lebens- und Sozialberaterin
2
PädagogIn
2
keine Angabe
2
Kinder
Seite 54
Beschreibung der gewählten Methode
An der Untersuchung nahmen 43 SozialarbeiterInnen teil. Davon sind 8 in der
Jugendwohlfahrt Schwaz tätig, 6 in Innsbruck Stadt, 5 jeweils in Innsbruck Land, Kitzbühel
und Lienz, 4 jeweils in Imst, Kufstein und Landeck und 2 in Reutte.
35 SozialarbeiterInnen und 4 Sozialarbeiter füllten den Fragebogen aus. 4 Personen
machten keine Angabe zum Geschlecht.
Der Großteil, nämlich 17 SozialarbeiterInnen sind zwischen 41 und 50 Jahren. 10
Sozialarbeiterinnen sind zwischen 25 und 30 Jahren, 6 zwischen 31 und 35 Jahren, 4
zwischen 36 und 40 Jahren und 5 über 50 Jahre alt.
Ziemlich genau die Hälfte der befragten SozialarbeiterInnen ist bereits über 10 Jahren in
der Jugendwohlfahrt tätig. 8 SozialarbeiterInnen arbeiten bereits zwischen 5 und 10
Jahren in der Jugendwohlfahrt. Knapp über einem Viertel arbeiten weniger als fünf Jahre
in der Jugendwohlfahrt.
60 Prozent, das sind 26 SozialarbeiterInnen, haben selbst Kinder. 17 haben keine Kinder.
37 von 43 Befragten sind ausgebildete SozialarbeiterInnen. Weiters füllten zwei PädagogInnen und zwei Lebens- und SozialberaterInnen den Fragebogen aus. Zwei Personen
machten keine Angabe zu ihrer Ausbildung. Der Einfachheit wegen werden im Folgenden
alle hier genannten Berufsgruppen in die Berufsbezeichnung „SozialarbeiterInnen“
eingeschlossen.
AUFBAU DER FRAGEBÖGEN
Die Fragebögen für die SozialarbeiterInnen und LeiterInnen wurden anhand der ethischen
Aspekte in der Sozialen Arbeit, die im theoretischen Teil beschrieben wurden, entwickelt
und sollen Antwort darauf geben, welche ethischen Perspektiven in die derzeitige
Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung einfließen. Beide Fragebögen sind
im Anhang ersichtlich (siehe Anhang S. 113, 120). Der Inhalt der Fragebögen kann in
folgende Fragenkomplexe zusammengefasst werden:
• Wie gestaltet sich momentan der Entscheidungsfindungsprozess bei der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen?
• Wie viel Einfluss haben die SozialarbeiterInnen im Prozess der Entscheidungsfindung?
• Welchen Konfliktbereichen
bzw.
Dilemmata sind die SozialarbeiterInnen und
LeiterInnen in ihrer Entscheidungsfindung ausgesetzt?
• Welche ethischen Überlegungen fließen in die Entscheidungsfindung ein?
Seite 55
Beschreibung der gewählten Methode
• Welche Orientierungshilfen nutzen die SozialarbeiterInnen und LeiterInnen um sich
derzeit in ihren Entscheidungen sicher zu fühlen?
• Welche generelle Einstellung zur Fremdunterbringung haben die SozialarbeiterInnen?
• Nach welchen ethischen Ansätzen, Theorien und Werten gehen die SozialarbeiterInnen
in ihren Entscheidungen über Fremdunterbringungen vor?
• Sind den SozialarbeiterInnen Codes of Ethics und/oder Modelle zur ethischen
Entscheidungsfindung bekannt? Wenn ja, erachten sie diese als hilfreich?
• Spielen ethische Richtlinien derzeit bei der Entscheidungsfindung eine Rolle?
• Wie wichtig erachten die LeiterInnen Richtlinien und Modelle zur ethischen
Entscheidungsfindung bei der Fremdunterbringung?
• Welche Aspekte der Modelle fließen bereits in die Arbeit ein und für wie wichtig
erachten die LeiterInnen diese?
Manche Fragen wurden sowohl an die SozialarbeiterInnen als auch an die LeiterInnen
gestellt und dienten dazu, die Sichtweisen miteinander vergleichen zu können. Andere
wurden nur an eine der beiden Gruppen gerichtet, da sie entweder nur den Berufsalltag
der SozialarbeiterInnen oder der LeiterInnen betreffen.
Zur Beantwortung der Fragen wurde großteils eine 11-stufigen Skala verwendet, die eine
Prozentangabe von 0 (gar nicht) bis 100 (sehr viel) Prozent in Zehnerschritten ermöglicht.
Die detaillierten Ergebnisse der Fragebögen der SozialarbeiterInnen, LeiterInnen und
StudentInnen werden im nächsten Kapitel beschrieben.
Seite 56
Untersuchungsergebnisse
3.3
UNTERSUCHUNGSERGEBNISSE
Im diesem Kapitel werden die Antworten der SozialarbeiterInnen und LeiterInnen im
Hinblick auf ethische Aspekte, Werte, Dilemmata, ethische Theorien und Richtlinien im
Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern und
Jugendlichen genauer beschrieben sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede dargestellt.
Ebenso folgt die Beschreibung ausgewählter Aspekte des Entscheidungsfindungsprozesses der neun Jugendwohlfahrtsreferate. Zusätzlich wird in Kapitel 3.3.7 auf die
ethischen Modelle hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit und Brauchbarkeit in der Praxis
eingegangen und die Ergebnisse der Leiter mit der Einschätzung der StudentInnen
verglichen.
3 . 3. 1 E T H I S C H E A S P E K T E B E I D E R E N T S C H E I D U N G S F I N D U N G Ü B E R E I N E
FREMDUNTERBRINGUNG
In diesem Abschnitt wird der Frage nachgegangen, inwieweit spezifische ethische Aspekte
bei der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kinder und Jugendlichen
in den neun Referaten der Jugendwohlfahrt in Tirol einfließen. Der theoretische
Hintergrund zu diesen Fragen kann im Kapitel 2.1.2 „Ethik als Bezugswissenschaft der
Sozialen Arbeit“ nachgelesen werden.
Abbildung 10: (Ethische) Aspekte in der Entscheidungsfindung
95
Gefahr für das Kind in der momentanen Situation
Bisherige Erfahrung mit der Familie
81
80
Erwartete positive Handlungsfolgen
Schwerwiegende Gründe als Rechtfertigung neg. Folgen
70
Erwartete negative Handlungsfolgen
70
Umfang und Dauer der Nebenwirkungen
67
Handlungsziele
67
Interventionsmittel
67
Limitierung der Nebenwirkungen
66
Verhältnis unangenehmer Nebenwirkungen und Fogen
65
Ethische Werthaltung
51
Eigene Grundeinstellung
48
Ethische Bewertung der Intervention
47
Anzahl der Nebenwirkung
47
Seite 57
Untersuchungsergebnisse
Im Gesamten wurden die „Gefahr für das Kind in der momentanen Situation“, „bisherige
Erfahrungen“ sowie die „erwarteten positiven Handlungsfolgen“ am höchsten bewertet.
Die SozialarbeiterInnen gaben an, dass die „Gefahr für das Kind in der momentanen
Situation“ mit einer durchschnittlichen Einflusshöhe von 95 Prozent höchste Priorität hat.
Mit einem durchschnittlichen Einfluss von ca. 80 Prozent werden die „bisherigen
Erfahrungen mit der Familie“ und die „erwarteten positiven Handlungsfolgen“ an zweiter
und dritter Stelle erwähnt.
Weiters zeigt die Abbildung, dass die „ethische Werthaltung“, die „eigene Grundeinstellung“, die „ethische Bewertung der Intervention“ und die „Anzahl der Nebenwirkungen“
den geringsten Einfluss im Prozess der Entscheidungsfindung haben. Dies verdeutlicht,
dass ethischen Aspekten eher wenig Bedeutung im Prozess der Entscheidungsfindung
zukommt.
Im Hinblick auf das Geschlecht oder eigene Kinder sind keine Unterschiede in der
Bewertung erkennbar.
Bezüglich des Alters und der Dienstjahre wird allerdings eine differente Anordnung der
Werte deutlich.
In allen Referaten der Tiroler Jugendwohlfahrt wird die „Gefahr für das Kind in der
momentanen Situation“ an erster Stelle erwähnt. Rang zwei und drei werden von 7
Referaten dem Durchschnitt gemäß angegeben. 2 Referate weichen vom Durchschnitt ab.
Die weiteren (ethischen) Aspekte differieren in ihrer Reihung sehr stark.
Seite 58
Untersuchungsergebnisse
Abbildung 11: Wichtige Eigenschaften in der Entscheidungsfindung
Objektivität und Fachlichkeit
90
Gewissenhaftigkeit
85
Selbstreflexion
85
Urteilsvermögen
84
Teamfähigkeit
83
Zuverlässigkeit, Integrität
83
80
Schadensvermeidung
Vertrauenswürdigkeit
77
Eigenständigkeit
68
Gerechtigkeit
59
54
Mitgefühl
Wohltätigkeit
33
Im Durchschnitt bewerteten die SozialarbeiterInnen die Grundtugend der „Objektivität und
Fachlichkeit“ mit 90 Prozent als am hilfreichsten, gefolgt von den beiden Tugenden
„Gewissenhaftigkeit“ und „Selbstreflexion“, die mit durchschnittlich 85 Prozent bewertet
wurden.
Die „Objektivität und Fachlichkeit“ könnte in ihrer Bewertung als wichtigste Eigenschaft für
den
Prozess
der
Entscheidungsfindung
über
eine
Fremdunterbringung
darauf
zurückzuführen sein, dass diese auch bei Fremdunterbringung mittels gerichtlicher
Verfügung durch regelmäßige Dokumentation nachweisbar sein muss. Die genaue
Dokumentation, die den Kriterien der „Objektivität und Fachlichkeit“ gerecht werden soll,
wird auch als Qualitätsstandard im Produktplan angegeben. „Selbstreflexion“ und
„Gewissenhaftigkeit“ können als wichtige Eigenschaft zur „Objektivität und Fachlichkeit“
beitragen.
Es gibt keinen Unterschied bezüglich des Geschlechts bzw. der Dienstjahre der
SozialarbeiterInnen in der Bewertung der Bedeutung dieser Eigenschaften.
An deutlich letzter Stelle stehen mit 54 Prozent das „Mitgefühl“, gefolgt von der
„Wohltätigkeit“ mit nur 33 Prozent.
Diese beiden Werte werden zwar sehr häufig mit sozialem Engagement und sozialen
Berufen in Verbindung gebracht, sind aber nach Angaben der SozialarbeiterInnen und
Seite 59
Untersuchungsergebnisse
auch meiner Meinung nach für die Soziale Arbeit nicht die wichtigsten Eigenschaften um
die Professionalität und Qualität zu sichern. Von SozialarbeiterInnen wurde im
Fragebogen zusätzlich vermerkt, dass es nicht um „Mitleid“ in Form von „mitleiden“ geht,
sondern um das „mitfühlen“, also das professionelle sich einfühlen können.
Auch die „Gerechtigkeit“ wird mit 54 Prozent als eher unwichtig erachtet. Dies könnte
darauf zurück zu führen sein, dass Gerechtigkeit oft sehr schwer zu bemessen ist.
Limitierte Ressourcen und Möglichkeiten schränken den Gerechtigkeitsgedanken in
manchen Fällen ein. Darüber hinaus gibt es unterschiedliche Arten von Orientierungen
hinsichtlich des Aspekts der Gerechtigkeit. Egal ob in Bezug auf Verteilungs- oder
Bedarfsgerechtigkeit,
in
beiden
Fällen
können
die
limitierten
Ressourcen
und
Möglichkeiten sowie der unmittelbare Handlungszwang den Einfluss der Gerechtigkeit auf
die Entscheidungsfindung für oder gegen eine Fremdunterbringung einschränken. Eine
weitere Interpretation lässt den Schluss zu, dass es durch die vielen verschiedenen
Anforderungen, die an die SozialarbeiterInnen gestellt werden, in manchen Fällen
unmöglich ist, allen gerecht zu werden.
Im Allgemeinen wird ersichtlich, dass der Großteil der zur Auswahl stehenden
Eigenschaften mit einem eher hohen Prozentsatz von über 50 Prozent bewertet wurde.
Als zusätzliche wichtige Eigenschaften wurden von SozialarbeiterInnen Folgende ergänzt:
•
Verständnis für ambivalente Gefühle von Kindern und Jugendlichen
•
Bereitschaft zur Weiterbildung
•
Entwicklung und Reflexion von ethischen Standards und Werten.
Seite 60
Untersuchungsergebnisse
3 . 3. 2 E I N F L U S S V O N W E R T E N B E I D E R E N T S C H E I D U N G S F I N D U N G Ü B E R E I N E
FREMDUNTERBRINGUNG
Im Folgenden wird der Einfluss unterschiedlicher Wertekategorien im Prozess der
Entscheidungsfindung über Fremdunterbringung in den neun Referaten der Jugendwohlfahrt Tirol beschrieben. Die Theorie zu dieser Auswertung findet sich unter 2.1.3 im Kapitel
„Werte in der Sozialen Arbeit, insbesondere bei der Fremdunterbringung von Kindern und
Jugendlichen“.
Abbildung 12: Werte in der Entscheidungsfindung
Professionelle
Werte
86
Indivduelle Werte
51
Gesellschaftliche
Werte
Gruppenwerte
44
40
Professionelle Werte liegen mit einem großen Vorsprung an erster Stelle. Die
SozialarbeiterInnen geben diese mit einem durchschnittlichen Einfluss von 86 Prozent in
ihren Entscheidungen über die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen an.
Am zweithöchsten werden individuelle Werte erachtet, die laut Angaben durchschnittlich
bis zu 51 Prozent in die Entscheidung einfließen, gefolgt von gesellschaftlichen Werten mit
einem Einfluss von 44 Prozent und Gruppenwerten mit 40 Prozent.
Hinsichtlich dieser vier Wertekategorien gibt es Unterschiede je nach Geschlecht, Alter
Dienstjahren, eigenen Kindern und Jugendwohlfahrtsreferaten. Diese Unterschiede
beziehen sich aber nur auf die Einflusshöhe der individuellen, gesellschaftlichen und
gruppenspezifischen Werte, nicht aber auf die professionellen Werte. Die professionellen
Werte werden immer an erster Stelle platziert. Ihr Einfluss liegt unabhängig von Alter,
Geschlecht, Dienstjahren, etc. immer mit einem Einfluss von 75 bis 95 Prozent an erster
Stelle.
Deutlich wird bei der Analyse hinsichtlich der Faktoren auch, dass Gruppenwerte am
häufigsten an letzter Stelle platziert werden.
Seite 61
Untersuchungsergebnisse
3 . 3. 3 D I L E M M AT A B E I D E R E N T S C H E I D U N G S F I N D U N G Ü B E R E I N E
FREMDUNTERBRINGUNG
In diesem Kapitel werden die Dilemmata aufgelistet, mit denen sich die SozialarbeiterInnen im Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern
und Jugendlichen in den Referaten der Jugendwohlfahrt Tirol am häufigsten konfrontiert
sehen. Die Theorie zu „Dilemmata in der Sozialen Arbeit, insbesondere bei der
Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen“ wurde im Kapitel 2.1.4 beschrieben.
Abbildung 13: Dilemmata in der Entscheidungsfindung
Einverständnis der Erziehungsberechtigten vs. Zwangsmaßnahme
66
Grundlegender Wert vs. Dringlichkeit eines anderen Wertes
63
Selbstbestimmung vs. Bevormundung
61
Verschiedene Rollen der SozialarbeiterInnen
59
Konfrontation vs. Verschonung
58
Selbstbestimmung vs. Wohlergehen derselben Person
57
Recht auf Wohlbefinden vs. Recht auf Freiheit einer anderen Person
55
Schutz der KlientInnen vs. Wirtschaftlichkeit und Rentabilität
53
Freiwilliger Entscheid zur Lebensführung vs. Einfluss sozialer Bedingungnen
52
Verschwiegenheits- vs. Angabepflicht
50
Gesetz/Recht/ Politk vs. sozialarbeiterische Interventionsziele
50
Wohl des Einzelnen vs. Wohl der Gemeinschaft
47
Fortführung der Fremdunterbringung vs. ambulante Erziehungshilfe
44
Profesionelle vs. persönliche Werte
41
Verbundenheit zum/zur KlientIn vs. Verbundenheit zum Dienstgeber
40
Eigene Interessen vs. Interessen der KlientInnen
35
Eigene kuturelle und religiöse Werte vs denen der KlientInnen
Einhaltung professioneller Grenzen vs. freundschaftliche Beziehung
34
23
Die SozialarbeiterInnen müssen sich mit vielen verschiedenen Dilemmata im Prozess der
Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen
auseinandersetzen.
Bei der Entscheidungsfindung sehen sich die SozialarbeiterInnen am häufigsten mit dem
Dilemma konfrontiert, das Kind/den Jugendlichen auf Grund einer gerichtlichen Verfügung
fremd unterzubringen, wenn kein Einverständnis der Erziehungsberechtigten erreicht
werden kann. Dieses Dilemma wird mit einer durchschnittlichen Häufigkeit von 66 Prozent
beurteilt. Mit einer Häufigkeit von durchschnittlich 63 Prozent stehen die SozialarbeiterInnen am zweithäufigsten vor dem Konflikt, dass ein grundlegender, wichtiger Wert auf
Grund der Gefahr eines anderen Wertes nicht aufrecht erhalten werden kann. Mit
durchschnittlichen 61 Prozent an Häufigkeit und somit an dritter Stelle müssen die
Seite 62
Untersuchungsergebnisse
SozialarbeiterInnen sich mit dem Dilemma auseinandersetzen, dass die Bevormundung
mittels Auflagen, Einschränkungen etc. das Recht auf Selbstbestimmung einschränkt.
An den drei letzten Stellen werden die Dilemmata der „eigenen Interessen versus der
Interessen der KlientInnen“, der „eigenen kulturellen und religiösen Werte versus denen
der KlientInnen“ und der „Einhaltung professioneller Grenzen und dem Verschwimmen der
Grenzen in Richtung freundschaftliche Beziehung“ genannt. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass auf Grund der Gefahrensituation weniger eigene Interessen, eigene
kulturelle und religiöse Werte einfließen können, da das maßgebliche Augenmerk auf der
Sicherung des Kindeswohls liegt. Darüber hinaus können auch die Interessen der
KlientInnen und deren religiöse und kulturelle Werte nicht immer bei „Gefahr in Verzug“
berücksichtigt werden. Das Dilemma der „Einhaltung professioneller Grenzen und dem
Verschwimmen der Grenzen in Richtung freundschaftliche Beziehung“ ist möglicherweise
im der Jugendwohlfahrt weniger vorhanden, da den SozialarbeiterInnen häufig von Seiten
der KlientInnen eher mit Distanz als auf freundschaftlicher Ebene begegnet wird. Die
Aufrechterhaltung professioneller Grenzen gerät somit kaum in Gefahr.
Die Häufigkeit dieser und aller weiteren genannten Dilemmata, die SozialarbeiterInnen im
Prozess der Entscheidungsfindung wahrnehmen, variiert je nach Alter, Geschlecht,
Dienstjahren, eigenem Familienstand und Referat der Jugendwohlfahrt.
Zusätzlich
erwähnten
SozialarbeiterInnen
das
Problem,
dass
häufig
nur
der
Symptomträger „entfernt“, nicht aber mit dem „kranken“ Familiensystem gearbeitet wird.
Auch der Druck der Öffentlichkeit z. B. von Schulen, die eine hohe Erwartungshaltung der
Jugendwohlfahrt gegenüber haben, kann mit eigenen Vorstellungen und Möglichkeiten in
Konflikt geraten und ein Dilemma darstellen. Ergänzend dazu wurde als zusätzliche
Schwierigkeit genannt, dass SozialarbeiterInnen nur als „Handlanger“ im Prozess der
Entscheidungsfindung fungieren können und wenig ernst genommen werden. Viel mehr
Einfluss kommt laut zusätzlichen Angaben eines Sozialarbeiters/einer Sozialarbeiterin den
GutachterInnen zu. Darüber hinaus wurde auch das Dilemma genannt zwischen dem
Eigeninteresse der Eltern und den Bedürfnissen der Kinder abwägen zu müssen. Zweimal
gaben SozialarbeiterInnen die Einschränkung durch finanzielle Ressourcen als weiteren
Konfliktpunkt bei der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung an.
Seite 63
Untersuchungsergebnisse
Abbildung 14: Gesellschaftliche und individuelle Werte in der Entscheidungsfindung
3
10
N=43
30
Gesellschaft/Gruppe
Individuum
keine Angabe
In jenen Fällen, in denen gesellschaftliche Werte oder die Werte einer Gruppe mit denen
eines Individuums konkurrieren, sehen sich die SozialarbeiterInnen mit deutlicher Mehrheit
eher dem Individuum verpflichtet.
30 SozialarbeiterInnen entschieden sich für die Einzelperson und nur 3 für den Vorrang
der gesellschaftlichen bzw. Gruppenwerte. 10 SozialarbeiterInnen enthielten sich dieser
Frage. Die Enthaltung der 10 SozialarbeiterInnen könnte darauf hinweisen, dass diese
Frage schwer zu beantworten war. Möglicherweise besteht die Schwierigkeit darin, dass
Individuum und Gesellschaft in enger Wechselwirkung stehen und somit nur schwer
getrennt voneinander betrachtet werden können. Da daraus resultierend beide
Wertekategorien einen Einfluss auf die Entscheidung haben, bedarf es gründlicher
Überlegungen um diese Frage beantworten zu können.
Die starke Tendenz in Richtung individuelle Werte im Prozess der Entscheidungsfindung
kann dahingehend interpretiert werden, dass Soziale Arbeit als jene Profession definiert
wird, die sich für den sozialen Wandel und die Lösung von Problemen in menschlichen
Beziehungen sowie die Befähigung und Befreiung von Menschen einsetzt (vgl. Kap. 2.1.2
S. 9). Im Zentrum steht das Wohlergehen der marginalisierten Individuen, die häufig durch
gesellschaftliche Werte oder die Werte spezifischer einflussreicher Gruppen unterdrückt
und benachteiligt werden. Somit könnte es sein, dass die starke Orientierung an
individuellen Werten vom Berufsbild der Sozialen Arbeit stark geprägt ist.
Es sind bezüglich dieser Frage keine Unterschiede nach Geschlecht, Alter, Dienstjahren,
eigener Elternschaft oder Jugendwohlfahrtsreferat erkennbar.
Seite 64
Untersuchungsergebnisse
Abbildung 15: Spannungsfeld
Ideal- vs. Rationallösung
Abbildung 16: Häufigkeit der Ideal- oder
Rationallösung
1
4
48%
N=9
N=9
52 %
4
eher selten
eher oft
sehr oft
Wünschenswerte
Lösung
Rationallösung
Diese Abbildungen verdeutlichen, dass das Spannungsfeld und die Einschränkung durch
limitierte Ressourcen sich stark auf den Prozess der Entscheidungsfindung auswirken.
4 LeiterInnen gaben an, dass sie sich mit dem Spannungsfeld zwischen der
wünschenswerten, idealen Lösung und den limitierten möglichen Ressourcen bei der
Entscheidung über Fremdunterbringung in ihrem Jugendwohlfahrtsreferat sehr oft
konfrontiert sehen, 4 LeiterInnen eher oft und ein/eine LeiterIn eher selten.
Auf die zusätzliche Frage an die LeiterInnen, wie häufig eher Ideallösungen und wie häufig
eher Rationallösungen umgesetzt werden, gaben die LeiterInnen an, dass beides in etwas
gleich häufig vorkommt (siehe Abb.16). Somit ist mit durchschnittlichen 48 Prozent ca.
jede zweite Entscheidung durch limitierte Ressourcen beeinflusst.
Wünschenswerte Lösungen werden laut Angaben von einem/einer LeiterIn mit einer
Häufigkeit von über 90 Prozent, von 4 LeiterInnen mit einer Häufigkeit zwischen 60 und 80
Prozent, von 3 LeiterInnen mit zwischen 40 und 60 Prozent und von einem/einer LeiterIn
mit ca. 30 Prozent angegeben. Rationallösungen werden von 5 Leiterinnen mit einer
Häufigkeit zwischen 60 und 80 Prozent angegeben, von 2 LeiterInnen mit zwischen 40
und 60 Prozent und von weiteren 2 LeiterInnen mit zwischen 20 und 40 Prozent.
Ein/eine LeiterIn ergänzte, dass eine Fremdunterbringung streng genommen nie eine
Ideallösung darstellt, aber oft die einzige mögliche Lösung ist. Ideal wäre es, laut dieser
Anmerkung, die Ressourcen bei der Herkunftsfamilie zu stärken, sodass das Kind in der
vertrauten Umgebung bleiben kann.
Seite 65
Untersuchungsergebnisse
Abbildung 17: Verhältnis von ethischen Richtlinien und rechtlichen Grundlagen in der
Entscheidungsfindung
2
2
7
2
N=43
ergänzen sich
können nebeneinander
existieren
Recht höher als Ethik
Ethik höher als Recht
keine Angabe
30
Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Ethik und rechtlichen Grundlagen sehen die
SozialarbeiterInnen kaum Konflikte.
30 SozialarbeiterInnen geben an, dass ethische Richtlinien und Gesetze nebeneinander
existieren können und 7 SozialarbeiterInnen sind der Ansicht, dass sich diese ergänzen. 2
SozialarbeiterInnen meinen, dass rechtliche Grundlagen höher bewertet werden sollten als
Ethik, wogegen 2 andere SozialarbeiterInnen der konträren Ansicht sind, dass Ethik höher
bewertet werden sollte als gesetzliche Vorschriften. 2 SozialarbeiterInnen enthalten sich
hinsichtlich dieser Frage ihrer Stimme.
Diese Abbildung zeigt deutlich, dass die SozialarbeiterInnen das Spannungsfeld zwischen
Ethik und Recht als sehr gering einschätzen. Diese Einschätzung könnte darauf
zurückzuführen sein, dass im Tiroler Jugendwohlfahrtsgesetz einige Aspekte angeführt
werden, die mit ethischen Aspekten übereinstimmen. Es wird z. B. darauf hingewiesen,
dass das Kind ab dem Alter von zehn Jahren jedenfalls und unter zehn Jahren nach
Tunlichkeit zu hören ist, dass das gelindeste noch zum Ziel führende Mittel zu wählen ist,
dass die grundlegende Bedeutung der Familie für die Entfaltung des Minderjährigen zu
beachten ist und dass eine Maßnahme der Hilfe zur Erziehung dann zu ändern oder
aufzuheben ist, wenn es das Wohl des Minderjährigen erfordert bzw. wenn die Maßnahme
dem Wohl des Kindes nicht mehr förderlich ist.
Das „Wohl des Kindes“ kann sowohl unter ethischen als auch rechtlichen Aspekten
betrachtet werden.
Seite 66
Untersuchungsergebnisse
3 . 3. 4 E T H I S C H E T H E O R I E N U N D A U S R I C H T U N G E N I N D E R
E N T S C H E I D U N G S F I N D U N G Ü B E R E I N E F R E M D U N TE R B R I N G U N G
Das folgende Kapitel beschreibt die Bedeutung von ethischen Theorien und Ausrichtungen
im Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern und
Jugendlichen in den Referaten der Jugendwohlfahrt Tirol. Eine detaillierte Beschreibung
der Ausrichtungen und Theorien, die Grundlage der folgenden Auswertung waren, sind im
Kapitel 2.1.5 „ethische Theorien“ angeführt.
Abbildung 18: Grundhaltung in der Entscheidungsfindung
Paternalistische
Ausrichtung
11%
39%
23%
Verteidigende
Ausrichtung
N=43
Ausrichtung an der
sozialen
Gerechtigkeit
Religiöse
Ausrichtung
27%
Auf die Frage, in welchem Ausmaß die paternalistische, verteidigende, auf soziale
Gerechtigkeit bezogene und religiöse Ausrichtung in den Prozess der Entscheidungsfindung über Fremdunterbringung einfließen, wurde die paternalistische Ausrichtung am
höchsten gewertet. Die SozialarbeiterInnen gaben an, dass diese einen Einfluss von
durchschnittlich 39 Prozent in ihren Entscheidung haben.
Der verteidigenden Ausrichtung wurde mit einem durchschnittlichen Ausmaß von 27
Prozent und der Ausrichtung an der sozialen Gerechtigkeit mit durchschnittlichen 23
Prozent
ebenso
Bedeutung
beigemessen,
allerdings
deutlich
weniger
als
der
paternalistischen Ausrichtung. Mit einer durchschnittlichen Bewertung von 11 Prozent an
Einfluss auf die Entscheidungsfindung liegt die religiöse Ausrichtung eindeutig an letzter
Stelle.
Hinsichtlich Geschlecht, Alter und eigenen Kindern wurden keine Unterschiede in der
Bewertung dieser Ausrichtungen ersichtlich.
Ebenso gab es bezüglich der Dienstjahre kaum unterschiedliche Meinungen zu dieser
Frage. Auffällig ist aber, dass nur die unter einem Jahr in der Jugendwohlfahrt tätigen
Seite 67
Untersuchungsergebnisse
SozialarbeiterInnen die verteidigende Ausrichtung bzw. die Bedeutung von Schutzmaßnahmen für die eigene Berufsgruppe niedriger bewertete als der Durchschnitt. Dies könnte
damit zusammenhängen, dass die SozialarbeiterInnen, die unter einem Jahr in der
Jugendwohlfahrt beschäftigt sind, noch weniger Erfahrungen gemacht haben, in denen sie
die eingeleiteten Interventionen rechtfertigen mussten und auf Schutzmaßnahmen
angewiesen waren.
Bezugnehmend auf die verschiedenen Referate der Jugendwohlfahrt werden bei allen
sowohl die paternalistische Ausrichtung durchschnittlich am höchsten bewertet und die
religiöse Ausrichtung am niedrigsten. Beide anderen Ausrichtungen befinden sich im
Mittelfeld und werden von den verschiedenen Referaten unterschiedlich bewertet und
nicht einheitlich an zweiter oder dritter Stelle platziert.
Die hohe Bewertung der paternalistischen Ausrichtung könnte darauf zurückzuführen sein,
dass bei der Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung häufig gegen den
Willen, aber zum Wohl des Klienten/der Klientin gehandelt werden muss (siehe Kap. 2.1.5,
S. 24).
Ein/eine SozialarbeiterIn bemerkte zusätzlich, dass seiner/ihrer Ansicht nach die Gefahren
für den Beruf zu wenig beachtet werden.
Abbildung 19: Verhältnis von
Deontologie und Teleologie
6
Abbildung 20: Wunsch nach ethischen
Richtlinien für die Entscheidungsfindung
2
6
5
N=43
N=43
ethische Richtlinien
31
deontologisch
teleologisch
keine Angabe
36
keine ethischen
Richtlinien
keine Angabe
In der Abbildung 19 wird das Verhältnis zwischen der deontologischen und der
teleologischen Ausrichtung dargestellt. Dabei wird ersichtlich, dass die teleologische
Ausrichtung von nahezu drei Viertel der SozialarbeiterInnen als wichtiger als die
deontologische Ausrichtung erachtet wird.
Seite 68
Untersuchungsergebnisse
31 SozialarbeiterInnen tendieren eher zu einer teleologischen Ausrichtung. 6 SozialarbeiterInnen entschieden sich für die deontologische Ausrichtung. 6 SozialarbeiterInnen
machten keine Angaben zu dieser Frage.
Sowohl männliche als auch weibliche SozialarbeiterInnen geben zu einem deutlich
höheren Prozentsatz von durchschnittlich 70 Prozent bei den Männern und 90 Prozent bei
den Frauen die teleologische Ausrichtung höher als die deontologische an.
In Bezug auf das Alter und den eigenen Familienstand gibt es keine eindeutige Tendenz in
eine der beiden Richtungen.
Unterschiede werden aber je nach Dauer der Tätigkeit in der Jugendwohlfahrt ersichtlich.
Von den 6 deontologisch ausgerichteten SozialarbeiterInnen sind 4 länger als 10 Jahre in
der Jugendwohlfahrt tätig.
Vier Referate der Jugendwohlfahrt entschieden sich zu 100 Prozent für eine teleologische
Ausrichtung, drei mit einer Höhe von zwischen 60 und 80 Prozent. In zwei Referaten der
Jugendwohlfahrt gaben die SozialarbeiterInnen an, dass das Verhältnis zwischen
teleologischer und deontologischer Ausrichtung 50 zu 50 sei.
Ein/eine SozialarbeiterIn entschied sich für keine der beiden Ausrichtungen.
Ein
weiterer
Sozialarbeiter/eine
weitere
Sozialarbeiterin
entschied
sich
für
die
deontologische Ausrichtung, aber mit der Zusatzbemerkung, dass Konsequenzen
trotzdem möglich sind.
Auf die Frage, ob ein Wertegrundgerüst bzw. ethische Richtlinien als Orientierungshilfe für
die Entscheidung über Fremdunterbringung als hilfreich oder hinderlich erachtet werden
(siehe Abb. 20), gaben 36 SozialarbeiterInnen an, dass ethische Richtlinien als
Orientierungshilfe förderlich sind (siehe Kap. 2.1.5, S. 24). Im Gesamtbild wird somit ein
deutlicher Wunsch nach ethischen Orientierungshilfen erkennbar.
5 SozialarbeiterInnen teilen diese Meinung nicht und entschieden sich für die moralfreie
bzw. situationsbedingte Ausrichtung, da sie glauben, dass für Entscheidungen über
Fremdunterbringung keinerlei ethische Richtlinien und Standards brauchbar sind.
2 SozialarbeiterInnen machten keine Angaben.
Es gibt bei diesen Angaben keine geschlechtsspezifischen und altersbezogenen
Unterschiede. Bezogen auf das Alter wird ausschließlich ersichtlich, dass alle über 50jährigen SozialarbeiterInnen geschlossen die Ansicht vertreten, dass ethische Richtlinien
in ihrer Arbeit hilfreich und sinnvoll wären.
Seite 69
Untersuchungsergebnisse
Auch bei der genauen Analyse des Einflusses bezogen auf Dienstjahre und eigener
Familie ergab sich ein einheitliches Bild. Die Mehrheit in allen Gruppen bewertete ethische
Richtlinien als hilfreich für die Arbeit in der Jugendwohlfahrt.
6 Referate sprachen sich zu 100 Prozent für ethische Richtlinien aus. Mit einer Mehrheit
von durchschnittlich 60 bis 80 Prozent entschieden sich die SozialarbeiterInnen von zwei
Referaten ebenso eher für die objektiv-sachliche Ausrichtung und erachten demzufolge
ethische Richtlinien als eher hilfreich. Die SozialarbeiterInnen eines Referates zeigten mit
50 Prozent an Stimmen für eine moralfreie, situationsbedingte Ausrichtung und 50 Prozent
für die objektiv-sachliche Ausrichtung keine eindeutige Neigung in eine Richtung auf.
Seite 70
Untersuchungsergebnisse
3 . 3. 5 A N W E N D U N G E TH I S C H E R R I C H T L I N I E N B E I D E R E N T S C H E I D U N G S F I N D U N G
ÜBER EINE
FREMDUNTERBRINGUNG
In diesem Kapitel wird der Einfluss ethischer Richtlinien und Standards im Prozess der
Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen
beschrieben. Theoretische Aspekte zu ethischen Richtlinien sowie deren Bedeutung für
die Soziale Arbeit sind im Kapitel 2.1.6 „Code of Ethics“ angeführt.
Abbildung 21: Anwendung ethischer
Richtlinien
Abbildung 22: Bekanntheit ethischer
Richtlinien
1
4
N=9
N=9
5
8
kein ethischer
Leitfaden
ethischer
Leitfaden
unbekannt
bekannt
Bezüglich ethischer Richtlinien als Orientierungshilfe bei der Entscheidung über
Fremdunterbringungen gaben 8 LeiterInnen an, dass in ihrem Jugendwohlfahrtsreferat
kein Leitfaden zur ethischen Entscheidungsfindung vorhanden ist. Ein/eine LeiterIn gibt
an, dass in seinem/ihrem Referat ein Leitfaden zur ethischen Entscheidungsfindung
existiert (siehe Abb. 21).
Die Frage an die LeiterInnen, ob sie bereits von solchen Leitfäden oder Modellen zur
ethischen Entscheidungsfindung gehört haben, beantworten 4 LeiterInnen positiv. 5
LeiterInnen geben an, noch nie davon gehört zu haben (siehe Abb. 22).
Auch von 53 Prozent der SozialarbeiterInnen, also ca. der Hälfte, wird angegeben, dass
ihnen keine Codes of Ethics bzw. ethische Richtlinien bekannt sind.
Ein/eine LeiterIn ergänzt, dass er/sie zwar davon gehört habe, aber nur sehr wenig
darüber wisse. Er/sie fügt hinzu, dass Aspekte zur ethischen Entscheidungsfindung
integrierter Bestandteil des Produktplans der Jugendwohlfahrt sind. Im Produktplan
werden vielerlei Angaben zu Qualitätsstandards mit genau festgelegten Indikatoren
gemacht. Ethische Orientierungshilfen, Standards und Modelle, wie sie im Theorieteil
Seite 71
Untersuchungsergebnisse
dieser Diplomarbeit beschrieben wurden, werden jedoch im Produktplan nicht angegeben.
Diese Aussage könnte somit dahingehend interpretiert werden, dass mit dem Begriff Ethik
Unterschiedliches verbunden wird und unter den LeiterInnen und SozialarbeiterInnen
keine einheitlichen Definition von Ethik, wie sie in dieser Diplomarbeit in Kapitel 2.1.2
(siehe S. 5f.) angegeben wurde, vorhanden ist.
Tabelle 3: Anwendung ethischer Richtlinien bei der Entscheidungsfindung
Anwendung ethischer Richtlinien bei der
Entscheidungsfindung
SozialarbeiterInnen
∅ 26%
LeiterInnen
∅ 36%
Sowohl die LeiterInnen als auch die SozialarbeiterInnen geben an, dass ethische
Richtlinien eher wenig bis gar keine Anwendung im Prozess der Entscheidungsfindung
über die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen finden. Die LeiterInnen
schätzen den Gebrauch ethischer Richtlinien mit einer durchschnittlichen Höhe von 36
Prozent, die SozialarbeiterInnen mit nur 26 Prozent ein.
Obwohl an Hand der 36-prozentigen Anwendung ersichtlich wird, dass ethische Richtlinien
bei Entscheidungen über die Fremdunterbringung durchschnittlich wenig Verwendung
finden, geben 2 LeiterInnen an, ethische Richtlinien zu 90 oder 100 Prozent in Anspruch
zu nehmen. Ein weiterer Leiter/eine weitere Leiterin schätzen die Anwendung ethischer
Richtlinien auf 60 Prozent und alle anderen unter 20 Prozent. Dies lässt den Rückschluss
zu, dass in den Jugendwohlfahrtsreferaten in den Prozess der Entscheidungsfindung
ethische Richtlinien unterschiedlich stark einfließen.
Bei den SozialarbeiterInnen lassen sich auch hinsichtlich des Geschlechts bei der
Häufigkeit der Anwendung ethischer Richtlinien Unterschiede erkennen. Männliche
Sozialarbeiter geben an bei ihren Entscheidungen bis zu durchschnittlich 50 Prozent von
ethischen Richtlinien Gebrauch zu machen, wogegen Frauen angeben, mit einem Ausmaß
von durchschnittlich 20 Prozent nur selten darauf zurückzugreifen.
Bezüglich des Alters sind kaum Unterschiede erkennbar. Alle Altersgruppen, außer die
SozialarbeiterInnen über 50 Jahren, schätzen die Nutzung ethischer Richtlinien mit unter
50 Prozent ein. Jene, die älter als 50 Jahre sind, geben einen Gebrauch von bis zu 60
Prozent an.
Seite 72
Untersuchungsergebnisse
Hinsichtlich der Dienstjahre geben alle SozialarbeiterInnen die Anwendung mit unter 30
Prozent an, außer jenen, die kürzer als ein Jahr im Referat der Jugendwohlfahrt tätig sind.
Diese geben an, dass ethische Richtlinien mit durchschnittlich 65 Prozent im Prozess ihrer
Entscheidungsfindung über Fremdunterbringung Anwendung finden. Eine mögliche
Interpretation hierzu ist, dass die SozialarbeiterInnen, die kürzer als ein Jahr in der
Jugendwohlfahrt sind, aktiv nach Orientierungshilfen für ihre Entscheidungen suchen um
mehr Sicherheit im Entscheidungsprozess zu erlangen und somit auch auf ethische
Richtlinien stoßen. SozialarbeiterInnen, die bereits länger in der Jugendwohlfahrt tätig sind
und bereits viel Erfahrung in der Entscheidungsfindung haben, greifen möglicherweise
mehr auf ihnen bereits bekannte Leitlinien zurück und versuchen weniger neue ethische
Richtlinien anzuwenden.
Bezugnehmend darauf, ob SozialarbeiterInnen eigene Kinder haben oder nicht, gibt es
keine Unterschiede in der Inanspruchnahme ethischer Richtlinien.
Die SozialarbeiterInnen aus zwei Referaten geben an, dass durchschnittlich ethische
Richtlinien zu ca. 50 Prozent in Anspruch genommen werden. Alle anderen Referate
schätzen die Inanspruchnahme ethischer Richtlinien mit unter 30 Prozent ein.
Ergänzend wurde 7-mal erwähnt, dass sich SozialarbeiterInnen mehr Fortbildungsmöglichkeiten im Bereich Ethik oder Entscheidungsfindung wünschen würden, 3-mal, dass
Modelle der ethischen Entscheidungsfindung und 2-mal, dass ethische Richtlinien und
Standards sowie Komitees zur ethischen Entscheidungsfindung mehr Beachtung im
Prozess der Entscheidungsfindung finden sollten. Diese zusätzlichen Anmerkungen
verdeutlichen den Wunsch der SozialarbeiterInnen nach ethischen Orientierungshilfen.
Auf die Frage an die SozialarbeiterInnen und LeiterInnen, welche ethischen Standards
ihnen bekannt sind und Anwendung in ihren Entscheidungen finden, werden die
Kinderrechte, die Menschenrechte, die Leitlinien des Kindeswohls, das Kindschaftsrechtsänderungsgesetz, das Jugendwohlfahrtsgesetz, die Grundwerte der Sozialarbeit
und des humanistischen Menschenbildes, ethische Standards des OBDS sowie die
Qualitätsstandards der Jugendwohlfahrt genannt. Allerdings können nicht alle dieser
Angaben als ethische Richtlinien bezeichnet werden, da einige dieser Standards und
Gesetze andere Schwerpunkte als die Ethik haben, wie z. B. die Leitlinien des
Kindeswohls.
Seite 73
Untersuchungsergebnisse
3 . 3. 6 P R O Z E S S D E R E N TS C H E I D U N G S F I N D U N G Ü B E R E I N E
F R E M D U N T E R B R I N G U N G I N D E R P R AX I S
Im Folgenden werden Aspekte beschrieben, die in den Prozess der Entscheidungsfindung
über die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen in den neun Referaten der
Jugendwohlfahrt in Tirol einfließen. Einige der folgenden Auswertungen beziehen sich
sowohl auf die Angaben der LeiterInnen als auch auf die der SozialarbeiterInnen. Diese
Ergebnisse werden im Weiteren einander gegenübergestellt. Manche Fragen wurden
ausschließlich an eine der beiden Gruppen gerichtet. Detailliertere Ausführungen zum
Prozess der Entscheidungsfindung können im Kapitel 2.3. „Entscheidungsfindung über
eine Fremdunterbringung“ nachgelesen werden.
Abbildung 23: Besprechungen bei der Entscheidungsfindung
N=9
1
Helferkonferenzen
8
Einzelbesprechungen zwischen einem/einer
SozialarbeiterIn und dem/der LeiterIn
9
5
Team-Meetings
3
6
Supervision
Fallbesprechungen mit allen bzw. dem Großteil
der SozialarbeiterInnen
3
0%
20%
1
2
2
40%
1
60%
1x pro Woche
14-tägig
alle 3-4 Wochen
seltener
je nach Anlassfall
1
3
80%
100%
In dieser Abbildung wird deutlich, dass die genannten Besprechungen und Meetings im
Prozess der Entscheidungsfindung unterschiedlich häufig stattfinden.
Fallbesprechungen finden in 3 Referaten wöchentlich, in 2 Referaten 14-tägig, in einem
Referat seltener und in drei Referaten je nach Anlassfall statt. Die Möglichkeit zur
Supervision gibt es in 6 Referaten alle 3 bis 4 Wochen, in zwei Referaten seltener und in
einem Referat, wenn ein konkreter Anlass dazu gegeben ist. Team-Meetings sind in 5
Jugendwohlfahrtsreferaten im Wochenablauf fixiert, in 3 Referaten finden sie 14-tägig statt
und in einem alle 3 bis 4 Wochen. Bei den Einzelbesprechungen zwischen einem/einer
SozialarbeiterIn und dem/der LeiterIn geben alle ReferatsleiterInnen der Jugendwohlfahrt
in Tirol an, dass diese dann stattfinden, wenn der Anlass dazu gegeben ist. Ebenso
Seite 74
Untersuchungsergebnisse
werden auch in 8 Referaten HelferInnenkonferenzen bei Bedarf organisiert. In einem
Referat finden diese alle 3 bis 4 Wochen statt.
Zusätzlich gab ein/eine LeiterIn an, dass Fallbesprechungen mindestens einmal pro
Woche stattfinden, manchmal auch öfter. Ein weiterer Leiter/eine weitere Leiterin gab an,
dass es wöchentliche Dienstbesprechungen gibt. Alle 3 bis 4 Wochen kommt es laut
Angaben zweier weiterer LeiterInnen zu Referatsversammlungen oder einem Jour-fix bzw.
einer größeren Dienstbesprechung. Je nach Anlassfall werden in zwei Referaten
Sitzungen zu verschiedenen Vernetzungsthemen oder zusätzliche Team-Meetings
einberufen, so die Angaben zweier LeiterInnen.
Abbildung 24: Wichtige Schritte im Prozess der Entscheidungsfindung
Abklärung der unbedingten Notwendigkeit der Fremdunterbringung
97
Risikoeinschätzung
93
Suche und Auswahl der stationären Hilfe zur Erziehung
91
Problemklärung/Anamnese
90
Art der Fremdunterbringung
90
Helferkonferenz/Teambesprechung
Nachsorge, Beratung und Begleitung der Herkunftsfamilie
Hilfevereinbarung/Hilfeplan
Abschied und Aufnahme
86
78
77
76
Allen angeführten Schritten wird mit über 75 Prozent viel Bedeutung beigemessen.
Die neun LeiterInnen der Tiroler Jugendwohlfahrt geben an, dass die „Abklärung der
unbedingten Notwendigkeit der Fremdunterbringung“ mit einem durchschnittlichen
Stellenwert von 97 Prozent der wichtigste der genannten Schritte im Prozess der
Entscheidungsfindung ist. Die „Risikoeinschätzung“ wird mit einem durchschnittlichen
Stellenwert von 93 Prozent an zweiter Stelle und die „Suche und Auswahl der stationären
Hilfe zur Erziehung“ an dritter Stelle genannt. Am wenigsten Bedeutung wurde der
„Nachsorge“, der „Hilfevereinbarung bzw. dem Hilfeplan“ und dem Schritt „Abschied und
Aufnahme“ beigemessen. Eine mögliche Interpretation diesbezüglich ist, dass diese
Schritte im Prozess der Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung als weniger
Seite 75
Untersuchungsergebnisse
wichtig erachtet werden, da sie sich nicht unmittelbar auf die Sicherung des Kindeswohls
auswirken.
Von den LeiterInnen wurde ergänzt, dass neben den genannten Schritten im Prozess der
Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung auch eine Fallbesprechung mit
dem/der LeiterIn stattfinden muss. Vor der Fremdunterbringung sollte die Familie nach
Meinung eines Leiters/einer Leiterin unbedingt davor ambulant betreut worden sein.
Weiters wird hinzugefügt, dass die Familie „dort abgeholt werden soll, wo sie steht“, und
dass
die
Zuständigkeit
Fremdunterbringung
der
eines
SozialarbeiterInnen
Kindes/Jugendlichen
der
Jugendwohlfahrt
weiterhin
gegeben
nach
bleibt.
der
Eine
fortlaufende Betreuung sei laut Angaben eines Leiters/einer Leiterin sehr wichtig.
Abbildung 25: Personenspezifische Unterschiede in der Entscheidungsfindung
1
1
1
N=9
6
gar keine
kaum
eher schon
sehr viele
Mehr als drei Viertel der LeiterInnen geben an, dass die Einstellung des jeweiligen
Sozialarbeiters/der jeweiligen Sozialarbeiterin einen Einfluss auf die Entscheidung für oder
gegen eine Fremdunterbringung hat. 6 LeiterInnen glauben, dass es „eher viele“
personenspezifische Unterschiede im Prozess der Entscheidungsfindung über die
Fremdunterbringung gibt und ein/eine LeiterIn glaubt, dass es „sehr viele“ Unterschiede
gibt. Ein/eine LeiterIn nimmt an, dass kaum personenspezifische Unterschiede
vorherrschen und einer/eine, dass gar keine personenspezifische Unterschiede in der
Entscheidungsfindung vorhanden sind.
Seite 76
Untersuchungsergebnisse
Tabelle 4: Grundeinstellung der SozialarbeiterInnen in der Entscheidungsfindung
Grundeinstellung der SozialarbeiterInnen in der
Entscheidungsfindung
Ehestmöglich aus instabiler
Situation befreien
∅ 55%
Längstmöglich zu Hause belassen
∅ 67%
Die Mehrheit der SozialarbeiterInnen bewerteten die Aussage „ein Kind soll, so lange es
geht, zu Hause bleiben“ höher als die Aussage „um ein Kind vor Schaden zu bewahren,
sollte man ehestmöglich reagieren und es aus der instabilen Situation befreien“.
Die Durchschnittshöhe der Zustimmung lag bei der Aussage, das Kind längstmöglich zu
Hause zu belassen bei 67 Prozent, bei der Aussage, das Kind ehestmöglich aus der
instabilen Situation zu befreien, bei 55 Prozent. Beide Bewertungen befinden sich
demnach eher im Mittelfeld der Bewertungsskala und stellen keine Extrempositionen der
Sozialarbeiterinnen dar. Dieses Ergebnis macht aber deutlich, dass die SozialarbeiterInnen keine einheitliche Grundeinstellung haben und somit starke personenspezifische
Unterschiede in der Entscheidungsfindung je nach Einstellung der SozialarbeiterInnen
vorhanden sein können.
Hinsichtlich des Geschlechts, des Alters, der Dienstjahre und des eigenen Familienstands
der SozialarbeiterInnen gab es keine Unterschiede in der Bewertung der Aussagen.
In 8 Referaten der Jugendwohlfahrt Tirol gab es eine leichte Tendenz, die Aussage, dass
ein Kind so lange es geht eher zu Hause untergebracht bleiben sollte, höher zu bewerten.
In einem dieser 8 Referate gab es sogar eine starke Tendenz in diese Richtung. Nur in
einem Jugendwohlfahrtsreferat wurde die Option, das Kind ehestmöglich aus der
instabilen Situation zu befreien, bevorzugt.
Die SozialarbeiterInnen ergänzten zu den beiden genannten Aussagen, dass diese
Entscheidung sehr stark vom Einzelfall, wie auch vom Alter des Kindes abhängig sei.
Fremdunterbringung ist laut Angaben zweier SozialarbeiterInnen dann notwendig, wenn
die ambulante Hilfe nicht ausreicht und Gefahr für Leib und Leben des Kindes/Jugendlichen besteht. Zwei weitere SozialarbeiterInnen geben an, dass es nicht darum gehe, das
Kind ehestmöglich aus der Familie zu entfernen, sondern vielmehr darum, ehestmöglich
Hilfsangebote für das Kind und die Familie durch ambulanter Betreuung anzubieten um
das Kind vor Schaden zu bewahren. Ein/eine SozialarbeiterIn gibt ergänzend dazu an,
Seite 77
Untersuchungsergebnisse
dass vor einer Fremdunterbringung alle anderen Hilfsangebote ausgeschöpft sein
müssen.
Kinder müssen mit Würde und Respekt behandelt werden und wirksamen Schutz vor
Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung und allen Formen von Ausbeutung
erhalten, fügt ein weiterer Sozialarbeiter/eine weitere SozialarbeiterIn hinzu.
Abbildung 26: Berücksichtigung spezifischer Interessen in der Entscheidungsfindung
Kind
74
Mutter
70
Vater
65
Schule
28
andere Verwandte
27
Kindergarten
26
25
Gesellschaft
15
Nachbarn
Die SozialarbeiterInnen geben an, dass die Interessen des Kindes am meisten Einfluss im
Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung haben, gefolgt von den
Interessen der Mutter und denen des Vaters. Die Interessen der Nachbarn spielen die
geringste Rolle und werden von allen SozialarbeiterInnen an letzter Stelle genannt.
Bezugnehmend
auf
Unterschiede
je
nach
Alter
wurde
deutlich,
dass
die
SozialarbeiterInnen im Alter zwischen 41 und 50 den Einfluss der Gruppen nicht nach der
oben gezeigten Rangordnung bewerteten, sondern die Mutter an erster, den Vater an
zweiter und das Kind an dritter Stelle sahen. Die SozialarbeiterInnen über 50 Jahren
geben ebenso eine vom Durchschnitt abweichende Reihenfolge an, indem sie die Mutter,
gefolgt von Kind und anschließend Vater an die ersten drei Plätze reihen.
Auch im Hinblick auf die Dienstjahre weichen die Aussagen der SozialarbeiterInnen, die
zwischen 1 bis 3 Jahre in der Jugendwohlfahrt tätig sind, vom Durchschnitt ab. Diese
SozialarbeiterInnen beachten die Interessen der Mutter vor denen des Vaters und denen
des Kindes. Jene, die zwischen 3 und 5 Jahren in der Jugendwohlfahrt arbeiten, erachten
ebenso die Interessen der Mutter durchschnittlich als am wichtigsten, gefolgt von denen
des Kindes und an dritter Stelle denen des Vaters. Im Gegensatz dazu messen die
Seite 78
Untersuchungsergebnisse
SozialarbeiterInnen, die bereits länger als 5 Jahre in der Jugendwohlfahrt tätig sind, den
Interessen des Kindes am meisten Bedeutung bei, gefolgt von den Interessen der Mutter
und denen des Vaters.
SozialarbeiterInnen, die selbst Kinder haben und die selbst keine Kinder haben,
unterscheiden
sich
hinsichtlich
der
durchschnittlichen Reihung
der
ersten
drei
Einflussgruppen nicht. Allerdings werden bei den SozialarbeiterInnen, die selbst Kinder
haben, die Verwandten bereits an vierter Stelle genannt, wogegen kinderlose
SozialarbeiterInnen diese erst als vorletzte nennen. Dies könnte damit zusammenhängen,
dass SozialarbeiterInnen, die selbst Kinder haben, dem Verwandtenkreis auf Grund
eigener Erfahrungen in ihrer Großfamilie mehr Bedeutung beimessen.
Männliche Sozialarbeiter nehmen durchschnittlich eine andere Reihung vor als
Sozialarbeiterinnen und schätzen den Einfluss der Mutter am höchsten ein, gefolgt von
dem des Vaters und an dritter Stelle dem des Kindes. Die Gesellschaft wird bei den
Männern überdurchschnittlich stark beachtet und steht bereits an vierter Stelle. Die
Sozialarbeiterinnen
weichen
im
Gegensatz
zu
Sozialarbeitern
vom
genannten
Durchschnitt nicht ab. Diese starken Unterschiede hinsichtlich des Geschlechts stechen
zwar heraus, lassen aber meiner Ansicht nach keine Verallgemeinerungen zu, da nur 4
von männlichen Sozialarbeitern ausgefüllte Fragebögen vorlagen.
Hinsichtlich der Referate der Jugendwohlfahrt lässt sich erkennen, dass bei 5 Referaten
dem Kind und bei 4 der Mutter am meisten Einfluss auf den Prozess der
Entscheidungsfindung beigemessen wird. Bei allen 9 Referaten sind aber die drei
Einflussgrößen Mutter, Vater und Kind immer die drei höchsten Nennungen, obgleich in
unterschiedlicher Reihenfolge. Die Interessen der Schule, des Kindergartens, der
Nachbarn, der Verwandten und der Gesellschaft werden in den Jugendwohlfahrtsreferaten
in unterschiedlich hohem Ausmaß berücksichtigt.
Als weitere Einflussgrößen werden die Politik, psychologische Gutachten, sowie ÄrztInnen
und PsychologInnen genannt.
Zusätzlich wurde von SozialarbeiterInnen ergänzt, dass der Einfluss des Kindes
altersabhängig ist. Auch der Einfluss der Mutter und des Vaters wird durch die
Obsorgeberechtigung eines Elternteiles maßgeblich beeinflusst. Beim Vater hängt der
Einfluss seiner Interessen auch sehr stark davon ab, ob er in der Familie lebt, regelmäßig
Kontakt zum Kind hat oder keines der beiden gegeben ist.
Seite 79
Untersuchungsergebnisse
Abbildung 27: Einfluss der SozialarbeiterInnen und der betroffenen Partei in der
Entscheidungsfindung
57
SozialarbeiterInnen
76
Einfluss Partei
Einfluss SozialarbeiterIn
96
LeiterInnen
92
Diese Graphik zeigt, dass die SozialarbeiterInnen und LeiterInnen den Einfluss der
SozialarbeiterIn und der betroffenen Partei im Prozess der Entscheidungsfindung
unterschiedlich einschätzen.
Die LeiterInnen schätzen den Einfluss der zuständigen SozialarbeiterInnen mit
durchschnittlich 92 Prozent ein, den der betroffenen Partei mit 96 Prozent. Sowohl der/die
SozialarbeiterIn als auch die betroffene Partei haben nach Ansicht der LeiterInnen einen
sehr hohen und nahezu gleichwertigen Einfluss.
Die SozialarbeiterInnen glauben, dass sie mehr Einfluss im Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung haben als die betroffene Partei. Sie geben das
Verhältnis mit 76 Prozent an eigenem Einfluss zu 57 Prozent an Einfluss der betroffenen
Partei an.
Geschlechtsspezifische Unterschiede sind keine erkennbar. In der Altersgruppe der 25bis 30-jährigen SozialarbeiterInnen und bei den SozialarbeiterInnen, die keine Kinder
haben, sowie den LeiterInnen, die über 10 Jahre in der Jugendwohlfahrt tätig sind, lässt
sich allerdings eine deutliche Spanne zwischen dem Einfluss von ca. 80 bis 90 Prozent
der SozialarbeiterInnen und dem Einfluss von ca. 50 Prozent der betroffenen Partei
erkennen.
Den niedrigsten Einfluss der betroffenen Partei vermuten die SozialarbeiterInnen, die erst
bis zu einem Jahr in der Jugendwohlfahrt tätig sind.
Nach Angaben der SozialarbeiterInnen ist in allen Jugendwohlfahrtsreferaten ein stärkerer
Einfluss der SozialarbeiterInnen erkennbar, wobei auch der betroffenen Partei in 7
Referaten ein Einfluss von ca. 60 bis 70 Prozent beigemessen wird.
Auch
die
LeiterInnen
von
6
Jugendwohlfahrtsreferaten
messen
sowohl
den
SozialarbeiterInnen als auch der betroffenen Partei einen fast gleich hohen Stellenwert
bei. Nur bei drei Jugendwohlfahrtsreferaten klafft der Einfluss bis zu 60 Prozent
auseinander. Dabei wird bei allen ein höherer Einfluss der SozialarbeiterInnen deutlich.
Seite 80
Untersuchungsergebnisse
Ein/eine LeiterIn ergänzt, dass der Einfluss immer von der Situation abhängt. Bei Gefahr in
Verzug muss auch gegen den Willen der Eltern eine Fremdunterbringung durchgeführt
werden. Dabei wird zwar versucht mit den betroffenen KlientInnen eine geeignete Lösung
zu erarbeitet, aber es kann nicht immer auf alle Bedürfnisse Rücksicht genommen werden,
da manchen KlientInnen die Einsicht fehlt und auch die Unterbringungsmöglichkeiten
begrenzt sind.
Weitere Einflussfaktoren im Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung sind laut Angaben der SozialarbeiterInnen die Gerichte, die ambulanten
BetreuerInnen, die Fachabteilung, die LehrerInnen, die freien Jugendwohlfahrtsträger,
ÄrztInnen, PsychologInnen, die Erziehungsberechtigten, die GutachterInnen und die
Kinder und Jugendlichen selbst. Auch die Besprechungen im Jugendwohlfahrtsteam sowie
die Kosten und die freien Plätze in geeigneten Einrichtungen beeinflussen den
Entscheidungsprozess maßgeblich.
Die LeiterInnen geben an, dass das Platzangebot, das Gericht, die Abteilung
Jugendwohlfahrt, der Bezirkshauptmann und die Möglichkeit der „Auslandsunterbringung“
also der nicht ortsfesten Formen der Pädagogik, wie sie im Gesetz beschrieben wird
(siehe Kap. 2.2.1, S. 32), in die Entscheidung einwirken.
Abbildung 28: Verantwortung in der Entscheidungsfindung
84
SozialarbeiterInnen
80
Verantwortung der LeiterIn
Verantwortung der SozialarbeiterIn
80
LeiterInnen
87
Ebenso wie in Abbildung 27 wird hier ersichtlich, dass die LeiterInnen und
SozialarbeiterInnen eine unterschiedliche Vorstellung der Verantwortung im Prozess der
Entscheidungsfindung haben. Die LeiterInnen sehen die Verantwortung mehr bei den
SozialarbeiterInnen, wogegen die SozialarbeiterInnen die Verantwortung mehr den
LeiterInnen zuschreiben.
Nach
Angaben
der
SozialarbeiterInnen
kommt
ihnen
selbst
im
Prozess
der
Entscheidungsfindung 80 Prozent an Verantwortung zu, den LeiterInnen 84 Prozent. Die
LeiterInnen
sehen
hingegen
mit
87
Prozent
mehr
Verantwortung
bei
den
SozialarbeiterInnen. Sich selbst messen sie 80 Prozent der Verantwortung bei.
Seite 81
Untersuchungsergebnisse
Im Gegensatz zu den weiblichen SozialarbeiterInnen bewerteten männliche Sozialarbeiter
die Verantwortung der SozialarbeiterInnen um etwas höher als die der LeiterInnen. Eine
Interpretation
hierzu
ist,
dass
männliche
Sozialarbeiter
mehr
Bereitschaft
zur
Verantwortungsübernahme zeigen als Frauen, was in diesem Fall möglicherweise auf den
unterschiedlichen Sozialisations- und Erziehungsprozess zurückzuführen sein könnte.
Von SozialarbeiterInnen zwischen 36 und 50 sowie SozialarbeiterInnen, die länger als 10
Jahre in der Jugendwohlfahrt tätig sind, wird im Unterschied zum Durchschnitt die
Verantwortung der SozialarbeiterInnen höher geschätzt als die der LeiterInnen.
Die SozialarbeiterInnen von 6 Jugendwohlfahrtsreferaten messen der Leitung mehr
Verantwortung zu im Kontrast zu 3 Referaten, in denen sie sich selbst mehr
Verantwortung beimessen. Dies könnte mit dem Führungsstil des jeweiligen Leiters/der
jeweiligen Leiterin zusammenhängen.
Der Großteil der LeiterInnen beurteilt die Verantwortung der SozialarbeiterInnen höher als
ihre eigene. 4 ReferatsleiterInnen glauben, dass SozialarbeiterInnen und LeiterInnen
genau gleich viel Verantwortung tragen, 4 meinen, dass mehr Verantwortung den
SozialarbeiterInnen zukommt und ein/eine LeiterIn meint, dass die Leitung mehr
Verantwortung hat.
Tabelle 5: Häufigkeit von Meinungsverschiedenheiten und Höhe der Zufriedenheit der
SozialarbeiterInnen in der Entscheidungsfindung
Häufigkeit von
Meinungsverschiedenheiten in
der Entscheidungsfindung
Höhe der Zufriedenheit mit dem
Ausmaß der
Eigenverantwortung in der
Entscheidungsfindung
SozialarbeiterInnen
∅ 26%
∅ 75%
LeiterInnen
∅ 30%
∅ 80%
Auf einer Skala von 0 bis 100 (sehr hohe Zufriedenheit) gaben die SozialarbeiterInnen
großteils an, sehr zufrieden mit ihrem Einfluss im Prozess der Entscheidungsfindung zu
sein. Nach Angaben der LeiterInnen und SozialarbeiterInnen kommt es in der Entscheidungsfindung kaum zu Meinungsverschiedenheiten.
In der Tabelle wird ersichtlich, dass sowohl die LeiterInnen mit 30 Prozent, als auch die
SozialarbeiterInnen mit 26 Prozent die Spannungen und Meinungsverschiedenheiten als
niedrig erachten.
Seite 82
Untersuchungsergebnisse
In Bezug auf das Geschlecht und den Familienstand gibt es keine Unterschiede in der
Häufigkeit der Meinungsverschiedenheiten.
SozialarbeiterInnen, die über 50 Jahre sind, und LeiterInnen, die über 10 Jahre in der
Jugendwohlfahrt tätig sind, sehen sich häufiger als durchschnittlich mit Meinungsverschiedenheiten konfrontiert.
In 8 Referaten der Jugendwohlfahrt liegen die Spannungen laut Angaben der
SozialarbeiterInnen als auch der LeiterInnen knapp unter dem Durchschnitt. Laut Angaben
der SozialarbeiterInnen in einem Jugendwohlfahrtsreferat gibt es aber bei der
Entscheidung
über Fremdunterbringung Meinungsverschiedenheiten bis zu einer
Häufigkeit von 50 Prozent und in einem anderen Referat laut Angaben eines Leiters/einer
Leiterin bis zu 90 Prozent.
Hinsichtlich der Zufriedenheit der SozialarbeiterInnen mit dem Ausmaß ihres Einflusses im
Prozess der Entscheidungsfindung deckt sich die Einschätzung der LeiterInnen nahezu
mit den Angaben der SozialarbeiterInnen.
Die LeiterInnen schätzen die Zufriedenheit der SozialarbeiterInnen auf durchschnittlich 80
Prozent. Die Selbsteinschätzung der eigenen Zufriedenheit der SozialarbeiterInnen liegt
bei durchschnittlichen 75 Prozent (100 % sehr zufrieden / 0% gar nicht zufrieden).
In Bezug auf das Alter, das Geschlecht, die Dienstjahre, den eigenen Familienstand und
das Jugendwohlfahrtsreferat gibt es keine starken Abweichungen von den angegebenen
Durchschnittswerten.
Seite 83
Untersuchungsergebnisse
Tabelle 6: Belastung auf Grund der Entscheidung über Fremdunterbringung
Belastung auf Grund der Entscheidung
über Fremdunterbringung
SozialarbeiterInnen
∅ 63%
LeiterInnen
∅ 44%
Die Belastung auf Grund der Entscheidung über eine Fremdunterbringung geben
SozialarbeiterInnen mit 63 Prozent auf einer Skala von 0 Prozent (gar nicht belastend) bis
100 Prozent (sehr belastend) an. Damit bewerten SozialarbeiterInnen die eigene
Belastung höher als die LeiterInnen.
Die SozialarbeiterInnen geben den Grad der Belastung mit durchschnittlich 63 Prozent an,
die LeiterInnen mit 44 Prozent.
Hinsichtlich der Belastung ist kein Unterschied bezüglich des Geschlechts, eigener
Familie, Dienstjahre und Jugendwohlfahrtsreferat bei den SozialarbeiterInnen erkennbar.
Altersspezifisch geben die Sozialarbeiter zwischen 36 und 40 Jahren an, dass sie
Entscheidungen über eine Fremdunterbringung mit 80 Prozent als sehr belastend
empfinden. Ebenso liegen Sozialarbeiterinnen über 50 Jahren und zwischen 30 und 35
Jahren diesbezüglich knapp über dem Durchschnittswert an Belastung.
LeiterInnen, die über 10 Jahre in der Jugendwohlfahrt tätig sind, geben mit durchschnittlich
54 Prozent eine höhere Belastung an als jene, die erst kürzer in der Jugendwohlfahrt
arbeiten. Eine mögliche Interpretation zu diesem Ergebnis ist, dass auf Grund der höheren
Anzahl der Dienstjahre und der damit einhergehenden vermehrten Fremdunterbringungserfahrungen die Belastung der LeiterInnen steigt.
5 ReferatsleiterInnen erachten die Entscheidung mit einer Bewertung unter 30 Prozent als
eher wenig belastend, 4 mit über 70 Prozent als sehr belastend.
Ein/eine LeiterIn sowie ein/eine SozialarbeiterIn ergänzen, dass der Belastungsgrad je
nach Fall unterschiedlich ist. Ein weiterer Leiter/eine weitere Leiterin gibt an, dass er/sie
auf Grund seiner/ihrer jahrelangen Erfahrung gelernt habe, dass Fremdunterbringung
auch eine Erleichterung für KlientInnen und das System sein können und mit diesem
Gedanken die Entscheidung weniger belastend ist.
Seite 84
Untersuchungsergebnisse
Zusätzlich fügt ein/eine SozialarbeiterIn hinzu, dass der Grad der Belastung davon
abhängt, ob die Fremdunterbringung mit Zustimmung der Betroffenen oder ohne deren
Zustimmung erfolgte.
Abbildung 29: Häufigkeit der Anwendung folgender Hilfsmittel in der Entscheidungsfindung
Fallkonferenzen/-besprechungen
81
84
88
Gespräch mit KollegInnen bzw. SozialarbeiterInnen
Rücksprache mit dem/der LeiterIn
0
51
52
Orientierung an anderen Fällen
Persönliche Aufzeichnungen
80
65
Checklisten
48
9
Mitgliedschaft im Berufsverband oder Interessensvertretung
53
19
77
74
Leitlinien zum Kindeswohl
32
Modelle/Leitfäden zur ethischen Entscheidungsfindung
25
Einzelsupervision
50
29
Fallsupervision
64
48
68
Gruppenreflexionen/Intravision
Helferkonferenz
73
70
Rechtslage, Gesetze
75
71
26
Fortbildungen im Bereich Ethik oder Entscheidugnsfindung
42
Gespräch mit Vertrauensperson zu Hause
7
Ethische Komitees zur Entscheidungsfindung
6
88
51
Bauchgefühl/Intuition
Ethische Richtlinien/Standards
96
90
48
23
10
26
36
SozialarbeiterInnen
LeiterInnen
Diese Graphik schlüsselt die einzelnen Hilfsmittel auf, die SozialarbeiterInnen und
LeiterInnen verwenden um sich im Prozess der Entscheidungsfindung sicher zu sein.
Deutlich wird, dass vor allem das „Gespräch mit KollegInnen bzw. SozialarbeiterInnen“,
die „Rücksprache mit dem/der LeiterIn“, „Fallkonferenzen/-besprechungen“, die „Gesetze“,
sowie „persönliche Aufzeichnungen“ und die „Leitlinien zum Kindeswohl“ zu einem hohen
Prozentsatz angewendet werden.
Laut Angaben verschiedener SozialarbeiterInnen sollen alle dieser Punkte außer der
„Orientierung an anderen Fällen“, das „Bauchgefühl“ und die „Gespräche mit
Seite 85
Untersuchungsergebnisse
Vertrauenspersonen zu Hause“ mehr beachtet werden. 7-mal wurde erwähnt, dass mehr
Möglichkeiten zu „Fortbildungen im Bereich Ethik oder Entscheidungsfindung“ vorhanden
sein sollten. Darüber hinaus wurde 6-mal von SozialarbeiterInnen erwähnt, dass
„Einzelsupervision“, „Fallsupervision“ und „Checklisten“ mehr angewendet werden sollten.
3- oder 4-mal wurde erwähnt, dass „Fallkonferenzen bzw. –besprechungen“ sowie die
„Leitlinien zum Kindeswohl“ und „Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung“ mehr
Beachtung im Prozess der Entscheidungsfindung finden sollten. Darüber hinaus wurden 2mal „der Wunsch nach vermehrter Anwendung von ethischen Richtlinien/Standards“ sowie
„ethische
Komitees
zur
Entscheidungsfindung“,
„Gruppenreflexionen“
und
die
„Rücksprache mit der Referatsleitung“ erwähnt.
Auch laut LeiterInnen sollten „Fallkonferenzen bzw. –besprechungen“, „Checklisten“,
„Modelle und Leitfäden zur ethischen Entscheidungsfindung“, „Einzelsupervision“ sowie
„Fortbildungen oder Trainings im Bereich Ethik oder Entscheidungsfindung“ mehr
angewendet werden bzw. zur Verfügung stehen. Dies verdeutlicht erneut den Wunsch
nach mehr ethischen Orientierungshilfen für den Prozess der Entscheidungsfindung über
eine Fremdunterbringung.
Auf die Frage, welche der angeführten Punkte den SozialarbeiterInnen und LeiterInnen
unbekannt sind, wurden von den insgesamt 43 SozialarbeiterInnen 8-mal die
„Mitgliedschaft im Berufsverband oder einer anderen Interessensvertretung“, 14-mal
„Fortbildungen im Bereich Ethik oder Entscheidungsfindung“, 22-mal „Modelle und
Leitlinien zur ethischen Entscheidungsfindung“, 23-mal „ethische Richtlinien und
Standards“ angegeben und 24-mal „ethische Komitees zur Entscheidungsfindung“. 15
SozialarbeiterInnen machten keine Angaben darüber, welche der angeführten Hilfsmittel
ihnen bekannt oder unbekannt sind.
Von
den
9
LeiterInnen
wurden
8-mal
„Modelle und
Leitfäden zur
ethischen
Entscheidungsfindung“ 5-mal „ethische Komitees zur Entscheidungsfindung“ 3-mal
„ethische Richtlinien und Standards“ und einmal die „persönlichen Aufzeichnungen“ als
ihnen unbekannt angegeben.
Neben den angeführten Orientierungshilfen im Prozess der Entscheidungsfindung über die
Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen gaben die SozialarbeiterInnen den
„Fallverlauf“, das „fachliche Wissen aus der Sozialen Arbeit, Psychologie und Psychotherapie“, „Erfahrungswerte aus anderen Fremdunterbringungen“, „entwicklungspsychologische Gutachten“, „ärztliche Diagnosen“, „Ressourcenklärung“, „wahrscheinliche
Seite 86
Untersuchungsergebnisse
Zukunftsprognosen“ (z. B. worst-case-Szenarien), „systemische Ansatzpunkte“, den
„natürlichen Hausverstand“, die „Kooperation der Eltern“, die „ambulante Betreuung“,
„Fortschritte im Familiensystem“, „Literatur“, „gründliches Grübeln“, das „Gespräch mit
betroffenen
Familien
selbst“,
die
„Miteinbeziehung
von
Fachleuten
wie
z.B.
PsychologInnen von Kinderheimen“, „kindrelevantes und kindorientiertes Wissen“,
„Erfahrungswerte und Feedback ehemals betroffener KlientInnen“, „Hausbesuche“, das
„eigene Gefühl über das geringste Übel für das Kind“, „je nach Alter der Wunsch des
Kindes selbst“, „langjährige Arbeitserfahrung“ sowie „freie Kapazitäten der Einrichtungen“
an.
Die LeiterInnen erwähnen, dass sie zusätzlich den „systemischen Ansatz“, die
„Qualitätsstandards“, „Direktgespräche mit KlientInnen von Seiten der SozialarbeiterInnen“
und das „Wohl des Kindes“ sowie „Fachliteratur“ als Hilfsmittel verwenden um möglichst
sichere Entscheidungen über die Notwendigkeit einer Fremdunterbringung fällen zu
können.
Seite 87
Untersuchungsergebnisse
3 . 3. 7 A N W E N D U N G U N D B E W E R T U N G D E R M O D E L L E Z U R E T H I S C H E N
ENTSCHEIDUNGSFINDUNG
Dieses Kapitel befasst sich mit der Anwendung der Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung in den Tiroler Jugendwohlfahrtsreferaten und der Bewertung der Modelle durch die
JugendwohlfahrtsleiterInnen und StudentInnen des Fachhochschulstudiengangs Soziale
Arbeit. Die Modelle wurden bezüglich ihrer derzeitigen Anwendung und Eignung im
Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern und
Jugendlichen beurteilt (siehe Anhang S. 117). Die Beschreibung der Modelle findet sich
ausführlicher im Kapitel 2.4 „Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung“.
M O D E L L 1: L E I T F A D E N Z U R E T H I S C H E N E N T S C H E I D U N G S F I N D U N G ( R E A M E R )
Abbildung 30: Einfluss des Modells 1 im Prozess der Entscheidungsfindung
1)
1
2)
1
3)
1
4a)
1
4
4b)
1
4
4c)
1
4d)
1
5)
1
6)
1
3
5
7)
1
3
5
0%
2
5
1
6
1
2
3
4
4
1
3
7
1
5
1
20%
N=9
3
7
40%
60%
unwichtig
kaum wichtig
eher wichtig
sehr wichtig
80%
100%
Diese Graphik lässt erkennen, dass 5) die Beratung mit KollegInnen und ExpertInnen laut
LeiterInnen derzeit am meisten in die Entscheidungsfindung einfließt, gefolgt von 6) dem
Treffen der Entscheidung und der Dokumentation des Entscheidungsprozesses und 7) der
Seite 88
Untersuchungsergebnisse
Beobachtung, Evaluierung und Dokumentation des weiteren Verlaufs. Am unwichtigsten
wurde 4d) das Durchüberlegen eigener persönlicher Werte eingestuft.
Ein/eine LeiterIn gab zusätzlich an, dass seiner/ihrer Meinung nach das Identifizieren
ethischer Themenbereiche mehr einfließen sollte. Weiters gaben jeweils ein/eine LeiterIn
an, dass ethische Theorien, Prinzipien und Leitlinien sowie persönliche Werte mehr
Beachtung im Prozess der Entscheidungsfindung bedürfen. Außerdem wurde von einem
Leiter/einer Leiterin ergänzt, dass das Treffen der Entscheidung und die Dokumentation
über den Prozess mehr Bedeutung beigemessen werden muss. Zwei LeiterInnen meinen,
dass 7) die Beobachtung, Evaluierung und Dokumentation der Entscheidung und den
weiteren Verlauf mehr in die Entscheidungsfindung einfließen sollten. Ein/eine LeiterIn
ergänzte darüber hinaus, dass sie die angeführten Punkte teilweise als wichtig, teilweise
als ohnehin selbstverständlich erachtet.
Hinsichtlich der Brauchbarkeit und Eignung dieses Modells aus Sicht der 9 LeiterInnen
und 28 StudentInnen ergab sich folgendes Bild:
Abbildung 31: Einschätzung der Brauchbarkeit des Modells 1
81% - 100%
61% - 80%
41% - 60%
7
1
12
2
6
4
21% - 40%
3
LeiterInnen
0% - 20%
2
N=9
StudentInnen N=28
Die StudentInnen bewerteten dieses Modell hinsichtlich der Anwendbarkeit viel höher als
die LeiterInnen. Kein einziger Leiter bewertete das Modell mit über 80 Prozent, im
Gegensatz zu 7 StudentInnen.
2 LeiterInnen hielten das Modell für nicht geeignet und bewerteten es mit unter 20
Prozent.
Durchschnittlich bewerteten die StudentInnen das Modell mit einer Eignung von 71
Prozent, die LeiterInnen mit 40 Prozent.
Seite 89
Untersuchungsergebnisse
MODELL 2: VIERSTUFIGES MODELL DES ETHISCHEN ENTSCHEIDUNGSPROZESSES (GRUBER)
Abbildung 32: Einfluss des Modells 2 im Prozess der Entscheidungsfindung
1
1)
2
2
2
4
4
3
3
2)
6
4
5
1
3)
8
2
7
1
4
4
4
4)
1
0%
N=9
2
20%
unwichtig
kaum wichtig
eher wichtig
sehr wichtig
5
3
40%
3
60%
80%
100%
Die LeiterInnen messen in der derzeitigen Entscheidungsfindung dem ersten Aspekt in
Punkt 3), der Abstimmung der Entscheidung auf die Fähigkeiten, Interessen und
Bedürfnisse der KlientInnen am meisten Bedeutung bei. Am zweitmeisten fließt die
Überlegung des zweiten Aspekts in Punkt 3) ein, die die Frage aufwirft, ob das
gewünschte Ziel durch die angewendete Methode erreicht werden kann. Am drittwichtigsten erachten die LeiterInnen den ersten Aspekt von Punkt 2), die Eignung der
Mittel/Methoden zur Zielerreichung. Die geringste Beachtung findet derzeit der letzte
Aspekt, die Überlegungen hinsichtlich der unangenehmen Folgewirkungen. Zwei
LeiterInnen meinen diesbezüglich, dass Überlegungen dahingehend mehr in die
Entscheidung über Fremdunterbringung einfließen sollten.
Seite 90
Untersuchungsergebnisse
Abbildung 33: Einschätzung der Brauchbarkeit des Modells 2
3
3
81% - 100%
2
61% - 80%
41% - 60%
8
1
2
21% - 40%
0% - 20%
7
8
1
LeiterInnen
2
N=9
StudentInnen N=28
Sowohl von 3 LeiterInnen als auch von 3 StudentInnen wird dieses Modell hinsichtlich der
Anwendbarkeit zwischen 81 und 100 Prozent bewertet.
Die Einschätzung der LeiterInnen und StudentInnen bezüglich der Anwendbarkeit des
Modells ist sehr unterschiedlich und wird von „sehr geeignet“ bis „gar nicht geeignet“
angesehen.
Die LeiterInnen beurteilen dieses Modell mit durchschnittlich 63 Prozent und die
StudentInnen mit durchschnittlich 55 Prozent als geeignet für die Praxis. Unter den
vorgestellten Modellen erscheint den LeiterInnen dieses Modell als am hilfreichsten.
Seite 91
Untersuchungsergebnisse
M O D E L L 3: E T H I C A L A S S E S S M E N T S C R E E N ( D O L G O F F , L O EW E N B E R G )
Abbildung 34: Einfluss des Modells 3 im Prozess der Entscheidungsfindung
1)
1
2)
2
2
4
5
1
4)
4)
1
1
5
5
1
1
5)
1
5
1
6)
1
3
2
8)
1
9)
1
0%
wird
ersichtlich,
dass
die
2
3
4
1
3
LeiterInnen
unwichtig
kaum wichtig
3
4
20%
1
2
4
11)
Graphik
3
1
1
N=9
1
1
10)
dieser
1
3)
7)
In
3
40%
in
eher wichtig
sehr wichtig
2
60%
der
80%
100%
derzeitigen
Entscheidungsfindung über Fremdunterbringung sehr stark auf 10) die „Effektivität, die
Effizienz und die Ethik der alternativen Handlungen“ achten. Am zweitmeisten Einfluss hat
6) die „Identifizierung alternativer ethischer Möglichkeiten, die am ehesten dem Individuum
und der Gesellschaft gerecht werden“, gefolgt von 11) der „Identifizierung und Abwägung
von kurz- und langfristigen ethischen Folgen“. Am wenigsten fließen derzeit 7) „alternative
Handlungen, die gesellschaftlichen Interessen und Rechten entsprechen“ ein.
Hinsichtlich dieses Modells enthielten sich zwei LeiterInnen ihrer Stimme. Ein/eine LeiterIn
gab an, dass Punkt 1 bis 9 mehr Stellenwert in der Entscheidung erhalten sollten.
Ein/eine LeiterIn ergänzte, dass dieses Modell seiner/ihrer Meinung nach häufig der Praxis
entspricht. Ein weiterer Leiter/eine weitere Leiterin fügte hinzu, dass all diese Punkte in
allen anderen Bereichen der sozialen Arbeit genauso zu beachten sind, nicht nur bei der
Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen.
Seite 92
Untersuchungsergebnisse
Abbildung 35: Einschätzung der Brauchbarkeit des Modells 3
81% - 100%
2
3
61% - 80%
4
2
41% - 60%
21% - 40%
12
1
0% - 20%
8
2
2
LeiterInnen
N=8
StudentInnen N=28
Dieses Modell wird von nur von 2 StudentInnen mit zwischen 81 und 100 Prozent
hinsichtlich der Anwendbarkeit in der Praxis bewertet. Der Großteil der StudentInnen
bewertet das Modell mit zwischen 41 und 60 Prozent, der Großteil der LeiterInnen mit
zwischen 61 und 80 Prozent als geeignet. Ein/eine LeiterIn machte zu diesem Modell
keine Angaben.
Bezüglich der Anwendbarkeit wird dieses Modell sowohl von den LeiterInnen als auch von
den StudentInnen mit durchschnittlich 50 Prozent bewertet.
M O D E L L 4: E T H I C A L P R I N C I P L E S C R E E N (D O L G O F F , L O EW E N B E R G )
Abbildung 36: Rangordnung der ethischen Prinzipien aus Sicht der StudentInnen und
LeiterInnen im Vergleich zum „Ethical Principle Screen“ von Dolgoff und Loewenberg
StudentInnen
LeiterInnen
Dolgoff und Loewenberg
Sicherung/Schutz des Lebens
Gleichberechtigung für alle und Recht auf
Individualität
Selbstbestimmung und Freiheit
geringster Schaden
Qualität für das Leben
Privatsphäre und Verschwiegenheitspflicht
Aufrichtigkeit und Transparenz
Sowohl StudentInnen als auch LeiterInnen beurteilen ebenso wie Dolgoff und Loewenberg
in ihrem „ethical principle screen“ die Sicherung bzw. den Schutz des Lebens an erster
Stelle. Bezüglich aller weiteren Werte unterscheidet sich die Rangordnung zwischen
StudentInnen und LeiterInnen deutlich und weicht stark von der Pyramide Dolgoffs und
Loewenbergs ab.
Seite 93
Untersuchungsergebnisse
Abbildung 37: Einschätzung der Brauchbarkeit des Modells 4
81% - 100%
61% - 80%
1
4
1
10
2
41% - 60%
7
2
21% - 40%
5
3
0% - 20%
2
LeiterInnen
N=9
StudentInnen
N=28
14 StudentInnen beurteilen Modell 4 hinsichtlich der Eignung zwischen 61 Prozent und
100 Prozent. Die LeiterInnen bewerten es jedoch deutlich niedriger. Dieses Modell wird in
Bezug auf die Anwendbarkeit von den LeiterInnen mit durchschnittlichen 44 Prozent, von
den SozialarbeiterInnen mit durchschnittlich 60 Prozent bewertet.
3 . 3. 8 Z U S AM M E N F AS S U N G D E R U N T E R S U C H U N G S E R G E B N I S S E
In diesem Kapitel wurden die Meinungen der SozialarbeiterInnen und LeiterInnen zu
ethischen Aspekten, Werthaltungen, Dilemmata, Theorien und Richtlinien sowie zum
Prozess der Entscheidungsfindung und zur Bewertung vorgestellter Modelle ausgewertet
und miteinander verglichen. Zusätzlich wurde in den Vergleich der Anwendbarkeit von
Modellen zur ethischen Entscheidungsfindung die Meinung von StudentInnen des
Fachhochschulstudiengangs Soziale Arbeit herangezogen.
Die in Punkt 3.1. angegebenen Hypothesen können durch die Auswertung verifiziert
werden. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Erhebung kurz zusammengefasst.
Aspekte wie die „Gefahr für das Kind in der momentanen Situation“, „bisherige
Erfahrungen“ sowie der ethische Aspekt der „erwartete positive Handlungsfolgen“ fließen
sehr
stark
in
die
Entscheidungsfindung
ein.
Eigenschaften
wie
„Objektivität“,
„Gewissenhaftigkeit“ und „Selbstreflexion“ werden für den Prozess der Entscheidungsfindung als am wichtigsten erachtet. Ebenso wird der Großteil der zur Auswahl stehenden
Eigenschaften mit einem eher hohen Prozentsatz bewertet.
Hinsichtlich des Einflusses verschiedener Wertekategorien wurden die professionellen
Werte wichtiger erachtet als individuelle, gesellschaftliche und gruppenspezifische Werte.
Seite 94
Untersuchungsergebnisse
Die SozialarbeiterInnen sehen sich bei der Entscheidungsfindung über eine Fremdunterbringung häufig mit verschiedensten Dilemmata konfrontiert. Im Hinblick auf das Abwägen
der Wünsche und die Erwartungen des Individuums und der Gesellschaft, sehen sich die
SozialarbeiterInnen eher dem Individuum gegenüber verpflichtet. Die LeiterInnen sehen
sich häufig mit dem Spannungsfeld zwischen der wünschenswerten, idealen Lösung und
den limitierten, möglichen Ressourcen bei Entscheidungen über Fremdunterbringung in
ihrer Jugendwohlfahrt konfrontiert. Die Entscheidungen über die Fremdunterbringung von
Kindern und Jugendlichen werden ca. zur Hälfte durch limitierte Ressourcen beeinflusst.
Bezüglich des Spannungsfelds zwischen Recht und Ethik glauben die meisten
SozialarbeiterInnen, dass Recht und Ethik nebeneinander existieren können bzw. sich
ergänzen.
In der Auswertung wird deutlich, dass die Ausrichtung an der sozialen Gerechtigkeit und
die paternalistische Ausrichtung einen größeren Einfluss als die verteidigende und
religiöse Ausrichtung haben. Besonders häufig sind die teleologische Theorie sowie die
objektiv sachliche Ausrichtung unter den SozialarbeiterInnen vertreten.
In 8 Jugendwohlfahrtsreferaten existiert kein ethischer Leitfaden zur Entscheidungsfindung
Ein/eine LeiterIn gibt jedoch an, einen solchen Leitfaden zu verwenden. Ca. die Hälfte der
LeiterInnen hat im Gegensatz zu den SozialarbeiterInnen bereits von ethischen Richtlinien
und Modellen zur ethischen Entscheidungsfindung gehört. Einige SozialarbeiterInnen
äußern den Wunsch nach mehr ethischen Orientierungshilfen wie z. B. durch ethische
Richtlinien, Modelle, Entscheidungskomitees und Fortbildungen im Bereich Ethik oder
Entscheidungsfindung.
Hinsichtlich der Besprechungen in den Jugendwohlfahrtsreferaten wird deutlich, dass nicht
alle Referate in gleicher Häufigkeit Besprechungen abhalten. Team-Meetings sowie Fallbesprechungen mit allen oder dem Großteil der SozialarbeiterInnen finden nicht in allen
Referaten wöchentlich statt. Große Schwankungen in der Häufigkeit gibt es auch in Bezug
auf die Supervision. HelferInnenkonferenzen und Einzelbesprechungen finden bei
gegebenem Anlass statt. Bezüglich wichtiger Schritte im Prozess der Entscheidungsfindung werden sowohl die „Abklärung der unbedingten Notwendigkeit der Fremdunterbringung“, die „Risikoeinschätzung“ und die „Suche und Auswahl der stationären Hilfe zur
Erziehung“ an den ersten Stellen genannt. Deutlich ersichtlich wurde in der gesamten
Auswertung, dass ethische Aspekte in einem unterschiedlichen Ausmaß in den Prozess
der Entscheidungsfindung in den neun Referaten einfließen.
Seite 95
Untersuchungsergebnisse
Personenspezifische Unterschiede, die durch Merkmale wie Alter, Geschlecht, eigene
Erfahrungen, Dienstjahre, eigener Familienstand etc. geprägt sind, spielen dabei eine
wesentliche Rolle. Die Auswertung ergibt, dass sich die LeiterInnen dieser Unterschiede
bewusst sind. Hinsichtlich der grundsätzlichen Ausrichtung der SozialarbeiterInnen werden
sehr unterschiedliche Ansichten vertreten. Knapp über die Hälfte gibt an, dass ein Kind so
lange es geht zu Hause untergebracht bleiben sollte. Am meisten orientieren sich die
Sozialarbeiterinnen bei der Entscheidungsfindung an den Interessen des Kindes, der
Mutter und des Vaters. An vierter Stelle wird die Schule genannt. In Bezug auf den
Einfluss, der den SozialarbeiterInnen und der betroffenen Partei zukommt, waren sich die
LeiterInnen und SozialarbeiterInnen nicht einig. Ebenso wurden von SozialarbeiterInnen
und LeiterInnen unterschiedliche Angaben hinsichtlich der Verantwortung im Prozess der
Entscheidungsfindung genannt. Deutlich wurde, dass die SozialarbeiterInnen sowohl laut
ihren Angaben als auch nach Angaben der LeiterInnen mit dem Ausmaß ihres Einflusses
zufrieden sind und es kaum zu Meinungsverschiedenheiten kommt. Die Entscheidung
über Fremdunterbringung wird von den SozialarbeiterInnen belastender als von den
LeiterInnen empfunden. Bezüglich der Hilfsmechanismen machen die SozialarbeiterInnen
am meisten von der „Rücksprache mit der/m JugendwohlfahrtsleiterIn“, „Gespräche mit
KollegInnen“, „Rechtslage und Gesetzen“, „Fallkonferenzen/-besprechungen“ sowie den
„Leitlinien zum Kindeswohl“ und „persönliche Aufzeichnungen“ Gebrauch. „Ethische
Komitees
zur
Entscheidungsfindung
bei
schwierigen
Fällen“
sowie
„ethische
Richtlinien/Standards“ sind den SozialarbeiterInnen kaum bekannt und haben wenig bis
gar keinen Einfluss in ihren Entscheidungen. Die SozialarbeiterInnen äußern aber den
Wunsch danach, mehr über ethische Richtlinien, Modelle, Komitees als Ausgangspunkt für
die ethische Entscheidungsfindung zu erfahren.
Einzelne Aspekte der Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung werden von den
LeiterInnen in der momentanen Situation als wichtig erachtet und fließen bereits in die
derzeitige Arbeit ein. Die Modelle wurden von den StudentInnen und den LeiterInnen sehr
unterschiedlich bewertet.
Auf Grund der gewonnen Ergebnisse lässt sich darauf schließen, dass die SozialarbeiterInnen und LeiterInnen hinsichtlich ethischer Aspekte für den Prozess der Entscheidungsfindung sehr offen sind und großteils den Wunsch nach mehr Wissen in diesem Bereich
äußern.
Seite 96
Zusammenfassung und Ausblick
4 Z U S AM M E NF AS S UN G
UND
AU S B L I C K
Ethik als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit spielt im Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen in der Jugendwohlfahrt eine wesentliche Rolle.
Die in der Tiroler Jugendwohlfahrt tätigen SozialarbeiterInnen werden bei derartigen
Entscheidungen
mit
verschiedensten
ethischen
Dilemmata
und
Wertekonflikten
konfrontiert, auf die es auch aus ethischer Perspektive keine eindeutig „richtige“ oder
„falsche“ Antwort gibt. Um diese Dilemmata auf professionelle Weise begegnen und die
bestmögliche Entscheidung für das jeweilige Kind/den jeweiligen Jugendlichen treffen zu
können, bedarf es einer bewussten und intensiven Auseinandersetzung mit dem
jeweiligen Dilemma. Dabei können ethische Aspekte, Richtlinien, Modelle sowie
professionelle Werte eine wichtige Orientierungshilfe darstellen, die SozialarbeiterInnen
helfen, verschiedene Perspektiven, Theorien und Ausrichtungen in ihre Überlegungen mit
einzubeziehen um so ein möglichst vollständiges Bild sowie mehr Sicherheit und Klarheit
zu bekommen und die eigenen Haltungen gründlich zu reflektieren.
Ethikkodizes versuchen anhand von klar definierten ethischen Prinzipien und Standards
SozialarbeiterInnen
zu
bewussten
ethischen
Entscheidungen
zu
befähigen.
Entscheidungen über eine Fremdunterbringung sind in jedem Fall drastische Schritte, die
massive Auswirkungen nach sich ziehen und daher ein gründliches Überlegen erfordern.
Deshalb ist das Bewusstsein über Ethik als Basis der Sozialen Arbeit und die
Auseinandersetzung mit ethischen Aspekten insbesondere auch bei so schwerwiegenden
Entscheidungen wie der einer Fremdunterbringung eine wichtige Voraussetzung.
SozialarbeiterInnen sind in der Entscheidungsfindung mit vielen schwierigen Fragen rund
um die Thematik, ob das Kind/der Jugendliche so schnell als möglich aus der
Gefahrenzone zu bringen ist, oder ob es die Situation noch zulässt das Kind in der Familie
zu belassen, konfrontiert. Welche dieser Alternativen das gelindeste noch zum Ziel
führende Mittel darstellt, ist in den meisten Fällen schwer zu entscheiden.
Der Kinderpsychiater Ernst Berger, der am 09.11.2007 in der „Zeit im Bild 2“ zum Fall
„Luca“ (siehe Einleitung, S. 2) seine Meinung äußerte, meint bezüglich der Entscheidung
für oder gegen eine Fremdunterbringung Folgendes:
„Jetzt im Nachhinein ist diese Frage wohl ganz eindeutig zu beantworten: Jetzt sind
wir alle klüger - natürlich war das letztlich eine Entscheidung, die nicht ganz korrekt
Seite 97
Zusammenfassung und Ausblick
zum richtigen Zeitpunkt getroffen wurde, aber man muss schon sagen, dass in
solchen Situationen die Entscheidungen im Detail von Vornherein sehr, sehr
schwierige und sehr komplexe Entscheidungen sind und im Nachhinein schaut’s oft
leichter aus.“
Um ein strukturiertes einheitliches Vorgehen und das Miteinbeziehen verschiedenster
Aspekte zu sichern wurden in einigen Bundesländern Qualitätsstandards, Checklisten und
Leitlinien entwickelt. Diese sollen als Hilfsmittel im Abklärungsprozess verwendet werden
und dienen der Sicherung des Kindeswohls bzw. dem Schutz ohne Risiko für Kinder und
Jugendliche. Rechtstexte des Jugendwohlfahrtsgesetzes, des Tiroler Jugendwohlfahrtsgesetzes und des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches sowie auch die in der
UN-Kinderrechtskonvention festgehaltenen Kinderrechte legen die Rahmenbedingungen
für den Prozess der Entscheidungsfindung fest.
Fremdunterbringung bedeutet für das Kind/den Jugendlichen und seine Familie immer
einen massiven Eingriff in deren Privatleben. Jede Fremdunterbringung stellt daher für das
Kind eine Krise dar mit einem erhöhten Risiko möglicher negativer Nebenwirkungen. Eine
Fremdunterbringung kann aber auch im besten Fall zu einer Chance für neue Erfahrungen
der Bindungssicherheit werden und eine Möglichkeit, einen neuen Lebenszusammenhang
zu finden, darstellen.
Diese Diplomarbeit zeigt auf, dass ethische Richtlinien SozialarbeiterInnen in diesem
schwierigen Entscheidungsprozess unterstützen und ihnen als Hilfsmittel dienen können.
Neben den von LeiterInnen empfohlenen Tipps der vermehrten Präventionsarbeit, der
verbesserten Gesamtplanung von Seiten der Fachabteilung, der engen Vernetzung mit
allen beteiligten Einrichtungen sowie vermehrten Einzel- und Fallsupervisionen, als auch
Gruppenreflexionen und HelferInnenkonferenzen möchte ich vor allem die stärkere
Bedachtnahme auf ethische Aspekte im Prozess der Entscheidungsfindung als wichtige
Orientierungshilfe herausstreichen. Auch von Seiten der SozialarbeiterInnen und
LeiterInnen wurde der Wunsch nach mehr ethischem Wissen, das den Prozess der
Entscheidungsfindung unterstützen kann, laut (siehe Kap. 3.3.6, S. 85, 86).
Zusätzlich soll meine Diplomarbeit verdeutlichen, dass in anderen Ländern wie Amerika,
Kanada, Australien, Großbritannien etc. bereits die Bedeutung der Ethik für die Soziale
Arbeit und insbesondere auch für den Prozess der Entscheidungsfindung erkannt wurde.
Aus diesem Grund existieren in den genannten Ländern ausführliche Codes of Ethics und
Seite 98
Zusammenfassung und Ausblick
Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung, die die Qualität des Entscheidungsprozesses sichern sollen.
Obgleich nicht alle ethischen Standards dieser Länder per se auch für Österreich als
adäquat und nützlich erachtet werden können, möchte ich doch dafür appellieren, den
Ethikkodex von Österreich ausführlicher zu gestalten und mehr Aspekte, die für den
Prozess der Entscheidungsfindung wichtig sind, dort zu verankern und festzuhalten.
Wie in meiner Diplomarbeit ersichtlich wurde, gibt es in Tirol bei Fremdunterbringungen
sehr große Unterschiede hinsichtlich des Alters, des Geschlechts, eigenen Familienstands, der Dienstjahre und des jeweiligen Jugendwohlfahrtsreferats. Auch wenn die
letztendliche Entscheidung vom Gericht getroffen wird und in sehr schwierigen Fällen
zusätzliche Gutachten der Entscheidung zugrunde liegen, soll trotzdem auch von Seiten
der Jugendwohlfahrt sichergestellt sein, dass die Entscheidung, die von ihrer Seite aus
vorgeschlagen wird, nicht von der jeweiligen entscheidenden Person abhängt. Ethische
Standards, Richtlinien und Modelle dienen dazu, die Berücksichtigung verschiedenster
ethischer
Theorien
und
somit
vielseitige
Perspektiven
im
Prozess
der
Entscheidungsfindung zu garantieren.
Von vielen SozialarbeiterInnen wurde betont, dass die jeweilige Entscheidung immer vom
spezifischen Fall abhängig ist. Jeden Fall aufs Neue in seiner Individualität zu bewerten
und zu beurteilen ist ein sehr wichtiger Prozess, der durch ethische Aspekte, Standards,
Richtlinien und Modelle jedoch nicht eingeschränkt wird. Im Gegenteil können gerade
diese als Unterstützung in der individuellen Beurteilung des jeweiligen Falles aus ethischer
Sicht dienlich sein. Ethische Richtlinien und Modelle stellen kein allgemein anwendbares
Patentrezept für alle Entscheidungen für oder gegen eine Fremdunterbringung dar. Dies
ist auch nicht die Absicht der beschriebenen Theorien und Modelle. Sie stellen lediglich
eine Unterstützung dar, die die Überlegungen der SozialarbeiterInnen im Prozess der
Entscheidungsfindung in verschiedenste Richtungen lenken soll und somit sicherstellt,
dass vielseitige ethische Aspekte berücksichtigt werden. Sie sollen den SozialarbeiterInnen helfen das Für und Wider aus ethischer Perspektive abzuwägen. Die Entscheidung
selbst ist immer auf den spezifischen konkreten Einzelfall ausgerichtet, auch wenn
ethische Richtlinien angewendet wurden.
Im Rahmen meiner Diplomarbeit konzentrierte ich mich auf die Erhebung der Ist-Situation
des momentanen Entscheidungsprozesses bei Fremdunterbringungen in der Jugendwohlfahrt Tirol und des Bedarfs an ethischen Orientierungshilfen von Seiten der SozialSeite 99
Zusammenfassung und Ausblick
arbeiterInnen. Da der Umfang und der zeitliche Rahmen der Diplomarbeit beschränkt sind,
war es mir unmöglich konkrete Ideen und Entwürfe für ein Modell der ethischen
Entscheidungsfindung über Fremdunterbringungen von Kindern und Jugendlichen in der
Tiroler Jugendwohlfahrt zu entwickeln, da dies eines großen zusätzlichen Zeitaufwands
und weiterer Forschungsschritte bedürfen würde. Nichtsdestotrotz erachte ich diesen
Schritt als sehr hilfreich und notwendig für den gesamten Prozess der Entscheidungsfindung über Fremdunterbringungen.
Die SozialarbeiterInnen hinsichtlich des Einflusses der Ethik in ihren derzeitigen Entscheidungsprozessen zu befragen, stellte sich dahingehend als schwierig heraus, dass Ethik
ein sehr weiter Begriff ist, der je nach SozialarbeiterIn unterschiedliche konnotiert ist. Eine
zusätzliche Schwierigkeit ergibt sich dadurch, dass nicht alle SozialarbeiterInnen die
gleichen Vorstellungen von diesem Begriff haben. In meinem Fragebogen versuchte ich
daher viele verschiedene Aspekte der Ethik, die in der Theorie häufig mit vielen
Fremdwörtern und komplizierten Sätzen beschrieben sind, in einfacheren Worten
wiederzugeben um, so möglichst viele Facetten einzufangen. Auf diesem Weg erhoffte ich
mir ein eher der Realität entsprechendes Bild über den Einfluss der Ethik im Prozess der
Entscheidungsfindung zu erlangen als durch die allgemeine Frage: „Welche Bedeutung
hat Ethik im Prozess der Entscheidungsfindung über die Fremdunterbringung von Kindern
und Jugendlichen in Ihrer Jugendwohlfahrt?“. Diese Frage würde sehr von der
Interpretation des Begriffs Ethik des jeweiligen Sozialarbeiters/der jeweiligen Sozialarbeiterin abhängen.
Obgleich ich persönlich auf Grund meiner bisherigen Erfahrungen die Qualität der Arbeit in
den Jugendwohlfahrtsreferaten Tirol als sehr hoch erachte, wäre es meiner Meinung nach
trotzdem wichtig, dass ethische Aspekte stärker in den Prozess der Entscheidungsfindung
über die Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen einfließen. Ein ausführlicherer Ethikkodex der Sozialen Arbeit in Österreich und insbesondere Modelle der
ethischen Entscheidungsfindung könnten eine Grundlage und geeignete Orientierungshilfe
für die Entscheidungen über Fremdunterbringungen von Kindern und Jugendlichen in der
Jugendwohlfahrt darstellen.
Ein qualitativer und einheitlicher ethischer Entscheidungsprozess über Fremdunterbringungen sollte als Basis für die Sicherung des Kindeswohls zum Standard werden.
Seite 100
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Seite 104
Anhang
ANHANG
Ethische Standards und Berufspflichten des OBDS ..................................................106
Ethikkodex der IFSW.................................................................................................108
Fragebogen für die JugendwohlfahrtsleiterInnen.......................................................113
Fragebogen an die SozialarbeiterInnen der Jugendwohlfahrt....................................120
Seite 105
Anhang
ETHISCHE STANDARDS UND BERUFSPFLICHTEN DES OBDS
Ethische Standards –
Berufspflichten für SozialarbeiterInnen
Generalversammlungsbeschluss des OBDS
17.10.2004 in Salzburg
1.
SozialarbeiterInnen*) sind den Menschenrechten**) verpflichtet. Aufträge, die den
Menschenrechten widersprechen, werden zurückgewiesen.
2.
Die Leistungen der professionellen Sozialarbeit richten sich grundsätzlich an jede/n
InteressentIn, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Alter,
Familienstand, Religion, ethnischer Zugehörigkeit, politischer Überzeugung, sexueller
Orientierung oder körperlicher, geistiger oder psychischer Behinderung.
3.
SozialarbeiterInnen gehen auf die Ziele der Betroffenen ein. Sie respektieren und
fördern deren Selbstbestimmung. Ihre Hilfeleistung baut auf den Ressourcen der
KlientInnen auf. Sie endet in der Regel, sobald der/die KlientIn sich ausreichend
selber helfen kann, beziehungsweise wenn die professionelle Hilfe aus fachlicher
Sicht nicht mehr nötig erscheint; wenn es der/die KlientIn wünscht und/oder es die
gesetzlichen Regelungen vorsehen.
Wenn die Hilfeleistung aus Mangel an geeigneten Ressourcen eingeschränkt oder
beendet werden muss, setzen sich SozialarbeiterInnen für die Erschließung
alternativer Mittel ein.
4.
SozialarbeiterInnen informieren ihre KlientInnen über Art, Umfang, Möglichkeiten
und Konsequenzen, sowie absehbare unerwünschte Folgen der ins Auge gefassten
Hilfeleistung. Während des Beratungsprozesses geben sie über mögliche Alternativen
Auskunft.
5.
Im Betreuungsprozess bemühen sich die SozialarbeiterInnen laufend um ein
Höchstmaß an Transparenz gegenüber den KlientInnen.
6.
SozialarbeiterInnen achten die Privatsphäre der KlientInnen. Sie erheben und
dokumentieren nur jene Informationen, die für die Hilfeleistung notwendig sind.
7.
Für alle Sachverhalte, die im Rahmen der Leistungen der professionellen Sozialarbeit
bekannt werden, gilt grundsätzlich Verschwiegenheitspflicht. Ein Austausch der
Informationen mit beteiligten Institutionen im privaten oder öffentlichen Bereich oder
mit am Hilfeprozess beteiligten Personen ist nur erlaubt mit Zustimmung des/der
KlientIn, wenn es die Hilfeleistung erfordert (und der/die KlientIn durch das Ersuchen
um Hilfe dem Informationsaustausch indirekt zustimmt), oder wenn es die
gesetzlichen Regelungen vorsehen. Die SozialarbeiterInnen bemühen sich um eine
Befreiung von der Pflicht zur Zeugenaussage bei Gericht, sofern dadurch nicht
Seite 106
Anhang
wesentliche Interessen Beteiligter oder Dritter ernstlich gefährdet sind. Jedenfalls
sind die KlientInnen über eine Weitergabe von personenbezogenen Daten zu
informieren.
8.
SozialarbeiterInnen dokumentieren und evaluieren die einzelnen Arbeitsschritte in
geeigneter Form unter Einhaltung der geltenden datenschutzrechtlichen
Bestimmungen.
9.
KlientInnen haben das Recht, in die sie betreffende Dokumentation Einsicht zu
nehmen, soweit es durch die Vorschriften des Dienstgebers oder die Gesetze nicht
anders vorgesehen ist, bzw. die berechtigten Interessen beteiligter Dritter dem nicht
entgegenstehen.
10.
SozialarbeiterInnen treffen ihre fallbezogenen Entscheidungen nach sorgfältiger
Abwägung aller Informationen, sowie nach den Regeln der Profession und unter
Berücksichtigung der KlientInnenrechte**). Sie informieren sich laufend über den
aktuellen Wissensstand der Sozialarbeitswissenschaften in ihrem Arbeitsfeld.
11.
SozialarbeiterInnen arbeiten interdisziplinär in Kooperation mit anderen Professionen
sowie mit allen Personen und Institutionen, die für die Verbesserung der
Lebensverhältnisse der KlientInnen einen Beitrag leisten können.
12.
Den KlientInnen werden die nötigen Informationen für eine allfällige
Beschwerdeführung zur Verfügung gestellt.
13.
Das berufliche Verhältnis zum/r KlientIn darf keinesfalls für die eigenen Interessen
politischer, sexueller, religiöser, sozialer oder wirtschaftlicher Art missbraucht
werden.
14.
Für professionelle Sozialarbeit sind qualitätssichernde Rahmenbedingungen
notwendig. Die SozialarbeiterInnen leisten qualitätsvolle Arbeit und unterstützen
sinnvolle Maßnahmen zur Qualitätssicherung und zur Sicherung der psychischen
Gesundheit der beruflichen HelferInnen. Reflexion, Intravision, Supervision und
Weiterbildung sind verbindliche Bestandteile professioneller Praxis.
*) Der Begriff SozialarbeiterIn umfasst die Ausbildungstitel Dipl.SozialarbeiterIn und Mag.
FH (mit dem Ausbildungsschwerpunkt Sozialarbeit)
**) Menschen- und KlientInnenrechte werden unter anderem in folgenden internationalen
Dokumenten formuliert:
Universal Declaration of Human Rights
The International Covenant on Civil and Political Rights
The International Covenant on Economic Social and Civil Rights
The Convention on the Elimination of all Forms of Racial Discrimination
The Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women
The Convention on the Rights of the Child
Indigenous and Tribal Peoples Convention (ILO convention 169)
Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des
Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen
Herkunft
Seite 107
Anhang
ETHIKKODEX DER IFSW
Ethik in der Sozialen Arbeit – Darstellung der Prinzipien
1. Vorwort
Ethisches Bewusstsein ist ein grundlegender Teil der beruflichen Praxis jeder
Sozialarbeiterin und jedes Sozialarbeiters. Ihre Fähigkeit und Verpflichtung, ethisch zu
handeln, ist ein wesentlicher Aspekt der Qualität der Dienstleistung, die jenen angeboten
wird, die sozialarbeiterische Dienste in Anspruch nehmen.
Der Zweck der Tätigkeit der IASSW und IFSW im Feld der Ethik ist es, ethische
Diskussionen und Reflexionen in den Mitgliedsverbänden, unter den Anbietern Sozialer
Arbeit in den Mitgliedsländern, in den Ausbildungsstätten sowie unter den Studierenden
der Sozialen Arbeit zu fördern. Einige ethische Herausforderungen und Probleme, denen
Sozialarbeiter/-innen begegnen, sind spezifisch für einzelne Länder, andere sind
allgemein. Dadurch dass diese gemeinsame Stellungnahme von IASSW und IFSW auf der
Ebene allgemeiner Prinzipien bleibt, möchte sie Sozialarbeiter/-innen in aller Welt
ermutigen, ihnen begegnende Herausforderungen und Dilemmata zu reflektieren und
ethisch informierte Entscheidungen darüber zu treffen, wie sie in jedem einzelnen Fall
handeln sollen. Einige dieser Problembereiche beinhalten:
die Tatsache, dass die Loyalität der Sozialarbeiter/-innen oft inmitten widerstreitender
Interessen liegt
die Tatsache, dass Sozialarbeiter/-innen einerseits die Rolle des Helfers und
andererseits die des Kontrolleurs ausfüllen
den Konflikt zwischen der Pflicht der Sozialarbeiter/-innen, die Interessen der
Menschen, mit denen sie arbeiten, zu schützen, und den gesellschaftlichen
Erfordernissen von Effizienz und Nützlichkeit
die Tatsache, dass die Ressourcen der Gesellschaft begrenzt sind.
Ausgangspunkt dieses Dokuments ist die Definition Sozialer Arbeit, die von der IFSW und
IASSW auf ihren jeweiligen Generalversammlungen im Juli 2000 in Montreal, Kanada,
angenommen und dann in Kopenhagen im Mai 2001 als gemeinsame Definition
beschlossen wurde (Kapitel 2). Sie betont die Prinzipien der Menschenrechte und der
sozialen Gerechtigkeit. Das nächste Kapitel (3) verweist auf verschiedene
Menschenrechtserklärungen und -übereinkommen, die für die Soziale Arbeit relevant sind,
Seite 108
Anhang
gefolgt von der Darstellung der allgemeinen ethischen Prinzipien unter den beiden weiten
Überschriften Menschenrechte und Menschenwürde sowie Soziale Gerechtigkeit (Kapitel
4). Das letzte Kapitel stellt einige grundlegende Orientierungen für ethisches Verhalten in
der Sozialen Arbeit vor, von denen erwartet wird, dass sie von den EthikKomitees der
Mitgliedsverbände der IFSW und IASSW in ihren ethischen Kodizes und Richtlinien
ausgearbeitet werden.
2. Definition Sozialer Arbeit
Die Profession Sozialer Arbeit setzt sich ein für sozialen Wandel, die Lösung von
Problemen in menschlichen Beziehungen sowie die Befähigung und Befreiung von
Menschen mit dem Ziel, das Wohlergehen zu fördern. Gestützt auf Theorien menschlichen
Verhaltens und sozialer Systeme interveniert Soziale Arbeit an den Stellen, wo Menschen
mit ihrer Umwelt in Wechselwirkung stehen. Die Grundlagen von Menschenrechten
sozialer Gerechtigkeit sind für die Soziale Arbeit wesentlich.
3. Internationale Übereinkommen
Internationale Menschenrechtserklärungen und -übereinkommen bilden allgemeine
Zielmaßstäbe und anerkennen Rechte, welche von der weltweiten Gemeinschaft akzeptiert
werden. Für die Soziale Arbeit besonders relevante Dokumente sind:
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau
Übereinkommen über die Rechte des Kindes
Übereinkommen betreffend die Ureinwohner und Stammesvölker (ILO- Übereink.169)
4. Prinzipien
4.1. Menschenrechte und Menschenwürde
Soziale Arbeit basiert auf der Achtung des innewohnenden Wertes und der Würde aller
Menschen und den Rechten, welche daraus folgen. Sozialarbeiter/-innen sollen die
körperliche, psychische, emotionale und spirituelle Integrität und das Wohlbefinden jeder
Person wahren und verteidigen. Das heißt:
1) Das Recht auf Selbstbestimmung achten- Sozialarbeiter/innen sollten das Recht der
Menschen achten und fördern, eigene Wahl und Entscheidungen zu treffen,
Seite 109
Anhang
ungeachtet ihrer Werte und Lebensentscheidung, vorausgesetzt, das dadurch nicht die
Rechte und legitimen Interessen eines anderen gefährdet werden.
2) Das Recht auf Beteiligung fördern-
Sozialarbeiter/innen sollten das volle Einbeziehen und die Teilnahme der Menschen,
die ihre Dienste nutzen fördern, so dass sie gestärkt werden können in allen Aspekten
von Entscheidungen und Handlungen, die ihr Leben betreffen.
3) Jede Person ganzheitlich behandeln- Sozialarbeiter/innen sollten sich mit der Person
als Ganzes innerhalb der Familie, der Gemeinschaft, sowie der sozialen und
natürlichen Umwelt beschäftigen, und sollten darauf bedacht sein, alle Aspekte des
Lebens einer Person wahrzunehmen.
4) Stärken erkennen und entwickeln- Sozialarbeiter/innen sollten den Schwerpunkt auf
die Stärken des Einzelnen, der Gruppen und der Gemeinschaften richten um dadurch
ihre Stärkung weiter zu fördern
4.2 Soziale Gerechtigkeit
Sozialarbeiter/innen haben eine Verpflichtung, soziale Gerechtigkeit zu fördern in Bezug
auf die Gesellschaft im Allgemeinen und in Bezug auf die Person mit der sie arbeiten. Das
heißt:
1) Negativer Diskriminierung entgegentreten(1)- Sozialarbeiter/innen haben die Pflicht,
negativer Diskriminierung auf Grund von Merkmalen wie Fähigkeiten, Alter, Kultur,
Geschlecht, Familienstand, sozioökonomischem Status, politischer Überzeugung,
Hautfarbe, Rasse oder anderer körperlicher Gegebenheiten, sexueller Orientierung,
oder spiritueller Überzeugung entgegenzutreten.
2) Verschiedenheit
anerkennen-
Sozialarbeiter/innen
sollten
die
ethnischen
und
kulturellen Unterschiede von Gesellschaften in denen sie arbeiten anerkennen und
respektieren und die Unterschiede von Einzelnen, Gruppen und Gemeinschaften
beachten.
3) Gerechte Verteilung der Mittel-Sozialarbeiter/innen sollten sicherstellen, dass die ihnen
zur Verfügung stehenden Mittel gerecht- gemäß den Bedürfnissen verteilt werden
4) Ungerechte
Politische
Entscheidungen
und
Praktiken
zurückweisen-
Sozialarbeiter/innen haben die Pflicht, ihre Arbeitgeber, Gesetzgeber, Politiker und die
Allgemeinheit darauf aufmerksam zu machen, wo Mittel unzulänglich sind oder wo die
Seite 110
Anhang
Verteilung von Mitteln durch Verordnungen und Praxis unterdrückerisch, ungerecht
oder schädlich ist.
5) Solidarisch arbeiten- Sozialarbeiter/innen haben die Pflicht, sozialen Bedingungen
entgegen zu treten, die zu sozialem Ausschluss, Stigmatisierung oder Unterdrückung
führen. Sie sollen auf eine einbeziehende Gesellschaft hinarbeiten.
5. Berufliches Verhalten
Die Mitgliedsverbände des IFSW und IASSW sind verpflichtet, ihre eigenen Ethik Kodizes
und ethischen Richtlinien im Einklang mit der Stellungnahme von IFSW und IASSW
weiterzuentwickeln, und auf den neuesten Stand zu bringen. Es ist auch Pflicht der
Mitgliedsorganisationen die Sozialarbeiter/innen und die Schulen für soziale Arbeit über
diese Kodizes und Richtlinien zu informieren.
Sozialarbeiter/innen sollten in Übereinstimmung mit dem in ihrem Land aktuell geltenden
ethischen Kodex oder Richtlinien handeln. Diese werden im Allgemeinen detailliertere
Anleitungen der ethischen Praxis abgestimmt auf den nationalen Kontext enthalten. Es
gelten die folgenden allgemeinen Richtlinien für berufliches Handeln:
1) Es wird von Sozialarbeitern/innen erwartet, dass sie die erforderliche Fertigkeiten und
Fähigkeiten,
um
ihre
Arbeit
ausüben
zu
können,
weiterentwickeln
und
aufrechterhalten.
2) Sozialarbeiter/innen sollten nicht zulassen, dass ihre Fertigkeiten für inhumane
Zwecke missbraucht werden, wie Folter und Terrorismus
3) Sozialarbeiter/innen sollten redlich handeln. Dies beinhaltet, keinen Missbrauch der
Vertrauensbeziehung der Menschen, die ihre Dienste nutzen. Anerkennung der
Grenzen zwischen privatem und beruflichem Leben, keine Ausnutzung der Stellung zu
persönlichem Vorteil oder Gewinn.
4) Sozialarbeiter/innen sollten die Menschen, die die Dienste nutzen, mit Mitgefühl,
Einfühlungsvermögen und Achtsamkeit behandeln.
5) Sozialarbeiter/innen sollten die Bedürfnisse und Interessen der Menschen, die die
Dienste nutzen, nicht ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen unterordnen.
6) Sozialarbeiter/innen haben die Pflicht, notwendige Schritte zu unternehmen, um am
Arbeitsplatz und in der Gesellschaft beruflich und privat für sich selbst Sorge zutragen,
um sicherzustellen, dass sie angemessene Dienstleistungen erbringen können.
Seite 111
Anhang
7) Sozialarbeiter/innen sollten die Vertraulichkeit von Informationen der Menschen, die
ihre Dienste nutzen, gewährleisten. Ausnahmen dürfen nur durch höhere ethische
Erfordernisse gerechtfertigt sein. (wie etwa der Schutz des Lebens)
8) Sozialarbeiter/innen müssen
anerkennen, dass sie den Nutzern der Dienste
verantwortlich sind für ihr Handeln ebenso ihrem Anstellungsträger, der Berufsorganisation und dem Gesetz und dass diese Verantwortlichkeiten sich widersprechen
können.
9) Sozialarbeiter/innen sollten bereit sein, mit den Ausbildungsstätten für soziale Arbeit
zusammenzuarbeiten, um Studierende zu unterstützen damit sie ein qualitativ gutes
Praxistraining und zeitnahes Praxiswissen, bekommnen.
10) Sozialarbeiter/innen sollten Debatten über Ethik pflegen und fördern sowohl mit ihren
Kollegen, wie mit Ihren Anstellungsträgern. Sie sollen Verantwortung übernehmen für
ethisch begründete Entscheidungen.
11) Sozialarbeiter/innen sollten bereit sein, die Gründe für ihre ethischen Überlegungen
darzulegen,
und
Verantwortung
übernehmen
für
ihre
Entscheidungen
und
Handlungen.
12) Sozialarbeiter/innen sollten sich bemühen, bei ihren Anstellungsträgern und in ihrem
Land solche Bedingungen zu schaffen, in denen diese Prinzipien and die ihres eigenen
nationalen Kodex (soweit anwendbar) diskutiert ausgewertet und unterstützt werden.
Das Dokument „Ethik in der Sozialen Arbeit – Darstellung der Prinzipien“ wurde bei den
Generalversammlungen der International Federation of Social Workers (IFSW) und der
International Association of Schools of Social Work (IASSW) in Adelaide, Australien, im Oktober
2004 verabschiedet
(1)
In einigen Ländern wird der Ausdruck „ Diskriminierung“ an Stelle von „negativer
Diskriminierung“ gebraucht. Das Wort negativ wird hier gebraucht, weil in einigen Ländern
der Begriff „positive Diskriminierung“ gebräuchlich ist. Positive Diskriminierung ist auch
bekannt als „positive Handlung“. Positive Diskriminierung oder Handlung meint positive
Schritte, die unternommen wurden, um die Auswirkungen früherer Diskriminierungen
gegen die in 4.2.1. genannten Gruppen wieder gut zu machen.
Übersetzung: Barbara Molderings DBSH e.V.
Seite 112
Anhang
FRAGEBOGEN FÜR DIE JUGENDWOHLFAHRTSLEITERINNEN
Seite 113
Anhang
Seite 114
Anhang
Seite 115
Anhang
Seite 116
Anhang
Seite 117
Anhang
Seite 118
Anhang
Seite 119
Anhang
FRAGEBOGEN AN DIE SOZIALARBEITERINNEN DER JUGENDWOHLFAHRT
Seite 120
Anhang
Seite 121
Anhang
Seite 122
Anhang
Seite 123
Anhang
Seite 124
Anhang
Seite 125
LEBENSLAUF
PERSÖNLICHE DATEN
Name:
Habernig Christine
Geburtsdatum:
05.11.1983
Geburtsort:
Lienz
Staatsbürgerschaft:
Österreich
AUSBILDUNG
1990 - 1994:
Volksschule Leisach
1994 - 1998:
Bundesgymnasium Lienz
1998 - 2003:
Kath. Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik
2000 - 2003
Zusatzausbildung zur Hortpädagogin an der Kath. Bakip
Juni 2003
Reife- u. Diplomprüfung in den Fächern Deutsch, Englisch,
Pädagogik, Didaktik (Diplomarbeit), Heil- und
Sonderpädagogik, Musikerziehung und Instrumentalmusik
Gitarre, Geographie und Wirtschaftskunde, Didaktik der
Horterziehung, Lernhilfe Deutsch
Nov. 2003 – April 2004
Ausbildung zur rhythmischen Gruppenbegleiterin
Jän. 2004 - Feb. 2005
Ausbildung zur Montessoripädagogin für KinderbetreuerInnen
(Altersstufe 0-6 Jahre)
Okt. 2004 – Juni 2008
Fachhochschule MCI (Management Center Innsbruck)Studiengang Soziale Arbeit
seit März 2007
Psychotherapeutisches Propädeutikum an Institut für
Kommunikation im Berufsleben und Psychotherapie Innsbruck
BERUFSTÄTIGKEIT
Sept. 2003 – Okt. 2004
Kindergartenpädagogin im Integrationskindergarten
„Kindergarten für Alle“
PRAKTIKA
Feb. 2005
Caritas Integrationshaus (1 Monat)
Feb. 2006
Referat für Jugendwohlfahrt Imst (1 Monat)
Sept. – Dez. 2006
„Looked After Children“ in APPOGG Malta (4 Mon.)
ERFAHRUNGEN
Ehrenamtliches
Engagement
Bereichshelferin bei WoKi-WoGo 2002 (Kindergroßveranstaltung der Kath. Jungschar)
Kinderlager der Kath. Jungschar in Mutters
Leitung eines Bereiches der WoKi-WoGo 2006 (Kindergroßveranstaltung der Kath. Jungschar)
Mitglied im Leitungsteam für den „Grundkurs von
GruppenleiterInnen 2007“ der Kath. Jungschar
seit 2004 ehrenamtl. Mitarbeit im Team der „Dreikönigsaktion“ Kath. Jungschar
seit 2007 Mitglied im Organisations- und Durchführungsteam
des Projekts Alafia Aktion z. B. zur Unterstützung einer
Region in Mosambik und von Aidswaisen in Togo
Auslandserfahrungen
Au-pair-Stelle in London (1 Monat - August 2001)
Kinderheim in Ecuador (1 Woche - August 2004)
Berufspraktikum in Malta (4 Monate – Sept. – Dez. 2006)
Zusatzqualifikationen
Musikalische Ausbildung in den Bereichen:
Gitarre (8 Jahre), Stimmbildung (1 ½ Jahre) und afrikanische
Trommel (= Djembe, seit 2006)
Leitung des Kinderchores „Kirchenmäuse“ - Pfarre Guter Hirte,
IBK (2005 - 2006)
Mitglied des Duos „Sang und Klang“ (Gitarre und Gesang)
(2004-2007)
Informatikkenntnisse: Word, Excel, Powerpoint
Fremdsprachen: Englisch (fließend), Spanisch (Anfänger)
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG
„Ich erkläre hiermit an Eides statt, dass ich vorliegende Diplomarbeit selbstständig
angefertigt habe. Die aus fremden Quellen direkt oder indirekt übernommenen Gedanken
sind als solche kenntlich gemacht.
Die Arbeit wurde bisher weder in gleicher noch in ähnlicher Form einer anderen
Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht.“
Innsbruck, am 13. März 2008
Christine Habernig
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