Wie stabil ist das Sonnensystem?

Werbung
Wie stabil ist das Sonnensystem?
Max Camenzind - Akademie Heidelberg - Mai 2016
Landesmuseum OÖ
Inhalt
• Das N-Körper Problem der Gravitation.
• Das Planetensystem als Beispiel.
• Henri Poincare und die Frage der Stabilität des
Sonnensystems.
• Die 5 Lagrange-Punkte im eingeschränkten
Drei-Körper-System.
• Was sind Trojaner?
• Experimente mit mehreren Körpern.
• Laskar und neue Ergebnisse zur Stabilität
des Sonnensystems.
• Der Asteroidengürtel / Dawn-Mission.
N Körper unter Gravitationseinwirkung
Seit Newtons Gravitationstheorie kannte man die
mathematischen Gleichungen, mit denen sich die Bewegung
der Himmelskörper beschreiben lassen. Man konnte sie nur
nicht lösen. Sobald man die gravitative Interaktion von mehr
als 2 Körpern betrachtete, wurden die Gleichungen so
komplex, dass man sie nur noch näherungsweise lösen konnte.
1889 zeigte Henri Poincaré, dass diese nicht am Unvermögen
der Wissenschaftler lag, sondern ein prinzipielles Problem ist:
er konnte beweisen, dass sich diese Gleichungen niemals lösen
lassen, wenn mehr als 2 Körper beteiligt sind. Das bedeutet
auch, dass wir die Vorstellung vom "Sonnensystem als
Uhrwerk" fallen lassen müssen. Man kann also die Bewegung
der Planeten nicht für jeden beliebigen Zeitpunkt in der
Zukunft exakt vorhersagen. Der Grund dafür ist, dass solche
komplexen Systeme immer auch chaotische Eigenschaften
aufweisen – auch im Sonnensystem.
Die Dynamik eines Sternhaufens
Die Dynamik des Planetensystems
Die 6 Bahnelemente der Planeten
Keplersche Bahnelemente J2000 / JPL
L=W+w+M
Genäherte Erdbahn-Ellipse BC
1000 n.Chr. – 3000 n.Chr.
a = 1,000 002 61 AE – 0,000 005 62 AE T
e = 0,016 711 23
- 0,000 043 92 T
i = 0,000 015 31° - 0,012 946 82° T
w = 102,937 681 93° + 0,323 273 64° T
W = 0,0°
L = 100,464 571 66° + 35.999,372 449° T
T = (JD – 2.451.545,0)/36.525
Kurzzeitige Bahnstörungen der Erdbahn
Exzentrizität der Erdbahn: t = (JD – 2.451.545,0)/365.250
e = 0,016 708 6342 – 0,000 420 3654 t
- 0,000 012 6734 t² + 0,000 000 1444 t³
- 0,000 000 0002 t4 + 0,000 000 0003 t5
Perihellänge der Erdbahn (J2012):
w = 102,937 348°
+ 3,255 653 583° t
+ 0,014 798 825° t² + 0,000 039 153° t³
- 0,000 031 778° t4 + 0,000 001 328° t5
Perihel läuft in 110.000 Jahren einmal
bezüglich Fixsternhimmel um!
Orbit-Berechnung mit Bahnelementen
Gegeben ein Zeitpunkt t (als Julianisches Datum).
 Aktuelle Bahnelemente des Planeten und der Erde.
 Mittlere Anomalie M = nt = L – W - w.
Aus Lösung der Kepler-Gleichung folgt E.
Aus E folgt die wahre Anomalie q.
Damit ist der Bahnpunkt (r,q) bestimmt.
Umrechnen auf ekliptikale Koordinaten.
Translation auf geozentrisch ekliptikale Koordinaten.
Umrechnen auf geozentrisch äquatoriale Koordinaten.
Am Teleskop einstellen.
Bahnelemente nach JPL
 Daten zu Sonnensystem auf JPL-Homepage:
https://ssd.jpl.nasa.gov/?orbits
Inner Solar System
Inner Solar System
Outer Solar System
the vernal equinox is to the
right along the horizontal axis
Outer Solar System
Distant Solar System
Distant Solar System
Perihel der Erdbahn & tropisches Jahr
Nach einem siderischen Jahr nimmt die Erde wieder
dieselbe Stellung bezüglich eines (unendlich weit
entfernt und ohne Eigenbewegung gedachten)
Fixsterns ein.
Die Länge des siderischen Jahres beträgt etwa
365,256 Tage, genau 365 d 6 h 9 m 9,54 s (@ J2000).
Nach einem tropischen Jahr nimmt die Erde wieder
dieselbe Stellung bezüglich des Frühlingspunkts ein.
Da der Frühlingspunkt der Erde entgegenläuft, ist
das tropische Jahr etwas kürzer als das siderische
und hat eine Dauer von etwa 365,242 Tagen.
 Nach einem anomalistischen Jahr nimmt die Erde
wieder dieselbe Stellung bezüglich ihres Perihels
ein. Da sich das Perihel rechtläufig entlang der Bahn
bewegt, ist das anomalistische Jahr etwas länger als
das siderische Jahr und hat eine Dauer von etwa
365,260 Tagen.
Langzeitentwicklung der Erdbahn
 Eiszeitzyklen von 100.000 Jahren
heute
Wikipedia/Erdbahn
Milankovicz-Zyklen
Klimaparameter über 420.000 Jahre
aus Wostok Eisbohrkernen
CO2-Gehalt der Atmosphäre nimmt zu
Astronomy: No soon Ice Age !
Jan Hollan
For the future one hundred thousand years the Earth
orbit will be almost circular, and therefore no very
cold summers can appear in northern latitudes. Cold
summer millennia occur just then, when the Earth
goes through aphelion (farthest point of its orbit from
the Sun) during the northern warmest months, and
when this aphelion is far indeed.
The latter condition is true only in times, when the
orbital eccentricity is large.
It will be large only half a million years later,
so there is no danger of a glaciation before that.
Langzeitentwicklung der Ekliptik
Wikipedia/Erdbahn
2016: jenseits des Kuiper-Gürtels
nahe am Perihel
arXiv:1606.02294/Subaru
arXiv:1606.02294/Subaru
Körper jenseits des Kuiper-Gürtels
arXiv:1606.02294/Subaru
Inner
Belt
arXiv:1606.02294/Subaru
Crash im Sonnensystem?
Als Kepler die elliptische Umlaufbahn des Mars berechnete, bemerkte er nicht,
dass die Himmelsbewegung nicht genau einer Ellipse entsprach. Die
Beobachtungsdaten, die er aus dem Nachlass seines Vorgängers Tycho Brahe
erhalten hatte, waren zwar die genauesten, die es damals gab, aber sie
verbargen kleine Abweichungen.
Die Umlaufbahn ist nämlich nur fast oder, wie man sagt, quasi periodisch. Der
Grund für die Abweichung von einer perfekten Ellipse ist, dass die Bahn eines
Planeten nicht nur von der Schwerkraft der Sonne, sondern auch von der
Gravitation aller anderen Himmelskörper beeinflusst wird. Im 19. Jahrhundert
machten sich Mathematiker daran, die Bahnen von drei oder mehr Körpern zu
berechnen, die sich gegenseitig beeinflussen. Sehr bald stellte sich dann heraus,
dass das sogenannte Dreikörper-Problem nicht exakt lösbar ist.
In der Hoffnung, junge Kollegen für das Problem zu interessieren, schlug der
schwedische Mathematiker Gösta Mittag-Leffler 1885 König Oskar II. von
Schweden und Norwegen vor, für die Beantwortung der Frage einen Preis
auszuschreiben. Zwei Jahre später wurden zwölf Arbeiten eingereicht. Doch
keine brachte die Lösung.
Immerhin gelang es dem 31-jährigen Franzosen Henri Poincaré, eine
Näherungslösung des Dreikörper-Problems anzugeben. Offen blieb aber, ob
die Bahnen wirklich stabil waren oder ob unter gewissen Umständen einer
der Planeten ins All verschwinden könnte.
Obwohl das Problem nicht exakt gelöst war, sprach die Jury Poincaré den
Preis zu, weil sie seine theoretischen Fortschritte für preiswürdig hielt. Der
Wert von Poincarés Arbeit kann tatsächlich nicht überschätzt werden. Sie hat
die Theorie dynamischer Systeme begründet, die insbesondere auch das
heute als Chaostheorie bekannte Lehrgebäude umfasst. Obwohl die
Untersuchung chaotischer Phänomene erst im letzten Viertel des 20.
Jahrhunderts mit Hilfe von Computern richtig in Angriff genommen werden
konnte, hatte Poincaré schon damals erkannt, dass auch minime Störungen
enorme Wirkungen in einem System entfalten können. Ist das Sonnensystem
also vielleicht doch nicht so stabil wie gedacht?
König Oskar II. von Schweden
Der Initiator
Gösta Mittag-Leffler:
 Professor der reinen
Mathematik an der
Stockholm Höfkola
 Gründer der “Acta
Mathematica”
 Studierte unter
Hermite, Schering,
und Weierstrass
Henri Poincare 1854 - 1912
 war ein
bedeutender
französischer
Mathematiker,
theoretischer
Physiker,
theoretischer
Astronom und
Philosoph.
Tafel am Geburtshaus von Henri Poincare in Nancy, Grande Rue 117
Henri Poincare & Albert Einstein
Am Beispiel des Dreikörperproblems lässt sich diese Theorie besonders
anschaulich erklären. Kolmogorow stellte die Frage, was mit der periodischen
Umlaufbahn eines Planeten um eine Sonne geschieht, wenn ihm eine kleine
Störung in die Quere kommt, zum Beispiel in Form eines Mondes. Seine
Antwort war, dass viele, aber nicht alle Bahnen durch die Störung quasi
periodisch werden können und somit stabil bleiben.
Als der frischgebackene Doktor der Mathematik Jürgen Moser in Göttingen auf
Ersuchen eines Redaktors der «Mathematical Reviews» eine
Zusammenfassung der Arbeit erstellen sollte, wurde er stutzig. Kolmogorows
zentrale These schien ihm nicht bewiesen, und bis heute ist strittig, ob
Kolmogorows Beweis vollständig ist. Auf alle Fälle arbeitete Moser mehrere
Jahre lang an dem Problem, dann hatte er die seiner Meinung nach
bestehende Lücke geschlossen. Der vor fünf Jahren verstorbene Moser war
lange Jahre Professor an der ETH und leitete von 1984 bis 1995 das
Forschungsinstitut für Mathematik in Zürich.
Zur gleichen Zeit wie Moser tüftelte in Moskau auch Wladimir Igorewitsch
Arnold, ein Student von Kolmogorow, an dem vertrackten Problem und lieferte
wichtige Beiträge. Zu Ehren der drei Mathematiker Kolmogorow, Arnold und
Moser wurde das neue Wissensgebäude nach ihren Initialen benannt: KAMTheorie.
Das Dreikörper-Problem
Das klassische Drei-Körper-Problem ist eines der ältesten Probleme der
klassischen Mechanik. Es beschäftigte ganze Generationen von
Mathematikern und Physikern vom 18. Jahrhundert bis heute. Dabei ist
dieses Problem eines der denkbar einfachsten der klassischen Physik: Wie
bewegen sich drei Körper unter alleinigem Einfluss ihrer Gravitation?
Obgleich diese Frage in einigen speziellen Situationen beantwortet worden
ist, blieb sie im allgemeinen Fall unbeantwortet - und wird es wohl auch für
immer bleiben. Der Grund dafür ist die Nicht-Integrabilität dieses Problems,
im Gegensatz zum trivialen Ein- oder Keplers Zwei-Körper-Problem, bei
denen die Positionen und Geschwindigkeiten der Körper bekanntlich
analytische Funktionen der Anfangsbedingungen und der Zeit sind. Solche
Funktionen existieren bei chaotischen Systemen wie dem Drei-KörperProblem nicht. Und dies ist auch ein Grund dafür, warum sich lange vor
einer Klassifizierung nach chaotischen und integrablen Systemen viele
Größen der wissenschaftlichen Geschichte wie etwa Newton, Euler,
Lagrange oder Jacobi intensiv mit diesem Problem auseinander setzten.
Das Dreikörper-Problem
Das Dreikörper-Problem
Diese Gleichungen sind nur numerisch lösbar!
Das eingeschränkte Dreikörper-Problem
Die Lagrange-Punkte oder Librationspunkte (von lateinisch
librare „das Gleichgewicht halten“) sind die
Gleichgewichtspunkte des eingeschränkten
Dreikörperproblems. Das allgemeine Dreikörperproblem
der Himmelsmechanik ist nur numerisch lösbar. Mit der
Einschränkung, dass der dritte Körper eine
vernachlässigbare Masse hat, fanden Leonhard Euler und
Joseph-Louis Lagrange fünf analytische Lösungen: In den
nach Lagrange L1 bis L5 genannten Punkten können dritte
Körper (z. B. Forschungssatelliten) kräftefrei ruhen. Es
handelt sich um Nullstellen des Schwerefeldes in jenem
rotierenden Bezugssystem, in dem auch die beiden
schweren Himmelskörper (z. B. Sonne und Planet) ruhen.
Das eingeschränkte Dreikörper-Problem
3. Masse = Testmasse  m3 << {m1,m2}
Verbindungsvektor 2 Massen: a = r2 – r1
Mitrotierendes Koordinatensystem
x
r2
r1
y
a
Bewegungsgleichung der Testmasse m
+ Coriolis- und Zentrifugalkraft in Ebene
Rotation um Schwerpunkt: W² = GM/a³
 Korioliskraft & Zentrifugalkraft
Das effektive Potenzial & Jacobi-Integral
Das Jacobi-Integral (Karl Gustav Jacob Jacobi):
Äquipotenzialflächen 3-Körper-System
Äquipotenziallinien für Testkörper-Bewegung
Die Lagrange Punkte
Lagrange-Punkte Sonne-Erde
Lagrange-Punkte Sonne-Erde
Lagrange-Punkt L2 Sonne-Erde dient
als Beobachtungsort für WMAP, …, Gaia
Die Trojaner
des Jupiter
(Asteroiden)
sind in L4 &
L5 gefangen
und laufen
mit Jupiter
um die
Sonne. Auch
die Erde hat
Trojaner.
Experimente mit 3 & 4 Körpern
https://phet.colorado.edu/sims/my-solar-system/
Merkur destabilisiert das Sonnensystem
Die Exzentrizität der Merkurbahn kann im Laufe der
Zeit durch den Einfluss von Jupiter beträchtlich
zunehmen (Resonanz), so dass die Merkurbahn bis
an die Venus heranreicht. J. Laskar hat neue
Berechnungen des Sonnensystems durchgeführt bis
zu 5 Milliarden Jahre in die Zukunft (Nature 2009),
unter Einbezug des Mondes und der ART. Dabei
variierte er die Anfangsbedingungen um wenige cm
 insgesamt 2500 Simulationen.
In 1% der Fälle erreicht die Merkurbahn eine
wesentliche Zunahme der Exzentrizität!
 Dabei werden sogar alle terrestrischen Planeten
(Merkur – Mars) innerhalb von 3 Gyr destabilisiert.
Mit Mond & Relativität
J. Laskar, Nature 2009
Berechnet man die Bewegung der Planeten unter dem
Gravitationseinfluß der Sonne und der jeweils anderen
Planeten über lange Zeiträume, so stellt man fest, dass das
äußere Sonnensystem im Wesentlichen stabil, das innere
Sonnensystem (Merkur, Venus, Erde, Mars) jedoch schwach
chaotisch ist. Das bedeutet nicht, dass die Planeten
irgendwann beginnen, regellos (also „chaotisch“) durcheinanderzulaufen. Es bedeutet lediglich, dass kleine
Unsicherheiten in den Startbedingungen einer Langzeitrechnung sich aufgrund der komplexen gravitativen
Wechselwirkungen zwischen den Planeten aufschaukeln und
schließlich der Vorhersagbarkeit Grenzen setzen. Eine
Unsicherheit von beispielsweise 15 Metern in der
Startposition der Erde führt nach 10 Millionen Jahren zu
einer Unsicherheit von etwa 150 Metern und nach 100
Millionen Jahren zu einer Unsicherheit von etwa 150
Millionen Kilometern.
Spiegel: Erde-Venus-Crash
„Das Team von Laskar hat nun herausgefunden, dass Merkur
langfristig sehr wohl die Umlaufbahnen der anderen Planeten
stören könnte. Insgesamt 2501 verschiedene Szenarien haben
die Forscher simuliert. In 25 davon kommt es zu einer
dramatischen Veränderung des Merkur-Orbits, ein Szenario
führt zum fatalen Crash der Erde. "Die Wahrscheinlichkeit
einer starken Vergrößerung der Merkur-Exzentrizität ist
ungefähr ein Prozent", schreiben die Forscher. Die
Wahrscheinlichkeit einer Kollision Erde-Venus oder Erde-Mars
sei jedoch schwer abzuschätzen. Klar ist allerdings: Sollte es
zum Zeitpunkt der Kollision noch Leben auf dem blauen
Planeten geben, dann wäre es damit danach endgültig
vorbei.“
Weißer
Zwerg
mischt
das
Sonnensystem
auf
Weißer
Zwerg
mischt das
Sonnensystem auf
Am Ende würde die
Sonne, falls sie diese
Begegnung
übersteht, allein ihre
Bahn im Orion-Arm
der Michstraße
ziehen, ihre Planeten
hätten sich in alle
Winde zerstreut.
Fazit
• Das Planetensystem ist kein 2-Körper-System,
sondern ein N-Körper-System, dessen zeitliche
Entwicklung nur numerisch auf langer Zeitskala
berechnet werden kann.
• Unser Planetensystem ist recht stabil gebaut –
die Exzentrizitäten der Bahnen bleiben klein,
außer bei Merkur, der in einigen Milliarden
Jahren der Venus gefährlich nahe kommen
könnte.
• Die meisten extrasolaren Planetensysteme sind
nicht stabil gebaut  ungeeignet für die
Entwicklung von Leben!
Herunterladen