Sachverhalt - FernUni Hagen

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Wir schreiben das Jahr 71 v. Chr.: Der Anwalt und frisch gewählte Senator Marcus Tullius
Cicero plant, sich in Rom einen Namen zu machen. Die Gelegenheit hierzu bekommt er, als
ihn eines Abends ein Freund aus Sicilia aufsucht.
Dieser berichtet ihm, dass er vom Gouverneur von Sicilia, Gaius Verres, um Land und Besitz
gebracht worden sei und anschließend gezwungen gewesen sei, die Insel zu verlassen, da ihm
dort wegen Ungehorsams – er hatte sich geweigert, dem Gouverneur seine Kunstschätze auszuhändigen – ein Prozess drohe, dessen Ergebnis nur die Todesstrafe sein könne. Cicero sagte
zu, den Gouverneur von Sicilia nach Ablauf von dessen Amtszeit und seiner anschließenden
Rückkehr nach Rom öffentlich anzuklagen. Das Gesetz erlaubte ihm 110 Tage, um die entsprechenden Beweise zu sammeln und zu sichern und eine Anklage zu verfassen. Zu diesem
Zwecke reiste Cicero nach Sizilien, wo er als zukünftiger Ankläger des grausamen und habgierigen Verres von der Bevölkerung als Held empfangen wurde. Entsprechend groß war auch
die Bereitschaft, den Senator in seiner Beweissuche zu unterstützen. So hörte er über 100
Zeugen, die allesamt aussagten, Verres´ Männer hätten ihre Besitztümer, zumeist Statuen,
Gemälde und Kunstgegenstände aller Art, im Namen des Gouverneurs konfisziert. Die Gegenstände – so hieß es – seien nicht privateigentumsfähig, da es sich größtenteils um Abbildungen verschiedener Gottheiten handele, die der Öffentlichkeit zugänglich sein müssten.
Cicero fand schnell heraus, dass diese Begründung nur vorgeschoben war: ein Priester der
Ceres nämlich berichtete ihm, dass Verres die goldene Statue der Göttin der Feldfrüchte aus
ihrem Haupttempel hatte entfernen lassen. Ebenso hatte er einigen Berichten zufolge mehrere
Statuen beschlagnahmen lassen, die zuvor Dorfzentren geschmückt hatten.
Von all den entwendeten Gütern ließ sich in ganz Sicilia nicht auch nur eines wieder finden.
Im Gegensatz zur Bevölkerung waren die Verwaltungsbeamten der Insel jedoch nicht hilfreich gestimmt. Cicero vermutete hinter dem Unwillen der Beamten ein durch massive Bestechung ausgeweitetes Netz von Helfershelfern, gegen das nur schwerlich anzukämpfen war.
Alle Aufzeichnungen über Verschiffungen oder Kontobewegungen auf Seiten des Gouverneurs waren auf mysteriöse Weise entweder unvollständig oder abhanden gekommen.
Derselbe Priester, den Cicero wegen des Diebstahls der Ceres-Statue angehört hatte, wies
jedoch darauf hin, dass er aus sicherer Quelle wisse, dass eine vollständige Kopie der insel-
weiten Finanzaktivitäten existiere, und zwar im Besitz des Steuerverwalters. Unter Aufbietung einer ganzen Horde von Bürgern stattete Cicero dem Steuerbeamten einen Besuch ab.
Zwar war der Beamte angewiesen, niemanden an die bei ihm lagernden Dokumente zu lassen,
er ließ sich aber schnell umstimmen, nachdem Cicero ihm die offizielle Erlaubnis des für das
Verfahren zuständigen Praetors1 (Richters) mit dem Siegel des Senats gezeigt und ihn auf die
Konsequenzen fehlender Kooperation (öffentliche Anklage wegen Behinderung der Justiz)
hingewiesen hatte. In den Dokumenten fanden sich u. a. folgende Hinweise auf die Aktivitäten des Verres:
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Das Konto des Gouverneurs wies zum Zeitpunkt seiner Amtsübernahme einen Stand
von etwa 250.000 Sesterzen auf, was angesichts der Pflicht jedes Senators, die Kosten
seines Amtes und der hierzu gehörenden Verfügungen selbst zu tragen, durchaus
unauffällig war 2.
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Es hatte aber schon kurz nach Amtseinführung größere Bewegungen auf dem Konto
gegeben, unter anderem eine aus Rom stammende Zuwendung von 600.000 Sesterzen.
Diese Summe war aber nach sehr kurzer Zeit dann Stück für Stück in einzelnen, kleinen und exakt gleichen Beträgen vom Konto verschwunden.
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Gegen Ende der dreijährigen Herrschaft Verres´ über Sicilia häuften sich größere Beträge, die von einigen der namhaftesten Senatoren und Adligen stammten. Zufälligerweise koinzidierten die Zahlungen jeweils mit dem Verschwinden bestimmter Gegenstände aus Sicilia, die größte in Höhe von 500.000 Sesterzen nur vier Wochen nach
Entwendung der Ceres-Statue aus dem Haupttempel.
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Cicero fand auch heraus, dass Verres die Mittelmeerpiraten bestochen hatte, und zwar
dergestalt, dass diese gegen „Fangprämie“ Handelsschiffe überfallen und samt Besatzung nach Sicilia bringen sollten. Mit den so gewonnenen Waren finanzierte Verres
sich seinen kostspieligen Lebenswandel, während er die unauffälligen Schiffe dazu
nutzte, Schmuggelware aus Sicilia – darunter auch die Ceres-Statue – unentdeckt zu
ihren Bestimmungspersonen nach Rom zu verschiffen.
1
2
Die Praetoren wurden jedes Jahr aus einer Handvoll Senatoren von römischen Bürgern (mit
entsprechendem Wahlrecht) gewählt. Auf seine Wahl hin bekam jeder Praetor nach dem
Zufallsprinzip den Vorsitz über eines der acht römischen Gerichte (Fora). Das in Rede stehende
Forum, vor dem Verres der Prozess gemacht werden sollte, war das Unterschlagungs- und
Hinterziehungsgericht, vor dem im Geschworenenprozess (zwölf Senatoren bildeten die Jury) zu
verhandeln war. Das Verfahren war öffentlich: Jeder, der es sehen wollte, konnte dies auch tun (sofern er
Platz im Forum fand).
Voraussetzung für die Wahl zum Senator war damals ein persönliches Vermögen von 1.000.000
Sesterzen; die Option, Gouverneur einer Provinz zu werden, sollte dem jeweiligen Senator
Gelegenheit geben, vor Anstreben höherer Ämter sein Vermögen entsprechend aufzustocken.
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Die Besatzungen verkaufte er entweder als Sklaven an die Piraten oder ließ sie anstelle
der Piraten öffentlich hinrichten.
Mit einer Kiste voller Beweise und den Namen Hunderter von Zeugen kehrte Cicero nach
Rom zurück und machte sich sogleich daran, das Postulatum zu verfassen, das das Schicksal
des Verres besiegeln sollte…
Aufgaben:
1. Formulieren Sie das Postulatum (die Anklageschrift) gegen Verres!
2. Verwenden und kennzeichnen Sie mindestens fünf rhetorische Stilmittel!
3. Begründen sie - separat - in drei Fällen kurz, warum sie sich für das
jeweilige Stilmittel entschieden haben!
Bearbeitungshinweise:
Bedenken Sie, dass im Rom der Antike ein Anwalt zugleich immer auch Redner war, der zur
Überzeugung nicht auf Beweismittel allein, sondern auch auf sein rhetorisches Geschick vertrauen musste. Das Postulatum kann in Bezug auf Sachlichkeit kaum so nüchtern ausfallen
wie eine moderne Anklageschrift. Bei der Aufführung der Beweismittel ist es Ihnen erlaubt,
die Geschichten der Zeugen nach eigenem Gutdünken auszuschmücken oder ganz oder teilweise zu erfinden.
Versuchen Sie, entweder alle (oder möglichst viele) Verbrechen des Verres angemessen zu
bezeichnen, um Verres mit der schieren Anzahl an Vorwürfen zu begegnen, oder aber konzentrieren Sie Ihre Anklage auf die schwersten Vergehen und schmücken Sie diese aus. Gehen Sie bitte in Ihrer Straftatensuche von der heutigen Strafrechtslage aus (beachten Sie jedoch das Problem des Ceres-Tempels!).
Die Anklageschrift soll nicht der heute üblichen Form entsprechen, sondern in Form einer
(politischen) Rede dargebracht werden.
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