M. Tulli Ciceronis orationes Einleitung Reden gegen Verres In den Jahren 73-71, also in derselben Zeit, da Spartakus Italien in Angst und Schrecken setzte, regierte auf Sizilien der Statthalter Gaius Verres, der Inbegriff eines korrupten, habgierigen und grausamen römischen Provinzgouverneurs. Daß er so lange regierte, war eine Folge der Spartakus-Unruhen: der Nachfolger Quintus Arrius stand schon im Jahre 72 bereit, ihn abzulösen; da wurde er für den Kampf gegen die aufständischen Sklaven benötigt und blieb aus. Ebenso war wohl auch das dritte Jahr der sizilischen Statthalterschaft des Verres durch die Spartakus-Gefahr bedingt. Dabei wußte man damals in Rom schon genug von dem, was sich auf Sizilien abspielte. Im Herbst 72 war Sthenius, ein Notabler aus Thermai (an der Nordküste Siziliens), in Rom erschienen: er suchte Hilfe gegen die Willkürtaten des Verres. Er war ein recht vermögender Mann und hatte zeit seines Lebens Kunstwerke und wertvolles Hausgerät gesammelt; Verres, sein Gastfreund, nahm ihm nach und nach teils bittend, teils fordernd seine Schätze ab. Nun gab es in Thermai auf öffentlichen Plätzen mehrere alte Bronzestatuen; sie stammten aus Himera, einer Thermai benachbarten Stadt, die im Jahre 409 von den Karthagern zerstört und nie wieder aufgebaut worden war. Der jüngere Scipio hatte diese karthagischen Beutestücke, nachdem er Karthago erobert hatte, den Nachfolgern der ursprünglichen Besitzer, den Bewohnern von Thermai, zurückgegeben. Sthenius nahm den Raub an seinem privaten Eigentum hin; als Verres jetzt auch nach den Prunkstücken der Gemeinde, darunter einem Standbilde des Dichters Stesichoros (6. Jahrhundert v. Chr.), verlangte, da erwirkte er im Rat von Thermai einen ablehnenden Bescheid. Verres war wütend; er kündigte die Gastfreundschaft mit Sthenius auf und verbündete sich mit dessen Feinden. Er veranlaßte, daß Sthenius vor seinem Tribunal wegen Urkundenfälschung angeklagt wurde. Sthenius entzog sich dem Prozeß durch die Flucht; er wurde in Abwesenheit zu einer Strafe von 5oo ooo Sesterzen verurteilt. Verres, hiermit noch nicht zufrieden, ließ daraufhin auch wegen eines Kapitalverbrechens Anklage gegen Sthenius erheben; als Termin für die Verhandlung wurde der 1. Dezember festgesetzt. Sthenius war inzwischen in Rom eingetroffen, wo er viele Freunde hatte; die Konsuln erstatteten dem Senat Bericht über die Affäre und stellten den Antrag, man möge beschließen, daß Abwesende in den Provinzen nicht wegen kapitaler Verbrechen belangt werden dürften. Der Vater des Verres - er war Senator wußte indes den Beschluß zu hintertreiben; den Beschützern des Sthenius versicherte er, daß er seinen Sohn von dem Vorhaben abbringen werde. Verres fällte nichtsdestoweniger ein Schuldurteil, obwohl nicht nur der Angeklagte, sondern auch der Ankläger ausgeblieben war. Nun hatten die Volkstribunen soeben einen Erlaß verkündet, der Personen, die in einem Kapitalprozeß verurteilt worden waren, aus Rom verwies; Cicero erwirkte vom Tribunenkollegium die Feststellung, daß sein Gastfreund Sthenius hiervon nicht betroffen sei. Der Fall zeigt, wie es mit der von Sulla restaurierten Senatsherrschaft stand: vielfältige freundschaftliche Beziehungen und gegenseitige kollegiale Rücksicht verhinderten Maßnahmen gegen noch so offenkundige Willkürakte eines Standesgenossen. Gnaeus Pompeius Magnus (»der Große«) und Marcus Licinius Crassus Dives (»der Reiche«) hatten sich im Bürgerkrieg beide auf Seiten Sullas hervorgetan; Crassus legte sodann, indem er Besitzungen von Proskribierten an sich brachte, den Grund zu seinem riesigen Vermögen. Schon im Jahre 71 kündigte sich an, daß die beiden gemeinsam als Konsuln des folgenden Jahres einen popularen Kurs zu steuern und einschneidende Reformen durchzusetzen gedachten, die sich gegen die reaktionäre Verfassung Sullas richten sollten. Sie haben dann auch wirklich die letzten noch bestehenden Beschränkungen wiederaufgehoben, denen Sulla das Volkstribunat unterworfen hatte, und gegen Ende des Jahres 70 wurde das Richteramt, seit Sullas Diktatur eine ausschließliche Domäne der Senatoren, zu je einem Quelle: Manfred Fuhrmann: Cicero und die römische Republik, 1991, S. 63ff. 1 M. Tulli Ciceronis orationes Einleitung Reden gegen Verres Drittel auf die Senatoren, die Ritter und die sogenannten Ärartribunen (man weiß nicht genau, worum es sich dabei gehandelt hat) verteilt. In diesem politischen Klima setzten starke senatorische Kreise alles daran, die Demaskierung eines der schlimmsten Vertreter ihres Standes zu verhindern. Bereits im Jahre 71, als Verres noch in Sizilien weilte, waren Gesandte fast sämtlicher sizilischer Gemeinden in Rom erschienen. Sie wollten von der einzigen Waffe Gebrauch machen, die der römische Staat seinen Untertanen gegen fehlbare Beamte zugestanden hatte, von der Strafklage wegen Erpressungen. Hierfür gab es einen eigenen Geschworenengerichtshof; die Sizilier durften dort ihre Sache allerdings nicht selbst verfechten, sondern mußten sich von einem römischen Anwalt vertreten lassen. Sie baten Cicero, dessen Redlichkeit sie erprobt hatten, sich ihrer anzunehmen, und dieser sagte zu. Es war so ziemlich das einzige Mal in seinem Leben, daß er sich bereit fand, die Rolle des Anklägers zu übernehmen; in fast all den anderen Strafprozessen, an denen er beteiligt war, trat er als Verteidiger auf. Als er zu Beginn des Jahres 70, um die Zeit, da Verres Sizilien verließ, bei dem für Erpressungssachen zuständigen Prätor Anzeige erstattete, da stieß er sofort auf das erste Hindernis, das die Freunde des Verres errichtet hatten, den Prozeß zu verzögern oder gänzlich zu hintertreiben. Denn ein Gefolgsmann und ehemaliger Quästor des Verres, Quintus Caecilius Niger, verlangte ebenfalls, die Anklage übernehmen zu dürfen - um sie dann so zu führen, daß sie für Verres ungefährlich war. Nunmehr mußte zunächst in einem Vorverfahren geprüft werden, wer das bessere Anrecht hatte. Cicero hielt seine »Divinatio in Caecilium«, die »Mutmaßung gegen Caecilius«, und obsiegte. Er war jetzt offizieller Ankläger des Verres; er erbat sich vom Prätor eine Frist von 110 Tagen, zu ermitteln und die Beweise - Urkunden und Zeugen - herbeizuschaffen. Er begab sich sofort, begleitet von seinem Vetter Lucius, nach Sizilien. Er durchstreifte während des ungewöhnlich strengen Winters fünfzig Tage lang die ganze Insel und sammelte das eindrucksvolle Belastungsmaterial, das die Bücher 2-5 der 2. Verres-Rede füllt. Dabei wurde er auch auf Sizilien von der Gegenseite nach Kräften behindert. Dort hatte, als Nachfolger des Verres, ein Lucius Caecilius Metellus die Statthalterschaft inne. Der aber gehörte zur Verres-Clique, mitsamt seinen Brüdern Quintus und Marcus und mitsamt dem Verteidiger des Verres, dem Redner Hortensius. Der Bruder Quintus und Hortensius bewarben sich damals um das Konsulat des Jahres 69, und Marcus Caecilius Metellus strebte für dasselbe Jahr die Prätur an. Verres wiederum hatte sich anheischig gemacht, mit einem Teil des den Siziliern abgepreßten Geldes den Wahlen durch Bestechungen zu dem von seinen Freunden gewünschten Ausgang zu verhelfen. Cicero mußte daher manchen Widerstand überwinden, um durchzuführen, was ihm von Gesetzes wegen gestattet war: Urkunden beizubringen, Zeugen zu vernehmen und die Gemeinden dazu zu veranlassen, daß sie Gesandtschaften zum Prozeß abordneten. Cicero kehrte rechtzeitig, vor Ablauf der Frist von 110 Tagen, nach Rom zurück. Dort aber war die Verres-Clique nicht untätig gewesen, und so harrte seiner eine neue Überraschung. Unmittelbar nach der Zulassung seines Prozesses gegen Verres war bei demselben Prätor ein anderer Ankläger erschienen, und dieser hatte für seine Sache, einen angeblichen Erpressungsfall in Achaia, um eine Frist von 108 Tagen gebeten. Der Prätor aber pflegte die Verhandlungstermine nach Maßgabe der jeweils beantragten Ermittlungsfristen festzusetzen. So auch hier; die achäische Sache erhielt wegen der um zwei Tage kürzeren Frist den früheren Termin. Cicero behauptet, diese List habe eine Verzögerung von drei Monaten zur Folge gehabt; der Prozeß begann erst am 5. August. Die Finte war Teil eines ausgeklügelten Planes. Das Jahr 70, das Konsulatsjahr des Pompeius und Crassus, bot ja wegen der popularen Agitationen gegen Mißstände des Senatsregiments denkbar ungünstige Voraussetzungen für die Absichten des Verres, Quelle: Manfred Fuhrmann: Cicero und die römische Republik, 1991, S. 63ff. 2 M. Tulli Ciceronis orationes Einleitung Reden gegen Verres insbesondere für eine Bestechung des Gerichts. Die Clique bemühte sich daher um eine Verschleppung des Prozesses ins nächste Jahr; sie konnte hoffen, daß dann Hortensius und die beiden Meteller als Inhaber des Konsulats und einer Prätorenstelle alles tun würden, einen Freispruch zu erreichen. Zwei Umstände kamen ihr hierbei zustatten. Der römische Prozeß kannte die Einrichtung der Ampliation (Vertagung): das Gericht konnte nach Abschluß des Beweisverfahrens feststellen, daß die Sache noch nicht hinlänglich aufgeklärt sei, womit ein abermaliges Beweisverfahren angeordnet war. Beim Prozeß wegen Erpressungen mußte kraft gesetzlicher Vorschrift das gesamte Beweismaterial zweimal vorgeführt werden: auf eine actio prima folgte stets eine actio secunda, ehe es zu einem Urteil kam. Das Verfahren wurde hierdurch erheblich verlangsamt. Außerdem aber standen im Jahre 70 von Mitte August bis Mitte November extrem wenige Wochen für die Rechtsprechung zur Verfügung: zu den regelmäßig wiederkehrenden Festperioden kamen noch die außerordentlichen Spiele, die Pompeius für seinen Sieg in Spanien gelobt hatte. Die Wahlen für das Jahr 69, die Ende Juli stattfanden, brachten der Verres-Clique einen vollen Erfolg: Hortensius und Quintus Metellus bekamen das Konsulat. Marcus Metellus aber wurde nicht nur zum Prätor gewählt; das Los spielte ihm überdies noch den Vorsitz im Gerichtshof für Erpressungen zu. Da bedeutete es wenig, daß es ein paar Tage darauf nicht gelang, Ciceros Wahl zum Ädilen zu verhindern: Verres nahm bereits die Glückwünsche seiner Freunde entgegen. Als am Nachmittag des 5. August die erste Verhandlungsperiode begann, erklärte Cicero, statt das übliche, den gesamten Prozeßstoff erörternde Plädoyer vorzutragen, daß er sich sofort dem Beweisverfahren zuwenden werde. Vom 6. bis zum 13. August wurde daraufhin Punkt für Punkt durch Zeugen und Urkunden dargetan, daß Verres während seiner dreijährigen Statthalterschaft 40 Millionen Sesterze erpreßt habe. Die Gegenseite war auf eine derart scharf zupackende Anklage nicht vorbereitet: als das Gericht nach zwei Festperioden am 20. September zur zweiten Verhandlung zusammentrat, hatte Verres aus dem Scheitern seines Verschleppungsplanes bereits die Konsequenzen gezogen; er war - was ihm nach damaligem Recht bis zu seiner Verurteilung freistand - mitsamt seinen Reichtümern ins Exil nach Massilia (Marseille) entwichen. Der Gerichtshof sah die Schuld des Angeklagten als erwiesen an; im letzten Abschnitt des Verfahrens, bei der Festsetzung der Entschädigungssumme, wurde, wie Plutarch berichtet, befunden, daß Verres nur drei Millionen Sesterze zurückzahlen müsse - vielleicht war dies die Summe der Werte, die man noch hatte beschlagnahmen können. Die Sizilier waren gleichwohl sehr zufrieden: der Prozeß hatte immerhin ein Exempel statuiert. Cicero aber verließ den Gerichtssaal als doppelter Sieger: er hatte nicht nur den Angeklagten, sondern auch dessen Verteidiger Hortensius überwunden; er galt nunmehr als erster Redner Roms. Er hat seine Plädoyers gegen Verres alsbald veröffentlicht, nicht nur die beiden wirklich gehaltenen, die Rede gegen Caecilius und die Ansprache vom 5. August, sondern auch den gewaltigen Prozeßstoff, den er nicht mehr in zusammenhängender Darstellung hatte vorführen können: er machte hieraus die fiktive actio secunda, als habe sich Verres wider Erwarten doch der zweiten Verhandlung gestellt. Die actio secunda, ein nicht nur in historischer, sondern auch in literarischer Hinsicht überaus bemerkenswertes Werk, ist somit in Wahrheit keine Prozeßrede (dazu wäre sie auch viel zu lang), sondern eine in die Form einer Prozeßrede gekleidete Dokumentation über eine politisch bedeutsame Affäre. Quelle: Manfred Fuhrmann: Cicero und die römische Republik, 1991, S. 63ff. 3