Institut für medizinische & molekulare Diagnostik AG 14 · CH-8008 Zürich · Telefon 0041 44 497 Falkenstrasse 30 60 Gilbert-Meulengracht Syndrom OMIM 143500 1. Bedeutung 1906 wurde das Krankheitsbild erstmals als "cholémie simple familiale" von Gilbert und Lereboulette beschrieben [1]. Das Gilbert-Meulengracht Syndrom (syn. Gilbert Syndrom (GS), Icterus juvenilis Meulengracht) ist charakterisiert durch Episoden von Gelbsucht mässigen Grades, die meist in der Adoleszenz erstmals auftreten und vielfach durch belastende Umstände wie Infekte, Fasten, psychischer Stress etc. ausgelöst werden. Die Betroffenen beunruhigt vor allem das Kolorit, manche klagen auch über nicht spezifische, schwierig einzuordnende Symptome während der Schübe wie Schwäche, Müdigkeit und/oder vage abdominale Beschwerden. Die Erkrankung ist mit 3 bis 7% in der weissen Bevölkerung häufig, sie betrifft 2-5mal mehr Männer als Frauen. Das GS ist von klinischer Bedeutung, weil unzählige andere Ursachen für einen Ikterus ausgeschlossen werden müssen, z.B. chronische Hämolysen, Störungen der ableitenden Gallenwege, okkulte Lebererkrankungen, auch Nebenwirkungen gewisser Medikamente (Probenecid, Rifamycin u.a. Antibiotica). Eine Diagnose per exclusionem ist immer unbefriedigend. Die positive Bestätigung des klinischen Verdachts erlaubt es, den Patienten von seinen Ängsten zu befreien und ihm umfangreiche oder gar invasive Abklärungen zu ersparen. Das GS ist eine völlig gutartige Affektion, die weder der Überwachung noch der Behandlung bedarf. Die Betroffenen haben eine normale Lebenserwartung. Der Vererbungsmodus wird als autosomal rezessiv angenommen, steht aber noch nicht eindeutig fest [2]. Das GS beruht auf einer Störung des Bilirubinstoffwechsels infolge reduzierter Aktivität der Bilirubin-UDPGT (Uridyl-DiPhosphoglucuronat-Glucuronyl-Transferase). Bilirubin ist ein toxischer, hydrophober Farbstoff, der zu 80% aus dem Abbau des Hämoglobins überalterter Erythrozyten anfällt. Die UDPGT wird in den Hepatozyten gebildet und ist verantwortlich für die Bindung von Bilirubin an die UDP-Glucuronsäure, wodurch es in wasserlösliche Form umgewandelt und abbaubar wird. Beim GS ist die Aktivität des Enzyms auf etwa 30% reduziert, was sich in einem mässigen Anstieg von unkonjugiertem Bilirubin im Serum auf 20 bis 100 µmol/L abzeichnet. 1995 wurde das Gen UGT1 charakterisiert, das für die UDP-Glucuronyltransferase 1 codiert. Es liegt auf Chromosom 2 (2q37) und enthält 5 Exons. Der ursächliche Defekt liegt nicht in einer codierenden Sequenz, sondern im regulatorischen Bereich, in der Promotor-Region von Exon 1. In der TATA Box, die normalerweise 6 TA-Repeats enthält (Genotyp A(TA)6TAA), findet sich als häufigste Mutation bei Europäern ein siebentes TA-Dinukleotid (A(TA)7TAA). Für das GS typisch ist die homozygote Mutation TA7/TA7. Das verlängerte TATAA-Element beeinträchtigt die Expression der UDPGT. Selten liegt eine compound Heterozygotie TA7 mit einer zusätzlichen Mutation in einer kodierenden Sequenz von Exon 1 bis 5 vor. Bei Asiaten mit GS wurden nur strukturelle Mutationen, jedoch keine in der Promotor-Region gefunden [3]. Interessehalber sei eine weitere hereditäre, allerdings extrem seltene Form von unkonjugierter Hyperbilirubinämie erwähnt, die vom genetischen Standpunkt her eng verwandt ist mit dem GS, 5 6 das Crigler-Najjar Syndrom (CN). Es betrifft 1 auf 10 bis10 Geburten. Auf Grund der Klinik, der Bilirubinkonzentration im Serum und des Ansprechens auf Phenobarbital werden zwei Typen unterschieden: Institut für medizinische & molekulare Diagnostik AG 14 · CH-8008 Zürich · Telefon 0041 44 497 Falkenstrasse 30 60 Typ I (OMIM 218800) ist die schwere Form mit massiver Hyperbilirubinämie (300 bis >700 µmol/L). Sie führt zum Neugeborenenikterus mit hohem Risiko für einen Kernikterus oder zum Tod in den ersten Lebensmonaten [4]. Die einzig mögliche Behandlung ist eine Lebertransplantation. Beim Typ II (OMIM 606785) ist der Bilirubinspiegel weniger hoch (100 bis 300 µmol/L). Durch lebenslange Einnahme von Phenobarbital kann er gesenkt und damit der Verlauf gemildert werden. Die Entwicklung einer Bilirubin-Enzephalopathie ist aber auch im Erwachsenenalter noch möglich [5]. Die CN verursachenden Mutationen liegen ebenfalls im UGT1 Gen. Von den über 50 inzwischen bekannten liegen alle in kodierenden Regionen. Sie führen zur vollständigen Inaktivierung der UDPGT (Typ I) oder zu einer Restaktivität von <10% (Typ II). Es ist absehbar, dass die Kenntnisse über die molekulare Pathologie des UGT1 Gens die Abgrenzung des GS von milderen Manifestationen des CN II in Zukunft komplexer werden lassen. Die klinische Einteilung in GS, CN I und CN II ist nach wie vor hilfreich. Molekulargenetisch aber sind die Krankheitsbilder sehr eng verwandt. Sie werden verursacht durch die Kombination verschiedener Mutationen im gleichen Gen, deren unterschiedliche Auswirkungen auf die Funktion der UDPTG den Schweregrad der Affektion bestimmen [6,7]. 2. Nachweismethoden Die Diagnose GS kann heute molekulargenetisch definiert werden. Die Untersuchung erfolgt mittels PCR und Fragmentlängenanalyse. Der Nachweis von Homozygotie für TA7 ist diagnostisch. Liegt die Mutation TA7 heterozygot vor, kann die Analyse bei Bedarf auf die kodierenden Regionen der Exons 1-5 erweitert werden. 3. Indikationen • Diagnose Gilbert-Meulengracht Syndrom • Familienangehörige eines Indexpatienten • Differentialdiagnose indirekte Hyperbilirubinämie 4. Untersuchungsmaterialien • 2-5 ml EDTA Blut ______________________________________________________________________________________________ Literatur: [1] A.Gilbert, P. Lereboulette. La cholémie simple familiale. Semaine Médicale 1906, 21:241-245. [2] eMedicine, World Medical Library. Gilbert syndrome. www.emedicine.com/med/topic870.htm [3] P.J. Bosma, J.R. Chowdhury, C. Bakker, S. Gantla, A. de Boer, B.A. Oostra, D. Lindhout, G.N.J. Tytgat, P.L.M. Jansen, R.P.J. Oude Elferink, N.R. Chowdhury. The genetic basis of the reduced expression of bilirubin UDP-glucuronosyltranferase 1 in Gilbert's syndrome. N. Engl. J. Med. 1995, 333:1171-1175. [4] J.F. Crigler, V.A. Najar. Congenital familial nonhemolytic jaundice with kernicterus, Pediatrics 1952, 10:169-180. [5] I.M. Arias. Chronic unconjugated hyperbilirubinemia without overt signs of hemolysis in adolescents and adults. J. Clin. Invest. 1962, 41:2233-2245. [6] M. Sampietro, A. Iolascon. Molecular pathology of Crigler-Najjar type I and II and Gilbert's syndromes. Haematologica 1999, 84:150-157. [7] A. Kadakol, B.S. Sappal, S.S. Ghosh, M. Lowenheim, A. Chowdhury et al. Interaction of coding region mutations and the Gilbert-type promoter abnormality of the UGT1A1 gene causes moderate degrees of unconjugated hyperbilirubinaemia and may lead to neonatal kernicterus. J. Med. Genet. 2001, 38:244-249.