Evolutionäre Erkenntnistheorie — eine Polemik

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Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich (1988) 133/3: 125-142
Evolutionäre Erkenntnistheorie — eine Polemik
Gereon Wolters,
Universität Konstanz
Evolutionäre Erkenntnistheorie versteht sich als evolutionstheoretische, also nicht «philosophische», sondern «wissenschaftliche» Untersuchung unseres Erkenntnisvermögens und seiner Leistungen. Als Hauptproblem wird die Erklärung der vorausgesetzten, mindestens partiellen Übereinstimmung von Erkenntnis- und Weltstrukturen angesehen. In diesem Papier wird argumentiert, dass der evolutionär erkenntnistheoretische Ansatz zirkulär und «metaphysisch» ist. Ferner
ist er begrifflich ungenügend und vertritt eine obsolete Variante des Darwinismus, die Beliebiges
evolutionär zu «erklären» vermag («Panglossismus»). Die anthropologisch-ethischen Ansprüche,
die unter dem Titel «kopernikanische Wende» erhoben werden, sind eine Neuauflage des prinzipiell untauglichen und abzulehnenden Versuchs einer wissenschaftlichen Fundierung («Naturalismus») menschlichen Selbstverständnisses.
Evolutionary Epistemology – A Polemic
Evolutionary epistemology can be viewed as an evolutionary, i.e. not as a "philosophical" but as
a "scientific" investigation of our epistemological capability and its achievements. The presumed,
at least partial correspondence between the structure of our knowledge and the structure of the
world is the main problem. I argue in this paper that the evolutionary approach to knowledge is
circular and "metaphysical". This approach, moreover, is inadequate from a conceptual point of
view and represents an obsolete variant of Darwinism that is capable of "explaining" almost
everything in evolutionary terms ("Panglossism"). The anthropological and ethical claims made
under the name of "Copernican revolution" are a new edition of what is in principle an unsuitable and unacceptable attempt at a scientific grounding ("naturalism") of human self-understanding.
1 Einleitung
Es gibt ein in der deutschsprachigen Philosophie sehr beachtetes philosophisches Mitteilungsblatt, das in der Schweiz herauskommt. In der Mai-Ausgabe
1987 heisst es dort im Editorial des Herausgebers: «Im allgemeinen sind für
einen philosophischen Kongress 300 Besucher sehr viel, am Eröffnungstag
[des Kolloquiums über evolutionäre Erkenntnistheorie] in Wien waren es jedoch an die tausend Personen, die den Vorträgen zuhörten (diese mussten
über Fernsehen in die einzelnen Vorlesungssäle übertragen werden) z.» Dass
in Zürich erheblich weniger Interessenten an evolutionärer Erkenntnistheorie
und versprochenen philosophischen Bemerkungen darüber auf die Beine zu
bringen sind, kann also kaum an der mangelnden Attraktion des Gegenstandes liegen. Überhaupt dürfte es kein der theoretischen Philosophie angehö' Überarbeitete Fassung eines Vortrags vor der Zoologischen Gesellschaft Zürich (3. 11.1987).
2
Information Philosophie, Heft 2, Mai 1987, S. 3, Editorial (P. Moser). Die Veranstalter sprechen sogar von «über tausend» Teilnehmern (R. Riedl, in: R. Riedl/F. Wuketits [eds.] [1987,
S. 5]). Auf die in diesem (zur Zeit meines Vortrags noch nicht greifbaren) Band vertretenen Auffassungen kann hier nicht weiter eingegangen werden.
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rendes Thema geben, das derzeit eine vergleichbare Popularität besitzt. Das
Fernsehen, vor allem das österreichische, hat sich seiner in mehreren Sendungen angenommen 3 . Auch fehlt es nicht an mehr oder weniger ausführlichen
Presseberichten darüber (z. B. D. E. Zimmer, 1980). Hoimar von Ditfurth
sChliesslich hat unserem Thema in einer Monographie die populärwissenschaftliChen Weihen erteilt (H. von Ditfurth, 1976). – Kurz, bei der evolutionären Erkenntnistheorie haben wir es mit einer bei einem breiten Publikum ausserordentlich erfolgreichen Theorie zu tun. Da mag an den weniger erfolgreichen Denkern schon ein wenig der Neid nagen: Ist die riesige Popularität der
evolutionären Erkenntnistheorie nicht ganz einfach ein Indiz für eine Modeströmung, die gekommen ist und gehen wird wie andere intellektuelle Moden
vor ihr: wie der Existentialismus, der Strukturalismus, der Neomarxismus
oder die nouvelle philosophie? – So einfach indes lässt sich die evolutionäre
Erkenntnistheorie nicht in den Bereich des Ephemeren, der Moden für eine
Saison abdrängen; schon gar nicht in der Selbsteinschätzung ihrer Vertreter.
Diese reden nämlich gern im Blick auf ihre Disziplin von einer «kopernikanischen Wende». Ja, von der «wahren kopernikanisChen Wendung» (G. Vollmer, 1983, S. 170) in der Philosophie ist die Rede. Was auch immer nun
«kopernikanische Wendung» genau bedeuten soll: bei der evolutionären Erkenntnistheorie kann es sich danach nur um einen theoretischen Vorgang von
säkularer Bedeutung, nicht aber um eine schnellebige ModeersCheinung handeln. Wer in der evolutionären Erkenntnistheorie «keinen Fortschritt sieht,
[...] hat dann das Risiko auf sich genommen, vielleicht eine der entscheidendsten Entwicklungen in der gesamten Geschichte der Erkenntnistheorie verschlafen zu haben» (E. Oeser, in: A. Riedl/F. Wuketis, 1987, S. 41).
Was ist das eigentlich: evolutionäre Erkenntnistheorie? Der Beantwortung
dieser Frage ist der erste Teil gewidmet. ICh prüfe dann den zentralen philosophisChen Anspruch der evolutionären Erkenntnistheoretiker. Dieser besteht
darin, dass die evolutionäre Erkenntnistheorie in der Lage sei, die Übereinstimmung unserer Erkenntnis mit der erkenntnisunabhängigen Wirklichkeit
zu erklären. Sodann werde ich, und damit bin ich auCh schon beim Schluss,
ein paar kritische Bemerkungen zu der angeblich durch die evolutionäre Erkenntnistheorie herbeigeführten «kopernikanischen Wendung» der Philosophie sagen'.
So z. B. in einem Gespräch mit einem der Protagonisten der evolutionären Erkenntnistheorie, dem Wiener Zoologen Rupert Riedl. Das Gespräch ist dokumentiert in F. Kreuzer, 1981.
^ Ich beziehe mich bei meinen kritischen Anmerkungen insbesondere auf die Schriften von
G. Vollmer, in denen die evolutionäre Erkenntnistheorie in philosophischer Hinsicht den klarsten
Ausdruck gefunden hat. Vor allem die Schriften Riedls haben – worauf Vollmer in einer Rezension (G. Vollmer, 1982) bedauernd hingewiesen hat – erhebliche philosophische Mängel.
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2 Was ist evolutionäre Erkenntnistheorie?
Die BezeiChnung «evolutionäre Erkenntnistheorie» (englisch: evolutionary
epistemology) wird für zwei versChiedene Auffassungen verwendet. Die erste
möchte iCh den wissenschaftstheoretischen Begriff der evolutionären Erkenntnistheorie nennen, die zweite den erkenntnistheoretischen Begriff der evolutionären Erkenntnistheorie. Im wissenschaftstheoretischen Verständnis widmet
man sich unter der Bezeichnung «evolutionäre Erkenntnistheorie» der Frage,
nach welchen Gesichtspunkten der Entwicklungsprozess der Wissenschaften
verläuft. Die These lautet: der historische Entwicklungsgang der Wissenschaft
erfolgt und soll auch erfolgen in den gleichen Kategorien wie die Evolution
der Organismen: «Denn wenn es die grundlegende Aufgabe wissenschaftlichen Denkens in jeder Menschengeneration ist, sich besser den Anforderungen der existierenden geistigen Situation anzupassen, so sind dies auch genau
die zwei Kardinaltugenden der Wissenschaft: Freiheit des Entwurfs vergrössert den zur Verfügung stehenden Pool von Varianten, Strenge der Kritik verstärkt den Grad des selektiven Druckes» (S. Toulmin, 1974, S. 275) 5 . Es liegt
auf der Hand, dass in der wissenschaftstheoretisch orientierten evolutionären
Erkenntnistheorie die evolutionstheoretischen Termini nicht in wörtlicher Bedeutung verwendet werden. D. h. Ausdrücke wie «Mutation», «Variation»
und «Selektion» werden nicht auf materielle Gene oder den Genpool von irgendwelchen organismischen Populationen und deren evolutionäre Veränderungen bezogen, sondern auf wissenschaftliche Theorien. Das wiederum
heisst: die evolutionstheoretischen Kategorien werden in dieser Version der
evolutionären Erkenntnistheorie in übertragener oder wie man auch sagt: metaphorischer Bedeutung verwendet.
Das ist bei der erkenntnistheoretischen Version der evolutionären Erkenntnistheorie anders. Man kann sagen, dass die Idee zu dieser Art evolutionärer
Erkenntnistheorie auf Darwin selbst zurückgeht. Den meisten wird jener
schlichte Satz am Ende des «Origin of Species» in Erinnerung sein, in dem
Darwin ein programmatisches Resümee seiner ForsChungen über die Evolution im Pflanzen- und im Tierreich zieht. Danach kann «jedes geistige Vermögen und jede geistige Fähigkeit nur allmählich und stufenweise erlangt werden. Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte»
(Ch. Darwin, 1859). Das heisst nun nichts anderes, als dass Darwin davon ausging, dass die Untersuchung der Entwicklungsgeschichte von Strukturen und
Funktionen bei homo sapiens sapiens genau in dem gleichen Sinne zu erfolgen
hat wie in den anderen Bereichen der belebten Natur. Das gilt natürlich auch
und insbesondere für das den Menschen vor allem auszeichnende Organ: sein
Gehirn. Die hervorragendste der Leistungen des Gehirns ist nun die Erkenntnis. Ebenso wie wir bereChtigt sind, z. B. nach der evolutionären Entwicklung
Eine frühe Formuliernng dieser Art evolutionärer Erkenntnistheorie findet man schon im vorigen Jahrhundert bei Ernst Mach (1882). Neuere Vertreter sind vor allem K. Popper (1984) und
S. Toulmin (1974).
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des Flugvermögens der Vögel zu fragen, genau so und noch viel mehr haben
wir das Recht, ja sogar die wissenschaftliChe Pflicht, die evolutionäre Entwicklung unseres Erkenntnisvermögens zu untersuchen. Kurz: Evolutions .theorie impliziert die evolutionsbiologische Untersuchung der an der Erkenntnis beteiligten organischen Strukturen und ihrer Leistungen.
Nun widmet sich seit ihren Anfängen aber auch die Philosophie in ihrer
Unterdisziplin Erkenntnistheorie der Untersuchung des Phänomens der Erkenntnis. Aus dieser doppelten Beschäftigung mit dem gleichen Gegenstand
bräuchte aber im Prinzip keine Konkurrenzsituation zu entstehen. Es könnte
nämlich so sein, dass sich beide Erkenntnistheorien in verschiedener Weise
mit der Erkenntnis befassen. So wie man ein und dasselbe Organ z. B. physiologisch und morphologisch untersuchen kann und sogar sollte, ohne siCh gegenseitig ins Gehege zu kommen. Diese forschungsmässige Komplementarität
ist jedoch im Falle der evolutionären und der philosophischen Erkenntnistheorie nicht gegeben. Die evolutionäre Erkenntnistheorie tritt vielmehr mit
dem Anspruch an, auf bestimmte Fragen, an welchen sich die Philosophi e. seit
mehr als zwei Jahrtausenden ohne Erfolg versucht habe, nun endlich eine verlässliche biologische, d. h. wissenschaftliche Antwort zu geben. Eine Antwort,
die weitere philosophische Bemühungen überflüssig macht.
Was sind das für Fragen, die Philosophie und Biologie der Erkenntnis gleichermassen bewegen? Vollmer (1983, S. 2) stellt einen Katalog auf:
Was ist Erkenntnis?
Begriffsexplikation
Wie erkennen wir?
Wege und Formen
Was erkennen wir?
Gegenstand
Wie weit reicht die Erkenntnis?
Umfang und Grenzen
Warum erkennen wir gerade so, dies und nur dies?
Erklärung
Wie sicher ist unsere Erkenntnis?
Geltung
Worauf beruht ihre Sicherheit?
Begründung
Auf diese und ähnliche Fragen beansprucht die evolutionäre Erkenntnistheorie also eine naturwissenschaftliche Antwort zu geben 6 . Antworten auf
diese Fragen haben nach Meinung evolutionärer Erkenntnistheoretiker eine
weit über den ursprünglichen Fragekontext hinausgehende Bedeutung. So
schreibt etwa Hans Mohr (1981, 24): «Beim heutigen Stand der Wissenschaft
ist [...] Beschäftigung mit der Theorie der Erkenntnis kein Luxus mehr, sondern eine Notwendigkeit; notwendig zur richtigen EinsChätzung des Fortschritts der Wissenschaften – und wie wir sehen werden, notwendig zur Bewältigung der Krise unserer Kultur. Aber (und auf dieses aber kommt es an)
die Theorie der Erkenntnis muss aufgefasst werden als eine wissenschaftliche,
nicht mehr als eine primär philosophische Disziplin'.» Die von Mohr ange6 Vollmer (1983, S. 2) erklärt, dass es ihm vor allem um die Fragen nach der Erklärung, der
Geltung und der Begründung von Erkeuntnis gehe.
Ähnlich z. B. G. Vollmer (1985, S. 64f.).
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sprochenen Krisen sind solche, die darauf beruhen, dass unser Erkennen nur
im Bereich mittlerer Dimensionen («Mesokosmos») seine evolutionär erworbenen Tugenden zur Geltung bringen kann: «Unsere angeborenen kognitiven
Strukturen sind im wesentlichen entstanden als Anpassung an die Umwelt des
späten Pleistozäns, [...] eine Welt, in der keine abrupten Wechsel, kein exponentielles Wachstum, keine Sprünge vorkamen, eine Welt, in der sich lineare
Kausalität, monokausales Denken in kurzen Kausalitäten, bewährte, weil das
eigene Handeln kaum Rückkopplungen im System verursaChte. [...] Die über
unsere Zukunft entsCheidende Frage lautet, ob unsere kognitive Kapazität –
angepasst an die Welt, aus der wir kommen – hinreicht, die anthropogene,
von uns geformte Welt, in der wir leben, zu begreifen und zu zügeln»
(H. Mohr, 1986, S. 7 f.). Kurzum, es hat den AnsChein, dass einige evolutionäre Erkenntnistheoretiker die epochale Bedeutung dieser Theorie vor allem
in ihrem angeblichen Beitrag zur Erkenntnis der Hintergründe und Vorbedingungen für die Lösung globaler Probleme wie Umweltverschmutzung und
Übervölkerung sehen. Ich werde darauf noCh zurückkommen. – Zunächst
zum doktrinären Kern der Sache. Denn um solChe weitreichenden Konsequenzen evolutionärer Erkenntnistheorie wie die genannten ziehen zu können, muss natürlich erst einmal gezeigt werden, dass eventuell angeborene Erkenntnisformen tatsächlich Evolutionsprodukte sind.
Damit ist vor allem eine Frage betroffen, die besonders die deutschsprachigen evolutionären Erkenntnistheoretiker am meisten bewegt. Für Mohr (1981,
S. 24) ist es «die zentrale Frage der Erkenntnistheorie», für Vollmer (1983,
S. 2, 5, 9, 97, 102) handelt es sich um «die Hauptfrage». Dabei geht es in der
Formulierung Vollmers um die «weitreichende – wenn auch nicht vollständige – Übereinstimmung zwischen objektiven Strukturen (der realen Aussenwelt) und subjektiven Strukturen (unseres Wissens über diese Welt)» (Vollmer, 1985, S. 64; vgl. Vollmer, 1983, 102) 8 . Die «Hauptfrage» wird von VollFür Mohr (1981, 24) geht es bei seiner «zentralen Frage» um die «Mögllchkeit synthetischer
Urteile a priori». Mit diesem von Kant geprägten Terminus werden inhaltliche, sachhaltige Aussagen (und nicht bloss formale wie etwa die logischen) bezeichnet, die etwas über die Welt der
Erfahrung mitteilen, aber ohne dass ihre Geltung auf sinnlicher Erfahrung beruht oder durch sie
widerlegt werden könnte. Synthetische Urteile a priori sind nach Kant vielmehr Ordnungsschemata, die aller môglichen Erfahrung im erkennenden Umgang mit der Welt vorausliegen und
so Erfahrungsaussagen allererst möglich machen. So kann z. B. die Beobachtung zweier Vorgänge
nicht auch schon die Feststellung einer Kausalbeziehung zwischen ihnen legitimieren. Beobachtet
werden kann allenfalls ihre Aufeinanderfolge. Kausalität dagegen ist im sensuellen Input nicht
enthalten, sondern ein Verarbeitungsschema davon. Konrad Lorenz (1941) hat als erster solche
der Erfahrung vorausliegenden und sie ermöglichenden (deshalb «apriorischen») Schemata
Kants evolutionär gedeutet (und gilt deswegen als der Begründer der neueren evolutionären Erkenntnistheorie). Nach Lorenz liegen erkenntnismässige Ordnungsschemata wie Kausalität zwar
aller individuellen Erfahrung des erkennenden Subjekts voraus und sind deshalb individuell
a priori. Gleichzeitig aber sind sie das Ergebnis evolutionärer Anpassungen. Die individuellen
Aprioris sind also stammesgeschichtliche Aposterioris, in denen das evolutionäre Erkenntnisschicksal von homo sapiens genetisch fixiert ist. Allgemein wird die Verwendung des Wortes «a
priori» in der evolutionären Erkenntnistheorie von Philosophen – gemessen am traditionellen
Sprachgebrauch - als inadäquat betrachtet.
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mer (1985, 64; vgl. 1983, 102) – und hierin scheinen ihm alle evolutionären
Erkenntnistheoretiker zuzustimmen – so beantwortet:
These: «Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der (biologischen) Evolution. Unsere (subjektiven) Erkenntnisstrukturen passen auf die (objektiven)
Strukturen der Welt, weil sie sich in Anpassung an diese Welt herausgebildet
haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil
nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte.»
Damit dürfte einigermassen deutlich geworden sein, worum es evolutionären Erkenntnistheoretikern in einem zentralen Punkte ihrer Bemühungen
geht.
3 Kritik der evolutionären Erkenntnistheorie
Diese Kritik soll sich auf zwei Punkte beschränken. Erstens bestreite iCh, dass
die Hauptfrage überhaupt wissenschaftlich sinnvoll gestellt werden kann und
behaupte, dass ihre Formulierung bereits die Richtigkeit der evolutionär-erkenntnistheoretischen Antwort auf sie voraussetzt. Zweitens möchte ich – die
Zulässigkeit der Hauptfrage für einmal zugestanden – dafür argumentieren,
dass die Hauptthese auf unbewiesenen, ja wohl nicht einmal gesehenen Voraussetzungen beruht, nämlich auf einem vulgärdarwinistisChen, «panglossistischen» Missverständnis des Darwinismus 9.
3.1 Der unwissenschaftliche Charakter der «Hauptfrage»
Nach Vollmer (1985, S. 63 f.) wird die Hauptfrage «durch eine empirische Tatsache» «nahegelegt»: «Es gibt eine weitreichende – wenn auCh nicht vollständige – Übereinstimmung zwischen den objektiven Strukturen (der realen Aussenwelt) und subjektiven Strukturen (unseres Wissens über diese Welt).» Diese angebliche empirische Tatsache möchte ich bestreiten. Dabei habe ich übrigens weder etwas gegen empirische Tatsachen noch etwas gegen Evolutionstheorie. Ich behaupte, dass der in dieser angeblichen Tatsachenaussage enthaltene Sachverhalt der Übereinstimmung von Welt und Erkenntnis keine
«Tatsache» ist, jedenfalls solange man siCh auch nur halbwegs im Bereich des
üblichen Verständnisses von «Tatsache» bewegt. Es handelt sich hier um keine Tatsache, sondern vielmehr um eine starke und zentrale erkenntnistheoretische These, die man «erkenntnistheoretischer Realismus» nennt. Der Realismus ist in unterschiedlicher Form vertreten worden 10 . So etwa (von Lenin),
der behauptete, dass Erkenntnis «Widerspiegelung» der realen Welt sei. AnMit «panglossistisch» meine ich das Verfahren des Doktor Pangloss in Voltaires «Candide»:
Alles, auch das Negativste, ist Bestandteil der nach Leibnitz besten aller möglichen Welten. Ähnlich gehen «panglossistische» Darwinisten davon aus, dass jedes identifizierbare biologische
Merkmal als solches eine durch die natürliche Selektion bewährte Anpassung ist.
10 Vgl. Vo ll mer (1983, S. 34ff.).
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dere, gemässigtere Realisten meinen, dass die Erkenntnis nur teilweise die
reale Welt so repräsentiere, wie sie tatsäChlich ist. Die evolutionären Erkenntnistheoretiker wiederum vertreten ziemlich einmütig (Ausnahme z. B. Max
Delbrück [19861) das, was sie seit Donald Campbell (1959, S. 156) «hypothetischen Realismus» nennen. Realismen aller Art – das ist zuzugeben – erhalten
eine mächtige Stütze – durch den «naiven Realismus», der uns in unserem
Alltagsleben leitet. Natürlich ist es im Alltag für jede und jeden von uns
selbstverständlich, dass es eine Welt ausser uns und unabhängig von unserem
Erkennen gibt und dass wir eben diese Welt mehr oder weniger so, wie sie ist,
erkennen. Philosophie allerdings ist Befragen von Selbstverständlichkeiten.
So lässt sich leiCht zeigen, dass der naive Realismus unhaltbar ist. Wärme z. B.
ist eine strikt mit unserem Wahrnehmungsapparat verknüpfte Empfindung. In
der Physik, die wir hier in evolutionär-erkenntnistheoretischer Weise" für
einmal als die Quelle wahrer Weltinformation auffassen wollen, entspricht der
Wärmeempfindung aber etwas ganz anderes als Wärme, nämlich eine bestimmte mittlere kinetische Energie von Molekülen. Solche und andere Inkongruenzen von Welt und Erkenntnis haben die evolutionären Erkenntnistheoretiker zu ihrem, den naiven Realismus hinter siCh lassenden, hypothetischen Realismus bewogen. Vollmer (1983, 35) formuliert ihn so: «Wir nehmen
an, dass es eine reale Welt gibt, dass sie gewisse Strukturen hat und dass diese
Strukturen teilweise erkennbar sind und prüfen, wie weit wir mit diesen Hypothesen kommen.» Also keine schlichte Gleichheit zwischen Welt und Erkennen, sondern nur Übereinstimmung in den Strukturen, «pa rt ielle Isomorphie», wie man dazu auch sagt. So entspricht z. B. jeder «subjektiven» Wärmeempfindung ein Molekülzustand «in der Welt». Wie diese Welt «wirkliCh»
ist, das sagen uns nach Auffassung der evolutionären Erkenntnistheorie also
die Naturwissenschaften, allen voran die Physik.
An dieser Stelle aber scheint ein Zirkel vorzuliegen. Denn, was uns die
Wissenschaften angeblich über die reale, erkenntnisunabhängige Aussenwelt
sagen, das ist natürlich auch «nur» Erkenntnis und ist als solche abhängig
von der Ausstattung unseres Wahrnehmungsapparates und den Spezialitäten
der Verarbeitung des sensuellen Inputs im Gehirn. Um überhaupt entscheiden
zu können, ob die von der evolutionären Erkenntnistheorie allen ihren Überlegungen vorausgesetzte angebliche empirische Tatsache partieller Isomorphie vorliegt, müsste man einen sehr speziellen Stando rt einnehmen können.
Nämlich einen Ort, von dem aus es möglich wäre, einmal die Welt so zu «sehen» 12 , wie sie «an sich», also unabhängig von unserer Erkenntnis ist und
zum anderen unsere Erkenntnis von dieser Welt. Erst dann wäre man imstan" In dieser Hinsicht schiesst zweifellos Riedl (1988, 28) den Vogel ab: «Für ein objektives Urteil [über das Vorliegen von <Vernunft> im Bereich des Lebendigen] benôtigen wir einen Standpunkt ausserhalb der Pflanzen, der Tiere und Menschen; am besten gleich in der Physik.»
12 Ich setze hier «sehen» und später «wahrnehmen» in Anführungszeichen, weil ich diese
Wôrter hier in einem übertragenen Sinne verwende. Es handelt sich gerade nicht um unser
menschliches Sehen und Wahrnehmen.
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de, Erkenntnis und «wirkliche» Welt auf ihre Übereinstimmung hin zu überprüfen. Die «Hauptfrage» nach dem Grund der Übereinstimmung von Welt
und Erkennen setzt somit schon in ihrer Formulierung voraus, was doCh erst
noch zu zeigen wäre: ob nämlich eine solChe Übereinstimmung überhaupt
sinnvoll nachweisbar ist.
Noch etwas. Einen Ort, von dem aus man die Welt so, wie sie «an sich» ist,
«wahrnehmen» kann, einen solchen archimedischen Ort hat in der philosophischen Tradition nur Gott eingenommen. Wir Menschen dagegen sind stets
und unabänderlich an die Einschränkungen unserer Erkenntnis gebunden.
Mit andern Worten: nur Gott wäre in der Lage, über die Richtigkeit des hypothetischen Realismus und damit über eine tragende Stütze der evolutionären
Erkenntnistheorie zu entscheiden 13 . Da hilft es gar nichts, wenn man auf das
Vorläufig-Hypothetische des hypothetischen Realismus abhebt. Denn ob diese Hypothese siCh in einem konkreten Fall bestätigt oder niCht, das könnte allenfalls eben auch wieder nur Gott entscheiden. Denn Er ist – jedenfalls in
der jüdisch-christlichen Tradition – das einzige (die Engel vielleicht eingeschlossen) nicht an ein organismisches Organ und seine Grenzen gebundene
und dennoch erkennende, eigentliCh «schauende» Wesen. Gott aber ist kein
Gegenstand der Naturwissenschaft und wird von den evolutionären Erkenntnistheoretikern denn auCh nicht zu ihrer Unterstützung ins Spiel gebracht.
Kurzum, die Basis der Hauptfrage bildet eine «empirische Tatsache» oder
Hypothese, die sich von Menschen weder korrekt bestätigen noch auch widerlegen lässt. Solche Hypothesen werden im Anschluss an Karl Popper «metaphysisch» genannt. Ich denke, dass metaphysische Hypothesen in einer Theorie keinen Platz haben können, die wie die evolutionäre Erkenntnistheorie angetreten ist, das «Hauptproblem» der Erkenntnistheorie nun endlich wissenschaftlich zu lösen 14
3.2 Die Unbewiesenheit der Hauptthese
Ich möchte jetzt aus argumentativen Gründen die realistische Implikation der
«Hauptfrage» einmal zugestehen und mich der Antwort auf die «Hauptfrage» zuwenden. Dabei habe ich bereits Einwände gegen den ersten Teil der
Hauptthese, wonach unser Erkenntnisapparat 15 ein Ergebnis der biologischen
" Hierauf weist bereits in einem sehr instruktiven Aufsatz W. Stegmüller (1984, S. 22f.) hin.
'^ Fast will mir scheinen, dass der erkenntnistheoretische Realismus unserer Alltagserfahrung
ein Evolutionsprodukt ist, das vor der Reflexion über die Bedingungen unserer Erkenntnis keinen Bestand hat.
15 Von philosophischer Seite (Prof. Huber, ETH Zürich) wurde in der Diskussion dieses Vortrags darauf verwiesen, dass das auch von mir gebrauchte Wort «Erkenntnisapparat» zu irrigen
Assoziationen über das Wesen der Erkenntnis führen könnte. Dies ist gewiss der Fall. Die Verwendung dieses Wortes bei den evolutionären Erkenntnistheoretikern lässt sich als ein Indiz für
eine mangelhafte Auffassung über das Verhältnis von organischer Basis des Erkennens und Erkenntnisinhalten auffassen. Hier und im Folgenden wird mlt «Erkenntnisapparat» die Gesamtheit der identifizierbaren organischen Komponenten des Erkenntnisprozesses bezeichnet. Hierfür
findet man häufig die Wendung «ratiomorpher Apparat».
Evolutionäre Erkenntnistheorie – eine Polemik 133
Evolution ist. Diese Einwände werden in Abschnitt 3.2.2 behandelt. Zunächst
soll das begriffliche Ungenügen der Hauptthese dargestellt werden.
3.2.l Begriffliches Ungenügen
Das begriffliche Ungenügen der evolutionären Erkenntnistheorie an zentraler
Stelle wird dort deutliCh, wo ihre Vertreter daran gehen zu klären, was für sie
daraus folgt, dass unser Erkenntnisapparat ein Evolutionsprodukt ist-. Die
These lautet nämlich, wie oben zitiert: «Unsere (subjektiven) Erkenntnisstrukturen passen auf die (objektiven) Strukturen der Welt, weil sie sich in Anpassung an diese Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen
Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das
Überleben ermöglichte.»
Gegen diesen Hauptsatz der evolutionären Erkenntnistheorie ist zweierlei
einzuwenden: 1. er leistet nichts für die evolutionäre Erklärung wissenschaftlicher Erkenntnis und 2. er ist für die Erklärung nicht-wissenschaftliCher Erkenntnis unzulänglich.
Zuerst zur wissenschaftlichen Erkenntnis. Wenn die Hauptthese auch für
die wissenschaftliche Erkenntnis gelten soll, dann müsste wissenschaftliches
Erkennen einen Selektionsvorteil für homo sapiens sapiens bedeutet haben.
Wann auch immer das menschliche Gehirn seine heutigen Kapazitäten erreiCht hat — sei es vor 50 000, 20 000 oder 10 000 Jahren — dieser Moment der
Evolution lag lange vor dem Auftreten von Wissenschaft. Folglich kann Wissenschaft keine selektionistisch-adaptive Rolle bei der Herausbildung unseres
Erkenntnisapparates gespielt haben. Was auch immer die Faktoren gewesen
sind, welche die Evolution unseres Gehirns bestimmt haben, Wissenschaft
war nicht darunter. Sie setzte sich gewissermassen ins gemachte Nest, wenn
dieses reichlich verwegene, aber immerhin zoologische Bild erlaubt ist. Wenn
also Wissenschaft, aus welchen Gründen auch immer, auf die «Wirklichkeit»
«passen» sollte, dann nicht deshalb, weil sie ein Evolutionsprodukt wäre 16
Was folgt daraus? Vor allem, dass die Bezeichnung «evolutionäre Erkenntnistheorie» ziemlich irreführend ist. Denn diese Theorie der Erkenntnis hat
zur Erklärung der elaboriertesten und subtilsten Erkenntnisform, der Wissenschaft nämlich, nichts beizutragen. Des weiteren haben wir in vielen Fällen
ein Auseinanderfallen der «Realität» in evolutionäre und wissenschaftliche
«Realität». So ist etwa unser Sehraum inhomogen und anisotrop und damit
nicht-euklidisch, wogegen uns die Physik die (lokale) Euklidizität eben dieses
Raumes lehrt. Allenfalls unsere alltägliche, vorwissenschaftliche «Datenverarbeitung» könnte evolutionär erklärt werden. Doch auch damit ist es vielleicht
nicht so weit `her, wie die Vertreter der evolutionären Erkenntnistheorie glauben.
Um das zu zeigen, soll nun die evolutionär-erkenntnistheoretische Verwen16 Dies wird auch von Vollmer gesehen, ohne dass er freilich daraus die hier gesehene Konsequenz zöge.
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dung des Anpassungsbegriffs und damit automatisch natürlich das gesamte
Evolutionskonzept der evolutionären Erkenntnistheoretiker kritisiert werden.
Zunächst zum Begriff der Anpassung: Ziemlich unisono wird von evolutionären Erkenntnistheoretikern im Sinne der zitierten Hauptthese angenommen, dass eine sogenannte «Passung» von Erkenntnisapparat und Aussenwelt
einen Selektionsvorteil geboten habe. Was ist unter «Passung» nun genauer
zu verstehen? Der von evolutionären Erkenntnistheoretikern immer wieder zitierte Locus classicus für den Passungsbegriff ist Lorenz (1941, S. 99): «Unsere
vor jeder individuellen Erfahrung festliegenden AnsChauungsformen und Kategorien passen (Hervorhebung G. W.) aus ganz denselben Gründen auf die
Aussenwelt, aus denen der Huf des Pferdes schon vor seiner Geburt auf den
Steppenboden, die Flosse des Fisches, schon ehe er dem Ei entschlüpft, ins
Wasser passt.» Nun ist «Passen» zunächst einmal kein Begriff, sondern eine
Metapher, ein Bild. Die Sprache der Dichtung und auch unsere Alltagssprache ist voller Metaphern. Natürlich darf auch Naturwissenschaft Metaphern
verwenden, sie muss sie aber nicht-bildlich, d. h. begrifflich präzisieren können, wenn sie in einer Theorie eine zentrale Stellung einnehmen sollen. Eine
solche zentrale Stellung nehmen die Begriffe des «Passens» und der «Passung» in der evolutionären Erkenntnistheorie gewiss ein. Nun lässt sich hinsichtlich des «Passungs»-Begriffs wohl in keiner anderen Naturwissenschaft
eine begriffliche Anleihe machen, da «Passung» meines Wissens in keiner naturwissenschaftlichen Theorie terminologisch verwendet wird. Doch erstaunlicherweise sind die Präzisierungsbemühungen der evolutionären Erkenntnistheoretiker ziemlich halbherzig. Lorenz z. B. erläutert das Bild des Passens
durch andere Bilder: «Das so [durch evolutionäre Passung] entstehende Bild
einer Umweltgegebenheit ist sozusagen ein Negativ der Wirklichkeit, vergleichbar dem GipsabdruCk einer Münze» (Lorenz, 1973, S. 39). Vollmer
(1985, S. 59) verwendet ein anderes Bild: «Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Realität, wie die Werkzeuge ihren Aufgaben entsprechen.
Eine Schraube kann man nicht mit einem Haar, einer Taschenlampe, niCht
einmal mit einem Schraubenschlüssel handhaben. Werkzeuge sind für einige
Aufgaben geeignet, für andere nicht.» Diese beiden Präzisierungsversuche
sind zwar bildhaft, aber nicht beide gleichwertig: Lorenz bietet Bilder von Gegenstandspassungen an, Vollmers Werkzeugmetapher ist dagegen offenbar ein
Beispiel für eine funktionale Passung". Gegen Lorenz bemerkt Vollmer (1985,
S. 59 f.), dass Rad und Autoreifen trotz vorzüglicher Passung keine Abbilder
der Strassendecke seien. In diesem Sinne könnten Pferdehuf und Fischflosse
uns eben auch kein Abbild der WirklichkeitsaussChnitte geben, mit denen sie
in WeChselwirkung stehen. Sie geben, so Vollmer, lediglich «Hinweise [...] auf
die Umgebung, für die sie geeignet sind und auf die sie passen. [...]. Genau
wie ein Schlüssel einige Informationen über das SChloss gibt, auf das er passt,
ohne es abzubilden, so vermitteln Huf und Flosse einige Informationen über
" Vollmer (1975) hatte noch Lorenz' Gegenstandspassung vertreten, die er (Vollmer, 1985,
59 f.) — zu Recht — als «irreführend» verwirft.
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die Medien, auf die sie passen, ohne sie abzubilden.» Erfreulicherweise
weicht Vollmer nicht der konkreten Antwort auf die Frage aus, welche «Hinweise» auf seine «Umwelten» uns z. B. der Zebrahuf vermittelt. Allerdings
belässt er es bei einem Gedankenexperiment.
Käme, so gibt uns Vollmer zu bedenken, «ein ausserirdisches intelligentes
Wesen» bei einem Besuch unserer Erde in die Lage, ein Zebra zu untersuchen, dann würde es «Vermutungen über die Bedingungen des Planeten
Erde anstellen». Der Ausserirdische, mit Steven Spielberg hier einmal «E. T.»
genannt, erhält dabei nach Vollmer, offenbar durch die Untersuchung der Zebrahufe, zwei «Hinweise»: «[l.] Vorhandensein grosser Ebenen mit festem
Boden, [2.] Einfluss der Gravitation.» Mehr sagt Vollmer über sein Gedankenexperiment leider nicht. Deshalb müssen wir es um einige notwendige Komponenten ergänzen, die auf jeden Fall vorliegen müssen, damit E. T. überhaupt die von Vollmer behaupteten «Hinweise» aus der Untersuchung des
Zebras erlangen kann. Zuallererst einmal muss E.T. ein Anhänger der Evolutionstheorie im «panglossistischen» Sinne (vgl. Anm. 9) sein und automatisCh
Merkmale von Organismen als evolutionäre Anpassungen betrachten. Zweitens muss E. T. über den allgemeinen Gravitationsbegriff verfügen. Diese beiden Dinge muss E. T. also vor seiner Untersuchung des Zebrahufs wissen. Ich
frage nun erstens, ob er dann aus dieser empirisChen Untersuchung überhaupt
noch einen ihm neuen «Hinweis» auf die Wirkung der Gravitation erhalten
kann. Das ist nicht der Fall. Der angebliche empirische «Hinweis» des Einflusses der Gravitation ergibt sich bereits als logische Folgerung aus den Voraussetzungen. Denn wenn der allgemeine Gravitationsbegriff gilt, dann gilt er
auch auf der Erde. Folglich ist die Fortbewegung der IrdisChen eine Auseinandersetzung mit den Gravitationswirkungen. Wenn ferner die Evolutionstheorie gilt, muss sich die fortbewegende Auseinandersetzung mit den Gravitationswirkungen in Struktur und Funktion der Fortbewegungsorgane manifestieren. Das heisst, unter den gegebenen und unumgängliChen Voraussetzungen, braucht sich E. T. keinen einzigen Zebrahuf anzuschauen, um zu wissen,
dass er aus dieser Betrachtung einen «Hinweis» auf den «Ein fluss der Gravitation» erhält. Aus dem Begriff der allgemeinen Gravitation in Verbindung
mit dem Evolutionsbegriff folgt bereits, dass die Gravitation einen Ein fluss
auf jegliche irdischen Fortbewegungswerkzeuge hat. E.T. hätte also getrost zu
Hause bleiben können und hätte dennoch nicht weniger gewusst. Der Zebrahuf gibt uns also nicht wirklich einen Hinweis auf die gravitationellen Wirkungen des Bodens der Wirklichkeit, auf dem er evolvie rt ist. Es ist vielmehr
gewissermassen umgekehrt: die Wirklichkeit kann siCh angesiChts des begrifflichen Rasters von Gravitation und Evolution, mit der wir in diesem Falle an
sie herangehen, a priori gar nicht anders als gravitationell wirkend zeigen.
Betrachten wir nun den zweiten Punkt, den aus dem Zebrahuf angeblich zu
destillierenden «Hinweis» auf das «Vorhandensein grosser Ebenen mit festem Boden». Allgemein könnten wir diese Behauptung so formulieren, dass
Bau und Funktion der Fortbewegungsorgane der Irdischen über die jeweili-
136
Gereon Wolters
gen geographisch-topographischen Verhältnisse Aufschluss geben. Wir wollen auch diesen «Hinweis» auf seine verborgenen Voraussetzungen abklopfen. Das ist nicht so einfaCh wie im ersten Fall, dafür aber aufsChlussreicher.
Leider sagt uns Vollmer nicht, welche der drei rezenten Arten der Zebras
E. T. bei seinem Besuch unter die Lupe genommen hat. Es gibt ja nicht nur
das Steppenzebra, etwa Equus burchelli selousi. Nehmen wir einmal an, E. T.'s
Raumschiff wäre im Zebra-Nationalpark bei Cardock in der Kapprovinz gelandet und E. T. hätte dort eines der wenigen noch lebenden Exemplare des
Kapbergzebras (Equus zebra zebra) gesichtet. Das Kapbergzebra lebt, worauf
schon sein Name aufmerksam macht, im Gebirge. Wenn wir Vollmers Regel
befolgten, dann müssten wir sagen, dass der Kapbergzebrahuf (das Wo rt hat
tatsächlich nur fünf Silben!) einen evolutionär gestützten «Hinweis» auf die
Topographie seines Lebensraums, also das Vorhandensein von Gebirgen gebe. Das aber wiederum bedeutet, dass Zebrahufe uns gleiChzeitig «Hinweise»
auf doch ziemlich konträre topographische Formationen geben. Nun sind
Hinweise auf einen Sachverhalt X und gleichzeitig auf sein Gegenteil we rtlos.
Das Wort «Hinweis» scheint hier eigentlich überhaupt keinen vernünftigen
Sinn mehr zu haben.
3.2.2 Vulgärdarwinistischer Evolutionsbegriff
Offenbar setzen Vollmer und mit ihm die gesamte evolutionäre Erkenntnistheorie hier das «panglossistische» Evolutionskonzept voraus, das von Kritikern – zu Recht wie ich meine – als «vulgärdarwinistisCh» bezeichnet wird.
Dieses Konzept besteht kurz gesagt darin, für jedes auch nur annähernd identifizierbare, strukturelle Merkmal eine Funktion zu suchen, die dieses Merkmal als evolutionäre Anpassung erklärt und 2. Anpassungen (mindestens insofern sie Teil eines «optimalen» Systems sind) als «optimal» zu betrachten 18.
Was nun zunächst die «Optimalität» betrifft, so sind evolutionäre Problemlösungen oft genug ziemlich schleCht. Darauf weist z. B. Gould immer wieder
hin (Gould, 1984, S.20f.). Was ferner die Beziehung Struktur–Funktion betrifft, so übersieht das vulgärdarwinistische Konzept einen ganz zentralen
Punkt: dass es nämlich schon bei Angehörigen der gleichen Art keine eindeutige evolutionäre Beziehung zwischen Struktur und Funktion gibt. Und zwar
in beiden Richtungen: Erstens kann ein und dieselbe Struktur verschiedene
Funktionen erfüllen. So gebraucht z. B. der Maulwurf seine Beine zu so unterschiedlichen ZweCken wie die Fortbewegung und das Löchergraben. Zweitens
kann ein und dieselbe Funktion durch verschiedene Strukturen wahrgenommen werden. So bedient sich der Hund zur räumlichen Orientierung der Nase
und der Augen. Dies alles gilt noch mehr, wenn wir untersChiedliche Arten betrachten. Besonders wichtig ist die erste Nichteindeutigkeit der Beziehung von
IS Diese Kritik ist vor allem von S.J. Gould & R. Lewontin (1984) und in vielen anderen
Schriften Goulds dargelegt worden.
Evolutionäre Erkenntnistheorie — eine Polemik 137
Struktur und Funktion. Sie besagt, dass ein Organ Funktionen übernehmen
kann, für die es nicht evolviert ist. Gould (1987) führt hier das Beispiel des sogenannten Pandadaumens an, der kein eigentlicher Daumen, sondern bei den
anderen Bären ein kleiner, «radiales Sesambein» genannter Bestandteil des
Handgelenks ist. Sehr vermutlich auf Grund einer einfachen genetischen Veränderung, möglicherweise einer einzelnen Mutation, kam es zu einer Hypertrophie dieses KnöChelchens bei einem Ahnen des Panda. Diese Hypertrophie wiederum induzierte aus mechanischen Gründen eine Veränderung im
gesamten Arrangement der Pandahand. Der Panda machte dann gewissermassen aus der Not eine Tugend und führte den genetisCh geschenkten 6. Finger einem nützlichen Zweck zu, nämlich dem Abstreifen der Blätter von den
Bambusstengeln, um an die Bambussprossen heranzukommen. Der Daumen
des Panda, der kein Daumen ist, erfüllt also eine wichtige Funktion, besonders wenn man bedenkt, dass der Panda nicht nur Vegetarier ist, sondern
praktisch ausschliesslich von Bambussprossen lebt, seiner Zugehörigkeit zur
Ordnung der Carnivoren zum Trotz. Der «Daumen» des Panda erfüllt diese
Funktion, ohne eine evolutionäre Adaption zu sein. Solche Phänomene, als
nicht adaptiv entstandene Strukturen mit später «übernommener» positiver
Funktion bzw. aus anderen Gründen als denen der gegenwärtigen Funktion
adaptiv entstandene Strukturen werden «Exaptationen» genannt
(S. J. Gould/E. Vrba, 1982; S. J. Gould, 1984)19
Von den Pandas nun zu ihren grössten Feinden, den Menschen. Wir haben
gesehen, dass wissenschaftliche Erkenntnis aus Gründen der zeitlichen Ordnung kein Evolutionsprodukt sein kann. Wie sieht es nun mit der vorwissenschaftlichen Erkenntnis aus, soweit diese spezifisch menschlich ist? AuCh hier
ist das Faktum der Funktionalität von Strukturen nicht auch schon der NaChweis, dass sie wegen dieser Funktionalität im Verlauf der Evolution selektiert
wurden. Hier müsste, und damit komme ich zum eigentlichen Punkt meiner
Kritik, die evolutionäre Erkenntnistheorie in jedem einzelnen Fall zeigen,
dass die hierfür zuständigen cerebralen Strukturen und ihre Funktionen echte
Adaptionen und nicht etwa Exaptationen wie der «Daumen» des Panda sind.
Woher wissen wir denn, dass sich die erforderlichen Strukturen nicht aus
ganz anderen Gründen als denen der selektiven Anpassung an die Welt entwiCkelt haben? Es könnten sich aufgrund irgendeiner Mutation gewissermassen architektonische oder embryologische Zwänge von einer ähnlichen Art
wie bei der Entstehung des Panda«daumens» ergeben haben. Und diese
Zwänge wären es dann, die uns gewissermassen die organische Basis unseres
Erkennens «geschenkt» hätten.
Es könnte auch sein, dass die entsprechenden Gehirnstrukturen zwar echte
Evolutionsprodukte sind, aber nicht im Blick auf intellektuelle Funktionen,
z. B. den Werkzeugbau, selektiert wurden. Für diese Hypothese spricht, dass
sich das Gehirnvolumen der Australopiteken im unteren und mittleren Plei19 Der hier häufig verwendete Terminus «Präadaption» ist ziemlich unsinnig, da er suggeriert,
dass eine Struktur zum Zwecke einer erst später erfolgenden Anpassung entsteht.
138
Gereon Wolters
stozän dramatisch verdoppelt hat, ohne dass bei den einzigen rekonstruierbaren Erkenntnisleistungen, den Werkzeugen, eine bedeutende Verfeinerung
aufgetreten wäre. Konrad R. Fialkowski (1986) verweist darauf, dass im frühen Pleistozän die Jagd, und damit langandauerndes schnelles Laufen, eine
wichtige menschliche Aktivität wurde. Das kleine Australopitekus-Gehirn war
infolge der Erhitzung beim Laufen in seiner Funktion beeinträchtigt. An dieser Stelle führt Fialkowski ein mathematisches Modell von John von Neumann an, wonaCh grössere Systeme die Funktionsfehler von Teilen besser
kompensieren als kleinere. In diesem Sinne habe ein SelektionsdruCk auf ein
grösseres Gehirn bestanden. Ein Nebeneffekt und nur ein Nebeneffekt dieser
evolutionären Vergrösserung des Gehirns im Dienste des Wärmegleichgewichts seien die so ermöglichten menschlichen Erkenntnisleistungen gewesen.
Echt menschliches Erkenntnisvermögen wäre so eine nichtadaptive FolgeersCheinung eines grossen Gehirns (Gould, 1984).
Ich kann den wissenschaftlichen We rt dieser Hypothese nicht beurteilen.
Sie sollte auch nur deswegen vorgestellt werden, um zu zeigen, dass es nicht a
priori unvernünftige Argumente (vgl. auch Gould, 1984) dafür gibt, dass mindestens einige spezifisCh menschliche, nicht-wissenschaftliche Erkenntnisleistungen des Gehirns keine Adaptionen, sondern Exaptationen darstellen. Mit
der Annahme, dass solche Erkenntnisleistungen Adaptionen sind, steht und
fällt aber die Hauptthese der evolutionären Erkenntnistheorie. Denn, wo keine Anpassung ist, da gibt es auch keine evolutionäre Erklärung der angeblichen «Passung» von Erkenntnis und «Wirklichkeit» 20.
Bisher hat die evolutionäre Erkenntnistheorie wenig Nachweise dafür geliefert, dass ganz bestimmte Erkenntnisleistungen bzw. die sie tragenden organischen Strukturen wirklich Produkte adaptiver Evolution sind. Ich zweifle
allerdings niCht daran, dass sich vor allem im Bereich der Wahrnehmung echte Adaptionen ausfindig machen lassen.
Freilich dürften es auch wieder nicht so viele sein, wie man anzunehmen
geneigt sein könnte. Denn es ist zu beachten, dass wichtige Aspekte der organisch-neuralen Basis der Wahrnehmung und ihrer Leistungen nicht genetisch
fundiert und somit keine Evolutionsprodukte sind. Wolf Singer und seine
Mitarbeiter am Frankfu rt er Max Planck-Institut für Hirnforschung haben
dies am Beispiel des Sehens gezeigt. Es ist nach diesen Forschungen so, dass
erst die Umweltinteraktion des Organismus für die organische Fundierung
vieler Wahrnehmungsleistungen entscheidend ist 21 . Das heisst, dass unsere
20 Aber auch wenn man die Adaptivität der Erkenntnisstrukturen bejaht, ist man im Sinne der
dazu erforderten göttlichen Erkenntnisperspektive immer noch nicht in der Lage, eine Passung
mit einer erkenntnisunabhängigen Realität zu konstatieren.
21 W. Singer, 1985; W. Singer, 1988. – Kinder z. B. bilden einen grossen Teil der neuronalen
Grundlagen für das Sehen erst in den Jahren bis zur Einschulung aus. Wegen eines optischen Defekts «Blindgeborene» lernen nach diesem Zeitpunkt auch nach einer «erfolgreichen» Korrektur
des optischen Apparates doch nie wieder richtig sehen. «Das Gehirn dieser Patienten bleibt unfähig, die von den Augen wieder einwandfrei übermittelten Signale zu verarbeiten» (W. Singer,
1985). Die «kritische Phase» des Sehenlernens bei der Katze liegt bei 3 Monaten, bei (nichtmenschlichen) Primaten bei einem Jahr. – Meiner Konstanzer Kollegin Dr. Eleonore Lehr danke
ich für den Hinweis auf die Arbeiten Singers und seiner Mitarbeiter.
Evolutionäre Erkenntnistheorie – eine Polemik
139
konkreten Wahrnehmungsleistungen kein «stammesgeschichtliches Apriori»
im Sinne evolutionärer Erkenntnistheoretiker darstellen, sondern zu grossen
Teilen individuell erst erworben werden müssen. Lediglich die organische
Disposition zu diesem Erwerb ist uns genetisch mitgegeben. Das wiederum
heisst, dass eine biologisch gestützte Erkenntnistheorie auf jeden Fall nur in
Teilen eine evolutionäre Erkenntnistheorie sein kann. Der entwicklungsbiologische Anteil an der neuronalen Basis der Wahrnehmung und ihrer Leistung
ist eben erheblich 22 . Kurzum, was von naturwissensChaftlicher Seite zur Erkenntnistheorie beigetragen werden kann und natürliCh auch beigetragen werden sollte, beruht nur zu einem geringen und zudem oft genug noch missverstandenen Teil auf der Evolutionstheorie. Es hat den Anschein, dass der evolutionäre Anteil an der organischen Basis unseres Erkennens um so weniger
wichtig wird, je konkreter und interessanter unsere erkenntnistheoretisChen
Fragen werden 23 . – Freilich, alle nützlichen Einsichten einer naturwissenschaftlichen UntersuChung der organisChen Basis der Erkenntnis und von Erkenntnisleistungen können eine philosophische Erkenntnistheorie nicht ersetzen. Dieses Problem ist hier allerdings nicht mein Thema.
Resümierend lässt siCh sagen, dass das eigentliche Fundament der evolutionären Erkenntnistheorie auf wackeligen Beinen steht, wenn nicht gar unhaltbar ist. Sie ist ein hochspekulatives Unternehmen. Um so mehr müssen
die Ansprüche erstaunen, mit denen die evolutionären Erkenntnistheoretiker
auftreten (vgl. Abschnitt 1 und 2). Schon immer hat es festsitzende und unausrottbare individuelle und soziale Gewohnheiten gegeben, deren zerstörerische
Kraft den Zusammenbruch von Reichen und Kulturen bewirkte. Solche Gewohnheiten sind es auch, die für heutige Probleme wie Umweltzerstörung und
Überbevölkerung verantwortlich sind. Schon immer, auch in ihren mesokosmischen Anfängen waren Menschen unvernünftig, habgierig, gedankenlos
und schleCht, und schon immer haben sie dadurch Katastrophen bewirkt. Der
Unterschied von früher zu heute besteht darin, dass diese Katastrophen globale Ausmasse anzunehmen drohen. Weder zur Erkenntnis dieser Gefahr
noch zu ihrer wünschenswerten Überwindung scheint mir evolutionäre Erkenntnistheorie einen gravierenden Beitrag zu leisten. Wenn z. B. in den fortgeschrittenen Industrieländern keine wirklichen Probleme der Überbevölkerung bestehen, dann niCht aus Einsicht in angebliChe evolutionäre Sachverhalte, sondern aus sozio-ökonomischen Gründen. Und es sind Gründe eben
dieser Art, die meines Erachtens in Ländern der Dritten Welt für Überbevölkerung verantwortlich sind.
22 Es könnte sich allerdings ergeben, dass nun von einer solchen entwicklungsbiologischen
Erkenntnistheorie die Realismusthese in neuem Gewande vorgetragen wird. Man wird auf die
Argumente gespannt sein.
23 Entwicklungsbiologische (und nicht evolutionsbiologische) Gesichtspunkte scheinen hier
schon näher zu liegen. Insbesondere aber hat man wohl auf die hiermit zusammenhängenden Ergebnisse der von Piaget begründeten genetischen Psychologie zu achten, die gewissermassen das
psychologische Komplement der Ontogenese der organischen Basis der Erkenntnis darste ll t.
Hierauf wies mich Prof. V. Gorge (Bern) hin, dem ich auch für konstruktive Kritik zu Dank verpflichtet bin.
140
Gereon Wolters
Kurzum, so sehr ich mit evolutionären Erkenntnistheoretikern (und allen
anderen halbwegs klar denkenden Menschen) die Sorgen um die Zukunft unserer Gattung teile, so wenig bin ich allerdings der Ansicht, dass evolutionäre
Erkenntnistheorie hier als solChe etwas Substantielles beizutragen hat. Kulturkritik soll sich nicht als NaturwissensChaft verkleiden, so sehr auch die kulturelle Selbstreflexion naturwissenschaftlichen Handelns wünschenswert, ja sogar moralisCh geboten sein mag.
4 Schlussbemerkungen
Mit diesen schliesse ich an die Rede von der Kopernikanischen Wende an,
die bei evolutionären Erkenntnistheoretikern so beliebt ist. Die Kopernikanische Wende des Kopernikus war eine kosmologische BetraChtungsweise, die
die bis dahin übliche kosmologische Hypothese des Ptolemaios umkehrte.
Erst im Barock erhielt das kosmologische Verständnis der Wende des Kopernikus eine metaphorische, nämlich anthropologische Deutung (H. Blumenberg, 1975). Es ging fortan bei der Kopernikanischen Wende niCht mehr um
Kosmologie, sondern um die Stellung des Menschen im Kosmos. Durch Kopernikus ist der Mensch nach dieser Interpretation aus seiner Zentralstellung
verjagt und zu einem «Zigeuner am Rande des Universums» (J. Monod) geworden, zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Darwin, so sehen es evolutionäre
Erkenntnistheoretiker (z. B. G. Vollmer, 1983, S. 170 f.) hat das Werk des Kopernikus für die Biologie fo rtgeführt. Der Mensch verliert seine siCh selbst zugeschriebene Sonderstellung unter den Lebewesen und tritt biologisch in eine
Reihe mit den anderen. Freilich war noch ein Rest von Vorrang geblieben.
Die traditionelle Erkenntnistheorie, vor allem diejenige Immanuel Kants, hatte die «Passung» der Erkenntnis als Resultat des Wirkens der OrdnungssChemata der mensChlichen Vernunft bezeichnet. Die evolutionäre Erkenntnistheorie dreht den Spiess um und erklärt die Ordnungsschemata der Vernunft
zu Evolutionsprodukten. «Erst die evolutionäre Erkenntnistheorie vollzieht
so in der Philosophie eine echte kopernikanische Wende. Denn hier ist der
Mensch nicht Mittelpunkt und Gesetzgeber der Welt, sondern ein unbedeutender Beobachter des kosmischen Geschehens, der seine Rolle meist weit
überschätzt hat. [...] Was das heliozentrische System für die Physik leistet, die
Abstammungslehre für die Biologie und die vergleichende Verhaltensforschung für die Psychologie, das leistet die evolutionäre Erkenntnistheorie für
die Philosophie.» – Von der Bescheidenheit, die evolutionäre Erkenntnistheoretiker sonst anmahnen, ist – wie man sieht – in ihrer Einschätzung der evolutionären Erkenntnistheorie nicht viel zu spüren.
Oben sahen wir, wie sich die evolutionäre Erkenntnistheorie an der kulturkritischen Erklärung der ökologischen Krise versuchte; nun sollen uns «anthropologische Konsequenzen» der «wahren kopernikanischen Wende» vermittelt werden. Hinter allen solchen Versuchen steht eine Grundauffassung,
Evolutionäre Erkenntnistheorie – eine Polemik 141
die man «naturalistisch» oder auch «szientistisch» nennt: der Glaube, dass
erst die Erkenntnis der Natur, der menschlichen zumal, wahres Selbstverständnis ermögliche. So hoch ich den Wert des Wissens um unsere biologische Natur für das menschliche Selbstverständnis auch einschätze, ich möchte
darauf bestehen, dass dieses Wissen nicht den Kern unseres Selbstverständnisses ausmacht und auch nicht ausmachen darf. Vielleicht haben manche
Krisen der Gegenwart nicht wenig mit den Naturwissenschaften und einer
daran anschliessenden Sicht des Menschen zu tun, die nur den Schein von
Objektivität und damit Aufklärung enthält. Gegen das von evolutionären Erkenntnistheoretikern «Entanthropomorphisierung» genannte Programm
möchte ich eine konsequente Anthropomorphisierung empfehlen, die sich mit
Kant an der Idee der Freiheit und der autonomen Selbstbestimmung orientiert. Sonst kommt es eines Tages noch so weit, dass wir uns mit unseren wohlüberlegten, wenn auch nicht wissenschaftlichen Lebensorientierungen im Zuge fortschreitender wissenschaftlicher Entanthropomorphisierung selbst mitleiderregend anthropomorph vorkommen.
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Gereon Wolters
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