Mark Galliker Sprachpsychologie A. Francke Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII 1. Evolution der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 Verständigung im infrahumanen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschheits- und Sprachentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der natürlichen zur künstlichen Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur historischen Entwicklung der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturabhängigkeit der Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 19 29 32 37 2. Spracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.1 2.2 2.3 2.4 Vorsprachliches Mutter-Kind-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beginn des Sprechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Syntax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kind als Dialogpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 53 66 72 3. Zeichentheorie und Kommunikationsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.1 Grundlagen der Zeichentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.2 Zeichentheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.3 Kommunikationsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4. Sprachproduktion und Sprachrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 4.1 4.2 4.3 4.4 Die Sprachproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sprachrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprechen und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 158 178 186 VI Inhaltsverzeichnis 5. Textproduktion und Textverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5.1 5.2 5.3 5.4 Der Schreibprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Leseprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textpräsentation und Textaneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lese-Rechtschreibstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 211 225 237 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 279 299 304 1. Evolution der Kommunikation In diesem ersten Kapitel wird auf ausgewählte Aspekte der Sprache oder ihrer Vorformen in der Stammesgeschichte der Lebewesen (Phylogenese) sowie in der Entwicklung beziehungsweise Evolution des Menschen (Homogenese) hingewiesen. Vorausgeschickt sei, dass für den vormenschlichen, infrahumanen Bereich und den Beginn des humanen Bereichs nicht der Eindruck erweckt werden soll, dass hierfür zuverlässige Forschungsergebnisse vorliegen. Diese Einschränkung bezieht sich zwar einerseits auf den derzeitigen Stand der Forschung, ist aber andererseits grundsätzlicher Natur. In diesem Fachbereich fehlen teilweise die empirischen Voraussetzungen (u. a. liegen keine sprachlichen Dokumente vor). Die frühe Entwicklung der ‚Umgangssprache‘ entzieht sich der Erkenntnis, da dieselbe keine unmittelbaren Spuren hinterließ. 1.1 Verständigung im infrahumanen Bereich Im Folgenden kann lediglich auf einige Phänomene im Tierreich hingewiesen werden, die schon von vorsprachlicher Bedeutung sein könnten. Vogelgesang und Antworten der Entenmutter Die darwinistisch geprägten Verhaltensforscher gingen ursprünglich davon aus, dass die Verhaltensmuster der Tiere vererbt beziehungsweise angeboren sind. Eine genetische Vorprogrammierung wurde auch hinsichtlich der Auslösereize des instinktiven Verhaltens angenommen. Bei bestimmten Tierarten scheinen allerdings von der naturgeschichtlichen Vermittlung auch Phasen einprogrammiert worden zu sein, in denen die Tiere gewisse Erfahrungen sammeln. So durchlaufen die meisten Singvögel in ihrer Entwicklung eine sensorische Entwicklungsphase, innerhalb der sie den Gesang erwachsener Vögel hören, um später dann – in der sensomotorischen Phase – ihren eigenen Gesang ausbilden zu können. Dabei übernehmen sie nicht sämtliche Laute, die sie in ihrer Umwelt gehört haben, sondern einen artspezifischen Ausschnitt. In der sensomotorischen Phase, in der die Jungvögel 2 Evolution der Kommunikation selbst zu singen beginnen, gleichen sie ihren Gesang allmählich jener Tonfolge an, die sie in der sensorischen Phase artgerecht ausgewählt haben (Ball & Hulse, 1998). Die vorprogrammierte Erfahrungsphase ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass der Vogelgesang, der insbesondere bei der Partnerwahl relevant ist, sich aufgrund der natürlichen Selektion herausgebildet hat. Offenbar vermögen Männchen mit einem umfangreichen und komplexen Gesangsrepertoire Weibchen besonders zu reizen. „Sie verpaaren sich häufig früher in der Brutsaison als ihre weniger eloquenten Mitkonkurrenten“ (Voland, 2009, S. 106). An der Selektionstheorie Darwins orientierte Wissenschaftler sehen die Ursache hierfür im Vorteil, den gute Sänger bei der Partnerwahl sowie bei der Verteidigung ihres Territoriums gegen Nachbarn und Eindringlinge haben (vgl. u. a. Garamszegi, 2005). Konrad Lorenz (1943) gehörte zu jenen Forschern, die sich fragten, ob bei den vererbten Verhaltensmustern alles angeboren ist oder ob diesbezüglich bestimmte Freiräume bestehen beziehungsweise bei den Auslösemechanismen nicht alles vorbestimmt ist. Zur Beantwortung dieser Frage beobachtete Lorenz junge Graugänse, die mit oder ohne Mutter lebten. Wurde jungen Gänsen während einer kritischen Zeitdauer keine Mutter oder Ersatzmutter (Muttermodell) zur Seite gestellt, folgten sie schließlich niemandem mehr. Präsentierte man ihnen aber ein Muttermodell, so folgten die Jungvögel diesem Modell, unabhängig von der Art desselben (wie z. B. Lorenz oder ein Vogel aus Holz). Wenn ein Jungtier einem Modell über eine Zeit von etwa zehn Minuten ausgesetzt war, so genügte dies dem jungen Vogel, um sich den (u. a. auditiven) Auslösereiz einzuprägen (Lockruf des Muttertieres). Diesen kurzen Prozess mit der dauerhaften Wirkung nannte Lorenz Prägung. Spitz (1988) konnte allerdings nachweisen, dass bei der Prägung von Entenküken eine ausschließliche Stimulation durch den Lockruf der Entenmutter auf Dauer nicht genügen konnte, die Nachfolgereaktion der Küken auszulösen. Erst als zusätzlich ins Modell der Mutter ein Mechanismus eingebaut wurde, der auf den Pieplaut des Kükens antworten konnte, gelang es, dieselben so weit zu stimulieren, dass sie der ‚Mutter‘ zuverlässig und dauerhaft nachfolgten. Zum Sozialverhalten der Säugetiere Nach Holzkamp (1983) sind zwar die für die Verständigung relevanten Voraussetzungen wie etwa Sensibilität, Wahrnehmung, Emotionalität und Verständigung im infrahumanen Bereich 3 Orientierung schon früh in der Naturgeschichte angelegt. Doch erst mit der Herausbildung artspezifischer Lernfähigkeit ergibt sich die Fähigkeit zur Veränderung und Differenzierung für jeden einzelnen Organismus. Diese Modifikation geht jedoch nicht in den weiteren Erbgang ein; nur die Veränderbarkeit beziehungsweise Modifikabilität als solche gehört fortan zum festen Bestand der Naturgeschichte. „Genetisch vorbereitet ist nichts so sehr wie die differenzierende Entfaltungsmöglichkeit durch individuelles Lernen“ (vgl. Markl, 2005, S. 27). Bei den höheren Säugetieren entwickeln sich in besonderen ‚Schutzräumen‘ spezifisch soziale Voraussetzungen eines spielerisch anmutenden Verhaltens (vgl. z. B. das Herumtollen junger Wölfe). Dieses Verhalten kann als Ausprobieren von Verhaltensweisen oder als Versuch- und Irrtums-Verhalten verstanden werden – ein Verhalten, das in die Zukunft hinein offen ist und damit auch Risiken in sich birgt. Da dieses individualisierte Verhalten zunächst im geschützten Rahmen stattfindet, ermöglicht es neue Anpassungsmodi an wechselnde Umweltgegebenheiten, die sich naturgeschichtlich respektive genetisch betrachtet als vorteilhaft erweisen sollten. Die Tiere ahmen einander ihre Handlungen nach. Dabei bleibt unklar, wieviel auf Vererbung und wieviel auf Nachahmung basiert, wobei die Voraussetzungen der Nachahmung vererbt sind (s. o.). Darwin (1874) ging noch davon aus, dass die bei der Nachahmung relevanten Gebärden im Wesentlichen Ausdruck von Emotionen sind. Diesem ausdruckspsychologischen Ansatz widersprach Mead (1980). Nach ihm besteht die Funktion der Gebärden in der Herstellung und Sicherung der Sozialität der jeweiligen Gattungen. Gesten sind Stimuli, die bestimmte Reaktionen bei anderen Individuen artgleicher Gattungen hervorrufen. Mead verdeutlichte dies am Beispiel des Kampfes zweier Hunde. Aus Reaktionen und Gesten eines ersten Hundes, mit denen er einem zweiten Hund den Angriff anzeigt, entwickelt sich eine Abfolge von Reaktionen, die einen wechselseitig aufeinander reagierenden, interaktiven Charakter aufweist. Das Verhalten des ersten Hundes wird zu einem Stimulus für den zweiten Hund, seine Position zu ändern und in der Folge wird die Änderung der Position des zweiten Hundes für den ersten Hund zu einem Stimulus, sich neu zu positionieren. Mit dem angedeuteten Verhalten werden ausschließlich lineare Reiz-Reaktions-Verhältnisse zu Verhaltensweisen, deren Ergebnisse zu einer neuen Voraussetzung des Verhaltens werden. Mit der Rückkoppelung entstehen in einen Umlauf gesetzte, frei zirkulierende Informationen, die als solche erst eine Verständigung über Bedürfnisse oder über lebensbedrohliche Situationen ermöglichen (vgl. u. a. Schurig, 1975). 4 Evolution der Kommunikation Bei der Entwicklung komplexerer Interaktionen ist die Lautgeste, die Empfänger und Sender beeinflusst, besonders relevant. Die Lautgeste ist eine sogenannte selbstwahrnehmbare Geste. Die in sich reziprok angelegte Verhaltensweise ebnet als solche den Weg zur gegenseitigen Verständigung und damit auch zum Verständnis des anderen, weil sie den Sender veranlasst, im Empfänger sowie in sich selbst tendenziell gleiche Reaktionen auszulösen. Nach neueren Forschungen basiert dieser Vorgang auf den sogenannten Mirror Neurons, die bei den eigenen die Bewegungsabläufe betreffenden, motorischen Verhaltensweisen sowie bei der Wahrnehmung der gleichen Verhaltensweisen bei Artgenossen aktiviert werden (Markl, 2005). Die Spiegelneuronen wurden von Neurophysiologen entdeckt, die Ende der 1990er Jahre im norditalienischen Parma die Bewegungsplanung von Makakenäffchen untersuchten. Den verkabelten Äffchen wurde nahegelegt, nach verschiedenen Gegenständen (u. a. Spielzeuge und Rosinen) zu greifen. Dabei wurden Aktivitäten einzelner Nervenzellen im unteren Teil des prämotorischen Kortex registriert. Einmal griff der Experimentator selbst nach einer Rosine. Das ihn beobachtende Versuchstier bewegte sich nicht. Dennoch sprach das Messgerät an wie bei den eigentlichen Bewegungsversuchen zuvor. Mit den sogenannten Makaken-Versuchen konnte dann die Erkenntnis reproduziert werden, dass bei einer ausschließlichen Beobachtung der Bewegungen von Artgenossen, Neuronen im präfrontalen Cortex, das heißt im Bereich der Frontallappen des Gehirns (siehe Abb. 2), aktiviert werden, die auch bei entsprechenden Eigenbewegungen aktiv sind. Offenbar werden einfachste Formen der Nachahmung durch Spiegelneuronen gesteuert (Rizzolatti, 1996). Die durch bloße Beobachtung aktivierten Neuronen in den prämotorischen Arealen des Frontalgehirns (siehe Abb. 20) scheinen eine Doppelfunktion zu haben, wird doch das Beobachtete beim Beobachter ebenfalls in Bewegung gesetzt beziehungsweise gespiegelt (deshalb der Name „Spiegelneuron“). Soziales Verhalten von Primaten Bei den Menschenaffen die als Baumbewohner mit ihren mühelos greifenden Händen und Füssen geschickte Kletterer sind, wächst das Gehirn rapide an. Dies vergrößert bei ausgewachsenen Anthropoiden auch die Handlungsspielräume und die entsprechenden Lernmöglichkeiten. Die in größeren Gruppen lebenden Tiere interagieren miteinander in einer Weise, die weit über ein bloßes gegenseitiges Stimulus-Reaktions-Verhalten hinausgeht. Sie geben einander ‚Zeichen‘, mit denen sie ihr Verhalten untereinander steuern. Beispielsweise können bestimmte Paviane andere Paviane auf Rivalen hetzen, anstatt selbst zu Verständigung im infrahumanen Bereich 5 kämpfen. Menschenaffen sind auch dazu in der Lage, „sich einander mithilfe ihrer vereinten Sinne vor Gefahr zu warnen“ (Darwin, 1871/2012, S. 65). Nach Darwin finden schon Säugetiere (und insbesondere die Primaten, also die Affen, Menschenaffen sowie die Menschen) Gefallen am ‚geselligem Verkehr‘, warnen einander vor Feinden, verteidigen sich gemeinsam und helfen sich auch bei anderen Gelegenheiten in mannigfaltiger Weise. Allerdings führt der Begründer der Selektionstheorie diese Verhaltensmöglichkeiten auf Instinkte zurück. Unter Mutualismus versteht man das Zusammenleben von Lebewesen mit gemeinsamem Nutzen. Dieser wird offenbar durch die natürliche Selektion direkt verstärkt, wenn gemeinsames Verhalten leichter oder effizienter ist als solitäres Verhalten (Voland, 2009). Bei den Affen überwiegt die visuelle Kommunikation gegenüber der auditiven Kommunikation. Im Rahmen der visuellen Kommunikation kommt vor allem der Mimik ein wichtiger Stellenwert zu. Hingegen tritt die beim Klettern relevante Hand noch nicht bei einer die Berührungen und das Tasten betreffenden, taktilen Kommunikation in Erscheinung. Erst bei der menschlichen Kommunikation wird die – inzwischen frei gewordene Hand – als zentrales Mittel zur Gestenübermittlung fungieren. Offenbar wirkte sich bei den Affen das Überwiegen der visuellen Kommunikation schon günstig auf die Selektion aus. Doch erst später konnten die Hände aus ihren angestammten Funktionszusammenhängen gelöst werden und eine Funktionsveränderung erfahren: Ihre Bewegungen konnten ritualisiert und zur Signalübertragung genutzt werden (vgl. u. a. Ploog, 1974). Vokalisation bei Primaten Unter dem lautlichen Ausdrucks beziehungsweise Vokalisation der höheren Primaten versteht man die relativ seltenen und wenig ausdifferenzierten Lautbildungen i. U. zur Gestik sowie generell dominierenden Mimik (s. o.). Nach Tomasello (2008/2009) wird in der Regel in evolutionär ‚not-wendigen‘ Kontexten vokalisiert (z. B. bei der Partnerwahl oder bei Gefahr durch einen Feind). Deswegen seien die Vokalisationen der Primaten stark fixiert und wenig flexibel. Demgegenüber würden Gesten mehr beim Säugen, bei der Fellpflege oder im Spiel verwendet, also in evolutionär weniger dringenden Situationen, die auch weniger emotional aufgeladen seien. Dieser Gegenüberstellung widersprechen aber einige Erfahrungen. Beispielsweise sind bei Pavianen die weitaus am häufigsten vorkommenden Lautmuster die Grunzer. Dabei handelt es sich um relativ leise und tonale Laute, die die Tiere von sich geben, wenn sie sich