1 Einleitung: Soziologie und die Emotionen In der Frage nach der Bedeutung von Emotionen ist die Soziologie nicht die geeignete Quelle. Diesen Satz hörte ich zum ersten Mal in einem Seminar über »Affekte – Emotionen – Mentalitäten«, das Prof. Dr. Peter R. Gleichmann im Jahre 1988 an der Universität Hannover hielt. Dieser Satz gilt – zumindest für den deutschen Sprachraum – auch heute noch. Damals war gerade das Buch »Soziologie der Emotionen«1 von Jürgen Gerhards erschienen. Er beginnt sein Vorwort mit der Feststellung, dass das Feld einer Soziologie der Emotionen völlig unbearbeitet und unbestimmt sei. Dementsprechend charakterisiert er sein Buch als den Versuch »zuallererst einmal Fragestellungen zu formulieren, um einen Sinnzusammenhang »Soziologie der Emotionen« durch Grenzziehungen zu konstituieren.«2 Hierbei greift Gerhards zunächst einmal auf einige Klassiker der Soziologie (Weber, Durkheim, Simmel, Elias) zurück und arbeitet heraus, welche Bedeutung sie den Emotionen in ihren Theorien beimaßen. Sodann stellt er einige – zum damaligen Zeitpunkt neue – Arbeiten amerikanischer Emotionssoziologen (Collins, Kemper, Hochschild, Zurcher) dar. Die amerikanische Soziologie hatte die Emotionen seit den siebziger Jahren verstärkt zu ihrem Thema gemacht, 1986 gründete der amerikanische Soziologenverband eine eigenständige emotionssoziologische Sektion. Eine vergleichbare Institution gibt es in Deutschland bis heute nicht. Und so erschien im Jahre 2002, fast 15 Jahre nach Erscheinen von Gerhards’ emotionssoziologischer Pionierarbeit, ein gleichnamiges Buch3, diesmal mit dem Untertitel »Eine Einführung«. Das Feld einer Soziologie der Emotionen ist also bearbeitet worden, vornehmlich jedoch in Amerika und England. In der deutschen Soziologie existiert auf dem Gebiet der Emotionen nach wie vor eine Wissenslücke, wie Helena Flam feststellt. Interessanterweise ist Flams Buch ganz ähnlich aufgebaut wie das gleichnamige Buch Gerhards. Auch sie beginnt mit der Darstellung der Bedeutung von Emotionen in den Theorien der soziologischen Klassiker Simmel, Weber, Durkheim; daran anschließend stellt sie die amerikanische Emotionssoziologie vor, um dann in einem dritten Teil 1 2 3 Gerhards (1988) Ebd., S. 9 Flam (2002) 9 die Wirksamkeit emotionaler Prozesse in einigen Feldern der Soziologie (Arbeit und Gefühl, Geld und Gefühl, Politik und Gefühl) aufzuzeigen. Das Erscheinen zweier Bücher mit gleichem Titel, gleichem Aufbau und ähnlichen Inhalten in einem Abstand von 15 Jahren ist ein Indiz dafür, dass das Feld der Emotionen in der deutschsprachigen Soziologie, trotz der Bemühungen einiger weniger Autoren,4 weitgehend brach liegt.5 Das Ziel des vorliegenden Buches liegt nicht darin, einen weiteren Versuch zur Etablierung einer neuen Bindestrich-Soziologie zu starten. Mein Anliegen besteht vielmehr darin, einen anderen Zugang zu emotionssoziologischen Fragestellungen zu entwickeln, als er in der bisherigen Literatur eröffnet wird. Die Reflexion der emotionalen Bedingtheit menschlichen Handelns dient nicht einer isolierenden Betrachtungsweise, in der die Bedeutung von Emotionen im Kontrast zu den Modellen rationalen Handelns herausgearbeitet wird, sondern darin, die emotionale Dimension in die soziologische Theorienbildung zu integrieren. Die Einseitigkeit zu Gunsten eines rationalistischen Menschenbildes muss durch die Einbeziehungen emotionaler Motivationen ergänzt, nicht ersetzt werden. Hierzu bedarf es einer fundierten Theorie der Gefühle, in der Emotion und Kognition, Affekt und Rationalität nicht getrennt voneinander betrachtet werden, sondern als Einheit. Einer solchen »Theorie der Gefühle« mangelt es den Ansätzen der deutschsprachigen Emotionssoziologie.6 Bereits das Problem der Definition von Gefühlen wird eleganterweise mit dem Hinweis auf äußerst zahlreiche Definitionen umgangen, ohne sich im weiteren Verlauf des Textes auf eine dieser Definitionen festzulegen.7 Einfacher hingegen scheint es zu sein, sich auf sogenannte »Primäremotionen« (Angst, Wut, Trauer, Freude) zu konzentrieren und deren Relevanz für das menschliche Handeln herauszuarbeiten. Die Konzentration auf spezifische Emotionen, die auch die amerikanische Emotionssoziologie dominiert, verstellt jedoch den Blick darauf, dass Menschen immer in irgendeiner Weise emotional gestimmt sind, auch wenn sie gerade keine Angst, Wut oder Freude empfinden. Auch die spezifische Dynamik, die aus dem Wechselspiel zwischen Emotion und Kognition entsteht, wird in dieser Herangehensweise kaum erfasst. Die menschliche Wahr- 4 5 6 7 10 z. B. Schumann, Stimmer (1987), Vester (1991), Neckel (1991) Eine Kritik am vorwiegend rationalistischen Menschenbild in der Soziologie findet sich auch bei Wahl (2000). An Hand einiger soziologischer Klassiker analysiert Wahl den soziologischen Rationalitäts-Diskurs und entwickelt ein interdisziplinäres Modell einer Tiefensoziologie. Mir ist jedoch auch aus dem englischen Sprachraum keine solche Theorie bekannt. Vergl. z.B. Flam (2002) S.11/12 oder Vester (1991), S. 26 ff nehmung wird jedoch gerade durch die gegenseitige Durchdringung von Emotionen und Kognitionen entscheidend beeinflusst. Das Fehlen einer Theorie der Emotionen in der emotionssoziologischen Literatur ist umso bedauerlicher, als eine solche Theorie bereits existiert. Es ist die Theorie der »Affektlogik«, die von dem schweizerischen Psychiater Luc Ciompi bereits 1982 in seinem gleichnamigen Buch8 entwickelt wurde und die er in den folgenden Jahren stringent ausbaute. 1997 erschien sein Buch »Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik«9, in der er seine Theorie um einen chaostheoretischen Zugang erweitert. Ciompis Theorie beruht auf der Grundannahme, dass Affekt und Intellekt in der Struktur der menschlichen Psyche nicht getrennt voneinander existieren, sondern eine Einheit bilden. In der Zusammenführung verschiedener theoretischer Ansätze kommt er zu dem Ergebnis, dass aus der gegenseitigen Wechselwirkung von Affekt und Intellekt eine spezifisch affektiv-kognitive Dynamik entsteht, die er auf Grundlage der Chaostheorie ausführlich beschreiben und erklären kann. Obwohl Ciompis Theorie in psychiatrischen Fachkreisen eine hohe Anerkennung erfährt und seine Theorie in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen erfolgreich angewandt wird, wurden seine Bücher von der »Emotionssoziologie« bisher so gut wie nicht zur Kenntnis genommen. Interdisziplinarität wird im Wissenschaftsbetrieb zwar groß geschrieben, aber hier sind die Mauern zwischen den Disziplinen bisher zu hoch gewesen. Das Erkennen einer spezifisch affektiv-kognitiven Dynamik des Handelns ist jedoch auch für die Soziologie von erheblicher Bedeutung, nicht nur für jene Verhaltensweisen, die den Stempel des »Irrationalen« erhalten haben und somit nicht mehr erklärungsbedürftig erscheinen. Das vorliegende Buch hat daher das Anliegen Ciompis Theorie der Affektlogik in die soziologische Theorienbildung zu integrieren. Dem Niederschreiben des vorliegenden Textes ging eine langjährige Auseinandersetzung voraus, während derer sich für mich vor allem zwei Kernfragen herauskristallisierten: Auf welche Weise beeinflussen Emotionen das menschliche Denken? Wie wirkt sich die emotionale Beeinflussung auf die Handlungsweisen des Menschen aus? In Anknüpfung an das Soziologieverständnis von Norbert Elias betrachte ich den Menschen nicht als autonomes Einzelwesen, sondern in seinen Beziehungen zu anderen Menschen. Die Menschen existieren nicht in der Einzahl, sondern ausschließlich im Plural. Dementsprechend befasse 8 9 Ciompi (1992) Ciompi (1997) 11 ich mich in der Beantwortung der ersten Frage nicht mit Denkprozessen, die gemeinhin als individuelle bezeichnet werden, sondern mit Weltbildern und sozialen Glaubensvorstellungen, welche sich dadurch auszeichnen, dass eine Großzahl an Menschen an ihnen Teil hat. Weltbilder und Glaubensvorstellungen sind nicht das Produkt einzelner Denker, sie entstehen durch den sozialen Austausch der Menschen untereinander und dienen der sozialen Orientierung. Durch die Teilhabe an je gruppenspezifisch geteilten Wertvorstellungen ist der Einzelne mit der Gesellschaft verflochten und ist damit gleichsam sozial verortet. Weltbilder unterscheiden sich nicht nur in ihrem Inhalt, sondern auch in ihren Strukturen. So kann man mehr oder weniger offene, mehrdimensionale Weltbilder von in sich geschlossenen, eindimensionalen Weltbildern unterscheiden. Aufbauend auf der Theorie der Affektlogik, welche ich im ersten Kapitel ausführlich darstelle, stelle ich im zweiten Kapitel die These auf, dass in sich geschlossene Weltbilder auf Grund ihrer Eindeutigkeit eine hohe emotionale Anziehungskraft besitzen. Sie sind emotional weitaus befriedigender als offene Weltbilder, in denen Widersprüche und offene Fragen ausgehalten werden müssen. Ich erläutere diese These am Beispiel des Weltbildes des Rechtsextremismus. In der Ursachenforschung des Rechtsextremismus stehen sozialökonomische und für den Jugendbereich sozialisationstheoretische Fragestellungen im Vordergrund, während die Inhalte des rechtsextremen Weltbildes in den Hintergrund gestellt werden. Ich beschreibe in diesem Kapitel überblicksartig die vorherrschenden Erklärungsmodelle und im Anschluss daran die Inhalte des rechtsextremen Weltbildes, wobei ich nach strukturellen und inhaltlichen Merkmalen unterscheide. Dieser Beschreibung schließt sich eine Kritik der Vernachlässigung ideologischer Faktoren in der Rechtsextremismusforschung an. Der Fokussierung auf ökonomisch, materialistisch orientierte Erklärungsmodelle stelle ich die affektlogische Sichtweise gegenüber, wonach die Einstellungen der Menschen nicht ausschließlich von zweckrationalen Motiven geprägt sind, sondern ebenso von einer emotionalen Dynamik. Im Ergebnis lautet meine These, dass das mit Absolutheitsansprüchen ausgestattete rechtsextreme Weltbild in seiner Einheitlichkeit und vermeintlichen Widerspruchsfreiheit eine im affektlogischen Sinne affektiv-kognitive Eigenwelt darstellt, welche einer spezifischen Dynamik unterliegt. Die emotionale Dynamik rechtsextremer Orientierungsmuster belege ich abschließend an Hand einiger empirischer Untersuchungsergebnisse aus dem Jugendbereich der Rechtsextremismusforschung. 12 Diese Betrachtungen werden begleitet von einigen wissenssoziologischen Überlegungen. Denn wenn die These des emotional geleiteten Denkens zutrifft, so gilt dies auch für das wissenschaftliche Denken selbst. Das voraussetzungslose Studium objektiver Tatsachen, welches die Wissenschaften gerne für sich beanspruchen, ist weitgehend eine Fiktion, welche auf dem in der Tradition der Aufklärung stehendem Menschenbild des vernunftbegabten Individuums beruht. Meine These lautet, dass dieses rationalistische Menschenbild nicht nur die Betrachtung der Forschungsgegenstände, sondern auch die Methoden erheblich beeinflusst hat. Die Hervorhebung und Idealisierung der Fähigkeit des rationalen Denkens führte nicht nur zu einer Gegensatzstellung von Rationalität und Irrationalität, sondern auch zu einer starken Abwertung alles Gefühlsmäßigen, in deren Folge die emotionale Dimension der menschlichen Existenz in der wissenschaftlichen Forschung weitgehend ausgeklammert wurde. Meine Ausführungen zu dieser Problematik beruhen weitgehend auf der Annahme, dass Emotionen nur dann einer wissenschaftlich anerkannten Bearbeitung zugänglich sind, wenn man diese wertende Gegenüberstellung von Vernunft und Gefühl aufhebt. Diese Voraussetzung erfüllt die Theorie der Affektlogik, denn sie ist geleitet von der Grundannahme der Einheitlichkeit der Psyche, der Einheitlichkeit von Affekt und Kognition, von Gefühl und Verstand. Aus der Auseinandersetzung mit der Frage, auf welche Weise Emotionen die Wahrnehmung und das Denken beeinflussen, ergibt sich in der Konsequenz die Frage nach der emotionalen Bedingtheit des Handelns. In dem von mir gewählten Kontext der emotional geleiteten Weltbilder verbirgt sich dahinter die grundsätzliche Fragestellung, ob Menschen sich in ihrem Handeln wirklich von Glaubensüberzeugungen und Weltbildern leiten lassen. Glaubensvorstellungen enthalten soziale Wert- und Normvorstellungen, in denen auch Regeln für das soziale Zusammenleben aufgestellt werden. Sind diese sozialen Werte aber eine ausreichende Handlungsmotivation, oder wird das konkrete Handeln nicht eher von eigennützigen, materialistisch-zweckrationalen Orientierungen bestimmt? Bezogen auf das politische Handeln von Großgruppen und ihrer Funktionsträger gelten Glaubensvorstellungen in Form von politischen Ideologien spätestens seit Marx’ Ideologiekritik als bloße Legitimierung politischen Handelns, mit welcher die Durchsetzung reiner Machtansprüche verschleiert werde. In seinem Buch »Studien über die Deutschen«10 stellt jedoch Elias die These auf, dass es bestimmte historische Konstellationen gibt, in denen das Handeln der Menschen 10 Elias (1989) 13 durch nichts so sehr bestimmt wird wie durch ihre sozialen Glaubensüberzeugungen, so unrealistisch und phantasiegeladen diese auch sein mögen. Die Politik der Judenvernichtung unter dem nationalsozialistischen Regime stellt für Elias ein Beispiel einer solchen historischen Konstellation dar. Diese Eliaschen Thesen stelle ich im dritten Kapitel ausführlich dar. Elias Überlegungen zur handlungsleitenden Relevanz von sozialen Glaubenssystemen sind eingebettet in einen theoretischen Rahmen, welcher aus seiner prozessorientierten und die soziale Verflechtung des Einzelnen hervorhebenden soziologischen Theorie gebildet wird. Indem ich diese theoretischen Grundannahmen mit Elias’ Thesen zu den Ursachen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik verbinde, komme ich zu dem Ergebnis, dass soziale Glaubensvorstellungen dann das Handeln dominieren können, wenn in ihrem Zentrum stark emotionalisierte Wir-Bilder stehen. Der theoretische Rahmen, in den Elias’ Thesen zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik eingebunden sind, lässt einige verallgemeinerungsfähige Schlussfolgerungen zu, deren Erklärungskraft ich am Beispiel der Selbstmordattentate des islamisch-fundamentalistischen Terrorismus darlege. Emile Durkheim beschrieb kollektive Gefühle nicht nur als die stärksten Gefühle, die es gibt, in seiner Religionsstudie11 erkannte er in ihnen auch den Charakter des Heiligen. Die zusammenfassende Darstellung des durkheimschen Theorieansatzes dient der Beschreibung dieser besonderen emotionalen Qualität von Wir-Gefühlen. Dass Gefühle, die von einer großen Anzahl von Menschen geteilt werden, eine besondere Kraft und Stärke entfalten können, ist auch von der Massenpsychologie Le Bons12 und Freuds13 dargestellt worden, der soziologische und kulturkritische Begriff der Masse, ist geprägt von der Vorstellung, dass Menschen in Massen triebgesteuert und irrational handeln. Elias und auch Durkheim beschreiben die Beobachtung, dass Vorstellungen, die von einer großen Anzahl an Menschen geteilt werden, eine hohe Überzeugungskraft und emotionale Intensität erhalten, als sozialen Verstärkereffekt. Diesen Effekt beschreibt auch Ciompi in seinen Überlegungen zu einer »kollektiven Affektlogik«. Er geht davon aus, dass die emotionale Dynamik, welche individuelle Denk- und Wahrnehmungsprozesse prägt, in kollektiven Prozessen intensiviert wird. Diese Überlegungen fasse ich zu der These zusammen, dass in bestimmten historischen und sozialen Konstellationen intensive 11 Durkheim (1998) Le Bon (1895) 13 Freud (1921) 12 14 und idealisierte Wir-Gefühle als Energielieferanten sozialer Prozesse fungieren können und das Handeln der Menschen stärker dominieren als rationale Motivierungen. Die intensive Emotionalisierung kollektiv geteilter Glaubensvorstellungen bildet das Verbindungsglied zu den wissenssoziologischen Überlegungen des vorangehenden Kapitels. Die Ausgrenzung der emotionalen Dimension des Menschen durch das von der Aufklärung geprägte Menschenbild des vernunftbegabten Individuums, betrifft insbesondere das Handeln von und in Gruppen, welches mit dem Etikett der Irrationalität belegt wurde. Die emotionale Dimension von Gruppenprozessen wurde doppelt abgewertet, da sie gleichermaßen dem Ideal des rationalen als auch dem des unabhängigen Individuums widerspricht. Denn laut des Aufklärungsideals sind Menschen nicht nur vernunftbegabt, sondern auch frei und unabhängig. Mit den Beschreibungen der triebgesteuerten und irrationalen Massen in der Massenpsychologie wurde das Gruppenhandeln in die Nähe des Abnormen und des Pathologischen gerückt. Das Gegensatzpaar Rationalität und Irrationalität erhielt eine zusätzliche Erweiterung, in der man die Eigenschaft der Rationalität ausschließlich dem individuellen Denken zuerkannte, während kollektive Prozesse mit der Eigenschaft der Irrationalität belegt wurden.14 In dieser wertenden Gegenüberstellung von Individuum = Rationalität versus Gruppe = Irrationalität findet sowohl die Idealisierung des individuellen Handelns als auch die Abwertung des Gruppenhandelns eine wechselseitig ineinander verschränkte Verstärkung. Meine These ist, dass dieser Abwertungsprozess nicht nur zu einer Ausklammerung der emotionalen Dimension des Menschen geführt hat, sondern auch eine theoriengeleitete Thematisierung von Wir-Gefühlen erheblich erschwert hat. Auch bei Durkheim steht die soziale Abhängigkeit des Menschen im Mittelpunkt seiner Theorienbildung. Das Aufzeigen der sozialen Abhängigkeiten der Menschen und ihrer zugehörigen Gefühle, widerspricht jedoch nicht nur dem Menschenbild des freien Individuums, sondern ist auch anfällig für politisch-ideologische Interpretationen, da die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft auch politischen Gesellschaftsmodellen immanent ist. 14 Vergl. Bühl (2000), S. 7, Bühl kritisiert diese Entgegensetzung als metaphysische Antinomie: »So gibt es auch im Falle zunehmender ›gesellschaftlicher Komplexität‹ nur ein Entweder-Oder: eine (regressive, irrationale oder irreflexive) ›Vermassung‹ oder eine (progressive, rationale oder reflexive) ›Individualisierung‹. Mit der Soziologie als Wissenschaft hat diese Alternative soviel und sowenig zu tun wie mit einer Kosmologie, die analog entweder von der Implosion oder von der fortgesetzten Explosion des Weltalls ausgeht. Am Ende steht in jedem Fall die ›Auflösung des Sozialen‹«. Zur Gleichsetzung von Individuum und Rationalität vergleiche ebenfalls Bühl (2000), S. 38 ff. 15 Soziale und politische Seins-Sollens-Regeln und Machtinteressen beeinflussen sowohl die wissenschaftliche Theorienbildung als auch deren Interpretation. So werden soziologische Theorien, welche die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft hervorheben, in die Nähe kollektivistischer Ideologien gerückt und erfahren eine entsprechende Abwertung. Die politisch ideologische Abgrenzung gegenüber kollektivistischen Ideologien hat zur Folge, dass man ihre Inhalte – idealisierte Wir-Bilder und emotionalisierte Glaubensvorstellungen – nicht als soziale Wirkkräfte anerkennt. Wir-Gefühle und kollektive Überzeugungen werden als Bedingungsfaktoren sozialer Prozesse geleugnet und aus den Forschungsfragen und -methoden ausgeklammert. Diese Form der Tabuisierung von Wir-Gefühlen und ihrer spezifischen emotionalen Dynamik zeige ich am Beispiel der Nationalsozialismusforschung auf. Der Nationalsozialismus ist ein Beispiel für den Missbrauch politisch instrumentalisierter Wir-Gefühle und ich sehe ihn gleichzeitig als ein Beispiel für die zerstörerische Kraft und gewaltsame Dynamik, welche kollektiv geteilte Glaubensüberzeugungen entfalten können. Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind mit dem Aufklärungsideal eines vernunftbegabten Individuums nicht vereinbar. Diese Unvereinbarkeit hat jedoch nicht zu einer Revision des Menschenbildes geführt. Wie ich an einigen Beispielen aus der Nationalsozialismusforschung aufzeige, wird das vernunftwidrige Morden einerseits mit dem Topos einer generellen Unverstehbarkeit belegt, andererseits gehen Historiker auch heute noch von einer rationalen Motivierung des millionenfachen Mordens aus. Wenn man mit dem Schreiben einer wissenschaftlichen Arbeit beginnt, hat man zumeist noch vor Beginn des Schreibens ein gewünschtes Ergebnis vor Augen, auch wenn man den Weg dorthin noch nicht kennt. In der Regel steht am Ende dieses Weges eine Bestätigung des Gewünschten. In meinem Fall führte die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Wir-Gefühlen in sozialen Prozessen jedoch nicht zu dem von mir gewünschtem Ziel. Dieses bestand darin, einen Mangel an sozialen Zugehörigkeitsgefühlen und Solidarität in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft zu beklagen und die Ursachen dieses Mangels einem sowohl theoretischen als auch praktischen Individualismus zuzuschreiben. Die Auseinandersetzung mit den Inhalten extremistischer Ideologien brachte mich jedoch dazu, Individualisierung nicht als Ursache, sondern als Lösung zu betrachten. Diese Überlegungen, die meinen Weg nicht begleiteten, aber dennoch an dessen Ende stehen, fasse ich im Schlusswort zusammen. 16