W I S S E N S C H A F T Kongress „Klinische Emotionsforschung“ Bedeutung der Emotion noch zu wenig beachtet Die Gesichtsmimik kann als Indikator für die Beziehungsregulation zwischen Therapeut und Patient sowie auch zur Diagnose psychischer Störungen eingesetzt werden. Ü ber die große Bedeutung einer funktionierenden Beziehung zwischen Patient und Therapeut für den Verlauf und Erfolg der Psychotherapie sind sich alle Therapieschulen einig. Doch was eine „gute“ Beziehung ist und wie sie zustande kommt, wird kontrovers diskutiert. Zur Einschätzung der Beziehungsqualität werden verschiedene Verfahren herangezogen, wie zum Beispiel die Analyse sprachlicher Mitteilungen in Interaktionen oder Interviews, der Körperhaltung oder physiologischer Messwerte. Jedes Verfahren erbringt seine eigene Systematik von Emotionen. Einige Verfahren sind eng mit der jeweiligen Perspektive von Patienten, Therapeuten oder Beobachtern verknüpft. Ein Problem, das mit Verfahren der Selbst- und Fremdbeobachtung einhergeht, ist die hohe Subjektivität. Höhere Objektivität bei der Einschätzung der Beziehungsqualität und einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet die Analyse nonverbaler Zeichen, insbesondere der Gesichtsmimik. Emotionen im psychotherapeutischen Prozess, insbesondere in der Interaktion von Therapeut und Patient war ein Schwerpunktthema des Internationalen Kongresses „Klinische Emotionsforschung“ zu dem sich Anfang Oktober 2002 Emotionsforscher aus verschiedenen Ländern an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken versammelten. Ausgerichtet wurde der Kongress vom Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie unter der Leitung von Prof. Dr. Rainer Krause. Es wird angenommen, dass zwischen inneren Zuständen und gezeigtem Verhalten eine sehr enge Verbindung besteht. Die Gesichtsmimik ist deshalb PP Heft 1 Januar 2003 Deutsches Ärzteblatt besonders aufschlussreich, weil sich in ihr die emotionalen Grundmuster und ihre Nuancen direkt und unmittelbar widerspiegeln. Die Messung der Gesichtsmimik erfolgt in der Regel über Video- und Computeraufzeichnungen (Split-Screen-Verfahren). Kurze Sequenzen werden dann mit dem Emotional Facial Action Coding System (EMFACS beziehungsweise FACS) ausgewertet. Dieses Verfahren beinhaltet zunächst eine detaillierte Beschreibung einzelner Muskelaktivitäten im Gesicht. In einem zweiten Schritt werden die so entstandenen Konfigurationen einzelner Muskelaktivitäten von einem Computerprogramm bestimmten Affekten zugeordnet. Gesichtsausdruck kann auch gefälscht werden An diesem Verfahren ist zu kritisieren, dass ein Gesichtsausdruck auch gefälscht werden kann. Doch es gehört einige Übung und schauspielerisches Talent dazu, um die Gesichtsmimik vollständig zu kontrollieren und gezielt zu verstellen. Da die meisten Therapiepatienten über solche Fertigkeiten nicht verfügen, gilt die Analyse des Gesichtsausdrucks als relatives valides Verfahren. Auf dieser Basis konnte die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Rainer Krause bereits einen eindeutigen Zusammenhang zwischen gegenseitiger Beziehungsregulation von Therapeut und Patient durch mimische Affekte und dem Erfolg von Psychotherapie belegen. Die Gesichtsmimik eines Patienten wird aber nicht nur als Indikator für die Beziehungsregulation und -qualität, son- PP dern auch zur Diagnose psychischer Störungen eingesetzt. So variiert die Übereinstimmung zwischen negativen Gefühlen und ihrem mimischen Ausdruck in Abhängigkeit von der jeweiligen mentalen Störung, wie Dr. Jörg Merten von der Universität Saarbrükken darstellte. Prof. Dr. Heiner Ellgring, Psychologisches Institut der Universität Würzburg, zeigte in seinem Vortrag auf, dass Abspaltungen von Gesichtsausdruck, innerem Erleben und emotionalem Ausdruck auf dissoziative Störungen hinweisen. Bei Psychosen stimmt wiederum der Gesichtsausdruck mit der Sprache nicht überein. Zu den emotionalen Auffälligkeiten bei psychotischen Störungen gehört außerdem, dass die Betroffenen die eigenen Gefühle nur in reduziertem Maß ausdrücken können und die Gefühle anderer Personen kaum verstehen. Bei nichtpsychotischen Störungen stehen hingegen Verschiebungen im Affektspektrum im Vordergrund. Die Betroffenen zeigen ein Übermaß an negativen Affekten wie Ärger und Angst bei gleichzeitigem Mangel an positiven Affekten wie Freude. Patienten mit psychosomatischen Störungen wird hingegen eine generelle Reduzierung emotionaler Qualitäten unterstellt (emotionale Blindheit oder Alexithymie). „Bei neurologischen Störungen weicht der mimische Affektausdruck vom inneren Erleben ab“, berichtet Ellgring und benennt als Beispiel Parkinson-Patienten, die aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage sind, ihre Gefühlswelt adäquat auszudrücken. Über die Funktion von Emotionen, Emotionsstörungen und ihre Therapie referierte Prof. Dr. Gerd Rudolf, Psychoanalytiker und Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg. „Für Psychotherapeuten der meisten Schulrichtungen – vor allem für psychoanalytisch orientierte Therapeuten – ist es selbstverständlich, dass der therapeutische Prozess sehr viel Emotionales beinhaltet“, sagt Rudolf. So müssten sich Patienten mit neurotischen Störungen mit ihren beiseite gehaltenen Affekten konfrontieren und sie aushalten. Patienten mit persönlichkeitsstrukturellen Störungen hätten zu lernen, abgespaltene Affekte zu integrieren und verschleierte Affekte wahrzunehmen. In diese Prozesse werden auch die Therapeuten unmit- 33 PP W I S S E N S C H A F T telbar einbezogen. Sie müssten häufig sehr heftige negative Impulse und Affekte, die von den Patienten ausgehen, annehmen und akzeptieren. Rudolf berichtete auch über Ergebnisse aus dem Graduiertenkolleg „Klinische Emotionsforschung“ und ging dabei auf eine Studie ein, die die Grenzen der Mimikanalysen aufzeigt. Danach zeigen psychisch gestörte Patienten viele Emotionen, die mit den gängigen Listen der Grundaffekte nicht ermittelt werden können. „Das bedeutet, dass die im Rahmen von Mimikanalysen gefundenen Affektqualitäten alleine nicht ausreichen, um die typische Emotionalität psychisch Gestörter zu erfassen“, meint Rudolf. Die Befunde der Emotionsforschung weisen darauf hin, dass psychische Störungen in starkem Maße durch emotionale Auffälligkeiten gekennzeichnet sind. Sie sind nach Rudolf besser zu verstehen, wenn sie nicht als isolierte Veränderung einzelner Affekte, sondern als Bestandteil des Beziehungsgeschehens gesehen werden. Da sie in engem Zusammenhang mit primären psychischen Störungen stehen und sich unmittelbar und evident mitteilen, können sie als Indikatoren und Outcome-Kriterien für Psychotherapien herangezogen werden. Erkenntnisse zum Verständnis psychischer Störungen Zusammenfassend zeigte der Kongress, dass die Emotionsforschung ihren Kinderschuhen bereits entwachsen ist. Dennoch werden die Bedeutung und Rolle der Emotionen für die kognitiven Funktionen und die Verhaltensregulation immer noch zu wenig beachtet, sowohl von den psychologischen Disziplinen als auch von anderen Fachgebieten. Viele Verfahren befinden sich noch in der Erprobungsphase, doch die Berichte der Forscher zeigen auch, dass bereits einige wichtige Erkenntnisse gewonnen werden konnten, die das Verständnis psychischer Störungen und des therapeutischen Prozesses in Zukunft maßgeblich verbessern Marion Sonnenmoser könnten. Kontaktadresse: Prof. Dr. Rainer Krause, Telefon: 06 81/3 02–32 53, E-Mail: [email protected] Internet: emotions.psychologie.uni-sb.de 34 Referiert Aggressive Fahrer Hilfe durch Verhaltenstherapie und Entspannungstechniken A utofahrer, die sich schnell ärgern und aggressiv werden, stellen für sich und andere ein Risiko dar. Zwischen einem und zwei Drittel aller schweren Unfälle gehen auf ihr Konto. Die Autoren ermittelten 28 männliche und 27 weibliche Studenten, die sich beim Fahren stärker als andere aufregten und ärgerten. 16 Studenten wurden in Entspannungstechniken unterwiesen, ebenso weitere 17 Studenten, die zusätzlich noch mit kognitiven Verfahren behandelt wurden. Die restlichen Studenten dienten als Kontrollgruppe und erhielten keine Behandlung. Die Teilnehmer der beiden Therapiegruppen überlegten sich alternative Reaktionen auf Situationen, in denen sie wütend und aggressiv wurden. Die Teilnehmer der zweiten Gruppe befassten Referiert sich außerdem mit kognitiven CopingTechniken, indem sie beispielsweise versuchten, Ärgerkognitionen durch ärgerreduzierende Gedanken zu ersetzen. Die kognitive Umdeutung wurde in acht Sitzungen mit Entspannungstechniken verknüpft. „Beide Therapieformen trugen dazu bei, den hohen Ärgerlevel zu reduzieren“, berichten die Autoren. Die Teilnehmer hatten außerdem im Vergleich zur Kontrollgruppe Fortschritte darin gemacht, ihre Gefühle beim Fahren auf angepasste und konstruktive Weise auszudrücken und aggressive Gefühlsausbrüche zu verringern. Nur bei der Gruppe, die zusätzlich in kognitiven Techniken eingewiesen wurde, waren die positiven Therapieeffekte auch noch einen Monat später feststellbar. Außerdem war ihr ms Fahrstil weniger riskant geworden. Deffenbacher JL, Filetti LB, Lynch RS, Dahlen ER, Oetting ER: Cognitive-behavioral treatment of high anger drivers. Behaviour Research and Therapy 2002; 40: 895–910. Jerry L. Deffenbacher, Department of Psychology, Colorado State University, Fort Collines, Colorado 8 05 23-18 76, USA, Telefon: 0 01/9 70/4 91-63 63, E-Mail: jld6871@ lamar.colostate.edu Therapieabbrecher Persönlichkeitsdefizite als Ursache O bwohl der Abbruch einer Therapie ernste Folgen haben kann, wurden die Ursachen bisher kaum systematisch geprüft. Deshalb untersuchten die Autoren dieses Phänomen exemplarisch an einer Kurztherapie von Anorexia nervosa (AN). An der Studie nahmen 145 Patienten teil (99 vom restriktiven Typ, 46 vom binge/purging Typ). Die Patienten unterzogen sich einer individualpsychologischen Therapie, in die Techniken kognitiver, behavioraler, analytischer, existenzieller und klientenzentrierter Therapieformen einbezogen wurden. Jeder erhielt über sechzehn Wochen hinweg zwölf bis fünfzehn Einzelsitzungen. 31 Patienten brachen die Therapie vorzeitig ab. Die Autoren prüften, woran das lag. Die Probleme der Patienten liegen vor allem in deren Persönlichkeit begründet. Abbrecher können schlechter mit Ärger umgehen. Sie ärgern sich schnell, unterdrücken den Ärger oder lassen ihn impulsiv heraus. Darüber hinaus sind sie nur wenig kooperationsfähig, gehemmt und pessimistisch.Soziodemographische Variablen und die Schwere der Erkrankung standen hingegen in keiner Beziehung zum Therapieabbruch. Die Autoren meinen, dass die Persönlichkeitsmerkmale von Abbrechern auf charakterliche Unreife und Anpassungsschwierigkeiten hinweisen.„Der Patiententyp ist nicht fähig, eine stabile Beziehung zum Therapeuten aufzubauen.“ Dies führe dazu, dass die Patienten aus der Therapie „flüchteten“.Therapeuten, die versuchen, mit diesen Patienten eine Therapie durchzuführen, müssen neben der primären Störung auch Persönms lichkeitsdefizite behandeln. Fassino S, Daga GA, Piero A, Rovera GG: Dropout from Brief Psychotherapy in Anorexia nervosa. Psychotherapy and Psychosomatics 2002; 71: 200–206. Prof. Secondo Fassino, Neurosciences Department of Turin University, Psychiatry Section,Via Cherasco 11, CAP, I-10126 Turin, Telefon: 00 39/0 11-6 63 48 48, E-Mail: [email protected] PP Heft 1 Januar 2003 Deutsches Ärzteblatt