Unendliche Reihen

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Unendliche Reihen
Die folgende kleine Geschichte soll Schülern einen ersten Einblick geben in das faszinierende
Gebiet der unendlichen Reihen. Dabei geht es nicht um eine präzise mathematische Theorie auf
exakter Grundlage sondern um anschauliche Argumentationen mit historischem Hintergrund.
Die Geschichte ist zum Selbststudium geeignet; Schüler könnten zunächst den Text in Einzeloder Gruppenarbeit durcharbeiten und sich an den gestellten Aufgaben versuchen.
Eine anschließende gemeinsame Besprechung sollte - neben der Lösung der Aufgaben insbesondere die geniale Umordnungs- Argumentation von ORESME erläutern – und würdigen!
-1-
Warum Achilles die Schildkröte doch einholt
- ein kleine Geschichte über unendliche Reihen -
ACHILLES, der sagenumwobene Held des Trojanischen Krieges, tritt im
sportlichen Lauf-Wettkampf gegen eine Schildkröte an. ACHILLES läuft zehnmal so
schnell wie die Kröte und gewährt ihr deshalb großzügigerweise einen Vorsprung
von 100 Fuß. Dann aber, so werden wir jetzt sehen, hat ACHILLES den Wettlauf von
vorne herein verloren; er kann die Schildkröte nicht mehr einholen, denn:
Hat er den 100 Fuß-Vorsprung durchlaufen, so hat die Schildkröte ihrerseits
10 Fuß zurückgelegt;
hat ACHILLES auch diese Strecke durchlaufen, ist die Schildkröte bereits 1
Fuß weiter;
hat ACHILLES auch diesen Weg durchlaufen, ist die Schildkröte bereits
0,1 Fuß vorangekommen,
hat ACHILLES auch diese Strecke durchlaufen, ....
Nie erreicht Achilles die Schildkröte, da diese inzwischen wieder ein Stück
vorangekommen ist.
Hubert Cremer hat diese Argumentation in amüsante Verse gefasst1:
Nimmt er der Kröte alten Ort,
schwupp! ist sie auch schon wieder fort.
Sie bleibt ihm stets ein Stück voraus;
Achilles schleicht geknickt nach Haus;
die Kröte aber triumphiert
und wird mit Orden dekoriert.
...
Man liest’s, soweit man gut gelaunt,
man räuspert sich und ist erstaunt,
ist halb erfreut und halb ergrimmt,
doch weiß man nicht, weshalb’s nicht stimmt.
Diese Geschichte stammt von ZENON. ZENON von Elea war griechischer
Philosoph und lebte in der Zeit von 490 bis 430 v. Chr. Er war Anhänger der
Philosophierichtung der Eleaten, einer Gruppe von Philosophen um PARMENIDES,
die das Sein für unveränderlich hielten und die Existenz echter Bewegung
ablehnten. Zenon versuchte, diese Lehre durch verschiedene Paradoxien (scheinbare
Widersprüche) zu festigen. Am bekanntesten wurde seine Argumentation über den
Wettlauf von ACHILLES mit der Schildkröte.
Und wo liegt der Fehler in ZENONS Argumentation?
Überlege einen Moment selbst .....!
1
aus: Hubert Cremer, Carmina Mathematica
-2-
Zunächst einmal hat ZENON recht: An keiner der angesprochenen, unendlich
vielen Stellen hat ACHILLES die Schildkröte erreicht.
Er will uns dann aber einreden, dass dies auch eine unendlich lange Strecke
bedeutet, für die Achilles natürlich auch unendlich viel Zeit benötigte. Das aber ist
nicht der Fall! Man erkennt dies, wenn man die Streckenlängen aufsummiert:
100 + 10 + 1 +
1
10
+
1
100
1
+ 1000
+ ...
Auch wenn hier unendliche viele positive Zahlen summiert werden, entsteht
dennoch keine unendlich große Zahl!
Die Summe kommt der Zahl 100,11111... = 100, 1 beliebig nahe.
Und dies ist gerade die Stelle, an der Achilles die Kröte einholt. Die von Zenon
angesprochenen Stellen aber liegen alle vor diesem Treffpunkt:
Hubert Cremer beschreibt es so:
Indem er nun nur Stellen zählt,
die vor dem Treffpunkt sind gewählt,
lügt er dem biedern Publiko
nun vor es bliebe immer so.
Überlege selbst:
Nehmen wir an, Achilles einigt sich mit der Schildkröte auf
einen Wettlauf über 100 Fuß und gibt ihr 90 Fuß Vorsprung.
Wer gewinnt das Rennen?
In der Mathematik sagt man, die unendliche Reihe 100 + 10 + 1 + 101 +
konvergiere gegen die Zahl 100, 1 und nennt 100, 1 ihren Grenzwert
1
100
1
+ 1000
+ ...
Die obige Reihe gehört zu den geometrischen 2 Reihen, die die Grundform
1 + q + q2 + q 3 + ...
haben.
Haben nun alle unendlichen geometrischen Reihen einen endlichen Grenzwert?
Sicher nicht! Das ist nur dann der Fall, wenn die einzelnen Summanden immer
kleiner, ja beliebig klein werden. Dazu muss q zwischen −1 und 1 liegen; für den
Grenzwert erhält man dann 1-1q 3:
1 + q + q2 + q 3 + ... =
1
1- q
, falls −1< q < 1
2
Die Reihe heißt geometrische Reihe, weil jeder Summand (außer dem erstem) das geometrische Mittel seiner beiden
Nachbarn ist. Dabei versteht man unter dem geometrischen Mittel zweier (positiver) Zahlen a und b den Term
3
a ⋅b
Ein Beweis findet sich in (fast) jedem Mathematikbuch der Klasse 11.
-3-
ARCHIMEDES (287-212 v.Chr.) war wohl der erste,
der eine unendliche geometrische Reihe summiert
hat. Er berechnete die Summe 1 + 14 + 41 + 41 + ...
2
3
Überlege selbst:
•
Welchen Grenzwert hat Archimedes erhalten?
•
Welcher Grenzwert ergibt sich für
2 + 12 + 18 + 321 + K .
Die geometrische Reihen blieben lange Zeit die einzigen unendlichen Reihen,
deren Grenzwert man berechnen konnte. In der Mitte des 14. Jahrhunderts nun
führten im englischen Oxford physikalische Probleme auf die unendliche Reihe
1
2
+ 24 + 83 + 164 + ...
Die Summation dieser Reihe gelang NIKOLAUS VON ORESME (ca. 1320-1382).
Er war Universalgelehrter, lebte zeitweise in Paris und war ab 1377 Bischof in
Lisieux. Ihm gelang die Summation, indem er die obige Reihe in eine geometrische
Reihe umordnete:
Umordnung
Daran sieht man:
1
2
+ 24 + 38 + 164 + ... = 1 + 12 + 14 + 18 + K = 2
Es war wohl die erste Summenbildung einer nicht-geometrischen Reihe.
Überlege selbst: (nicht ganz einfach!)
Wie lässt sich Idee und Ergebnis der Überlegungen von NIKOLAUS VON ORESME
übertragen auf die Reihe 12 + 4 ⋅ 14 + 9 ⋅ 18 + K + n 2 ⋅ 21 + K ?
n
(Tipp: Die Stufenhöhen wachsen: 1, 3, 5, 7, ....; subtrahiere nach Umordnung die Reihe
1 + 12 + 14 + 18 + K )
-4-
Wir sagten bereits: Bei jeder konvergenten Reihe werden die einzelnen Summanden
beliebig klein. Aber gilt dies auch umgekehrt?
Konvergiert jede Reihe, bei der die einzelnen Summanden beliebig klein werden?
Auch auf diese Frage fand NIKOLAUS VON ORESME die richtige Antwort, eine
überraschende Antwort.
Er untersuchte die harmonische4 Reihe
1+
1
2
1
3
+
+
1
4
+
1
5
+ ... .
und stellte fest, dass diese Reihe keinen endlichen Grenzwert besitzt, obwohl die
einzelnen Summanden beliebig klein werden. Zum Nachweis verwendete er
dieselbe Argumentation, die auch heute noch benutzt wird: Er bildete unendlich
viele Gruppen von Summanden, deren Summe jeweils größer als 12 ist:
1
3
+ 14 >
1
2
;
1
5
+ 16 + 17 + 18 >
;
1
2
1
9
+ 101 + 111 + 121 + 131 + 141 + 151 + 161 >
1
2
K
Damit ist klar, dass die harmonische Reihe jede Zahl, und sei sie auch noch so groß,
irgendwann übertrifft.
Noch in der Mitte des 17. Jahrhunderts kannte man außer den geometrischen
Reihen nur einige weitere, deren Summation gelungen war. Die prinzipielle
Einführung der unendlichen Reihen in die Mathematik erfolgte durch NEWTON
(1642-1727).
Später gab LEIBNIZ in seiner ersten großen Arbeit u.a. die
folgenden Reihensummen ohne Beweis 5 an:
1
1• 3
+
1
3•5
+
1
5 •7
+
1
7 •9
+ ... =
1
1• 3
+
1
2 •4
+
1
3• 5
+
1
4 •6
+
+
1
6
1
1
+
1
3
+
1
10
1
5•7
1
2
+ ... =
3
4
(Kehrwerte der Dreieckszahlen6)
+ ... = 2
Leibniz (1646-1716)
Berühmt wurde seine alternierende7 Reihe für π4 :
4
π
4
= 1 - 13 + 15 - 17 + 19 - ...
Die Reihe heißt harmonische Reihe, weil jeder Summand (außer dem ersten) das harmonische Mittel seiner beiden
Nachbarn ist. Dabei versteht man unter dem harmonischen Mittel zweier Zahlen a und b den Term
5
2
1
1
a + b
Die Beweise erfordern geschickte Umformungen, z.B. hier für die Hälfte der Kehrwerte:
1
2
6
+ 16 + 121 + K = (1 − 12 ) + (12 − 13 ) + (13 − 14 ) + K = 1
1, 3, 6, 10, 15, 21, ... heißen Dreieckszahlen, weil man entsprechend viele Punkte zu einem Dreieck anordnen kann.
Siehe z.B. Enzensberger, Der Zahlenteufel (5. Nacht)
7
Eine Reihe heißt alternierend, wenn abwechselnd addiert und subtrahiert wird.
Leibniz bewies: Eine alternierende Reihe konvergiert bereits dann, wenn die Beträge ihrer Summanden streng
monoton gegen Null gehen.
-5-
Betrachten wir zum Schluss eine weitere berühmt gewordene Reihe, an der
man sieht, dass es mitunter sehr schwierig ist, den Grenzwert einer unendlichen
Reihe zu bestimmen, auch wenn man sicher weiß, dass die Reihe einen Grenzwert
hat. Wir zitieren dazu Jacob BERNOULLI (1654-1705), Mathematikprofessor in
Basel, Angehöriger einer berühmten Mathematikerfamilie:
Bemerkenswert ist es aber, da8 die Auffindung der Summe, wenn die Nenner reine
Quadratzahlen sind, wie bei der Reihe 11 + 14 + 19 + 161 + ... schwieriger ist, als man
erwarten sollte. Dass die Summe endlich ist, sieht man an der anderen [gemeint ist die
Reihe der Kehrwerte der Dreieckszahlen], die offenbar größer ist. Wenn jemand es findet
und uns mitteilt, was bisher unserer Bemühung gespottet hat, so werden wir ihm sehr
dankbar sein.
Jakob BERNOULLI hat die Lösung nicht mehr erlebt. Seinem Bruder Johann
gelang die Lösung ebenfalls nicht, obwohl er sich intensiv mit dieser Reihe
beschäftigte. So begnügte man sich zunächst mit Näherungswerten; STIRLING gab
1730 in seiner Methodus differentialis einen Näherungswert mit 8 richtigen
Dezimalen an: 1,64493406 .
Erst Leonard EULER gelang im Jahre 1736 die Bestimmung des
Grenzwertes. Er fand:
1
12
+
1
22
+
1
32
+ ... =
π2
6
„Auf diese Weise ist“, so sagte Johann Bernoulli aus Anlass
der Eulerschen Lösung, „dem brennenden Wunsche meines
Bruders Genüge geleistet. ... Wenn doch der Bruder noch am
Leben wäre!“
Leonard Euler
(1707-1783)
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