Heft als PDF downloaden - Rubin - Ruhr

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Editorial
NEUROrubin 2003
Neurowissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum
Die offene Fakultät
Prof. Dr. Klaus-Peter Hoffmann (links),
Allgemeine Neurobiologie, Fakultät für
Biologie, Prof. Dr. Onur Güntürkün
(rechts), Biopsychologie, Fakultät für
Psychologie
4
F
rancis Crick, der den Nobelpreis
für die Mitentdeckung der genetischen Struktur bekam und heute über
die neuralen Grundlagen von Bewusstsein forscht, bemerkte einmal,
dass sich die biologische Evolution
und die Entwicklung von Wissenschaft
in einem Punkt fundamental unterscheiden: Während in der Evolution
hybride Individuen, die aus der Mischung zweier Arten stammen, in der
Regel unfruchtbar sind, gelten hybride
Wissenschaften, die sich an den Rändern klassischer Disziplinen entwickeln, als besonders erfolgreich. In
dieser Hinsicht sind die Neurowissenschaften eine Hybriddisziplin par excellence.
Das Gehirn ist zu kompliziert, um
mit den Forschungstraditionen und Methoden einer einzigen akademischen
Disziplin erfolgreich verstanden zu
werden. Daher waren und sind nur Kooperationen erfolgversprechend, die
die Grenzen der eigenen Fakultät überschreiten. So entwickelte sich langsam
aber sicher ein neuer hybrider Forschungszweig, bei dem die Hirn- und
Verhaltensforschung an Tieren aus der
Biologie stammte, die Aufklärung der
molekularen Prozesse aus der Biochemie kam, die klinische Komponente
aus der Medizin geliefert wurde, die
Psychologen die verhaltensexperimentelle Forschung kognitiver Prozesse beisteuerten, während Mathematiker, Physiker und Ingenieure die Modellierung
und Erforschung der künstlichen Intelligenz einbrachten.
„Das Gehirn ist zu kompliziert,
um mit den Forschungstraditionen
und Methoden einer einzigen
akademischen Disziplin erfolgreich
verstanden zu werden.“
An der Ruhr-Universität Bochum
war es der Sonderforschungsbereich
„Bionach“ (Biologische Nachrichtenverarbeitung, 1972 – 1986), der das
Fundament für eine interdisziplinäre
neurowissenschaftliche Struktur legte,
die den ganzen Campus sowie die Kliniken umfasste. Nach dem Ende von
Bionach wurde die Forschergruppe
Editorial
NEUROrubin 2003
NEUROVISION gegründet (1990–
1996), die dann 1996 im gleichnamigen Sonderforschungsbereich aufging.
Jeder dieser Forschungsverbünde intensivierte die Kooperationen sowohl innerhalb der Fakultäten als auch zwischen den Disziplinen. Es wurde nicht
nur gemeinsam geforscht, sondern auch
gemeinsam ausgebildet.
Das Graduiertenkolleg KOGNET
(Kognition, Gehirn und Netzwerke,
1991 – 2000) schuf zum ersten Mal
eine Plattform für eine interdisziplinäre neurowissenschaftliche Doktorandenausbildung. Im Jahre 2000 folgte das
Graduiertenkolleg „Entwicklung und
Plastizität des Nervensystems“ und im
Jahre 2001 wurde schließlich die „International Graduate School for Neuroscience“ (IGSN) gegründet. Die IGSN
markiert mit der Etablierung einer ‚offenen’ Fakultät für Neurowissenschaften mit eigenem Promotionsrecht zum
‚PhD of Neuroscience’ sowie einem
strikt interdisziplinären Ausbildungs
kanon den vorläufigen Endpunkt der
Entwicklung einer vier Fakultäten (Biologie, Chemie, Medizin, Psychologie)
sowie das Institut für Neuroinformatik umfassenden Forschungs- und
Lehreinrichtung, die insgesamt 30 wissenschaftliche Einheiten umspannt.
„Jeder dieser Forschungsverbünde
intensivierte die Kooperationen sowohl
innerhalb der Fakultäten als auch
zwischen den Disziplinen. Es wurde
nicht nur gemeinsam geforscht,
sondern auch gemeinsam ausgebildet.“
Dieser Verbund hat eine eigene
Mentalität geschaffen, die durch den
„Campus der kurzen Wege“ noch verstärkt wurde. An der Ruhr-Universität
ist es selbstverständlich, dass Psychologen die Impulsströme einzelner Nervenzellen ableiten, Biochemiker Raumkognition bei genetisch veränderten
Mäusen studieren, Biologen Roboter
bauen und Mediziner sich für die Entwicklung des Vogelgehirns interessieren. Gemeinsame Lehre, gemeinsame
Forschung, gemeinsame Publikationen
sind zum interdisziplinären Alltag geworden. Ein durchaus erfolgreicher Alltag: Nach der Analyse des Instituts für
Essential Science Indicators (ESI) gehören die Publikationen der Bochumer
Neurowissenschaften seit 2001 zu den
Top 1% der weltweit am meisten zitierten neurowissenschaftlichen Arbeiten.
„Hinter all diesen wissenschaftlichen
und organisatorischen Entwicklungen
gibt es ein zutiefst menschliches
Element, dass uns alle eint:
die Faszination für das Gehirn.“
Hinter all diesen wissenschaftlichen und organisatorischen Entwicklungen gibt es ein zutiefst menschliches Element, dass uns alle eint: Die
Faszination für das Gehirn, dieses mit
Abstand komplexeste Organ, welches
uns Menschen zu Menschen macht. Das
vorliegende Heft will Sie an dieser Faszination teilhaben lassen.
Die Themen stellen nur einen kleinen Ausschnitt der Fragestellungen
dar, an denen in Bochum geforscht
wird. Im Beitrag von Schöner wird z.
B. beschrieben, wie kompliziert es ist,
einen Roboter so zu konstruieren, dass
er gezielt Gegenstände greifen kann.
Kruse, Oreja und Hoffmann untersuchen ebenfalls das Greifen, doch aus
einer anderen Perspektive: Sie erläutern die zellulären Prozesse im Cortex
von Affen, während diese mit ihrer
Hand eine Computermaus bedienen,
um mit dem Cursor bewegte Gegenstände auf dem Monitor zu jagen. Der
Beitrag von Andrich und Epplen
schließlich beschreibt den Verlust der
Fähigkeit, gezielte Greifbewegungen
durchführen zu können, wenn Patienten am tödlich verlaufenden Veitstanz
erkranken. Während in von der Malsburgs Beitrag von künstlichen Hirnnetzen berichtet wird, die mühelos Gesichter aus allen Perspektiven erkennen
können, berichten Kress und Daum von
hirnverletzten Patienten, die selektiv
die Fähigkeit verloren haben, selbst
die Gesichter ihrer engsten Freunde
und Verwandten wiederzuerkennen, ob-
wohl ihre verbliebene visuelle Wahrnehmung intakt ist. So ergeben sich
immer wieder neue Perspektiven auf
korrespondierende Fragestellungen und
Probleme. In anderen Beiträgen geht es
um die neuralen Grundlagen der Geruchswahrnehmung, die Selbstreparatur des Gehirns, kognitive Geschlechtsunterschiede, elektrische Synapsen,
transgene Tiermodelle für neurodegenerative Erkrankungen und schließlich um die sagenhafte Fähigkeit des
Gehirns, mit wenigen Ausgangsinformationen Milliarden von Nervenzellen
im Laufe der Entwicklung richtig zu
„verdrahten“.
Diese kleine Auswahl an Themen,
die von Bochumer Neurowissenschaftlern bearbeitet werden, belegt den vorläufigen Endpunkt einer interdisziplinären Entwicklung, in der Wissenschaftler aus verschiedenen Fakultäten
und Traditionen an dieser Universität
zu einer gemeinsamen und neuen Forschungsrichtung zusammengefunden
haben. Wenn Francis Crick mit seiner
Bemerkung über den Erfolg hybrider
Wissenschaften Recht behält, sollte die
Entwicklung der interdisziplinären
neurowissenschaftlichen Forschung an
der Ruhr-Universität Bochum auch in
Zukunft ähnlich rasant und erfolgreich
verlaufen wie bisher.
5
Biopsychologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
„Der kleine Unterschied“ im
menschlichen Gehirn
O. Güntürkün
M. Hausmann
M. Tegenthoff
E
inige kognitive Geschlechtsunterschiede sind wissenschaftlich belegt. Zum Beispiel sind Frauen bei verbalen Fähigkeiten überlegen, bei denen
es auf das schnelle Nennen von Zielwörtern ankommt. Männern dagegen
fallen manche Aufgaben leichter, die
besonders das räumliche Vorstellungsvermögen fordern (Info, S. 7). Geschlechtsspezifische Unterschiede des
Sprachvermögens und der visuellen
Raumkognition sind also kein bösartiges Vorurteil, sondern wissenschaftliche Tatsache. Sie könnten das Ergebnis
unterschiedlicher Erziehungsstile und/
oder biologischer Faktoren sein. Für
Letzteres spricht, dass sich weibliche
und männliche Gehirne in ungefähr einem Dutzend anatomischer Merkmale
unterscheiden.
Auf biologische Faktoren deuten
auch spezielle Testergebnisse hin, in
denen Geschlechtsunterschiede nicht
nur in verschiedenen Nationen, son-
Prof. Dr. Onur Güntürkün, Dr. Markus
Hausmann, Biopsychologie, Institut für
Kognitive Neurowissenschaft, Fakultät
für Psychologie, PD Dr. Martin
Tegenthoff, Klinikum der Ruhr-Universität Bochum, Neurologische Klinik,
Berufsgenossenschaftliche Kliniken
Bergmannsheil
5
Können Männer
wirklich nicht zuhören, und sind Frauen tatsächlich unfähig einzuparken?
Vorurteile dieser Art
sind weit verbreitet
und in den meisten
Fällen falsch. Doch
manchmal findet
sich ein wahrer
Kern, den Forscher
jetzt in funktionellen
Unterschieden zwischen beiden Hirnhälften entdecken.
Interessant ist, dass
dieser „kleine Unterschied“ zumindest
einmal pro Monat
aufgehoben wird.
dern auch über die letzten 30 – 40 Jahre hinweg recht konstant nachgewiesen
werden (s. Info), obwohl sich die Erziehungsstile in diesen Ländern und
Zeitspannen extrem unterscheiden. Zudem erhöhen sich bei Männern, die
nach einer Geschlechtsumwandlung zu
Frauen werden, unter Einnahme weiblicher Sexualhormone die Sprachkompetenzen auf Kosten der Raumkognitionen. Genau die umgekehrte Entwicklung machen Frauen durch, die zu Männern werden.
Es spricht viel dafür, dass die ko-
Abb. 1
gnitiven Unterschiede zwischen Männern und Frauen zumindest zum Teil
durch unterschiedliche hormonelle
Faktoren entstehen können, die dann
wahrscheinlich geschlechtsspezifische
Hirnmechanismen nach sich ziehen.
Doch müssten dann nicht auch die hormonellen Schwankungen während des
weiblichen Monatszyklus Veränderungen von kognitiven Leistungen erzeugen? Wir sind dieser Frage nachgegangen und haben weiblichen Testpersonen, die keine Hormonpräparate wie
z.B. die Pille einnehmen, zweimal
Naturwissenschaften
Biopsychologie
NEUROrubin 2003
während ihres Zyklus Aufgaben (z.B.
Rotations-Test, Info 1) gestellt, bei denen Frauen meist schlechter abschneiden als Männer. Ein Testzeitpunkt lag
während der Menstruation (2. Tag),
wenn alle Sexualhormone auf dem
Tiefpunkt sind. Die zweite Aufgabe
stellten wir in der Lutealphase (22.
Tag), in der der Hormonspiegel an
Östradiol und Progesteron sehr hoch
ist. Die Ergebnisse waren eindeutig
(Abb. 2): Wenn die weiblichen Sexualhormone ihren Tiefpunkt erreichten (2.
Tag), war die Leistung der Frauen beim
mentalen Rotations-Test ähnlich gut
wie die der Männer. Stiegen aber die
Hormone zum 22. Tag an, dann sank
die Leistung dramatisch ab. Die untersuchten Frauen waren demnach in ihren visuell-räumlichen Fähigkeit nicht
prinzipiell schlechter als die Männer –
es kam nur drauf an, wann man sie testete!
D ie individuellen Leistungsunterschiede bei Männern und Frauen sind
zwar größer als zwischen beiden Geschlechtern, trotzdem kommt es bei
bestimmten Aufgaben zu recht konstanten Unterschieden zwischen Männern und Frauen. So fallen Frauen
beim „Wortflüssigkeitstest“ in einer
Minute mehr Wörter ein, die z.B. mit
einem „A“ oder einem „M“ beginnen
als Männern (s. Abb. rechts). Dagegen
schneiden Männer im Durchschnitt im
„Mentalen Rotations-Test“ besser ab,
bei dem Vergleichsfiguren gefunden
werden sollen, die mit der Zielfigur
identisch sind.
(Abb. unten, Lösung: 1 und 3)
Mentaler Rotationstest
Auf den Zeitpunkt
kommt es an !
Da Sexualhormone vielfältige Einflüsse auf Hirnfunktionen haben, ist es
nicht einfach, herauszufinden, welche
dieser Funktionen bei unseren Versuchspersonen verändert wurden. Ein
„aussichtsreicher Kandidat“ sind die
sog. cerebralen Asymmetrien - die
Funktionsunterschiede zwischen der
linken und der rechten Hirnhälfte. Die
linke Hirnseite zeigt bei Menschen
eine Überlegenheit verbaler Fähigkeiten, während die rechte eine Dominanz
für visuell-räumliche Funktionen besitzt. Diese funktionellen LinksRechts-Unterschiede sind bei Männern
ausgeprägter als bei Frauen. Könnte es
sein, dass Frauen und Männer sich kognitiv unterscheiden, weil die Asymmetrien ihrer Gehirne unterschiedlich
sind? Doch dann müssten sich mit der
Kognition auch die Hirnasymmetrien
während des Monatszyklus verändern.
Wir untersuchen die Asymmetrien
beim Menschen mit einem speziellen
Experiment
(„Visuelle
Halbfeldtechnik“), das es ermöglicht, quasi nur
Wortflüssigkeitstest
INFO
einer Hirnhälfte Bilder zu zeigen (Abb.
3a): Wenn eine Versuchsperson ein
Kreuz in der Monitormitte betrachtet,
wird die Figur links vom Fixationskreuz nur von ihrer rechten Hirnhälfte gesehen. Sobald die Versuchsperson nach links blickt und die Figur
zentral ansieht, nehmen natürlich beide
Hirnhälften diesen Stimulus wahr. Für
eine solche Blickbewegung brauchen
Menschen ca. 200 Millisekunden. Verschwindet die seitliche Figur aber nach
Abb. 2: Rotationstest:
Unter vier seitlichen Vergleichsfiguren sind die herauszufinden, die
zwar verdreht, aber sonst identisch
mit der zentralen Form sind. Frauen,
die während ihrer Menstruation (2.
Tag) und in der Lutealphase (22.
Tag) getestet werden, erreichten in
der Lutealphase schlechtere Leistungen bei der mentalen Rotationsaufgabe.
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Biopsychologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Abb. 3:
„Visuelles Halbfeldexperiment“: Zunächst prägt sich die Testperson ein
Muster in der Monitormitte ein. Darauf folgt das Fixationskreuz und
dann für 180 Millisekunden seitlich
ein Vergleichsmuster (Bild b und c).
Die Testperson entscheidet so schnell
wie möglich per Tastendruck, ob es
sich um das gleiche (G) oder um ein
ungleiches (U) Muster handelt.
nur 180 Millisekunden vom Monitor,
während die Versuchsperson noch auf
das zentrale Fixationskreuz blickt,
dann wird dieser lateralisierte Reiz nur
von der rechten, d.h. contralateralen
Hemisphäre wahrgenommen.
Was von links kommt: schnell erkannt
beiden Hirnhälften während der
Lutealphase seitengleich. Die cerebralen Asymmetrien für visuell-räumliche Aufgaben hatten sich tatsächlich
während des Menstruationszyklus radikal verändert! Eine Reduktion der
weiblichen Sexualhormone führt also
sowohl zu einer Leistungssteigerung
bei der mentalen Rotation als auch zu
einer asymmetrischen Hirnorganisation. Auch bei Frauen nach der Menopause fanden wir Links-Rechts-Unterschiede für visuell-räumliche Reize,
die denen von Männern wie auch von
Frauen während der Menstruation entsprachen.
Unsere Untersuchungen zeigen,
dass sich die Asymmetrie vor allem mit
der Fluktuation des Hormons Progesteron veränderte. Progesteron steigt zum
22. Tag des Monatszyklus an und fällt
dann wieder ab. Im Gehirn erhöht Progesteron die Effektivität der Rezepto-
Im nächsten Schritt vergleichen die
Testpersonen verschiedene Figuren (s.
Abb. 3 b u. c): Zunächst prägen sie
sich eine zentral dargebotene abstrakte
Figur einige Sekunden lang ein, sodass
beide Hirnhälften diesen Reiz speichern. Dann erscheint anstelle der zentralen Figur kurz das Fixationskreuz.
Anschließend wird seitlich links oder
rechts für 180 Millisekunden die gleiche (Abb. 3b) oder eine andere Figur
(Abb. 3c) eingeblendet, während der
Blick auf das Kreuz gerichtet bleibt.
Die Testperson entscheidet
nun so schnell wie möglich
per Tastendruck, ob es sich
um die gleiche (G) oder eine
ungleiche Figur (U) handelt.
In der Regel folgt die
Antwort schneller und korAbb. 4:
rekter, wenn die zweite Figur
Ergebnisse
des
„Visuellen
auf dem Monitor links erHalbfeldexperiments“:
scheint, da die rechte HemiDie höchsten Treffersphäre bei visuell-räumlichen
quoten
erreichen Männer
Aufgaben überlegen ist. Diesowie
Frauen
während der
ses Ergebnis bestätigten unRegel mit der rechten
sere männlichen VersuchsperGehirnhälfte. Bei Frauen
sonen sowie Frauen während
in der Lutealphase ist die
der Menstruation (Abb. 4).
Leistung
der beiden HirnDagegen war bei den selben
hälften identisch.
Frauen die Leistung ihrer
7
ren für den hemmenden Botenstoff
GABA und reduziert gleichzeitig die
Aufnahme und Umsetzung des aktivierenden Botenstoffs Glutamat. Insgesamt sollte Progesteron somit auf viele Hirnprozesse dämpfend wirken. Dabei könnte Progesteron die cerebralen
Asymmetrien vor allem durch die Modulation des Informationsaustausches
zwischen den beiden Hirnhemisphären
über die große Faserverbindung (Corpus callosum) verändern. Das Corpus
callosum besteht aus über 200 Millionen Fasern und verbindet beide Hirnhälften miteinander. Die Nervenzellen,
die das Corpus callosum bilden, verwenden fast ausschließlich Glutamat.
Während der Lutealphase könnte das
Progesteron somit die Effizienz dieser
interhemisphärischen Verbindung und
damit zugleich die cerebralen Asymmetrien verringern. Wenn diese Überlegungen stimmen, müsste während des
Biopsychologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
bei der ein unterschwelliger TMS-Reiz
wenige Millisekunden vor einem überschwelligen Testreiz gegeben wird,
lässt sich die Erregbarkeit der Zielregionen im Gehirn untersuchen. Diese
Methode stützt sich auf die Existenz
von Zellverbänden innerhalb der Hirnrinde, die über ihre Synapsen einen
hemmenden (inhibitorischen) Einfluss
auf die nachgeschalteten Areale haben,
während andere Neuronenverbände in
der Nachbarschaft die nachgeschalteten
Funktionsbereiche des Gehirns eher erregen (exzitieren). Beträgt der zeitliche
Abstand zwischen dem ersten und dem
zweiten Reiz nur 1 bis 4 Millisekunden, werden hauptsächlich die
inhibitorischen GABA-Zellverbände aktiviert. Bei einem größeren zeitlichen
Abstand von 8 bis 20 Millisekunden
sind es dagegen die exzitatorischen Neu-
Sexualhormone dämpfen
Aktivität von Nervenzellen
Abb. 5:
Transkranielle Magnetstimulation (TMS):
Der Versuchsleiter hält die TMS-Spule über die Zielregion der Hirnoberfläche die für einen kurzen
Augenblick elektrisch erregt werden soll.
Menstruationszyklus die gesamte Erregbarkeit innerhalb der Hirnrinde
schwanken. Doch wie kann man das
nachweisen?
Mit Hilfe der transkraniellen Magnetstimulation (TMS) lässt sich die Erregbarkeit des menschlichen Gehirns
schonend untersuchen. Diese neurophysiologische Methode wird seit mehr
als zehn Jahren in der klinischen Neurologie als Diagnoseverfahren eingesetzt (Abb. 5). Das technische Grundprinzip besteht darin, dass sich durch
einen starken Stromfluss innerhalb einer Rundspule ein Magnetfeld aufbaut,
das ungehindert und schmerzfrei die
Schädeldecke durchdringt und durch
elektromagnetische Induktion innerhalb
der Hirnsubstanz einen elektrischen
Strom erzeugt und somit einzelne
Gehirnzellen erregt.
Durch eine spezielle Reiztechnik,
ronenverbände, die Glutamat als Botenstoff einsetzen. Die standardisierte
zeitliche Abfolge einer solchen Doppelreizmethode erlaubt eine differenzierte Aussage bezüglich der aktuellen
hemmenden und erregenden Zellaktivität in einer bestimmten Hirnregion. Mit einer vergleichbaren TMSTechnik untersuchen wir die Signalübertragung zwischen den beiden Hemisphären über das Corpus callosum.
Diese TMS-Doppelreiz-Methode
wurde nun bei Frauen in unterschiedlichen Phasen des Menstruationszyklus
eingesetzt. Die Aktivität der hemmenden und erregenden Neuronenverbände
zeigte dabei in Abhängigkeit von den
unterschiedlichen Zyklusphasen deutliche Schwankungen. So verringerte sich
die Aktivität der erregenden Zellverbände bei hoher Konzentration der
Sexualhormone Östradiol und Progesteron in der Lutealphase deutlich, während die hemmenden Zellverbände
gleichzeitig aktiviert wurden. Hieraus
resultierte insgesamt eine verminderte
Aktivierbarkeit bestimmter Hirnregionen. Dies ist genau der Effekt, den wir
für Progesteron durch die Reduktion
der Glutamat- und die Erhöhung der
GABA-Übertragungseffizienz erwartet
hatten. Gleichzeitig war eine Veränderung des Informationsaustausches zwischen den beiden Hemisphären über
das Corpus callosum nachweisbar: In
der Lutealphase verringerte sich die
Signalvermittlung, was den Test-Ergebnissen der Visuellen Halbfeldtechnik
entspricht. Damit konnten wir unsere
Hypothese einer im Verlauf des Menstruationszyklus wechselnden Erregbarkeit der Hirnrinde und einer Modulation der interhemisphärischen Interaktion bestätigen.
Die mit sehr unterschiedlichen Verfahren gewonnenen Untersuchungsergebnisse belegen eindrucksvoll eine im
Verlauf des weiblichen Zyklus vorhandene hormonvermittelte wechselnde
Asymmetrie der Hirnfunktion. Diese
Schwankungen schlagen sich in tagtäglichen Funktionen nieder. Unsere Forschungsergebnisse zeigen nicht nur,
dass sich „der kleine Unterschied“ im
Gehirn des Menschen objektiv begründen lässt, sondern dass dieser Unterschied hormonabhängig schwankt.
„The little difference“
Men and women differ in some
cognitive functions. Although these
differences are small, they reliably
demonstrate sex-dependent differences in the functional organisation of
the brain. Hemispheric asymmetries
are indeed differently organised with
female subjects having less pronounced left-right differences. However, these reduced asymmetries in
women are not stable over time, but
differ between menstrual cycle phases
due to hormone fluctuations. As also
shown by Transcranial Magnetic Stimulation (TMS), especially progesterone seems to influence cortical
excitability and interhemispheric
crosstalk, thereby altering brain asymmetries.
AbstracT
8
Neuropsychologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Wenn Gesichter bedeutungslos sind
Th. Kress
I. Daum
Abb. 1
Jedes Erkennen ist ein Wiedererkennen. Blicken wir in das Gesicht eines
Menschen, dann greift unser Gehirn blitzschnell auf einen „Gesichtsspeicher“ zurück. Bei einigen Menschen scheint dieser Zugriff versperrt.
Gesichter bleiben ihnen fremd – selbst das eigene – obgleich sie Häuser, Gegenstände oder Bilder mühelos wiedererkennen. Noch nicht lange weiß
man um diese seltene Funktionsstörung des Gehirns, die Neuropsychologen jetzt im EEG nachweisen konnten.
D
as Erkennen von Gesichtern
gehört zu den bemerkenswertesten menschlichen Fähigkeiten: Scheinbar mühelos erkennen wir Menschen,
die wir lange Zeit nicht gesehen haben;
selbst in einer großen Menge unbekannter Personen finden wir ein bekanntes Gesicht ohne Probleme wieder.
Die Entscheidung, ob wir unser Gegenüber kennen oder nicht, fällt in weniger als einer halben Sekunde. Diese
Dipl.-Psych. Thomas Kress, Prof. Dr. Irene Daum, Neuropsychologie, Fakultät
für Psychologie
9
Spezialisierung auf das schnelle Erkennen von Menschen zeigt sich von Geburt an. Lässt man Neugeborenen die
Wahl, bevorzugen sie bereits wenige
Stunden nach der Geburt das Gesicht
ihrer Mutter gegenüber dem einer
fremden Frau. Ebenso früh beginnen
sie, die Gesichtsausdrücke von Erwachsenen zu imitieren und schauen
von zwei Gesichtern dasjenige länger
an, welches auch Erwachsene als attraktiver einschätzen. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Fähigkeit, andere Menschen am Gesicht zu erkennen,
vererbt wird. Möglicherweise hatte
derjenige, der Freund von Feind beson-
ders schnell und zuverlässig unterscheiden konnte, einen Vorteil in der
Evolution.
Aber das Erkennen von Gesichtern
funktioniert nicht immer reibungslos.
Joachim Bodamer beschrieb 1947 Patienten, die nach einer Kopfverletzung
nicht mehr in der Lage waren, medizinisches Personal im Krankenhaus und
zum Teil sogar ihre Verwandten am Gesicht zu erkennen. Bodamer nannte
dieses Defizit „Prosopagnosie“: Nichterkennen von Gesichtern (gr.: Prosopon/Gesicht, Agnosia/Unfähigkeit des
Erkennens). Die Betroffenen selbst bezeichnen sich lieber als „gesichts-
Neuropsychologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
blind“, weil damit das Problem sofort
erklärt ist.
Immer wieder wurden Menschen
beschrieben, die nach einem Schlaganfall oder einer Kopfverletzung Bekannte oder sogar ihr eigenes Spiegelbild
nicht erkannten. Relativ neu hingegen
sind Berichte von Menschen, die von
Geburt an keine Gesichter erkennen
können. Oft merken die Betroffenen gar
Betroffene wissen oft nicht, dass sie
gesichtsblind sind
nicht, dass ihnen etwas fehlt, und es
gibt vermutlich Unterschiede in dem,
was sie sehen: Einige Patienten beschreiben das Gesicht als blanke, helle,
fast weiße Fläche (s. Abb. 1), andere
empfinden es wie das eines Strichmännchens. Sie sehen zwar Augen,
Nase und Mund – und doch scheint
sich daraus kein Sinn zu ergeben. Die
Informationen, die sie aus einem Ge-
Blickwinkel und die Unterscheidung
sehr ähnlich aussehender Gegenstände
bei ihnen mühelos funktionieren. In
anderen geistigen Leistungen zeigen
sich ebenfalls keine Einschränkungen –
Gesichtsblinde haben ganz normale Berufe und gehen ihrem Leben fast unbeeinträchtigt nach. Allerdings kommt es
immer wieder zu peinlichen Situationen: z. B. wenn Betroffene unvermittelt auf eine Person treffen, die sie
überschwänglich begrüßt und offensichtlich zu erkennen gibt, dass sie
sich über die Begegnung freut, der
Gesichtsblinde aber keine Ahnung hat,
wer da vor ihm steht. Eine Patientin
berichtet, dass sich der fremde Mann,
der vor ihrer Tür stand, als ihr eigener
Vater entpuppte, sobald er anfing zu
sprechen.
Vergleich erfolgreich, wird das gesehene Gesicht als ein bekanntes identifiziert. In einem weiteren Schritt werden
nun Informationen zu diesem Gesicht
aus den Gedächtnisspeichern gesucht.
Dabei greift das Gehirn auf zahlreiche
Informationen über die Person zu, wie
ihr Beruf, ihr Name, woher sie bekannt
ist und wann man sie zuletzt gesehen
hat.
Diese Leistungen sind eng an den
Temporallappen geknüpft, eine Struktur an der Seite des Gehirns, die neben
dem Hören vor allem Gedächtnisleistungen erbringt (s. Abb. 2, rechts).
Auch das Erkennen von Objekten lässt
sich als ein Gedächtnisprozess beschreiben, denn der Sinn einer gesehenen Struktur erschließt sich erst durch
die Verbindung mit den Erfahrungen,
b
a
(Präparation und Foto: Prof. Dr. K. Morgenroth, Pathologie)
sicht entnehmen können, reichen für
ein Wiedererkennen nicht aus. Erst
wenn weitere hinzukommen, wie z. B.
die Stimme oder der Gang, können sie
die Person identifizieren.
Trotzdem haben die Betroffenen
oft keine Schwierigkeiten, das Geschlecht einer Person oder deren Stimmung aus dem Gesicht abzulesen. Tests
zeigen auch, dass das Erkennen von
Objekten selbst aus ungewöhnlichem
Abb. 2:
Linke Hirnhälfte, außen (B): Im seitlichen Temporallappen sind neben dem Hören vor allem Gedächtnisleistungen lokalisiert – darunter vermutlich auch die
Region, in der Objekte gespeichert werden.
Rechte Hirnhälfte, innen (A): Die rot angefärbten
Strukturen (Gyrus fusiformis) sind am Erkennen von
Gesichtern beteiligt.
Das Erkennen von Gesichtern ist
für das Gehirn eine komplexe Aufgabe:
Aus dem gesehenen Bild einer Person
muss ein Muster geformt werden, das
sich mit bereits gespeicherten Informationen vergleichen lässt. Verläuft dieser
die im Gedächtnis gespeichert sind.
Der Vergleichsprozess erweist sich dabei als extrem leistungsfähig und flexibel. Gegenstände werden auch dann erkannt und richtig eingeordnet, wenn
sie im Aussehen beträchtlich variieren.
10
Neuropsychologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Auch Veränderungen des
Blickwinkels, aus dem
wir etwas betrachten,
oder der Beleuchtungsverhältnisse beeinträchtigen das
Erkennen nur begrenzt. Für Gesichter gilt Ähnliches:
Wir können Menschen wiedererkennen, deren Gesicht
sich durch das Alter
verändert hat, und auch
Veränderungen der äußeren Form eines Gesichtes,
z.B. durch eine neue Frisur
oder eine Brille, stellen uns nicht
vor unlösbare Probleme. Dennoch unterscheiden sich die Gesichtserkennung
und das Erkennen von Objekten. Während bei Objekten die Analyse von Ekken und Kanten für die Identifikation
wesentlich ist, spielen bei Gesichtern
ganzheitliche Aspekte die größere Rolle. So tragen auch Proportionen des
Gesichtes zum Erkennen bei, z. B. in
welchem Verhältnis der Augenabstand
zur Nasenlänge steht. Dementsprechend erscheint es plausibel, dass Informationen aus Gesichtern an anderen
Stellen im Gehirn als Informationen
über Objekte verarbeitet werden .
Studien mit bildgebenden Verfahren,
z.B. der funktionellen Kernspintomog-
Abb. 4:
Gehirn im Test: Die Patientin betrachtet auf dem Monitor Bilder von bekannten und unbekannten Personen
sowie von unbelebten Objekten. Dabei
zeichnet das Elektroenzephalogramm
(EEG) über Elektroden am Kopf der
Testpersonen Veränderungen der elektrischen Aktvität im Gehirn auf.
11
aufklären kann, welche Teile
des Gehirns bei einer bestimmten Aufgabe aktiv sind, geben
elektrophysiologische Verfahren
Abb. 3:
genaueren Aufschluss über den
Einige Beroffene sehen
zeitlichen Ablauf von Gehirndas Gesicht als blanke,
prozessen. Die Nervenzellen im
helle Fläche (s. Abb. 1),
Gehirn übermitteln ihre Inforanderen geht es vielmationen mit elektrischen Imleicht wie uns, wenn wir
pulsen. Beim Elektroenzephadas linke Bild betrachten
logramm (EEG) zeichnen Elekund den „irgendwie betroden, die außen am Kopf ankannten“ Mann nicht ergebracht werden, Veränderunkennen? (Zusammengen der elektrischen Aktivität
schnitt: Michael Schuim Gehirn auf. Moderne EEGmacher und eine
Verstärker erreichen eine Aufunbekannte Person)
lösung von unter einer Millisekunde und ermöglichen es so,
grafie, erlauben hier einen genaueren
sehr schnelle Veränderungen im Gehirn
Einblick: Während ein Proband eine
zu registrieren. Um festzustellen, wie
bestimmte Aufgabe löst, z.B. „Mensich die Verarbeitung von Gesichtern
schen am Gesicht zu erkennen“, wird
im Gehirn von der Verarbeitung andeder Blutfluss im Gehirn gemessen.
rer Dinge unterscheidet, vergleicht
Stärkere Durchblutung weist auf
man die Gehirntätigkeit bei der Behöhere Aktivität eines Hirnareals hin.
trachtung von Bildern von Gesichtern
Dabei erwies sich vor allem eine Strukund anderen Gegenständen, z.B. Häutur an der Innenseite des Temporallapsern (s. Abb. 4).
pens als relevant für die GesichtererAbb. 5 (rechts) zeigt den Unterkennung: Der sog. Gyrus fusiformis (s.
schied in der elektrischen Hirnaktivität
Abb. 2, links) scheint immer dann bevon Personen ohne Gesichtsblindheit,
sonders aktiv zu sein, wenn Menschen
die Gesichter und Häuser betrachten.
Bilder von Gesichtern betrachten. DesDabei fällt auf, dass es nach 170
halb vermuten wir, dass hier das ZenMillisekunden, also 1/6 Sekunde, einen
trum der Gesichtererkennung liegt.
Unterschied auf der rechten Seite des
Während die Kernspintomografie
Gehirns gibt (s. Abb. 5, Pfeil). Diese
Neuropsychologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Abb. 5:
Das EEG zeigt, dass Menschen, die
Gesichter wiedererkennen können,
unterschiedlich auf Gesichter und Gegenstände reagieren (rechts, s. Pfeil).
Bei der 35jährigen ProsopagnosiePatientin verlaufen die EEG-Kurven
von Objekten und Gesichtern sehr
ähnlich (links, s. Pfeil). Die topografische Darstellung der EEG-Kurve
(unten) zeigt, dass sich bei Menschen,
die Gesichter erkennen können, die
Verarbeitung von Gesichtern und
Häusern vor allem über dem rechten
hinteren Teil des Gehirns unterscheidet.
die Frisur oder die Art, sich zu kleiden.
Man kann diese alternativen Möglichkeiten zur Erkennung von Personen gezielt schulen und dadurch erheblich
verbessern. Und doch: Nichts ist so unverwechselbar wie ein Gesicht.
Schwankung ist zwar sehr gering – sie
bewegt sich im Bereich von wenigen
Millionstel Volt – lässt sich aber bei
fast jedem Menschen nachweisen. Sie
reflektiert die Aktivität eines bestimmten Teils des Gehirns, der auf Gesichter
stärker reagiert als auf andere visuelle
Reize. Bereits nach 170 Millisekunden
führt unser Gehirn also eine spezielle
Verarbeitung für Gesichter aus.
Kontrollpersonen:
Gesichter bevorzugt verarbeitet
Wie aber gestalten sich diese Reaktionen bei Menschen, die andere Personen nicht an ihrem Gesicht erkennen
können? Abb. 5 (links) zeigt die Verarbeitung derselben Reize bei einer
35jährigen Frau, die seit Geburt an
Gesichtsblindheit leidet. Blickt sie auf
ein Gesicht, dann ist der Anstieg der
Kurve in den negativen Bereich und
damit die Hirnaktivität deutlich geringer als bei den Kontrollpersonen. Ihr
Gehirn reagiert auf Gesichter und Häuser ähnlich. Doch weitere Informatio-
nen über das Gesicht sind nicht zugänglich. Wahrscheinlich scheitert bereits die Übersetzung eines gesehenen
Gesichtes in einen Code, den das Gehirn nutzt, um es mit den gespeicherten Gesichtern zu vergleichen.
Gesichtsblindheit lässt sich also
auf eine beeinträchtigte Verarbeitung
im Gehirn zurückführen. Hoffnung auf
Heilung ist noch nicht in Sicht, denn
die Medizin ist weit davon entfernt,
ein ausgefallenes oder beeinträchtigtes
Zentrum im Gehirn zu „ersetzen“. Was
kann man den Betroffenen raten? Es
kann helfen, Teile des Gehirns zu trainieren, die andere Erkennungsmerkmale eines Menschen verarbeiten. Damit lässt sich die fehlende Fähigkeit
der Gesichtererkennung kompensieren.
Gesichtsblinde achten z. B. sehr viel
mehr auf die Stimme und nutzen sie,
um ihr Gegenüber zu erkennen. Auch
die genaue Analyse von Bewegungen
hilft, Bekannte zu identifizieren. So ist
etwa der Gang einer Person charakteristisch, und mit einiger Übung lässt er
sich nutzen, um Menschen auseinander
zu halten. Charakteristisch ist oft auch
Developmental Prosopagnosia
Prosopagnosia is a deficit in recognizing familiar individuals on the
basis of facial information. It can
occur in the absence of any established
neurological disease. Cases of developmental prosopagnosia provide valuable information on the organization of
highly specialized functions in the human brain. We could demonstrate that
patients suffering from developmental
prosopagnosia show abnormalities in
brain function when processing pictures of faces. It is suggested that prosopagnosia is the result of malfunction
of a module in the human brain specialized for the recognition of faces.
ABSTRACT
12
Zellphysiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Von der Nase bis ins Gehirn:
Düfte nehmen Gestalt an
H. Hatt
Gerüche wecken Assoziationen und Emotionen,
beeinflussen unser Leben mehr als wir glauben. Und doch ist der Geruchssinn erst
wenig erforscht. Wissenschaftler spüren ihm nach von der Nase bis ins Gehirn und entdecken jetzt, was biochemisch passiert, wenn wir uns an einen Duft
gewöhnen und wie Düfte Gestalt annehmen.
Abb. 1
G
erüche deuten an, versprechen,
wecken Aufmerksamkeit und
Phantasie, nähren Ängste und Hoffnungen: Sie sind das Salz in der atmosphärischen Suppe. Wir halten zwar Sehen
und Hören für wichtigere Sinnesfunktionen, da sie eher zu bewussten kognitiven Wahrnehmungsprozessen beitragen – aber im Augenblick höchsten Genusses schließen wir die Augen und
schmecken den Geruch, riechen den
Geschmack. Bevor Geist und Schönheit
eines Menschen uns faszinieren können, muss dieser erst einmal unsere
Nase betören.
Prof. Dr. Dr. Dr. Hanns Hatt, Zellphysiologie, Fakultät für Biologie
13
Noch steckt die Geruchsforschung
allerdings in den Kinderschuhen. Die
Wissenschaft beschäftigt sich erst seit
ein paar Jahren mit den molekularen
Prozessen, durch die wir z.B. zwischen
dem Duft einer Rose und einer vollen
Windel unterscheiden können, oder
warum wir uns an Düfte so gewöhnen,
dass wir sie schon nach kurzer Zeit
nicht mehr wahrnehmen.
Folgen wir der Geruchsspur ins Mikroskopische: Alle duftenden Gegenstände geben flüchtige Moleküle in die
Luft ab. Fast alle natürlich vorkommenden Gerüche sind komplizierte Gemische aus Hunderten verschiedener
Moleküle. Trotzdem genügen meist einige sog. Leitsubstanzen, um einen bestimmten Geruch zu charakterisieren.
So lässt sich mit Amylacetat Bananen-
duft imitieren, Geraniol erzeugt einen
rosenähnlichen Eindruck und Skatol
den von Fäkalien. Allerdings bemerken
unsere Nase und unser Gehirn sehr
schnell, dass noch etwas fehlt: Das
macht den Unterschied aus zwischen
einem Nahrungsmittel mit künstlichen
Aromastoffen und einem aus den natürlichen Produkten.
Im obersten Bereich der menschlichen Nase finden wir das sog.
Riechepithel, das aus den eigentlichen
Riechzellen, den Stützzellen und den
Basalzellen besteht. Die Basalzellen
sind adulte Stammzellen, die unser
ganzes Leben lang im Vierwochentakt
die 30 Millionen Riechzellen erneuern.
Die Riechzellen tragen am Ende ca. 20
feine, in den Nasenschleim ragende
Sinneshärchen (Cilien, s. Abb. 3). De-
Zellphysiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
ren Zellmembran enthält alle molekularen Komponenten, die dafür sorgen,
dass wir mehr als 10.000 verschiedene
Düfte selbst in geringsten Konzentrationen wahrnehmen und unterscheiden
können. Die Umsetzung des chemischen Duftreizes in ein elektrisches
Zellsignal erfolgt über einen kaskadenartigen biochemischen Verstärkungsmechanismus: Jeder Duftstoff muss zuerst ein spezifisches Rezeptoreiweiß
auf der Oberfläche der Sinneshärchen
finden und daran andocken (s. Abb. 5).
Der Rezeptor benutzt dann sog. G-Proteine als Vermittler, um ein Enzym
(Adenylatzyklase) zu aktivieren. Die-
Abb. 2 (oben):
links - Verteilung der Gene für den Riechsrezeptor
auf den menschlichen Chromosomen (rote Bereiche).
Nur auf den Chromosomen 20 und Y gibt es keine
Riechrezeptorgene. Sie wurden für ein Genclusters auf
Chromosom 17 am Lehrstuhl vollständig isoliert.
rechts - Menschlicher Chromosomensatz, ungeordnet.
ses Enzym kann große Mengen zyklisches Adenosinmonophosphat (cAMP)
als zweiten Botenstoff herstellen. Diese cAMP-Moleküle verändern nun direkt in der Zellmembran die Struktur
von Kanalproteinen, so dass eine offene Röhre entsteht, durch die positiv
geladene Teilchen (Kationen) aus dem
Nasenschleim in die Zelle einströmen
und das negative Membranpotenzial (in
Ruhe etwa –70 mV) verschieben. Ab
einer gewissen Schwelle (ca. –50 mV)
werden diese Rezeptorpotentiale in
sog. Aktionspotentiale umgesetzt, die
entlang des Nervenfortsatzes der
Riechzelle bis ins Gehirn geleitet werden. All diese molekularen Komponenten kennt die Wissenschaft seit etwa
zehn Jahren.
1991 gelang ein Durchbruch in der
Riechforschung: In den USA fanden
Forscher im Rattengenom eine riesige
Genfamilie mit über 1000 Mitgliedern,
die nahezu exklusiv in den Sinneshärchen von Riechzellen exprimiert
werden. 1999 gelang es uns erstmals,
ein Mitglied dieser Rezeptorfamilie
auch aus dem menschlichen Genom zu
Abb. 3:
Blick auf das Köpfchen einer menschlichen Riechzelle mit ihren Cilien.
sitzen zwar noch die Geninformation
unserer tierischen Vorfahren, aber nur
noch 347 dieser Gene sind benutzbar.
Sie liegen über fast alle unsere Chromosomen verteilt, außer auf Chromosom 20 und Y (Abb. 2). Meist sind sie
in sog. Genclustern angeordnet, von
denen die größten bis zu 80 Rezeptorgene enthalten.
Trotz ihrer reduzierten Zahl stellen
sie mit einem Anteil von ca. einem
Prozent am menschlichen Gesamtgenom immer noch die größte Genfamilie überhaupt dar. Dies spricht für
die Bedeutung des Geruchssinns für
den Menschen und gegen seine Einordnung als „niederen Sinn“.
Abb. 4 (rechts):
Bei primitiven Wirbeltieren wie
dem Schleimaal dienen mehr als 90
Prozent des Gehirns der Analyse
von chemischen Reizen. Seine
Riechrezeptoren sind den menschlichen bereits sehr ähnlich.
klonieren und zu identifizieren.
Schnell stellte sich heraus, dass
die Zahl der aktiven Mitglieder dieser
Superfamilie beim Menschen dramatisch abgenommen hat: In der verhältnismäßig kurzen Evolutionszeitspanne
von wenigen 100 Millionen Jahren haben wir im Vergleich zu Primaten und
höheren Säugern zwei Drittel aller
Gene für Geruchsrezeptoren (olfaktorische Rezeptoren) „stillgelegt“ und
in Pseudogene umgewandelt. Wir be-
14
Zellphysiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
profil dreier weiterer
Rezeptoren detailliert
charakterisieren. Die
ersten
Ergebnisse
zeigen, dass ein
Rezeptorprotein in
der Lage ist, sehr
spezifisch nur eine
bestimmte chemische
Teilstruktur (funktioAbb. 5:
nale
oder
detera - Molekulare
minante Gruppe) eiStruktur eines
nes Moleküls zu ermenschlichen Riech- kennen und so nur
rezeptorproteins.
auf Duftstoffe zu reaDie 320 Aminosäugieren, die genau dieren lange Kette
se Struktur besitzen.
durchquert siebenIn höheren Konzenmal die Zellmemtrationen können jebran.
doch auch Moleküle
b - Dreidimensiona- mit ähnlicher Strukles Modell der
tur den Rezeptor akRezeptorstruktur.
tivieren. Das funktioniert allerdings nur,
solange die determinante Gruppe
Die Aminosäureketten (ca. 320
gleich ist – jede kleine Veränderung
Aminosäuren) der Rezeptorproteine
daran führt in der Regel zu einem vollsind sich in ihrer Sequenz sehr ähnlich
ständigen Wirkverlust.
(homolog) und durchspannen siebenFür uns Menschen bedeutet dies,
mal die Zellmembran (s. Abb. 5). Die
dass wir ca. 350 unterschiedliche cheBereiche drei bis sechs zeigen die
mische Strukturen identifigrößte Vielfalt. Dort vermuten wir die
zieren und unterscheiden
Bindungstasche, also den Bereich der
können. Da aber kleine
Wechselwirkung zwischen Duftmolekül
strukturelle Änderungen an
und Rezeptorprotein. In Computervielen Molekülbereichen
modellen des Rezeptorproteins gelang
die Rezeptorreaktion nur
es uns, Aminosäuren zu identifizieren,
graduell verändern, ist die
die in der Bindungstasche lokalisiert
Gesamtzahl der riechbaren
sind (s. Abb. 6). Inzwischen haben wir
chemischen Moleküle viel
alle Riechrezeptorgene eines Genhöher. Hinzu kommt, dass
clusters auf Chromosom 17 des Mendie meisten natürlichen
schen (insgesamt 18 Gene) isoliert,
Düfte Mischungen verschiesequenziert und kloniert. Sieben davon
dener Komponenten sind, so
sind Pseudogene. Die elf funktionsfädass man insgesamt fast unhigen Rezeptoren schleusten wir in
endlich viele Gerüche erNieren-Tumorzelllinien ein und chakennen kann. Interessanterrakterisierten ihre Funktion. Dabei geweise wählt jede Riechsinlang es uns vor drei Jahren erstmals,
neszelle nur ein einziges
einen Rezeptor hinsichtlich seiner Speder 347 Gene aus und stellt
zifität für einen bestimmten Duft
das entsprechende Rezep(Ligandenspezifität) zu identifizieren:
torprotein her – ein bisher
den Rezeptor 17-40, der spezifisch ist
unerforschter faszinierender
für Helional, einen der Meeresbrise
Mechanismus. Bei ca. 20
ähnlichen Duft.
Millionen Riechzellen und
Inzwischen konnten wir das Duft-
15
rund 350 unterschiedlichen Rezeptoren
sind von jedem Riechsinneszelltyp
rund 50.000 Zellen in der Schleimhaut
verteilt. Die Muster dieser Verteilung
sind sehr spezifisch und genetisch festgelegt bei jedem Menschen gleich. Sie
treten auch symmetrisch in beiden Nasenhöhlen auf.
Symmetrie der Riechzellen-Muster
in beiden Nasenhöhlen
Folgen wir der Geruchsspur vom
Rezeptor weiter in die Riechsinneszelle hinein, so endet die biochemische
Reaktionskaskade in der Herstellung
großer Mengen des zweiten Botenstoffes cAMP, der direkt Ionenkanäle
in der Membran öffnet (Abb. 7). Diese
Kanäle weisen einige funktional sehr
wichtige Anpassungen auf. So konnten
wir vor längerem schon zeigen, dass
die Kalziumionen aus dem Nasenschleim, die der Kanal in die Riechsinneszelle leitet, zwei völlig unterschiedliche Funktionen haben: Sie
können als positive Ladung das Membranpotential verändern und somit zur
Zellerregung beitragen. Bei steigender
Abb. 6:
Molecular modelling des menschlichen Riechrezeptors 17-4 mit der
Bindetasche für
den Duft Bourgeonal (s. Kasten)
Zellphysiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Abb. 7:
Molekulare Prozesse der Verarbeitung
von Duftreizen in einer Riechzelle.
Hemmende Mechanismen blockieren
Ionenkanäle, die für Reizaufnahme
und -weiterleitung wichtig sind.
Konzentration können sie aber auch
den cAMP-Kanal von innen her blokkieren: Je intensiver und länger man
einen Duft riecht, also diese cAMP-aktivierten Kanäle offen hält, desto höher
steigt die Kalziumkonzentration in der
Zelle, bis der Kanal sich irgendwann
selbst abschaltet (Feedback-Mechanismus). Das ist die erste Erklärung für
die Verarbeitung von Gerüchen auf molekularer Ebene. Erst im letzten Jahr
konnten wir darüber hinaus zeigen,
dass cAMP nicht nur direkt Ionenkanäle öffnen kann, sondern auch ein
Kanal zu - Duftleitung
unterbrochen
Enzym (Proteinkinase A) aktiviert, das
durch Phosphorylierung von Natriumund Kalzium-Kanalproteinen diese
Ionenkanäle abschalten kann (s. Abb.
7, unten). Da diese Kanäle für den sog.
Aktionspotentialstrom verantwortlich
sind, der eine Dufterregung aus der
Nase ins Gehirn leitet, wird der Duft
nicht länger gerochen – wir haben uns
an ihn gewöhnt.
Obwohl molekularbiologische Arbeiten davon ausgehen, dass jede
Riechsinneszelle nur einen einzigen
Typ von Riechrezeptor auf der Oberfläche ausbildet, konnten wir jüngst erstmals zeigen, dass eine Riechzelle un-
terschiedlich auf verschiedene Düfte
reagieren kann: Ein und dieselbe Zelle
kann durch einen Duft erregt, durch einen anderen jedoch daran gehindert
werden. Im Experiment verlor z. B.
eine auf Maiglöckchenduft (Bourgeonal) spezialisierte Riechzelle die Fähigkeit diesen Duft zu riechen, wenn
sie zuvor einen hemmenden Duft wahrgenommen hatte. „Hemmende“ Düfte
aktivieren auf bisher unbekannte Weise
eine andere biochemische Kaskade in
der Zelle, an deren Ende nicht die Erhöhung der Konzentration von cAMP
sondern PIP 3 steht. PIP 3 wird durch PI 3 Kinase aus PIP 2 gebildet. Diese Substanz kann die Öffnung der cAMP-aktivierten Ionenkanäle verhindern. Hemmung in diesem System bedeutet also
keine direkte Beeinflussung des Membranpotenzials einer Zelle, sondern
dass die Zelle nicht erregt werden
kann, da die Kanäle blockiert sind.
Unsere aktuellen Forschungsdaten geben erstmals Hinweise, dass man
Hemmstoffe für Riechrezeptoren entwickeln kann, die den Rezeptor direkt
blockieren und damit, ähnlich wie in
der Pharmakologie, als konkurrierende
Antagonisten wirken können.
Diese Ergebnisse zeigen, dass
Riechzellen und die Informationsverarbeitung im Riechsystem sehr viel komplexer sind als bisher angenommen,
und dass bereits eine Signalverarbei-
tung auf peripherer Ebene im Riechepithel stattfindet. Dies wirft ein völlig
neues Licht auf das Potenzial der möglichen Dufterkennungen und –unterscheidungen, zeigt aber auch, dass es
vieler raffinierter zellulärer Prozesse
bedarf, um dieses wichtige Sinnesorgan zu Höchstleistungen zu befähigen.
Die meisten natürlichen Düfte wie
Blumenduft und Parfums bestehen aus
Human olfactory system
The human olfactory system detects
odorants at low concentrations with
remarkably precise discrimination. Our
knowledge about the molecular components of the transduction cascade has
increased considerably. Recently, we
were able to functionally express and
characterize the first human olfactory
receptor protein. We demonstrated
additionally that odorant-induced activation of the biochemical cascade initiates modulatory activities which lead
to activation of PKA and/or phosphoinositides, affecting not only the
transduction current but also the input/
output relationship of olfactory cells.
ABSTRACT
16
Zellphysiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Hunderten einzelner chemischer
Duftkomponenten. Wie können
wir also eine duftende Rose
von einer Orange unterscheiden? Beim Einatmen dieser
komplexen Mischung werden von den ca. 350 verschiedenen
Typen
von
Riechsinneszellen nur die aktiviert, die Rezeptoren für einen der vorhandenen Düfte tragen. Neuroanatomische und immunhistochemische Daten haben gezeigt, dass alle Sinneszellen mit den
gleichen Rezeptorproteinen ihre Nervenfortsätze von überall in der Nase in
ein- und dieselbe kugelförmige Zellansammlung (Glomerulus) in unserem
Riechhirn (bulbus olfactorius) senden.
Alle rund 50.000 Nervenfortsätze
der „Vanillin-Sinneszellen“ enden z. B.
in der „Vanillekugel“. Welche Markierungsstoffe diese Wegfindungsprozesse
17
Abb. 8:
Duftgestalt: Modell der Aktivierung
der Glomeruli nach Reizung mit Rosen- bzw. Orangenduft.
ermöglichen, ist bisher unbekannt. Riecht man nun eine Mischung aus mehreren chemischen Komponenten, so werden entsprechend
mehrere Sinneszellenrezeptortypen aktiviert und damit auch die dazugehörigen Glomeruli. Es entsteht ein reproduzierbares, aber komplexes Aktivierungsmuster von Glomeruli (s. Abb. 8),
das im Umkehrschluss zeigt, welche
Duftmischung wir gerochen haben. Das
Rosenduft-Aktivierungsmuster unterscheidet sich eindeutig vom Orangenduftmuster. Wenn einzelne chemische
Komponenten in beiden Duftmischungen vorkommen, können die Muster aktivierter Glomeruli überlappen.
In der Psychologie könnte man dies
mit dem Begriff Duftgestalt bzw.
Gestalterkennung beschreiben. Haben
wir einmal einen Duft gelernt, so können wir ihn auch wieder erkennen,
wenn ihm ein Teil der Information
fehlt. Das macht man sich z. B. bei den
stark reduzierten künstlichen Rosenoder Orangendüften zu nutze.
Neuroinformatik/Physiologie
Ingenieurwissenschaften
NEUROrubin 2003
Leistungssteigerung
und Plastizität bis ins hohe Alter
Das erwachsene Gehirn ist
unveränderbar - das galt jahrzehntelang als Postulat. Doch
längst besteht kein Zweifel
mehr daran, dass Leistungssteigerung und Selbstreparatur des Gehirns bis ins hohe
Alter möglich sind. Neurowissenschaftler zeigen am Beispiel des Laufverhaltens und
bei Verletzungen der Sehrinde
wie gut sich dieses Potenzial
erschließen lässt.
Abb. 1
N
ach dem Konzept der „gebrauchsabhängigen Plastizität“ befindet
sich auch das erwachsene Gehirn in einem Zustand permanenter Veränderung:
Schon ein geringfügiger Wechsel der
Lebensumstände, der zu einem anderen
alltäglichen Verhalten führt, kann plastische Reorganisationsprozesse in
Gang setzen. Welchen Einfluss haben
diese Mechanismen auf Verletzungen
des Gehirns oder auch auf natürliche
Alterungsprozesse des Menschen?
Altern ist zentraler Bestandteil jeglichen Lebens. Viele Theorien versuchen das Altern zu erklären, allerdings
ohne wirklich Einsicht in die Hintergründe zu geben. Neben der Bedeutung
für das Individuum selbst hat das Altern auch eine gesellschaftliche Dimension: Mit dem Geburtenrückgang
PD Dr. Hubert Dinse, Institut für
Neuroinformatik der RUB, Prof. Dr. Ulf
T. Eysel, Institut für Physiologie, Medizinische Fakultät
und der zunehmenden Lebenserwartung der Menschen in den modernen
Industrieländern hat sich die „Alterspyramide“ umgekehrt. Die Konsequenzen sind heute noch nicht absehbar.
Im Zuge dieser Entwicklung wird
die sog. Alltagskompetenz alter Menschen immer wichtiger. Sie charakterisiert die sensomotorischen Fähigkeiten, die notwendig sind, um alltägliche
Arbeiten zu verrichten. Doch sind altersbedingte Veränderungen degenerativen Ursprungs und damit weitgehend
irreversibel, oder handelt es sich um
plastische Veränderungen im Sinne einer kompensatorischen Anpassung an
die Anforderungen des täglichen Lebens?
Ratten stellen ein optimales Untersuchungsmodell für diese Fragestellung dar, da sie mit zwei bis drei Jahren schon „in hohem Alter“ sind. Als
einen Aspekt der Alltagskompetenz
wählten wir für unsere Untersuchungen
das Laufverhalten der Ratten aus. Wie
die Pfotenabdrücke zeigen (Abb. 2),
sind Ratten im Alter - wie Menschen
H. Dinse
U. T. Eysel
Abb. 2:
Pfotenabdrücke: Wie der schlurfende
Gang alter Ratten zeigt, fällt es ihnen
schwer, die Hinterbeine zu heben.
17
Neuroinformatik/Physiologie
Ingenieurwissenschaften
NEUROrubin 2003
Abb. 3:
Jeder Nervenzelle ist ein rezeptives
Feld (RF) auf der Pfote der Ratte zugeordnet, damit repräsentiert eine
Nervenzelle nur einen kleinen Ausschnitt der gesamten Außenwelt. Die
kortikale Karte berechnet sich aus der
gegenseitigen Lagebeziehung der
Nervenzellen und den dazu
gehörenden RFs auf der Pfote.
auch - im Laufen stark eingeschränkt.
Sie schlurfen und humpeln mit den
Hinterbeinen, während die Vorderextremitäten weitgehend unbeeinträchtigt
bleiben.
Doch führt dieses Laufverhalten
auch zu Veränderungen im Gehirn? Bei
der Klärung dieser Frage kam uns die
Art der Gehirnorganisation zugute, die
die Körperoberfläche wie eine Landkarte kartiert: Benachbarte Punkte auf
der Haut korrespondieren mit nebeneinander liegenden Bereichen des Gehirns (s. Abb. 3). Reizt man zum Beispiel zwei Punkte auf der Handfläche,
so werden auch im Gehirn nah beieinander liegende Stellen aktiviert. Liegen
die Reizpunkte weit voneinander entfernt, so ist auch der Abstand der aktivierten Gehirnbereiche größer. Das in
der Hirnrinde des Menschen entstehende Bild, die sog. kortikale Karte der
gesamten Körperoberfläche, wird deshalb auch als Homunculus („Menschlein“) bezeichnet.
Abb. 4 zeigt eine kortikale Karte,
die anhand von elektrophysiologischen
Messungen der Nervenzellaktivität in
den Hirnregionen erstellt wurde, die
die Extremitäten repräsentieren: Im Bereich der Hinterextremitäten sind dramatische Aktivitätsstörungen zu erkennen. Diese Ergebnisse konnten wir
auch mit einer neuen Methodik, der
„optischen Registrierung“, bestätigen
(s. Abb. 4). Dabei messen wir die Veränderungen des Blutflusses in bestimmten Bereichen des Gehirns nach
Reizung der Haut. Es konnte experi-
18
mentell nachgewiesen werden, dass
Nervenzellaktivität mit einer Änderung
des Blutflusses verbunden ist.
Die Ergebnisse zeigen deutlich,
dass sich die kortikalen Karten altersbedingt verändern. Sie verlieren ihren
Ordnungsgrad und schrumpfen, was auf
einen veränderten Tastsinn und damit
auf eine veränderte Wahrnehmungsfähigkeit im betroffenen Körperteil
schließen lässt. Die Veränderungen bleiben auf die kortikalen Karten der
Abb. 4:
Die kortikalen Karten
der Vorderpfoten (VP)
unterscheiden sich bei
jungen und alten Ratten
nicht. Ausdehnung und
Aktivierungsstärke sind
vergleichbar. Dagegen
ist die Verarbeitung des
Tastsinns im Bereich der
Hinterpfoten (HP) bei
alten Ratten stark eingeschränkt, wie die kortikalen Karten zeigen.
Hinterextremitäten beschränkt, obwohl
diese nur wenige Millimeter von denen
der Vorderextremitäten entfernt liegen.
Wir vermuten deshalb, dass das altersbedingt veränderte Laufverhalten nicht
auf degenerative Veränderungen im
Sinne eines „Zusammenbruchs von
Gehirnfunktionen“ zurückzuführen ist.
In diesem Fall müssten die kortikalen
Karten beider Extremitäten betroffen
sein.
Wir erklären diese Ergebnisse im
Sinne der „gebrauchsabhängigen Plastizität“. Bis etwa 1980 ging man davon aus, dass plastische Anpassungsprozesse des Gehirns auf die sog. „kritische Entwicklungsphase“ eines Individuums beschränkt bleiben. Das erwachsene Hirn hielt man dagegen für
weitgehend unveränderlich, Lernprozesse bezögen sich lediglich auf Veränderungen der Synapsen und damit auf
mikroskopische Vorgänge. Heute besteht kein Zweifel mehr daran, dass
auch im erwachsenen Gehirn weitreichende Reorganisationsprozesse in makroskopischer Größenordnung im Mil-
Neuroinformatik/Physiologie
Ingenieurwissenschaften
NEUROrubin 2003
limeter- oder sogar Zentimeterbereich stattfinden. Man nimmt
an, dass die synaptische Plastizität mikroskopische Veränderungen auslöst, die dann zu den
makroskopischen Veränderungen führen, die sich wiederum
in der kortikalen Karte widerspiegeln.
Unsere Hypothese lautet daher, dass die beobachteten
Altersveränderungen kein Ausdruck des Absterbens und Untergangs von Nervenzellen sind,
sondern dass es sich dabei um
aktive Adaptationsprozesse handelt. So können z.B. äußere
Faktoren wie altersbedingter
Muskelschwund oder Gelenkschmerzen dazu führen, dass
bestimmte Körperteile weniger
„benutzt“ werden. Über Mechanismen der gebrauchsabhängigen Plastizität führt dies wiederum zu Veränderungen der
senso-motorischen Karten im
Gehirn. Für die zentrale Rolle
des Cortex beim Auftreten von
Altersveränderungen spricht
auch, dass die peripheren Nerven der Hinterextremitäten alter Ratten
unbeeinflusst bleiben.
Wodurch lässt sich diese Hypothese stützen? Zumindest gibt es Hinweise dafür, dass ein erhöhter oder verringerter Gebrauch von Körperfunktionen
zu kortikaler Reorganisationen führen
kann: So benutzen Musiker Hände und
Finger wesentlich häufiger als der
Durchschnitt der Bevölkerung. Die er-
Gipsverband schränkt Bewegung und
damit kortikale Karte ein
höhte sensomotorische Fähigkeit von
Geigen- und Klavierspielern ist auch
tatsächlich mit einer spezifischen Vergrößerung ihrer kortikalen Karten verbunden. Dagegen haben Patienten, die
für mehrere Wochen einen Gipsverband
tragen und damit in ihren Bewegungen
eingeschränkt sind, spezifisch verkleinerte kortikale Karten. Auch bei unse-
Abb. 5:
Balkenlauftest: Die alte
Ratte (Mitte, rechts)
schafft es im Vergleich
zum jungen Tier (oben)
nicht, den Balken zu
überqueren. Ihre kortikale (motorische) Karte ist
in Ausdehnung und
Emfpindlichkeit stark reduziert (Mitte, links) .
Wenige Monate nach
Aufenthalt im „enriched
environmemt“ hat die
motorische Karte wieder
die Ausdehnung bei jungen Tieren erreicht, nicht
aber deren Empfindlichkeit (Farbcode). Die
„enriched-Ratte“ (unten)
hat neue Verarbeitungsstrategien entwickelt.
ren Ratten führen geringfügige Einschränkungen des Laufverhaltens zu
schnellen Änderungen der kortikalen
Karten. Dass diese Prozesse reversibel
sind und sich je nach „Lebensumständen“ und verändertem Verhalten modifizieren und beeinflussen lassen,
spricht dafür, dass es sich dabei um
aktive Plastizitätsprozesse handelt.
Wir haben deshalb den Einfluss einer „anregenden Umgebung“ (enriched
environment) auf die Alterungsprozesse anhand der kortikalen Karten, der
Antworteigenschaften kortikaler Nervenzellen sowie verschiedener Verhaltensparameter für die Laufeigenschaften
von Ratten überprüft. Im „enriched
environment“ können die Tiere Gänge
und Höhlen bauen, erhalten ihr Futter
an jeweils anderen Orten und werden
so zu einem aktiven Explorationsverhalten und zum Klettern motiviert, was
ihre körperliche und mentale Leistungsfähigkeit und ihre Fitness stärkt.
Sie blieben im Durchschnitt ein halbes
Jahr in dieser Umgebung und hatten
dann mit fast drei Jahren ein für Ratten
hohes Alter erreicht.
Die Haltung im „enriched environment“ zeigte einen sehr positiven
Einfluss auf das Laufverhalten der Ratten: Auf den ersten Blick liefen die Tiere fast so gut wie junge Ratten (s. Abb.
5 u. 6). Erst bei näherem Hinschauen,
entdeckten wir, dass sie dafür aber
neue Laufstrategien entwickelt hatten,
mit denen sie die typischen Altersbeeinträchtigungen, wie Unsicherheit,
Verlangsamung oder Muskelabbau,
weitgehend ausgleichen konnten. So
hielten die alten Ratten z. B. durch viele kleine Schritte die Beine mehr am
Boden und erreichten damit eine bessere Standsicherheit. Die „enriched-Ratten“ entwickeln eine neue Form der
Alltagskompetenz, die sich wesentlich
von der alter, aber auch von jungen
Ratten unterscheidet. Der Zerfall der
19
Neuroinformatik/Physiologie
Ingenieurwissenschaften
NEUROrubin 2003
Abb. 6:
Fotosequenz des Balkenlauftests: Alle
jungen Ratten erreichten das Häuschen am Ende des Balken (oben), aber
keine der alten Ratten (Mitte). Nach
Haltung im „enriched environment“
kommen auch 80 Prozent der alten
Ratten langsam am Ende des Balkens
an (unten).
kortikalen Karten der Hinterextremitäten wurde durch das „enriched environment“ ebenfalls verhindert - auch
hier fanden wir dafür andere neuronale
Strategien als bei jungen Ratten.
Weit über die Funktionsbeeinträchtigung bei normalen Alterungsvorgängen hinaus gehen Blutmangelzustände,
Blutungen oder mechanische Verletzungen des Gehirns. Mit dem Untergang größerer Zellverbände fallen ganze Funktionsbereiche aus. Da keine Re-
generation eintritt, steht das Funktionssystem Gehirn damit vor einer ganz
neuen Aufgabe: Zellen, die Jahre oder
Jahrzehnte eine bestimmte Funktion
inne hatten, müssen neue Aufgaben
übernehmen, wenn das Gesamtsystem
überleben soll. Ähnlich dem Altern,
stellen auch Schädigungen des Gehirns, insbesondere der Schlaganfall
und die nachfolgende Rehabilitation,
ein bedeutendes medizinisches und
ökonomisches Problem dar.
Abb. 7:
Die Sehrinde einer Katze
von oben (a) und schematisch im Querschnitt (b).
Die Läsion ist grün markiert (Kreis in a, Fläche
in b) Die rezeptiven Felder zeigen vor der Schädigung (weiß) die normale relativ kleine Fläche.
Nach 76 Tagen überdekken die stark vergrößerten
rezeptiven Felder an denselben Orten (mattgrün)
auch zuvor „blinde“
Nachbarbereiche des Gesichtsfeldes.
20
Unser experimentelles Modell geht
von winzigen Läsionen in der Sehrinde
von Katzen und Ratten (Abb. 8) aus,
die zu Gesichtsfeldausfällen führen.
Die Folge sind kleine blinde Bereiche,
die sich anhand von Mikroelektrodenableitungen demonstrieren lassen. Zellen in der Umgebung dieser Läsionen
antworten auf Lichtreize (s. Abb. 7).
Die Bereiche der Läsionen selbst aber
bleiben unerregt - als wäre ein kleines
Loch in ein Bild gestanzt worden (Abb.
7c, Lücke zwischen den weißen Feldern).
In einer weiteren Untersuchung 76
Tage später stellten wir fest, dass sich
die Gesichtsfeldbereiche (rezeptive
Felder) vergrößert hatten (Abb. 7c,
mattgrüne Felder), die von einzelnen
Zellen am Rand der Läsion „gesehen“
werden. Sie überdecken wieder den gesamten Bereich des Gesichtsfeldes der zuvor blinde Bereich war verschwunden und kleine Objekte, die
sich hier befinden, konnten wieder
wahrgenommen werden. Die Zellen am
Läsionsrand hatten die Funktion ihrer
ausgefallenen Nachbarzellen übernommen.
Wir haben festgestellt, dass sich
die rezeptiven Felder bei vermehrter
und gezielter Benutzung schon bei kurzer Übungszeit (ca. 1 Stunde) innerhalb von 48 Stunden nach Eintreten einer Läsion vergrößern. Werden sie
nicht trainiert, sondern z.B. in völliger
Dunkelheit gehalten, dann bleibt die
Umprogrammierung der Zellen aus.
Diese Umprogrammierung von
Zellfunktionen lässt sich am besten
Neuroinformatik/Physiologie
Ingenieurwissenschaften
NEUROrubin 2003
durch die sog. Langzeitpotenzierung
(LTP), eine Form zellulären Lernens,
erklären. Dabei führt die wiederholte
und hochfrequente Nutzung von Zellkontakten zu deren dauerhafter Verstärkung. Wir lösen die LTP durch eine
spezielle Stimulation aus (Theta-BurstStimulation, TBS), bei der innerhalb
einer Minute drei Salven von je 20
hochfrequent wiederholten erregenden
Antwortpotenzialen an der Synapse
ausgelöst werden (Abb. 9a).
In Hirnschnitten von Ratten mit
kleinen Laserläsionen konnten wir zeigen, dass bei Zellen des Läsionsrandes
eine hochsignifikant verstärkte Langzeitpotenzierung auftritt (Abb. 9b).
Während im gesunden, erwachsenen
Abb. 9:
Noch lange nach wiederholter hochfrequenter elektrischer Erregung der Synapse ist das übertragene Signal (gelbe Spur) größer als vor dem Lernreiz (blaue
Spur). Der Lerneffekt ist in der Umgebung der Schädigung am größten (rote Messpunkte, unten).
Gehirn weniger als die Hälfte der Zellen eine schwache LTP zeigt (Amplitudensteigerung auf 137% der Ausgangsamplitude), fanden wir am Läsionsrand bereits in der ersten Woche
nach der Verletzung bei zwei Dritteln
aller Zellen eine deutlich stärkere
Langzeitpotenzierung (Amplitudensteigerung auf 190%). Diese verstärkte
Plastizität des Gehirns geht mit einem
erhöhten Calciumspiegel in den Zellen
um die Läsion einher.
Die veränderte synaptische Plastizität unmittelbar nach Eintreten der
Verletzung deutet auf ein erhöhtes Potenzial des Gehirns hin, sich umprogrammieren zu können. Dieses Phänomen scheint der
frühkindlichen Plastizität des
Gehirns vergleichbar und hat
offenbar auch ähnliche molekulare Ursachen. Es stellt
eine interessante biologische
Anpassung der Hirnrinde dar,
durch Selbstreparatur und
Umprogrammierung überleben zu können. Bereits heute
sind Trainingsprogramme erfolgreich, die das Zeitfenster
der verstärkten Plastizität
nach der Schädigung nutzen.
Wie unsere Ergebnisse
zeigen, sind plastische Anpassungsprozesse des Gehirns ebenso Teil des Alterns, wie auch Grundlage
von Reparaturstrategien nach
einer Hirnschädigung. Daraus ergeben sich erhebliche
Konsequenzen für mögliche
Therapien: Während sich immer deutlicher zeigt, dass
das menschliche Gehirn das
Potenzial besitzt, Alterungs-
Abb. 8:
Die kleinen lokalen Schädigungen in
der Hirnrinde von Katze (a) und Ratte
(b) sind frei von Nervenzellen.
vorgänge durch Training, Fitness und
Lernen nicht nur zu stoppen, sondern
auch umzukehren, lassen sich Hirnfunktionen selbst bei Verletzungen und
Zelluntergang durch frühzeitiges Training wieder zurückgewinnen. In beiden
Fällen deuten erste Untersuchungen am
Menschen darauf hin, dass sich die im
Tierversuch gewonnenen Daten auf klinisch-medizinische Anwendungen übertragen lassen könnten.
The Role of neural plasticity in
aging and repair
We describe new approaches that
utilize the framework of use-dependent
plasticity for the understanding of agerelated changes and repair processes.
Age related changes in sensorimotor
cortex of old rats carry signs of usedependent plastic changes as a result
of reduced use. Consequently, housing
old rats under enriched environmental
conditions ameliorates and delays both
cortical alterations and sensorimotor
performance.
After cortical lesions, surrounding
cells show a temorarily increased
synaptic plasticity similar to that
found in juvenile brains. Reprogramming on the network level and
functional recovery are facilitated. The
use-dependent nature of neuronal plasticity in aging and repair can be
utilized for use-dependent improvement.
abstract
21
Neuroinformatik
Ingenieurwissenschaften
NEUROrubin 2003
Vom Nervensystem abgeguckt:
Künstliche Bewegung – so natürlich
wie möglich
Der „Griff in die Kiste“ – das
autonome Ergreifen eines Gegenstandes aus einem ungeordneten
Haufen – ist bis heute technisch ungelöst. Menschen dagegen können
zur Not eine Schraube auch ohne
Sichtkontakt in eine Schraubenmutter „pfriemeln“. Neuroinformatiker
versuchen, Roboter nach dem Vorbild des Gehirns so zu programmieren, dass sie lernen, sich geschickter zu bewegen.
G. Schöner
L
eben ist Bewegung. Fragt
man, was Tiere als biologische Wesen auszeichnet, so erhält
man oft die Antwort: „Dass sie
sich bewegen“. Wir Menschen
sind Meister der Bewegung. Unser manuelles Geschick ist sogar
konkurrenzlos im Tierreich.
Doch sich geschickt zu bewegen,
ist schwierig, wie das Beispiel
zeigt: Wir bauen und programmieren
Computer, die uns im Schachspiel
schlagen und uns in komplexen Planungen weit übertreffen. Doch das
Bewegungsgeschick eines dreijährigen
Kindes bleibt für den Roboter unerreicht.
Was ist so schwierig an der Bewegung? Sicher nicht sie zu erzeugen –
das können Autos oder Flugzeuge sehr
effizient und kraftvoll. Es ist auch
Prof. Dr. Gregor Schöner, Institut für
Neuroinformatik
23
Abb. 1: Roboter Arnold
nicht unbedingt die Präzision der Bewegung – moderne Industrieroboter erreichen und übertreffen den Menschen
im präzisen Positionieren von Werkzeugen.
Eine zentrale Herausforderung ist
es, zielgerichtete Handlungen in natürlichen, teilweise unbekannten Umwelten flexibel zu erzeugen. Industrieroboter brauchen detaillierte und präzise Informationen über die Lage und
mögliche Greifkonfigurationen von
Objekten. Dagegen können Menschen
einen noch nie zuvor gesehen Gegenstand ergreifen und manipulieren. Dies
gelingt uns auch noch, wenn der
Gegenstand halb verdeckt auf
einem unaufgeräumten Schreibtisch im Halbdunkel liegt.
Wie erreichen wir diese Flexibilität? Unser Bewegungsapparat hat reichlich Bewegungsmöglichkeiten (Freiheitsgrade),
mehr als genug, um die meisten
Bewegungsaufgaben mechanisch
realisieren zu können. Ein Ziel mit einer Laserpistole zu treffen, erfordert z.
B. nur, zwei Kenngrößen richtig einzustellen: Hält man die Pistole in beliebiger Position, so muss sie maximal
um zwei Achsen gedreht werden, damit
sie auf das Ziel zeigt. Die dritte Drehung um die Längsachse der Pistole
beeinflusst den Schießerfolg nicht. Um
die beiden Winkel korrekt einzustellen,
stehen uns im Oberarm sieben Gelenkwinkel zur Verfügung. Wenn wir das
Schulterblatt und den Oberkörper mitbewegen dürfen, sind es noch mehr.
Die vielen Freiheitsgrade nutzen Men-
Neuroinformatik
Ingenieurwissenschaften
NEUROrubin 2003
schen auch: Schießen wir wiederholt auf ein Ziel, dann ist die genaue Gelenkwinkelkonfiguration
von Durchgang zu Durchgang
nicht identisch, sondern sie
schwankt.
Schon in den dreißiger Jahren
konstatierte Nikolai Bernstein,
der russische Pionier der Bewegungsforschung, dass Meisterschützen von Schuss zu Schuss
genau so viele Schwankungen in
ihrem Bewegungsapparat zulassen wie Anfänger. Beide stellen
also nicht jedesmal wieder die
gleiche Stellung her. Wie erzeugen dann aber Meisterschützen
ihre höhere Zielgenauigkeit? In
einer experimentellen Arbeit mit
John Scholz und Mark Latash
konnten wir nachweisen, dass sie
dazu die vielen Freiheitsgrade
gezielt koordinieren. Nur die
Schwankungen von Gelenkwinkelkonfigurationen werden erlaubt,
die die beiden relevanten Zielwinkel
unverändert lassen. Schwankungen, die
sie verändern, werden dagegen minimiert. Von Schuss zu Schuss nehmen
die Meisterschützen damit für diese
Gelenkwinkelkombinationen fast die
gleichen Positionen ein.
Bei einer anderen Bewegungsaufgabe, z. B. mit der Fingerspitze auf ein
Ziel im körpernahen Raum zu zeigen,
passt sich diese Struktur den Gelenkwinkelschwankungen an. Jetzt findet
man verstärkt solche Schwankungen,
die die räumliche Position der Fingerspitze unverändert lassen. Bei jeder
Wiederholung des Versuchs werden die
Gelenkwinkelkombinationen sehr präzise reproduziert, die diese räumliche
Position der Fingerspitze verändern
könnten. Damit treten im Gegensatz
zum Schießen wenig Schwankungen
auf. Von Schuss zu Schuss variiert die
räumliche Position von Hand und Pistole wie auch die Gelenkwinkelkombinationen, die diese Position beeinflussen, erheblich (s. Abb. 2 ).
In der Technik macht man sich ein
analoges Regelungsprinzip zu Nutze,
um zusätzliche Randbedingungen bei
Abb. 2 :
Welche Bewegungen koordiniert ein Schütze, wenn er
das Ziel sicher treffen will? Dargestellt sind die räumlichen Koordinaten von vier ausgewählten Markierungen auf dem Arm des Schützen. Die Grafik unten
zeichnet die Bewegung des Schützen nach.
Die farbigen Linien der Laserpistole kennzeichnen vier Versuche. Der Schütze trifft stets das
Ziel - auch wenn sich die Pistole beim Feuern
an verschiedenen Positionen (s. Kreis) befindet.
zielgerichteten Bewegungen zu erfüllen. Am interaktiven Manipulatorarm
CORA des Instituts für Neuroinformatik kann der Benutzer (s. Abb. 4) z. B.
den Ellenbogen des Roboterarms wegschieben, ohne dadurch die räumliche
Position des Werkzeugs an der Spitze
des Roboterarms zu ändern. Der Roboter gleicht die Ellenbogenbewegung
aktiv aus und stabilisiert das Werkzeug. Dies erhöht die Flexibilität des
Roboters, indem er sich so konfigurieren lässt, dass er den Benutzer wenig
stört.
Wie jedoch kommen Bewegungsziele und Aufgabenstellungen in das Nervensystem hinein, so dass sie dort Bewegungsregelung strukturieren können?
Meist richten wir Bewegungen auf visuell erfasste Bewegungsziele, etwa
wenn wir eine Tasse vor uns auf einem
Tisch ergreifen. Wir können diese Information aber problemlos durch Information aus anderen Systemen ersetzen,
wenn wir z. B. aus dem Gedächtnis
nach der verdeckten Tasse greifen,
wenn wir in Richtung auf eine Schallquelle zeigen oder wenn wir uns an einer Oberfläche entlang zum verborge-
nen Bewegungsziel tasten. Aus der Neurophysiologie wissen wir, dass
diese verschiedenen Informationen letztlich zu
einem abstrakten Bewegungsplan integriert werden. Dieser Plan hängt
im Detail nicht mehr von
den sensorischen Quellen
ab, er ist aber auch noch
nicht mit den Details der
Bewegungsregelung ausgestattet. Im Motor- und
Prämotorareal der Hirnrinde findet
man zum Beispiel zahlreiche Neurone,
die durch ihre Aktivität die Richtung
im äußeren Raum einer zielgerichteten
Bewegung repräsentieren. Das ist ein
Parameter, der die Bewegung ganzheitlich beschreibt, nicht auf der Ebene der
genauen Gelenkwinkelkonfigurationen,
Eine Nervenzelle repräsentiert
viele Bewegungsrichtungen
die durchlaufen werden sollen. Da jedes Neuron an einer Vielzahl von Bewegungsrichtungen beteiligt ist, sind bei
jeder einzelnen Bewegung zahlreiche
Neuronen aktiv – man spricht von einer Populationskodierung (s. Abb. 3).
Mathematisch kann man diese
Form der Repräsentation der Bewegungsaufgabe mit dem Begriff des neuronalen Feldes erfassen. Wie das elektrische Feld in der Physik jedem Raumpunkt eine Größe zuordnet, aus der die
Kraft auf eine elektrische Ladung abgeleitet werden kann, so ordnet das
neuronale Feld jeder möglichen Bewegung eine Größe – die Aktivierung –
24
Neuroinformatik
Ingenieurwissenschaften
NEUROrubin 2003
zu. Aus der Aktivierung kann
abgeleitet werden, mit welcher
Abb. 3:
Wahrscheinlichkeit die BeweEine
zielgerichtete
Bewegung ausgeführt wird.
gung
hier
die
ArmbeweWird eine zielgerichtete
gung eines Affen - wird
Bewegung vorbereitet, so entneuronal erfasst (Grafik
wickelt sich das neuronale
oben)
und modellhaft nachFeld in der Zeit von einem
gebildet
(Grafik unten): Die
vorstrukturierten Zustand aus,
Bewegungsrichtung
ergibt
der Vorabwissen über die Besich anhand der Populawegungsaufgabe reflektiert
tionsverteilung
aus ca. hun(z.B. bekannte mögliche Bedert
aktiven
Neuronen
im
wegungsziele) hin zu einem
motorischen
Kortex.
Der
Zustand, der durch einen Berg
Affe bewegt seine Hand von
von Aktivität die gewünschte
einer
zentralen Plattform zu
Bewegung repräsentiert (s.
einem
von sechs ZielpunkAbb. 3). Diese zeitliche Entten.
Eine
Sekunde nach der
wicklung wird durch sensori„Vorabinformationen“ über
sche, oft visuelle Information
ein
bzw. zwei mögliche Ziele
angetrieben.
gibt
das Bewegungsignal
Sensorische Information aldie
genaue
Information über
leine legt Bewegungsziele aber
das Ziel zu dem die Hand
noch nicht eindeutig fest. Im
bewegt
werden soll. Schon
Alltag gibt es meist viele
die„Vorabinformation“
mögliche Bewegungsziele, zwistrukturiert die neuronale
schen denen eine EntscheiPopulation (s. Aktivierungsdung gefällt werden muss.
verteilung). Aus der neuroWerden diese Entscheidungen
nalen Aktivierung ergibt
willkürlich gefällt? Nicht imsich,
welche Bewegungen
mer! Im Labor kann man dies
das Tier vorbereitet. Mit
am besten an den sprunghaften
dem Bewegungssignal
(sakkadischen) Augenbewegunwächst
ein lokalisiertes Magen nachweisen, mit denen wir
ximum
der Aktivierung geunsere Blickrichtung ändern
nau über dem angezeigten
(s. Abb. 5). Präsentiert man eiBewegungsziel
an – die Bener Testperson einen grün
wegung
wird
ausgelöst.
Das
leuchtenden Punkt in der Peridynamische
neuronale
Feldpherie des Gesichtsfeldes, so
modell (unten) bildet die
kann sie diesen Leuchtpunkt
Zeitverläufe
der neuronalen
leicht ins Zentrum des GeAktivierung
nach.
sichtsfeldes bringen, indem sie
eine sakkadische Augenbewegung macht. Befindet sich
aber gleichzeitig ein grüner
verhindern, dass sie in etwa der Hälfte
und ein roter Leuchtpunkt in der Perider Fälle die „falsche“ Entscheidung
pherie des Gesichtsfeldes, so trifft die
treffen. Sie findet auf einer Ebene statt,
Versuchsperson eine Entscheidung, welauf der die Anweisung zur Farbkodiechen der beiden Punkte sie ins Zentrum
rung noch nicht verarbeitet ist.
bringt. Unter geeigneten Bedingungen
In den neuronalen Feldern lässt
findet diese Entscheidung auf recht
sich
die Fähigkeit, aus möglichen
niedriger Ebene statt: Gibt man die
Bewegungszielen eines auszuwählen,
Anweisung, stets den grünen Punkt ins
durch Wechselwirkung erklären: VerZentrum des Gesichtsfeldes zu bringen,
schiedene aktivierte Bewegungen beso können die Testpersonen doch nicht
25
Neuronale Daten
Modell
einflussen sich gegenseitig so, dass sie
in Konkurrenz zu einander stehen. Nur
eine Bewegung kann „gewinnen“. Welche das ist, kann von der Attraktivität
der Bewegungsziele, von der vorangegangenen Bewegung oder auch vom
Zufall abhängen.
Wenn Babies Bewegungen planen,
kann man den Prozess der Entscheidungsfällung unmittelbar beob-
Neuroinformatik
Ingenieurwissenschaften
NEUROrubin 2003
achten. Dabei hilft ein in den
50er Jahren von Jean Piaget beschriebener und seitdem empiAbb. 4:
risch gut abgesicherter Effekt:
Roboter Cora lässt
Versteckt man ein Spielzeug in
sich bedienerfreundlich
einer abgedeckten Mulde, so
konfigurieren. So kann
können Babies im Alter von 6 bis
z.B. der Ellenbogen des
11 Monaten danach greifen, auch
Roboterarms weggewenn das Spielzeug bei Beweschoben werden, ohne
gungsbeginn unter einem Deckel
dass sich die räumliche
versteckt ist. Sie greifen „aus
Position des Werkzeugs
dem Gedächtnis“. Bringt man ein
an der Spitze des RoboBaby drei oder viermal dazu,
terarms verändert.
nach dem Spielzeug links in einer Mulde zu greifen, und legt es
beim nächsten Mal in eine ähnliche Mulde zur Rechten, dann greift es
erneut zur linken Mulde! Es kann die
„Angewohnheit“, zur linken Mulde zu
greifen, nicht unterdrücken, wenn der
visuelle Stimulus rechts zu schwach ist
(Spielzeug ist verdeckt). Im Entscheidungsprozess ist die gegenseitige
Unterdrückung zu schwach. Eine Vielzahl konvergierender Beobachtungen
führen zu der Vorstellung, dass im Laufe des Entwicklungsprozesses die anfangs sehr starke Abhängigkeit der Bewegung vom direkten sensorischen
Eingang langsam zugunsten interner
Prozesse abgebaut wird. Mit Hilfe neu-
Bewegung zwischen äußeren
und inneren Prozessen
ronaler Felder – getrieben durch sensorische Information und durch Wechselwirkungen – versuchen wir Bewegungsplanung im Nervensystem zu verstehen. Nach diesem Prinzip versuchen
wir unsere Roboter autonom handeln
zu lassen. Bei CORA heißt das, dass
visuelle Information, die vom Roboter
mit dem eigenen Kamerasystem gewonnen wird, mit haptischer Information,
mit Information aus Kraftsensoren und
Gelenkwinkelsensoren und sogar mit
Information aus einem Spracherkennungssystem kombiniert wird, um daraus einen zeitlich kontinuierlichen
Bewegungsplan zu generieren und auch
regelnd auszuführen. Die Fähigkeiten
unseres „Serviceroboters“ sind noch
sehr bescheiden, die Prinzipien bilden
aber vielleicht die Basis für ein wesentliches Stück technischen Fortschritts – gewonnen durch Abgucken
vom Nervensystem.
Dank:
Die Arbeiten wurden gefördert durch die
DFG und das BMBF in Deutschland, NIH und
NSF in den USA, GIS „Cognitique“ in Frankreich, EU in Portugal.
Literatur:
Bastian, A., Riehle, A., Erlhagen, W., Schöner, G.: Prior inform ation preshapes the
population representation of movement direction
in motor cortex. Neuroreports 9:315-319 (1998)
Erlhagen, W., Bastian, A., Jancke, D.,
Riehle, A., Schöner, G.: T he distribution of
neuronal population activation (DPA) as a tool to
study interaction and integration in cortical
representations. Journal of Neuroscience
Methods 94: 53-66 (1999)
Scholz, J.P., Schöner, G., Latash, M.L.,
Identifying the control structure of multijoint
coordination during pistol shooting. Experimental Brain Research 135: 382-404 (2000)
Abb. 5:
Versuchsschema zum Entscheidungsfällen bei sprunghaften
(sakkadischen) Augenbewegungen.
Trotz der Anweisung stets den grünen
Punkt ins Zentrum des Gesichtsfeldes
zu bringen, können die Testpersonen
nicht verhindern, dass sie in etwa der
Hälfte der Fälle die „falsche“ Entscheidung treffen.
Movement generation in organisms
and robots
Organisms are particularly good at
generating movement, the human race
distinguishing itself by being particularly flexible and dexterous. We investigate how nervous systems couple the
many available degrees of freedom to
achieve particlar movement tasks.
Movement generation is based on broad
distribrutions of neural activation evolving continuously in time driven by sensory information and neural interaction.
Theoretical models of this evolution are
used at the Institute for Neuroinformatics to enable robots to autonomously
reach, grasp, and interact with a human
operator.
abstract
26
Naturwissenschaften
Neurobiologie
NEUROrubin 2003
Sehen und Bewegen:
Ein Feuerwerk der Nervenzellen
Neugierig verfolgt
der Rhesusaffe über
eine Computermaus
mit dem roten Punkt
den Zielkreis auf dem
Monitor. Ein wahres
Feuerwerk der Nervenzellen sorgt für die
so einfach erscheinende Auge-Hand-Koordination.
W. Kruse
C. Oreja-Guevara
K.-P. Hoffmann
B
ewegung sehen ist eine grundlegende Fähigkeit unseres Gehirns.
Sie erlaubt Mensch und Tier, bewegte
Objekte in einer Szene zu entdecken,
Beute zu verfolgen und sich in der
Welt zu bewegen. Selbst auf einer unruhig gemusterten Fläche und im
schwachen Licht der Dämmerung sehen
wir eine Fliege – wenn sie sich bewegt.
Bewegte Objekte rufen eine erhöhte
Aufmerksamkeit hervor. Zudem führt
die Bewegung innerhalb einer visuellen Szene unwillkürlich zu einer Mitbewegung beim Betrachter: Er folgt
dem Weg der Fliege mit den Augen und
gegebenenfalls auch mit dem Kopf. Indem sich die Blickrichtung mitbewegt,
bleibt das Objekt im Zentrum des Ge-
Dr. Wolfgang Kruse, Dr. Celia OrejaGuevara, Prof. Dr. Klaus-Peter
Hoffmann, Allgemeine Neurobiologie,
Fakultät für Biologie
27
sichtsfeldes (Fovea). In diesem zentralen Bereich der Netzhaut (Retina) ist
die visuelle Auflösung am höchsten.
Bei der Steuerung von glatten
Augenfolgebewegungen (s. Info, S. 29)
sind zwei Aspekte besonders wichtig:
Die Bewegung des Objektes – seine
Richtung und Geschwindigkeit – muss
möglichst genau erfasst werden und die
Augenmuskeln müssen beim Ansteuern
des Objektes auf dessen Bewegung abgestimmt und kontinuierlich korrigiert
werden. Für solche Anforderungen hat
das Gehirn höher entwickelter Affen
und des Menschen (Primaten) eine
komplexe Aufgabenteilung entwickelt.
So gibt es z.B. in der Großhirnrinde
von Rhesusaffen eine Vielzahl räumlich
getrennter Areale, denen spezielle
funktionelle Eigenschaften zugeordnet
werden können. Bei Primaten sind
Areale bekannt, die spezifisch z. B. auf
farbige Reizmuster oder auf Gesichter
reagieren. Andere Areale antworten
sehr selektiv auf bewegte Stimuli, wie
etwa das sog. mediotemporale Areal
(Area MT) am Scheitellappen ( Parietalkortex, s. Abb. 2). In Area MT haben
Neurone meist eine „Vorzugsrichtung“,
auf die sie besonders kräftig antworten, wenn sich ein Objekt und damit
zugleich dessen Abbild auf der Retina
in diese Richtung bewegt. Weicht die
Objektbewegung von der Vorzugsrichtung ab, wird die Antwort der jeweiligen Neurone schwächer. Aufgrund der
großen Anzahl von Neuronen und der
gleichmäßigen Verteilung der Vorzugsrichtungen im gesamten Areal findet
sich immer eine Vielzahl Neurone, die
auf eine Bewegungsrichtung maximal
antwortet. Die Kodierung der Bewegung des visuellen Reizes erfolgt quasi durch ein Feuerwerk zahlreicher Neuronen – man spricht von einer Populationsantwort.
Aktivität weiterleiten:
auf sehen folgt bewegen
Blickt z.B. ein Rhesusaffe auf einen Bildschirm, auf dem sich ein heller
Punkt bewegt, dann entstehen neuronale Aktivitätsmuster im Areal Area
MT seines Gehirns. Diese Aktivität
kann eine entsprechende Augenfolgebewegung steuern, wenn sie aus Area
MT zu Strukturen im Mittelhirn projiziert wird, die direkten Einfluss auf die
Augenbewegungen haben. Die neuronale Kontrolle der Augenmuskeln in
Neurobiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Abb. 3:
Zeitlicher Verlauf der
Populationsvektoren in
Motorkortex (Aktivität
von 353 Zellen) und visuellem Areal MT (Aktivität von 252 Zellen).
Die Vektoren der
Motorpopulation sagen
die Richtung der Handbewegung voraus (nach
oben). Der visuelle
Populationsvektor gibt
die Richtung der Zielbewegung wieder
(nach oben).
Abb. 2:
Kernspintomografische Aufnahme der Großhirnrinde eines Rhesusaffen mit den für
das Sehen und die Bewegung
wichtigen Bereichen Area MT
und Primärem Motorkortex.
Augenbewegungen:
Schnell oder glatt?
Die Bewegung unserer Augen erfolgt
häufiger als jede andere Bewegung des
Körpers. Wir führen etwa drei Augenbewegungen pro Sekunde aus. Meist ändern wir sprunghaft die Blickrichtung, um
damit ein Objekt aus dem visuellen Umfeld ins Zentrum des Gesichtsfeldes zu
bringen. Diese sog. Sakkaden laufen mit
hoher Geschwindigkeit ab und können von
uns auch bewusst gesteuert werden. Andere Augenbewegungen führen wir nur bei
einem visuellen Reiz aus: Wenn wir z.B.
ein sich bewegendes Objekt kontinuierlich
mit den Augen verfolgen, spicht man von
„glatten“ Augenfolgebewegungen. Zu dieser auf die Geschwindigkeit des Objektes
genau abgestimmten Bewegung der Augen
kommt es nur, solange sich das Objekt
auch in unserem Gesichtsfeld bewegt.
info
diesen Mittelhirnstrukturen ist
unabdingbar für glatte Augenbewegungen.
Aufbauend auf den Erkenntnissen über die neuronale
Kontrolle der Augenbewegungen rückten in den letzten Jahren zunehmend auch die Bewegungen der Hand in den Mittelpunkt unserer Arbeiten. So
können wir der Bewegung der
Fliege über die Wand mit unserer Hand sehr präzise folgen,
um die Fliege zu fangen oder
zu verjagen. Diese Leichtigkeit
deutet auf die hohe Entwicklung unseres Gehirns für solche
Aufgaben hin. Offensichtlich
muss die Kontrolle der Hand
und des Armes direkt auf die
visuelle Information zurückgreifen können.
Bei der Steuerung von Bewegungen der Hand nimmt der
primäre Motorkortex eine zen-
trale Stellung ein. Dieses Gebiet, das
vor der Zentralfurche (Sulcus centralis) an der hinteren Kante des
Frontallappens liegt (Abb. 2), sendet
Signale direkt zum Rückenmark und
kann daher für die Gliedmaßenmotorik
als „Ausgangsstation“ im Großhirn angesehen werden.
Ähnlich wie die Neurone im visuellen Bewegungsareal MT besitzen
auch die Nervenzellen im Motorkortex
eindeutige Vorzugsrichtungen, die sich
hier auf die Bewegung der Hand beziehen: Ein einzelnes Neuron generiert
Aktionspotenziale mit maximaler Rate,
wenn z. B. eine Bewegung der Hand
nach rechts erfolgen soll. Auch in diesem Hirnareal wird wegen der relativen
Unschärfe, mit der einzelne Neurone
bei einer Bewegung der Hand die
Richtung kodieren, immer eine Vielzahl
Vor jeder Handbewegung
sind eine Vielzahl Zellen aktiv
zahl von Neuronen aktiv. Es wird angenommen, dass die hohe Präzision,
mit der zielgerichtete Bewegungen der
Hand ausgeführt werden können, auf
der simultanen Aktivität einer größeren
Neuronenpopulation beruht. Jeder zielgerichteten Handbewegung geht nicht
nur die Aktivität einiger weniger Zellen voraus, sondern wiederum ein wahres Feuerwerk der kortikalen Zellen,
die die jeweilige Richtung bevorzugen.
28
Neurobiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Modelle der kortikalen Steuerung von
Handbewegungen gehen auch von einer
Populationskodierung aus, die der tatsächlichen Bewegung zeitlich vorausgeht.
Hirnzellen
haben Vorzugsrichtung
Die Ähnlichkeit der Richtungskodierung im primären Motorkortex und
im visuellen Bewegungsareal MT
macht es besonders interessant, die Aktivität in beiden Arealen direkt zu vergleichen: Wir wählten dafür ein Verhaltensexperiment mit Rhesusaffen, bei
dem beide Areale funktionell von Bedeutung sind. Diese Tiere sind aufgrund ihrer Neugier und ihres manuellen Geschicks in der Lage, auch relativ
Abb. 4:
Einfluss von Ziel- und
Handbewegung auf die motorische und visuelle
Populationsaktivität. Die
visuellen Daten (B) hängen
vor allem von der Bewegung des Ziels ab und werden nur wenig von der
Handbewegung beeinflusst.
Im Unterschied dazu zeigt
der motorische Vektor (A)
eine Abhängigkeit von der
Bewegung der Hand und
des Ziels (Krümmung der
Ergebnisfläche entlang
beider Achsen).
29
komplexe Aufgaben zu erlernen. Wir
trainierten die Affen, eine „Computermaus“ mit der Hand zu bedienen und
damit den Cursor auf dem Bildschirm
zu einem bestimmten Zielpunkt zu bewegen. Eine weitere Aufgabe bestand
darin, einen auf dem Bildschirm bewegten Zielpunkt möglichst genau mit dem
Cursor zu verfolgen. Auf diese Weise
führten die Tiere zeitlich und räumlich
definierte Bewegungsmuster aus, die
sich an einem bewegten Stimulus orientierten.
Die in Area MT und im primären
Motorkortex aufgezeichnete Aktivität
vieler Neurone fassten wir dann zu einer gemeinsamen Antwort zusammen.
Wir nutzten dabei aus, dass der Mehrzahl der Zellen beider Areale eine eindeutige Vorzugsrichtungen zugewiesen
werden kann. Damit ist die Berechnung
eines „Populationsvektors“ möglich,
der die Aktivität vieler Neurone als ein
gemeinsames Richtungssignal wiedergibt. Dieses gemittelte Richtungssignal
ist in Abb. 3 in seinem Zeitverlauf dargestellt: Man erkennt, mit welcher Präzision in beiden Arealen die Bewegungsrichtung von Hand und Ziel kodiert wird, sofern die Aktivität von
mehreren hundert Zellen gemeinsam
interpretiert wird. Offensichtlich sind
beide Gebiete der Hirnrinde während
dieser Aufgabe gleichzeitig aktiv.
Durch weitere Analyseschritte wird
der Zeitversatz zwischen der Aktivität
beider Gebiete erkennbar, genauer bestimmt und schließlich der Einfluss
von Hand- und Reizbewegung auf die
Aktivität in beiden Arealen vergleichbar. Die Ergebnisse deuten darauf hin,
dass die neuronale Aktivität im Motorkortex sowohl durch die Bewegung der Hand als auch durch
die Bewegung des Ziels
beeinflusst wird (Abb. 4). Dagegen bleibt Area MT unabhängig von der Handbewegung
des Tieres und bestätigt damit
seine Rolle als vornehmlich
visuelles Areal. Es unterscheidet sich von anderen Arealen
im Parietallappen, die als
multimodale Integeationsareale angesehen werden und für
die bereits ein Einfluss von
Handbewegungen auf die sensorische Verarbeitung beschrieben wurde.
Gerade bei der im Tierexperiment untersuchten Folgebewegung der Hand scheint
die Aktivität in Area MT unabdingbar für die visuell gesteuerten Folgebewegungen zu
sein. Wir haben diese Ergebnisse beim Menschen mit Hilfe der funktionellen Kernspintomografie überprüft, da wir
auch hier eine gemeinsame
Aktivierung von Area MT und
primärem Motorkortex erwarten. Die Messungen im Kernspintomographen bieten den
Vorteil, dass die Aktivitäts-
Naturwissenschaften
Neurobiologie
NEUROrubin 2003
Abb. 5:
Experiment im Kernspintomografen:
Testpersonen steuerm während der
Kernspinmessung mit einem modifizierten Joystick (A) einen „feedbackcursor“ auf einem Bildschirm (B) und
verfolgen damit ein bewegtes Ziel.
änderungen im gesamten Gehirn gleichzeitig bestimmt werden können. Das
funktionelle Kernspinsignal weist indirekt – basierend auf Veränderungen im
Sauerstoffgehalt des Blutes – auf die
neuronale Aktivität bei der Verhaltensaufgabe hin.
Mit einem für das starke Magnetfeld eines klinischen Kernspintomographen modifizierten Joystick (s. Abb.
5) konnten die Versuchspersonen einen
Cursor steuern und damit ebenfalls einem bewegten Zielpunkt folgen. Zu-
sätzlich mussten sie eine zuvor von ihnen ausgeführte Cursorbewegung passiv betrachten. Mit diesen „replay“-Bedingungen war es möglich, identische
visuelle Eindrücke zu erzeugen, die
sich allein darin unterscheiden, ob die
Versuchsperson die Bewegung des Cursors aktiv steuert oder nur passiv betrachtet. Die Unterschiede im Kernspinsignal (Abb. 6) weisen auf die besondere Bedeutung von Area MT für
die visuelle Information zur aktiven
Steuerung von Handbewegungen hin.
igkeit, während die Kernspinmessung
am Menschen einen vorerst nur groben
Blick auf das Ganze erlaubt. Wir rechnen aber damit, dass durch die Fusion
beider Methoden unser Wissen über die
Hirnfunktionen zunehmen wird und
sich neurologische Störungen, wie sie
nach Hirnverletzungen oder bei der
Parkinson-Erkrankung vorliegen, zukünftig besser diagnostizieren und
langfristig auch behandeln lassen werden.
Motion processing during visually
guided actions
Abb. 6:
Die funktionellen Kernspin-Aufnahmen zeigen die Gebiete erhöhter Aktivität bei der in Abb. 5 beschriebenen
Verhaltensaufgabe. Der Frontalschnitt
(links) zeigt deutliche Aktivität im
primären Motorkortex (M1). Im weiter
hinten gelegenen Frontalschnitt
(rechts) ist eine Aktivitätszunahme im
Parietalkortex (PK) und in
Area MT sichtbar.
Die Forschung in den Neurowissenschaften stößt zunehmend in Bereiche vor, die interdisziplinäre Ansätze
erfordern, um aktuelle Fragen umfassend beantworten zu können. Dies
zeigt auch die Übereinstimmung unserer Ergebnisse aus der tierexperimentellen Elektrophysiologie und den
funktionellen Kernspinmessungen. Dabei liefert die Elektrophysiologie die
höhere räumliche und zeitliche Genau-
Processing of movement in our
world is an essential capability of our
visual system - and is fundamental for
visually guided actions. In humans and
non-human primates, cortical area MT
is devoted to the processing of moving
stimuli. To elucidate the interplay of
visual area MT and motor cortex, we
designed a behavioural task where
stimuli on a computer screen had to be
pursued by means of a manually
controlled feedback cursor. Population
analysis of the cell activity in the
monkey as well as results from fMRI
with human subjects underline the
importance of area MT for the motion
processing needed during visually
guided action.
abstract
30
Neuroinformatik
Ingenieurwissenschaften
NEUROrubin 2003
Neuronales Modell des Objektsehens:
Schnelle Links für scharfe Bilder
Chr. von der Malsburg
Abb. 1
O
Mit jedem Augenschlag und jeder Bewegung unseres
Gegenübers verändert sich blitzschnell das Bild, das
wir sehen. Auf einen Schirm an die Wand projiziert,
würde uns dieses bewegte Netzhautbild nur schwindelig machen. Doch unser „inneres Auge“ scheint auf
eine andere „Leinwand“ zu blicken.
bjekte mit den Augen zu erfassen, ist
uns so natürlich, dass
uns kaum klar wird, wie
komplex dieser Vorgang
ist. Das Bild, das von einem Objekt auf unserem Augenhintergrund entworfen wird, variiert mit jeder Augenbewegung und jeder Lageveränderung (Abb 1). Und doch sehen
wir ein stabiles Bild des betrachteten
Objektes – aufgebaut aus aktueller visueller Information und dem Gedächtnis. Wie macht das unser Sehsystem?
Wir haben ein Modell für diesen
Vorgang entworfen und über viele Jahre verfeinert: “Dynamic Link Matching“ (DLM). Dieses Objekterkennungsmodell (Info, S. 33) ist von vorn-
Prof. Dr. Christoph von der Malsburg,
Institut für Neuroinformatik
31
herein darauf angelegt, in natürlichen,
nicht manipulierten und vereinfachten
Umgebungen zu funktionieren und
kann inzwischen als sehr erfolgreich
angesehen werden. Seine Stärken hat
es vor allem bei der Gesichtserkennung
unter Beweis gestellt und dort mehrfach die internationale Konkurrenz geschlagen. Seit einigen Jahren wird
DLM industriell eingesetzt, insbesondere für die Gesichtserkennung in der
ursprünglich als An-Institut der RuhrUniversität gegründeten Firma ZN.
“Dynamic Link Matching“ ist als
biologisches Modell konzipiert und
orientiert sich soweit wie möglich an
den Neurowissenschaften. Doch mitunter ergeben sich gerade dann neue,
interessante Sichtweisen,
wenn sich dieser Rahmen als zu eng erweist.
Das Modell besteht
aus einer „Bilddomäne“,
einer “Modelldomäne“
und einem System von „dynamischen
Links“. Die Bilddomäne entspricht der
primären visuellen Hirnrinde im hinteren Bereich des Gehirns, in der sich
das schnell variable Bild des Augenhintergrunds widerspiegelt. Die Modelldomäne befindet sich vermutlich im
Schläfenlappen oder seitlichen Scheitellappen des Gehirns. Dort baut sich
das hypothetische stabile Bild auf. Die
dynamischen Links werden von einem
System neuronaler Fasern gebildet, die
auf schneller Zeitebene schalten.
Wie wir aus der Neurophysiologie
wissen, ist eine Hirnrindenzelle im
Bildbereich durch die periphere Sehbahn mit einem kleinen Bereich (dem
,,rezeptiven Feld“) der Netzhaut ver-
Neuroinformatik
Ingenieurwissenschaften
NEUROrubin 2003
bunden und empfängt von dort Signale.
Sie ,,schaut“ so quasi wie durch ein
größeres oder kleineres Schlüsselloch
auf die Umwelt. Durch dieses – ihr
spezielles – Guckloch hält jede Zelle
nach einem bestimmten Merkmal Ausschau. Das tut sie, indem sie ein ent-
pfindlichkeitsverteilungen der Zellen
bekannt sind, lässt sich aus den Signalen eines solchen Merkmalspaketes ein
kleiner Teil des Bildes rekonstruieren.
Das gesamte Bild eines Objektes wird
durch ein Feld von Merkmalspaketen
in der Bilddomäne dargestellt.
durch Augenbewegung zentrieren, so
gibt es in der Modelldomäne ein ähnliches ,,Fenster“, in dem jeweils ein
Objektfeld aktiviert werden kann (s.
Info 2).
Wenn ein Objektbild irgendwo im
Bereich des schärfsten Sehens des Au-
tuellen visuellen Daten der Bilddomäne und aus im Gedächtnis gespeicherten Daten der Modelldomäne das
von uns wahrgenommene stabile Bild
des betrachteten Objektes auf. Zwischen den Domänen und dem Fenster
werden durch einen schnellen Organisationsprozess geordnete Punkt-zuPunkt-Verbindungen aufgebaut (dynamische Links, s. Doppelpfeile). Mit jeder Augenbewegung und jeder Aufmerksamkeitsverschiebung geschieht dies
neu: durchgezogene und gestrichelte
Linien stellen zwei verschiedene „Augenblicke“ dar. Die Links zwischen
der Bilddomäne und dem Modellfenster handhaben alle Änderungen in
Position, Orientierung und Größe des
vom Auge entworfenen Bildes. Die
Links zur Modelldomäne und innerhalb dieser regeln modellabhängige
Veränderungen wie Objektform, Pose
und Beleuchtung.
Das Modell
Die Bilddomäne besteht aus der
primären visuellen Hirnrinde und der
peripheren Sehbahn*, durch die ein
Sinnesreiz aus der Umgebung in das
Gehirn gelangt. Die Modelldomäne
entspricht Bereichen des Schläfenoder Scheitellappens des Gehirns und
enthält eine große Zahl von Objektmodellen.
Zwischen beiden Domänen vermittelt das Modellfenster („inneres
Auge“). Hier baut das System aus ak-
* Im Bild symbolisiert die Linse die gesamte Sehbahn (Auge, optischer Nerv etc.).
info
sprechendes Empfindlichkeitsprofil
mit dem aktuellen Bild vergleicht und
dann je nach Ähnlichkeit stärker oder
schwächer antwortet (Info 2). Alle Zellen, deren rezeptive Felder an derselben Stelle der Netzhaut zentriert sind,
werden durch einen „dynamischen Bindungsmechanismus“ zu einem Paket
zusammengefasst, so wie sich Atome
zu Molekülen verbinden. Wenn die Em-
Auch die Modelldomäne besteht
aus Merkmalspaketen, die ein eigenes
Feld für jedes gespeicherte Objekt bilden. Dabei können einzelne Pakete
oder ganze Teilfelder auch für verschiedene Objekte wiederverwendet
werden. So wie im Augenhintergrund
das zentrale Gebiet eine herausragende
Rolle spielt, indem wir dort das Bild
des gerade interessierenden Objektes
ges (Fovea) auftaucht, ist es die Aufgabe der dynamischen Links, in einem
raschen Prozess – buchstäblich im Augenblick – ein glattes Feld von Punktzu-Punkt-Verbindungen zwischen der
Bild- und der Modelldomäne aufzubauen. Dabei müssen korrespondierende
Punkte in Bild und Modell miteinander
verbunden werden (s. Info 2). Sobald
eine solche Abbildung installiert ist,
32
Neuroinformatik
Ingenieurwissenschaften
NEUROrubin 2003
wird die augenblickliche Gesamtähnlichkeit zwischen allen Paaren von
Merkmalspaketen in den verbundenen
Bild- und Modellpunkten ausgewertet.
Die Ähnlichkeit verbessert sich, indem
die Abbildung kontinuierlich in Position, Größe und Orientierung angepasst
wird.
Gleichzeitig wird auch das im Modellfenster dargestellte Objektmodell
auf Ähnlichkeit optimiert. In unserem
Gehirn ist dieser Vorgang äußerst
schnell, wir erkennen grobe Objektklassen wie „Auto“, „Haus“ oder „Gorilla“ in weniger als einer Zehntelsekunde. Wahrscheinlich wird in unserem
Gehirn ein schnelles Index-System ver-
wendet, das die Objektklassen kategorisiert und ein entsprechendes Bild in
das Modellfenster projiziert. Dieses
Bild wird dann auf größte Ähnlichkeit
mit dem projizierten Bildbereich optimiert und kann allen Objektbewegungen kontinuierlich nachgeführt werden.
Das aus aktuellen Bild- und gespeicherten Modelldaten konstruierte Bild
im Modellfenster vermittelt uns den
stabilen, von Augenbewegungen unbeeinflussten Eindruck von den Objekten. Unser „inneres Auge“ blickt auf
das stabile Bild im Modellfenster.
Im Rechner haben wir einen Prozess der Objekterkennung in dieser Art
realisiert und hauptsächlich auf das
Problem der Gesichtserkennung angewendet – mit großem Erfolg, soweit es
33
um den Vergleich von statischen Bildern im Bild- und Modellbereich geht
(Abb. 2). Wir wollen nun die Fähigkeit
des natürlichen Sehsystems nachbilden, visuelle Erfahrung direkt aus der
natürlichen Umwelt aufzunehmen. Sobald das gelingt, wird unser System
selbständig aus Bildern lernen und aus
vielen Tausenden von Einzelbildern ein
plastisches Modell des menschlichen
Gesichts aufbauen. Es wird sich nach
Gesichtsform, Pose, Ausdruck und Beleuchtung an beliebige Eingangsbilder
anpassen und diese damit genau wiedergeben und erkennen können. Wir
hoffen, dieses Ziel in ein oder zwei
Jahren zu erreichen.
Obwohl unser Modell der Objekterkennung weiter verbessert wird, ergibt
sich daraus für die Neurowissenschaften schon heute eine Fülle von
Konsequenzen und experimentellen Voraussagen. Der wahrscheinlich wichtigste Punkt ist die im Rechner experimentell nachgewiesene Fähigkeit des
Modells, ganz verschiedene Objekte zu
erkennen. Nicht viele Konzepte lassen
sich so experimentell bestätigen. Seit
entsprechende Rechner-Kapazitäten
zur Verfügung stehen, sind Rechnerexperimente eine scharfe Waffe gegen
oberflächlich überzeugende, aber funktionell nicht „lebensfähige“ Ideen.
Wenn wir das Modell für den biologischen Prozess der Objekterkennung
ernst nehmen, dann ergeben sich dar-
aus eine ganze Reihe von experimentellen Voraussagen. Dies betrifft zum Beispiel den Schwierigkeitsgrad von Erkennungsaufgaben: Nach Experimenten, bei denen Testpersonen Gesichter
auf Fotos wiedererkennen sollten,
konnte unser amerikanischer Kollege
Irv Biederman zeigen, dass das von uns
entwickelte System diese menschliche
Fähigkeit richtig wiedergibt. Ohne jede
Anpassung des Modells an die experimentelle Situation kann es den Schwierigkeitsgrad bei der Erkennung von
Gesichtern durch Menschen auch bei
wechselnder Pose oder verändertem
Gesichtsausdruck richtig wiedergeben.
Dies ist noch mit keinem anderen Mo-
Abb. 2:
Vom Bild zur Bilddomäne:
Jede Zelle der Sehrinde (Bilddomäne,
links) gleicht den Bildauschnitt ihres
rezeptiven Feldes mit ihrem Empfindlichkeitsprofil (Merkmalstyp) ab. In
der folgenden Spalte sind zwei Merkmalstypen dargestellt. Sie unterscheiden sich nach Größe und Orientierung. Rechts davon schließen sich die
Antworten ganzer Felder von Zellen
des jeweils links gezeigten Typs an.
Die dritte Spalte zeigt die Antworten
sog. komplexer Zellen, die das Signal
glätten. Ihre Aktivität stellt Bereiche
im Bild dar, in denen jeweils eine
Kantenorientierung auf einer bestimmten Auflösungsstufe vorherrscht.
Die Bilddomäne ist quasi ein Stapel
vieler solcher Felder eines Zelltyps.
dell gelungen und stützt seine direkte
biologische Relevanz.
Nur wenn es um das Erkennen von
vertrauten Gesichtern geht, bleibt das
Modell in der gegenwärtigen Form
deutlich hinter den menschlichen Fähigkeiten zurück, weil unser visuelles
System vertraute Personen in allen Variationen von Gesichtsform- und Ausdruck, Pose oder Beleuchtung kennt.
Wir hoffen, diese Defizite durch Lernen beseitigen zu können, indem auch
das künstliche System viele Bilder
Neuroinformatik
Ingenieurwissenschaften
NEUROrubin 2003
„sammelt“. Schließlich erreicht selbst
der Mensch erst weit nach seinem
zehnten Lebensjahr die Kompetenz eines Erwachsenen, Objekte zu erkennen.
Objekte auch dann zu erkennen,
wenn sich ein Bild ständig verändert,
ist ein zentraler Vorgang in unserem
Verhältnis zur Umwelt. Es ist ein Beispiel für die fundamentale Fähigkeit
unseres Gehirns, die strukturelle Verwandtschaft zwischen mentalen Objekten zu erkennen: selbst bis hin zu Analogien zwischen zwei Geschichten.
Dies alles ist nicht denkbar ohne einen
dynamischen Bindungsmechanismus
zur Konstruktion strukturierter Objekte (Modelldomäne) und ohne dynami-
als zwei Jahrzehnten vorgeschlagen.
Erst mit großer zeitlicher Verzögerung
setzte eine weltweite Kontroverse ein.
Inzwischen stützen experimentelle Daten aus einer Reihe von Labors die
Existenz und funktionelle Bedeutung
dieses Mechanismus. Dynamische
Links lassen sich im Gehirn einfach
realisieren, indem Synapsen durch
Signalkorrelationen schnell und reversibel zwischen einem leitenden und einem nichtleitenden Zustand schalten
(Abb. 3). Experimentell überprüft wurde das bis heute nicht, obgleich dies
möglich wäre. Doch die Hinweise in
der Literatur mehren sich, dass sich
Hirnzustände vermutlich nicht allein
Abb. 4.:
Gesichtserkennung
Für das Gesicht oben hat das System
das Modell unten der Modelldomäne
gefunden. Die Gitterpunkte (s. oben)
sind mit den entsprechenden Gitterpunkten (s. unten) durch dynamische
Links verbunden.
sche Links zur Darstellung struktureller Beziehungen zwischen Bild und
Modell. Das neuronale Standardmodell
beschreibt dagegen ein starres Verbindungsmuster, hier können sich Neuronen nicht situationsabhängig gruppieren und verbinden. Unser Modell
macht hier weitreichende experimentelle Voraussagen.
Dass der grundsätzliche dynamische Bindungsmechanismus unseres
Gehirns darin bestehen könnte, dass
Neuronen Signale miteinander synchronisieren, haben wir bereits vor mehr
über die Zellaktivität erfassen lassen:
Zum Beispiel verändern Synapsen ihr
Gewicht ständig und sehr schnell.
Der enorme funktionelle Vorteil
unseres Modells liegt in seiner Fähigkeit zur Innovation, zur Erzeugung von
Bindungen und Links, wo immer sie
die Situation erfordert. Der Nachteil ist
ihr großer Zeitbedarf, da Signalkorrelationen in der Zeit erzeugt und ausgewertet werden müssen. Wir vermuten
daher, dass das Gehirn Bindungen und
Links, die einmal als wichtig erkannt
wurden, durch geeignete Verschaltungen der Neuronen so realisiert, dass
sie sehr viel schneller aktiviert werden
können. Unabhängig von der Art der
neuronalen Realisierung eröffnet die
Hypothese dynamischer Bindungen
und Links eine völlig neue, weitreichende Perspektive auf das Gehirn und
seine Darstellung der Wirklichkeit.
Abb. 3:
Signalkorrelation durch schnell schaltende Synapsen: Die Signale dreier
Zellen sind schematisch dargestellt,
jeder senkrechte Strich entspricht einem Nervenimpuls. Die Zellen a und b
sind zeitlich miteinander korreliert,
d.h., sie feuern mit großer Wahrscheinlichkeit gleichzeitig – ein Ausdruck dafür, dass sie miteinander
,,verbunden“ sind. Nach der Hypothese schneller synaptischer Plastizität wird diese synaptische Verbindung
in einigen tausendstel Sekunden verstärkt (Pluszeichen). Die Zellen b
und c sind zeitlich nicht korreliert –
ihre synaptische Verbindung ist momentan abgeschaltet (Minuszeichen).
Nach der Hypothese werden auf diese
Weise dynamische Links im Gehirn
realisiert.
A neuronal model of object vision
Apparently effortlessly, our visual
system creates stable perception from
rapidly varying retinal images. We
have developed a computer model for
comparing those images with memorized ones, which is also commercially
successful as a face recognition device. It is based on „Dynamic Link
Matching“, a dynamical binding mechanism, which can assemble the
activities of single neurons into structured groups using temporal synchronisation. Some physiological basis
for such a mechanism has been
demonstrated experimentally but the
implications are still controversial.
abstract
34
Neuroanatomie
Medizin
NEUROrubin 2003
„Aschenputtel“ unter den
Zellkontakten: Elektrische Synapse
Abb. 1
R. Dermietzel
C. Meier
G. Zoidl
D
as weitverbreitete Verständnis des
Übertragungsmechanismus von
elektrischen Impulsen in Nervenzellen
schließt chemische Botenstoffe ein, die
an bestimmten Kontakten (Synapsen)
abgegeben werden. Diese sog. Neurotransmitter vermitteln das Signal an
nachgeschaltete Nervenzellen weiter.
Heute weiß man, dass zahlreiche solcher Botenstoffe existieren und für
fundamentale Prozesse der Signalverarbeitung im Nervensystem verantwortlich sind. Eine ganze Reihe von Erkrankungen des zentralen Nervensystems beruhen auf dem Verlust eines bestimmten Botenstoffes, z. B. des Dopamins bei der Parkinson-Erkrankung.
Die meisten Neuropharmaka wie Beruhigungsmittel und Antidepressiva greifen in den Stoffwechsel der Neurotransmitter ein, indem sie Veränderun-
Prof. Dr. Rolf Dermietzel, Dr. Carola
Meier, Dr. Georg Zoidl, Institut für Anatomie, Neuroanatomie und Molekulare
Hirnforschung, Medizinische Fakultät
35
gen des Erregungszustandes in ganz
bestimmten Hirnregionen dämpfen oder
stimulieren. Die Möglichkeit in den
Haushalt der Botenstoffe einzugreifen
und über Störungen ihres Stoffwechsels neurologische und psychiatrische
Erkrankungen erklären zu können, hat
chemische Synapsen zu einem Schwerpunkt neurowissenschaftlicher Forschung werden lassen.
Erst in jüngster Zeit wird deutlich,
dass alternativ zu den chemischen
Synapsen Membrankontakte im Nervensystem existieren, die keine Botenstoffe benutzen, und an denen elektrische Impulse direkt übertragen werden:
Der grundlegende physikalische Vorgang der Signalvermittlung zwischen
Neuronen – die Änderung der Spannung an der Nervenzellmembran und
der daraus resultierende Stromfluss an
den Synapsen – kommt hier ohne die
Helfershelfer Neurotransmitter aus (s.
Abb. 1 u. 2). Erst in den letzten Jahren
hat sich die elektrische Synapse als
ebenbürtiger Partner der chemischen
Synapse erwiesen. Sie ist für bestimmte elementare Verarbeitungsmechanismen im zentralen Nervensystem sogar
von erheblicher Bedeutung.
Ein wesentlicher Vorteil elektrischer Synapsen, auch Gap Junctions
genannt, ist die hohe Geschwindigkeit
ihrer direkten Erregungsübertragungen.
Viel zu lange unterschätzt
rücken sie jetzt in den Blickpunkt der Forscher: Elektrische Synapsen leiten Signale
blitzschnell durch die Nervenbahn und spielen damit eine
wichtige Rolle bei einigen natürlichen und krankhaften
Prozessen im Gehirn.
Abb. 2:
Elektrische Synapsen (grüne Plaques)
in den Zellwänden verbinden Zellen
miteinander. Die vereinfachte Darstellung berücksichtigt Strukturen des
Zellkerns und des Zytoskeletts.
Abb 1 (oben):
Ansammlung von Einzelkanälen
(grün) in einem sog. Gap JunctionPlaque.
Medizin
Neuroanatomie
NEUROrubin 2003
Dagegen führen bei der chemischen
Synapse (s. Abb. 3) Signalabgabe, Diffusion durch den Spalt, der die beiden
Nervenzellen trennt, sowie die Reaktionen an der Membran der nachfolgenden Nervenzelle, die den Impuls
weiterleitet, zu einer Verzögerung von
bis zu 0,5 Millisekunden. Das entspricht der Dauer eines Wimpernschlages und ist für die Dimensionen
der Physik und Physiologie eine erhebliche Zeitspanne.
Elektrische Synapsen, die den
Strom direkt von Zelle zu Zelle weiterleiten, wurden zuerst bei Nervenzellen
von Fischen gefunden, wo sie z.B.
Fluchtreflexe vermitteln. Sie setzen außerordentlich schnelle Verhaltensmuster in Gang, die für das Überleben
Zahl Strukturen,
die den elektrischen Synapsen
entsprechen. Sie
verbinden
das
Gliagewebe wie
ein Netzwerk zu
einem funktionellen Synzytium
(Abb. 4).
Herzmuskelzellen
sind
ebenfalls
durch solche Kontakte miteinander
gekoppelt. Sie leiten elektrische Impulse weiter, die zur Kontraktion der
Muskulatur führen. Eine Blockade dieser Strukturen würde sofort zum Herzstillstand führen. Elektrische Synapsen
Abb. 3:
Die chemischen Synapse:
Die in der Präsynapse ausgeschütteten Neurotransmitter (blau) werden in den
synaptischen Spalt abgegeben und auf der postsynaptischen Seite (grün)
aufgenommen.
wichtig sind. Der Aufbau der elektrischen Synapsen unterscheidet sich erheblich von dem der chemischen Synapsen. Die elektrische Synapse besteht
aus kleinen durch Eiweißmoleküle gebildeten Kanälen (s. Abb. 1 u. 2). Diese Kanäle verbinden die beiden aneinander grenzenden Zellen, indem sie die
Zellmembranen durchdringen und den
Zwischenzellraum überbrücken. Damit
wird ein direkter Stromfluss zwischen
Nervenzellen möglich.
Auch zwischen den Stützzellen
(Gliazellen) befinden sich in großer
bzw. Gap Junctions lassen sich nachweisen und exakt lokalisieren, seitdem
man die Eiweiße, aus denen die Kanäle aufgebaut sind, identifizieren und
dagegen Antikörper produzieren konnte (s. Abb. 5).
Wir sind mehr als zwanzig Jahre
auch der Frage nachgegangen, wie groß
die Zahl elektrischer Synapsen im Gehirn von Wirbeltieren ist, und an welchen Stellen sie anzutreffen sind. Erstaunlicherweise sind sie im Gehirn
von Nagern, die man als Labortiere
nutzt, viel häufiger vorhanden, als ur-
Abb. 4:
Kultur von Gliazellen.
Die zahlreichen Gap
Junctions zwischen
den Zellen sind rot gefärbt. Die Kerne sind
mit einem Kernfarbstoff blau dargestellt.
sprünglich vermutet. Sie treten an Neuronen zwar nicht so zahlreich auf wie
die chemischen Synapsen, sind dafür
aber in bestimmten Nervenzellansammlungen mit spezifischen Funktionen
konzentriert. Man trifft
sie hauptsächlich dort
an, wo eine schnelle Erregungsleitung benötigt
wird, weil die Aktivität
von Nervenzellgruppen
synchronisiert werden
soll. So gibt es in der
Hirnrinde ein System
von Nervenzellen, das
seine Aktivität offenbar
über elektrische Synapsen synchronisieren
kann, und das diesen
Rhythmus an übergeordnete neuronale Netzwerke weiterleitet.
Seit langem ist bekannt, dass sich von der
Hirnrinde rhythmische
Aktivitäten
ableiten
lassen, die man als Oszillationen bezeichnet. Für die Entstehung dieser in
ihrer Frequenz zum Teil variierenden
Oszillationen werden unterschiedliche
Mechanismen verantwortlich gemacht.
Neueste Untersuchungen zeigen jedoch, dass offenbar für das Entstehen
von Oszillationen in der Hirnrinde
elektrische Synapsen mitverantwortlich
sind. Sie synchronisieren jene Nervenzellen miteinander, die einen hemmenden Einfluss auf übergeordnete Neuronen ausüben. In diesen übergeordneten
aus sog. Pyramidenzellen bestehenden
36
Neuroanatomie
Medizin
NEUROrubin 2003
Netzwerken vermutet man die Speicherorte für Erinnerungen sowie Regionen, in denen Wahrnehmungen verarbeitet und motorische Funktionen initiiert werden. Die hemmenden Nervenzellen können offenbar eintreffende Erregungen filtern, sie aufgrund ihrer
Kopplung durch elektrische Synapsen
in schnelle rhythmische Entladungen
umwandeln und diese Rhythmen über
größere Distanzen an die übergeordneten Neurone weiterleiten.
Dies ist vergleichbar einem Harmonium, das über die rhythmische Bedienung von Blasebälgen unterschiedliche
Abb. 5:
Gliazellen mit einer grün gefärbten
elektrischen Synapse (Gap Junction). Zu erkennen sind außerdem
Zellkerne (blau) und Strukturen des
Zellskeletts (rot) der Gliazellen.
(Immunfluoreszenz nach Markierung
mit einem spezifischen Antikörper)
Pfeifen ansteuert, die in ihrem Zusammenspiel einen Akkord und aus der
Reihung von Akkorden Musik entstehen lassen. Die rhythmische Zufuhr
von Luft ermöglicht es, über die gesamte Tastatur die spezifischen Pfeifen-
Komplexer Sinneseindruck
formt sich wie eine Melodie
töne zu bedienen. Wenn man das Bild
des Harmoniums auf das Gehirn überträgt, so können über die schnelle Ausbreitung von rhythmischen Erregungen
durch elektrische Synapsen fast gleichzeitig über die gesamte Tastatur des
Gehirns Regionen mit unterschiedlichen Funktionen (Akkorden) angesteuert werden. Daraus formt sich dann wie
eine Melodie oder ein ganzes sympho-
37
Elektrische Synapsen:
Gezielt blockieren – Hirnschäden begrenzen
Elektrische Synapsen (Gap Junctions) treten im zentralen Nervensystem zwischen Nervenzellen und zwischen den ihnen funktionell zugeordneten Gliazellen auf und bilden jeweils ein funktionelles Netzwerk. Sie können elektrische
Impulse zwischen Nervenzellen sehr schnell ohne Botenstoffe weiterleiten.
Ihre Struktur ist auf den ersten Blick sehr einfach: Zwei Halbkanäle, die aus
sechs Proteinen, den Connexinen, aufgebaut sind, paaren sich spiegelbildlich
miteinander und verbinden so zwei aneinander grenzende Zellen. Durch diese
Kanäle tauschen die Zellen Ionen und Stoffwechselprodukte aus. Doch die simple molekulare Architektur entpuppt sich als ein raffiniertes System von Membrankanälen, das den chemischen Synapsen in seiner Leistung nicht nachsteht.
Wir konnten zeigen, dass die im Hirngewebe auftretenden elektrischen Synapsen aus unterschiedlichen Proteinen einer Proteinklasse (Isoformen) der Connexine bestehen (s. Abb. 7). Daraus ergeben sich für einzelne Nervenzellgruppen sowie Gliazellen ganz bestimmte Muster ihrer Kanalproteine.
Den Gap Junction-Kanälen lassen sich je nach Connexintyp verschiedene
Funktionen zuordnen: Die Kanäle sind selektiv bezüglich der Ladung und der
Größe der sie passierenden Substanzen. Auch der pH-Wert im Gewebe und das
elektrische Potential über den Zellmembranen wirken sich unterschiedlich auf
die Kinetik des Öffnens und Schließens der Kanäle aus. Von über 20 Gap Junction-Proteinen haben wir allein zehn im zentralen Nervensystem gefunden. Diese molekulare Variabilität deutet darauf hin, dass Gap Junctions viele verschiedene Funktionen erfüllen.
Kanal blockiert: Ein die elektrische Synapse hemmendes Peptid schützt bei
Schlaganfall. Grün markiert (links) sind sterbende Neurone in einer spezifischen Hirnregion von Mäusen 45 min nach dem Sauerstoffmangel. Das Peptid
schützt die Nervenzellen (rechts): Nur noch wenige Zellen sind grün markiert.
Vor fast fünfzehn Jahren haben wir beobachtet, dass unterschiedliche Kanalproteine während der Gehirnentwicklung auftreten und schon damals deren Einfluss auf Differenzierungsprozesse vermutet. Mit modernen Genanalyseverfahren (DNA-Microarray Technologie) konnten wir dies nun bestätigen. Gap
Junctions scheinen auch krankhafte Prozesse im zentralen Nervensystem massiv zu beeinflussen. Dies gilt nicht nur für Änderungen der neuronalen Erregbarkeit wie die Epilepsie, sondern auch für durch entzündliche Prozesse oder
Hirninfarkt zerstörtes Nervengewebe. Elektrische Synapsen beeinflussen hier
offenbar massiv das Ausmaß der Schädigung in glialen Zellen. Wir versuchen
nun, Gap Junctions im Nervensystem spezifisch zu blockieren, um durch ein
zeitweises Ausschalten dieser Kontakte die Infarktgröße bei Schlaganfall zu reduzieren. In jüngsten Untersuchungen ist es uns gelungen, mit bestimmten
blockierenden Substanzen Nervengewebe zu schützen (s. Abb. im Info) und den
neuronalen Zelltod nach einem Infarkt einzuschränken.
info
Medizin
Neuroanatomie
NEUROrubin 2003
tischer Anfälle oder bei der Größenausdehnung eines Schlaganfalles beteiligt
sind. Da epileptische Anfälle immer
durch ein hohes Maß an synchroner
Aktivität von Nervenzellen gekennzeichnet sind, deren Entladungen sich
über weite Hirnareale ausbreiten, ist es
naheliegend, dass die schnell leitenden
elektrischen Synapsen hierbei eine
Rolle spielen. Wir entwickeln und prüfen zur Zeit Substanzen, die eine Weiterleitung von elektrischen Impulsen an
diesen Synapsen hemmen. Derartige
Substanzen könnten einen neuen Ansatz bei der Behandlung von Epilepsien bieten.
Neuer Therapieansatz
für Epilepsie
Abb. 6:
Nach den Bausteinen der elektrischen
Synapsen, den Connexinen, suchen:
Mit Hilfe der Lasermikrodissektion
werden dünne Gewebeschnitte aus dem
Hippocampus ausgeschnitten.
Abb. 7:
Lokalisierung eines Connexins (grün)
im Hippokampus der Ratte. Zur Orientierung wurde eine Pyramidenzelle rot
angefärbt. (Immunzytochemische
Darstellung).
nisches Werk ein komplexer Sinneseindruck.
Über solche Mechanismen erklären
sich komplizierte Wahrnehmungsbilder,
die unser Gehirn aus vielen gleichzeitig eintreffenden Detailinformationen
zu einem Bild von der Welt verschmilzt. Elektrische Synapsen scheinen bei diesem Vorgang der sog. Koinzidenz-Detektion (Gleichzeitigkeit der
Registrierung) eine wichtige Rolle zu
spielen.
Das Auftreten von synchronen über
elektrische Synapsen vermittelten Aktivitäten im Gehirn kann aber auch
Krankheitsursachen haben. So wird
zum Beispiel heftig diskutiert, ob elektrische Synapsen am Entstehen epilep-
Auch bei der Entstehung von größeren Hirndefekten nach einem Schlaganfall scheinen elektrische Synapsen eine wichtige Rolle zu spielen (s. Info,
S. 38). Vermutlich sorgen die Gap Junctions zwischen den Gliazellen dafür,
dass das innere Milieu des Gehirns
Elektrical synapses: the neglected
cell-structures
The role of electrical synapses
(Gap Junction) in the central nervous
system has been neglected for several
decades since their first description in
the middle of the 20 th century. Composed of the extended family of Gap
Junction forming proteins (connexins),
they show a remarkable speed of signal
transmission, a high molecular diversity and various ways of regulation.
Most recent findings suggest a prominent role of electrical synapses in essential functions of the intact and
diseased brain. Uncovering these functions may guide to new therapeutic
approaches in the treatment of the diseased brain, for example epilepsy.
38
Neuroanatomie
Medizin
NEUROrubin 2003
konstant gehalten wird. Offenbar werden gelöste Substanzen über die Kontakte zwischen den Gliazellen innerhalb des glialen Netzwerkes verteilt.
Bei massivem Stress, wie durch einen
Schlaganfall ausgelöst, können sich
schädliche Stoffwechselprodukte in
den Zellen anhäufen. Werden diese
Substanzen dann aber über die Gap
Junctions weitergeleitet, können sie
auch primär nicht vom Infarkt betroffene Zellgruppen schädigen. Der Vorgang wird als “Bystander-Effekt”
(engl.: Beistand) bezeichnet. Im Falle
des Hirninfarktes vermittelt dieser
„Beistand“ jedoch Zelltod induzierende Faktoren, die letztlich das Infarktareal vergrößern. Auch hier wäre es
von Vorteil, die funktionelle Kopplung
der glialen Zellen über Gap Junctions
zu verringern (s. Info). Welche Sub-
39
stanzen freigesetzt werden und wie diese bei einem solchen „negativen Beistand“ weiter geleitet werden, ist bislang noch nicht aufgeklärt. Ihre Auswirkungen können aber beim Hirninfarkt wie auch bei mechanischen
Hirnverletzungen dramatisch sein.
Blickt man auf die Entwicklung
dieses Forschungszweiges der modernen Neurowissenschaften zurück, so
stellt man fest, die elektrische Synapse
ist im Bewusstsein der Hirnforscher
endlich aus dem Schatten der chemischen Synapse hervorgetreten. Sie wird
nicht nur unser Verständnis von der
Funktionsweise des Gehirns bereichern, sondern hält auch neue Therapieansätze für eine Reihe von Erkrankungen des Nervensystems bereit.
Neurobiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Räume der Begegnung:
Wo Nervenbahnen
entstehen, wachsen
und sich verändern
A. Faissner
Wie der Schlussstein eines
Gewölbes bildet ein sechsarmiges Molekül den Dreh- und
Angelpunkt im extrazellulären Raum zwischen den Nervenzellen. Mit „stop- and goSignalen“ beschleunigt es das
Wachstum, baut Barrieren
oder steuert Wanderungsprozesse. Ließe sich der molekulare Alleskönner medizinisch
nutzen, dann könnten durchtrennte Nervenzellen wieder
wachsen oder Stammzellen
gezielt entwickelt werden.
D
as Nervensystem der Säuger be
steht aus einer unvorstellbar großen Zahl von Nervenzellen (Neuronen),
die über vielfältige Verbindungen miteinander verknüpft und in eine strukturierte Umgebung von Stützzellen (Gliazellen) eingebettet sind. Beim Menschen rechnet man mit 10 12-13 Neuronen, 10 15-16 Synapsen (Verschaltungen)
und 10 13-14 Gliazellen. Damit überstei-
Prof. Dr. Andreas Faissner, Zellmorphologie und molekulare Neurobiologie,
Fakultät für Biologie
gen die Zellen des Nervensystems die
auf 30 000 bis 40 000 geschätzte Zahl
humaner Gene um das zehn Milliardenfache.
Wie wird ein solches System höchster Komplexität durch eine vergleichsweise beschränkte Zahl von Genen gesteuert, so dass es entstehen, sich selbst
organisieren, stabilisieren und sich
während der Lebenszeit eines Organismus verändern kann? Diese Frage auf
der Ebene der Einzelzelle und der
neuronalen Netze zu klären, ist heute
das zentrale Thema der Entwicklungsneurobiologie. Ausgangspunkt für die
Entstehung des Nervensystems ist eine
Vielzahl undifferenzierter neuraler Vorläuferzellen, die sich in genau festgelegten Entwicklungsphasen bilden und
zu neuroanatomischen Subsystemen
ordnen.
Zwei Grundprinzipien ermöglichen
diese bemerkenswerte Leistung, die
heute zahlreiche wissenschaftliche Projekte weltweit durchdringen und miteinander verzahnen: Integration durch
Interaktion. Die Wechselwirkungen gehen von Signalen während der frühen
Embryonalentwicklung aus, die die
Vorläuferzellen für bestimmte Entwick-
39
Neurobiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Abb. 2:
Die sternförmigen Astrozyten sind im
Gewebeschnitt angefärbt.
lungsbahnen programmieren. Wenn Nerven- und Stützzellen ihre Plätze eingenommen und ihre jeweiligen Merkmale
ausgebildet haben, steuern spezielle
Moleküle das weitere Geschehen: Sie
ermöglichen erst, dass sich Nervenzellen erkennen oder in der jeweiligen
Umgebung zurecht finden können. Besonders kritisch sind diese Moleküle
bei der Ausbildung von Nervenzellververbindungen - den sog. Axonen (Abb.
3). Darin unterscheidet sich das Nervensystem von jedem anderen Gewebe
des Körpers.
Nervenzellen werden in dichter
Packung von Gliazellen umgeben.
Diese sternförmigen Gebilde, sog.
Astrocyten (s. Abb. 2), übertreffen die
Zahl der Neuronen um das zehnfache
und übernehmen wichtige Funktionen
im Zentralnervensystem. Sie kontrollieren z.B. die extrazelluläre Konzentration von Salzen oder den gerichteten
Transport von Stoffen aus den Blutgefäßen des Nervensystems zur Nervenzelle. Sie spielen eine Schlüsselrolle
bei der Entstehung des Zentralnervensystems (ZNS): So bilden sie Leitschienen, auf denen Nervenzellen wie
kleine Züge in ihre Zielgebiete ziehen.
Sie lenken die beweglichen, aktiv wandernden Wachstumskegel der Axone (s.
Abb. 4) an den vorgesehenen Platz, indem sie das Richtungswachstum unterstützen oder vorübergehend durch
Gewebebarrieren blockieren (Abb. 5).
Vermutlich tragen Astrocyten auf diese
Weise dazu bei, dass sich Muster und
Strukturen im ZNS stabilisieren.
Wie aber regulieren die Astrocyten
diese Entwicklung des Nervensystems?
Sie bilden sog. astrogliale Makromoleküle, die das Verhalten der axonalen
Wachstumskegel beeinflussen. Unsere
Untersuchungen zeigen, dass ganze Familien dieser Makromoleküle in den
Raum zwischen den Zellen (extrazellulärer Raum) abgegeben werden, der
während der Phase der Gewebsorganisation noch bis zu 30 Prozent des ge-
Abb. 3:
Typische Nervenzelle des Zentralnervensystems von Säugern. Die Zelle ist
polarisiert: Die Dendriten (oben)
nehmen Informationen auf, die zunächst über das Axon und dann an
den Synapsen zur nächsten Zelle weitergeleitet werden.
Abb. 4:
Der Wachstumskegel: Im der videomikroskopischen Zeitraffer-Aufnahme
wächst das Axon an der Spitze des
Wachstumskegels mit ca. 50 µm pro
Stunde. Der Wachstumskegel erkundet
die Umgebung und trifft Richtungsentscheidungen.
40
samten Volumens des Zentralnervensystems ausmacht. Bisher ist wenig darüber bekannt, wie dieser Raum strukturiert wird. Für andere Gewebe außerhalb des Nervensystems konnte nachgewiesen werden, dass spezialisierte
makromolekulare Systeme darin eine
Schlüsselrolle einnehmen. Die in den
Neurobiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
extrazellulären Räumen des Nervensystems vorhandenen Makromoleküle lassen ebenfalls eine solche Bedeutung
vermuten.
Zunächst haben wir herausgefunden, dass einzelne Makromoleküle, wie
z. B. das Tenascin-C (lat. tenere: halten, nascere: geboren werden), das
Der therapeutische Ansatz:
Mobile Organelle im Visier
Das Axon besitzt an seinem
wachsenden Ende eine mobile Organelle, den Wachstumskegel, der aktiv
die Gewebeumgebung durchstreift,
Steuerungssignale abliest und umsetzt
(s. Abb. 4). Dazu bedient sich der
Wachstumskegel spezialisierter Rezeptoren, die komplementäre Signale
erkennen. Das können lokale, z.B. an
Zelloberflächen oder den Zellumgebungsraum gebundene oder über
Entfernungen wirkende Signale sein.
Ihre Wirkung betreffend unterscheidet man anziehende, wachstumsfördernde von hemmenden Signalen. Hemmende Signale bewirken den
Kollaps des Wachstumskegels, ein
spektakuläres Phänomen, das sich
auch in der Kulturschale nachvollziehen lässt. Sowohl für die Stoffkategorien als auch für die Wirkungsmechanismen sind mehrere
Genfamilien gefunden worden, die
bis zu 50 verschiedene Gene mit
ähnlichen Wirkungen umfassen. Diese schließen mehrere Familien sog.
Zelladhäsionsmoleküle ein sowie spezielle Signalmoleküle, die Semaphorine. Die Umsetzung der Signale
in gerichtetes Wachstum erfolgt im
Wachstumskegel, die entsprechenden
Signalverarbeitungswege werden derzeit weltweit erforscht. Ein Fernziel
besteht darin, die Signalprozesse zu
definieren und pharmakologisch so
zu beeinflussen, dass der Wachst
u
m
s
kegel in Regenerationssituationen
Hindernisse überwinden kann.
info
Wachstumsverhalten der Axone beeinflussen. Dabei scheint Tenascin-C sehr
ambivalente Funktionen zu vermitteln,
denn in bestimmten Situationen fungiert es als Barriere oder Grenzmolekül
im Nervengewebe, in anderen beschleunigt es als homogenes Wachstumssubstrat das Wachstumsverhalten
von Axonen erheblich. Schließlich aktiviert Tenascin-C auch die Zellbindung und steuert Wanderungsprozesse.
Bei multifunktionalen Molekülen
sind häufig strukturelle Einheiten
(Kassetten) des Moleküls für einzelne
Funktionen verantwortlich. Es gelang
uns tatsächlich, diesen verschiedenen
Kassetten oder Modulen des TenascinC hemmende („stop!“) und stimulierende („go!“) Signale für das Wachstum
der Axone zuzuschreiben (s. Abb.6 a,
b). Diese Beobachtungen legen nahe,
dass Nervenzellen über spezialisierte
Rezeptoren auf die unterschiedlichen
Bereiche des Makromoleküls reagieren.
Unsere Hypothese bestätigte sich: Das
„go“-Signal für axonales Wachstum
wird durch das Neuron mit Hilfe eines
spezialisierten Adhäsionsproteins (Contactin) vom Tenascin-C abgelesen und
umgesetzt. Hierbei dient Contactin als
eine Art Fühler, der die Wachstumsgeschwindigkeit des Wachstumskegels
über interne Signalumsteuerungsprozesse reguliert (Schema, Abb. 7).
Wir werden nun die Sequenz der
Aminosäuren, d.h. die Bausteine der
Eiweiße bestimmen, aufgrund derer
sich die beteiligten Proteine von
Tenascin-C und Nervenzelle erkennen.
Damit wird es auch möglich werden,
die Sequenz für das „go!“-Signal zu
isolieren und in gereinigter und konzentrierter Form in künstliche Transportvehikel einzubauen. Ziel ist es,
diese das Wachstum stimulierenden
Bereiche gezielt in die Nähe verletzter
Nerven zu bringen, um dort im
Wachstumskegel den Regenerationsprozess in Gang zu setzen. Dieser Weg ist
schon deshalb sinnvoll, weil das „go!“Signal in einem Abschnitt (Kassette)
des Tenascin-C lokalisiert wurde, der
nicht in allen seinen molekularen Varianten vorkommt.
Abb. 5:
„Grenzen“ im Gewebe: Die Aufsicht
auf den somatosensorischen Kortex
zeigt, dass Tenascin-C in diskreten,
„grenzartigen“ Verläufen auftreten
kann. Diese sog. „Boundaries“ sind
transient, im erwachsenen ZNS wird
Tenascin-C nur in Spuren freigesetzt.
Die umgrenzten Felder haben einen
Durchmesser von 0,2-0,3 mm .
Abb. 6:
„Go“-Signale für das Axon
Eine embryonale Nervenzelle bildet
auf einem Tenascin-C-Substrat innerhalb von 24 Stunden ein beachtliches
Axon (oben: „go-Signal“). Auf dem
neutralen Kontrollsubstrat ist das
Wachstum vergleichsweise
bescheiden (unten).
41
Neurobiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
handen. Bei Verletzungen
oder krankhaften Prozessen tritt es dann plötzlich
wieder auf, z.B. in Hirntumoren. Auch das könnte
ein Anzeichen dafür sein,
dass
Tenascin-C
in
Regenerationsprozesse
des Nervensystems einbezogen ist. Interessante
Perspektiven für die Prognose oder Diagnostik eröffnen sich, wenn es gelänge, das Auftreten bestimmter Varianten des
Makromoleküls im Blut
bestimmten Erkrankungen zuzuordnen.
Bis heute gelten durchtrennte
Nervenverbindungen als nicht wieder
herstellbar, wie z.B. im Falle von
Querschnittlähmungen. Wenngleich
Nervenzellen das Potenzial besitzen,
unterbrochene Verbindungen wieder
aufzubauen, verhindern dies Barrieren,
die sich den Wachstumskegeln in den
Weg stellen (Abb. 10). Solche Hindernisse für die Regeneration bilden
Astrozyten, die in der Umgebung von
Wunden die sog. astrogliale Narbe aufbauen. Tenascin-C kommt in diesen
Narben in hoher Konzentration vor und
scheint die Bildung von Barrieren zu
unterstützen, wie Experimente an
Mikroläsionen nahe legen (Abb. 11).
Hier könnte die integrative Funktion
des Tenascin-C bei der Organisation
übergeordneter Matrixstrukturen dazu
Abb. 7:
Fühler für Tenascin-C:
Das Tenascin-C-Hexamer reagiert mit zellulären Rezeptoren. Diese
steuern durch Signalübertragung das Verhalten des Wachstumskegels.
schaften unterschiedlicher Gebiete des
Strukturkassetten, die für die StiNervensystems durch bestimmte Varimulation des Wachstums entscheidend
anten des Makromoleküls festgelegt
sind, unterliegen einem speziellen
werden. Auch das Wachstum der Axone
Verarbeitungsprozess – dem sog. alterkönnte bevorzugt durch einzelne Varinativen Spleißen. Dabei werden quasi
anten gesteuert werden, wie wir für
aus der Blaupause für das Eiweiß beTenascin-C in der Kulturschale belegen
stimmte Stücke herausgeschnitten bzw.
konnten.
ausgetauscht, bevor der Bauplan durch
Tenascin-C besteht aus sechs Undie Boten-RNA im Zellplasma in Eitereinheiten, die sich zu einer sechsweiße umgesetzt wird. Auf diese Weise
armigen Gestalt verbinden (Abb. 9).
wird immer gerade die Serie funktioDamit könnte Tenascin-C ein Integraneller Kassetten des Tenascin-C bereit
tor des extrazellulären Raumes sein,
gestellt, die zum jeweiligen Zeitpunkt
der mit Bestandteilen in diesem Raum
benötigt wird. Wenn jede dieser Kassowie mit Rezeptoren auf den Zellsetten frei austauschbar wäre, ergäbe
oberflächen in Verbindung steht. Das
sich eine Gesamtzahl möglicher KomMolekül bildet dann wie der Schlussbinationen von 2 n (n: Zahl alternativ
stein eines Gewölbes den Dreh- und
gespleißter Kassetten). Im Tenascin-C
Angelpunkt der Matrixarchitektur. Es
der Maus finden wir sechs Kassetten,
wird während der Entwicklung verfür den Menschen wurden neun bemehrt gebildet, dagegen ist es später
schrieben. Damit sind bei der Maus
im Gewebe so gut wie nicht mehr vortheoretisch 64 Kombinationen möglich und 512 beim
Menschen. Im Nervensystem
der Maus haben wir mehr als
dreißig
Varianten
des
Tenascin-C zu bestimmten
Abb. 8:
Zeitpunkten der Entwicklung
Kombinatorik der Kassetnachgewiesen (s. Abb. 8).
ten: Tenascin-C besteht aus
Die Kombinationen kommen
Strukturmodulen. Die gelb
mit unterschiedlicher Häuhervorgehobenen
Kassetten
figkeit vor, was dafür
können
in
verschiedenen
spricht, dass ihr Entstehen
Kombinationen auftreten,
gezielt reguliert wird.
sodass eine Vielfalt von VaDiese Variabilität des
rianten ausgehend von eiTenascin-C eröffnet interesnem Gen gebildet
sante Perspektiven. So ist
werden kann.
vorstellbar, dass die Eigen-
42
Neurobiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Abb. 9:
Molekulare Tentakel: Tenascin-C-Monomere lagern sich zu Hexameren mit der typischen, sechsarmigen Gestalt zusammen, die mit dem Elektronenmikroskop sichtbar gemacht werden können.
(Durchmesser: etwa 140 nm).
beitragen, eine undurchdringliche extrazelluläre Struktur aufzubauen, die intaktes Gewebe gegen Wundregionen abgrenzt. Eine sinnvolle Funktion verkehrt
sich in ein Regenerationshindernis.
Wenn wir die Bauprinzipien der Barrieren entschlüsseln, könnte das zu Strategien führen, mit denen sich die Matrixarchitektur destabilisieren lässt. Eine Regeneration könnte dann möglich
sein. Dabei ist entscheidend, ob wir
Varianten des Tenascin-C finden, die
Kassetten mit speziellen „stop“-Signalen für das Axonwachstum aufweisen.
Schließlich zeichnet sich ausgehend von Tenascin-C in jüngster Zeit
eine aufregende Perspektive ab. Das
Makromolekül tritt verstärkt in jenen
Regionen des Nervensystems auf, in
denen sich Zellen aktiv vermehren.
Dort findet man während der Entwicklung neurale Stammzellen, die auch in
bestimmten Gebieten des ausgewachsenen Nervensystems gebildet werden.
Diese sog. subventrikuläre Zone ist
ebenfalls mit Tenascin-C angereichert.
Wir haben daraufhin ein Projekt in Angriff genommen, das die Rolle der
extrazellulären Matrix für die Stammzellentwicklung und -Differenzierung
klären soll. Es stellt sich die Frage, ob
Tenascin-C als Integrator dieser Matrix-Architekturen vielleicht auch ein
geeignetes Milieu gestalten kann, indem sich bevorzugt Stammzellen bilden und reifen.
Dabei ist von besonderem Interesse, welche Signale das Makromolekül
an die Stammzellen weitergibt und wie
diese im Zuge ihrer Differenzierung
umgesetzt werden. So scheint Tenascin-C die Stammzellpopulation, ihre
Vermehrung und ihre Sensitivität für
bestimmte Wachstumsfaktoren zu regulieren. Ob diese Mechanismen in erster
Linie das Wachstum oder den natürlichen Zelltod der Stammzellen betreffen, ist Gegenstand weiterer Forschungen. Doch es ist bereits erkennbar, dass
Tenascin-C die Entwicklung von Vorläuferzellen für die Myelinbildung
zwar fördert – deren Einwanderung in
bestimmte Territorien aber verhindern
kann. Das Myelin bildet die Umhüllung der Nervenfasern, die sog. Myelinscheide, die z.B. bei der Multiplen
Sklerose zerstört ist. Auch hier zeigt
sich wieder die Ambivalenz dieses Makromoleküls, die bei einem therapeutischen Einsatz ein sehr gezieltes Vorgehen voraussetzen würde.
Der neurale Extrazellulärraum kann
damit nicht mehr als ein gestaltloser,
mit Flüssigkeiten und Salzen angefüllter Hohlraum gelten, sondern ist ein
Abb. 11:
„Stop“-Signale für Axone: Explantate des Spinalganglions bilden auf
„günstiger“ Extrazellulärmatrix ein
reichhaltiges Geflecht von Axonen
(oben). Die Zugabe eines Inhibitors
unterdrückt das Wachstum der Axone
nahezu vollständig (unten). Die Arbeitsgruppe charakterisiert Inhibitoren, die vermutlich die Regeneration
des ZNS nach Läsion verhindern.
The role of TN-C for development
and regeneration of the nervous system
Abb. 10:
Bringt man Tenascin-C in Streifen von
50 µm Breite auf ein Kultursubstrat auf
(rot gefärbt) und gibt Kleinhirnexplantate (gelbe Färbung) dazu, dann
bevorzugen die Axone das Alternativsubstrat - es bilden sich „Grenzen“.
durch spezialisierte Moleküle hochstrukturiertes Mikromilieu. Dieses Milieu könnte entscheidende Prozesse bei
der Bildung, Umbildung und der Regeneration des Nervensystems beherbergen. Unser Ziel ist es, die unsichtbaren
und höchst dynamischen Strukturen
molekular aufzuklären und abzubilden.
Glycoproteins and proteoglycans of
the extracellular matrix mediate astrocyte functions during central nervous
system formation. Tenascin-C glycoproteins (TN-C) are transiently expressed by astroglia during CNS development and occur in a large number
of isoforms due to combinatorial rearrangement of fibronectin-type-III
domains. Distinct modules of TN-C
contain binding sites for various
receptors and are involved in neuron
binding, neuron migration and neurite
outgrowth and guidance. The roles of
TN-C for development, regeneration
and the biology of neural stem cells
are being discussed.
abstract
43
Medizin
Huntington-Zentrum NRW
NEUROrubin 2003
Diagnose Veitstanz
– was kann da noch helfen?
J. Andrich
J. T. Epplen
Meist haben Risikopersonen
die Symptome schon vor Augen,
sind doch Eltern, Großeltern oder
Geschwister bereits erkrankt. Doch erst
ein DNA-Test sichert die Diagnose, deckt
den Familienstammbaum auf und
ist der erste Schritt zu einer
individuellen Betreuung.
M
it Ende Dreißig beginnt der Alptraum: Am Computer fällt B. die
Konzentration immer schwerer, er vergisst wichtige Termine und gerät mit
Arbeitskollegen, der Ehefrau und den
Kindern in Streit, manchmal wegen
Nichtigkeiten. Als dann auch noch
beim Basteln die Werkzeuge zu Boden
fallen, er sich schwer verbrennt und
auf der Straße stolpert, weiß er noch
vor dem Arztbesuch die Diagnose, die
er seit seiner Kindheit fürchtet: Chorea
Huntington (CH). Seine Schilderung
des Krankheitsbeginns ist typisch für
Patienten im Huntington-Zentrum (HZ)
NRW der Ruhr-Universität Bochum.
Die meisten Risikopersonen oder bereits Betroffenen kennen die Symptome
der Erbkrankheit von einem Elternteil,
Großeltern oder Geschwistern: zunächst
leichte Bewegungsstörungen, Ungeschicklichkeit, Unsicherheit beim Greifen und dann zunehmende Überbeweglichkeit. Dazu kommen geistige
Leistungseinbußen und psychische Veränderungen.
Im fortgeschrittenen Stadium zeichnet sich die Krankheit durch Bewegungsstörungen, psychische Auffälligkeiten und einen Abbau des Denkvermögens aus. Neben zahlreichen weite-
Dr. Jürgen Andrich, Prof. Dr. Jörg T.
Epplen, Huntington-Zentrum NRW
45
ren Anzeichen führten abrupt überschießende, teilweise tänzelnde Bewegungen zur Bezeichnung Chorea (gr.
Tanz). Da diese Bewegungsstörungen
zwar bei mehr als 85 Prozent der Patienten vorkommen, aber nur bei 57 Prozent das Hauptsymptom sind, ist die
klinische Diagnose nicht immer einfach zu stellen. 21 Prozent der Patienten sind schwer depressiv und haben
teilweise Selbstmordgedanken. Wahnvorstellungen (z.B. Eifersucht), erhöhte Aggressivität, besonders gegen nächste Familienangehörige, und schwere
Zwangshandlungen belasten das soziale Leben und die betroffenen Familien
oftmals aufs Äußerste. Es gibt keine
Therapie, die sich gegen die Ursachen
der Erkrankung richtet. Jedoch können
Medikamente gegen die individuellen
Symptome helfen, wenn deren Gabe
durch den Spezialisten optimiert wird.
Diagnostische Sicherheit bringt der
DNA-Test, der immer ein schwarz/
weiß-Ergebnis hat: Genträger oder
Ausschluss. Verwandte Krankheiten
(Huntington disease like) konnten nur
in seltenen Fällen bei bestimmten afrikanischen Bevölkerungsgruppen festgestellt werden. In einer großen Verbundstudie bei deutschen Patienten mit
dieser Symptomatik konnten wir kürzlich diese afrikanischen Mutationen für
alle unsere Huntington-Verdachtsfälle
ausschließen.
Der DNA-Test bestätigte auch B.’s
Vorahnung: Verlängerung des CAGBlocks im Huntingtin-Gen (Abb. 1),
erblicher Veitstanz – Chorea Huntington. Trotz der bedrückenden Gewissheit blickt B. nach vorn und lässt sich
im HZ NRW beraten: „Wir müssen dieses Schicksal mit der Krankheit annehmen. Die Frage ist nun: Was können
wir jetzt kurzfristig, und was in der
nahen Zukunft und für später tun?“
Das Berater-Team des HZ spricht in
mehreren Treffen mit der Familie des
Patienten viele Einzelheiten rund um
die Erkrankung an, spielt im Vorfeld
bereits verschiedene Situationen theoretisch durch. Für blutsverwandte Familienmitglieder können jetzt je nach
Verwandtschaftsgrad exakte Risikoziffern benannt werden, 50 Prozent, 25
Prozent Risiko ... . Die Familie braucht
verschiedene Ansprechpartner, neben
den CH-Spezialisten auch andere Betroffene und deren Angehörige, die in
Selbsthilfegruppen organisiert sind. Ers-
Huntington-Zentrum
NRW
Medizin
NEUROrubin 2003
Abb. 1:
Ein verlängerter CAG-Block im
Huntingtin-Gen wird in ein verlängertes Protein mit einem dann ebenfalls
verlängerten Glutaminblock überschrieben. Die veränderte Struktur
verhindert einen normalen Abbau. In
den Mitochondrien wird die Energieerzeugung gestört. Das Protein lagert
sich in Form von zellulären Einschlusskörperchen ab. Dabei sterben
Zellen in bestimmten Regionen des
Zentralnervensystems ab.
CAG: Cytosin/Adenin/Guanin
Exon: einzelner DNA-Bereich
zwischen Grundlagenwissenschaften
und klinischer Medizin.
Darüber hinaus bietet das HZ die
genetische Beratung. Hier stellen die
Experten anhand der Erinnerung der
Ratsuchenden einen Familienstammbaum (Abb. 2) auf. „Opa ist damals vor
den Zug gelaufen. Der Uropa ist im Alter sehr merkwürdig geworden, und er
hatte auch noch ein Kind mit einer anderen Frau und zwei Enkelsöhne. Mit
ihnen haben wir keinen Kontakt,“ erzählten zwei Brüder, die bereits 1996
aus eigenem Antrieb zur genetischen
Beratungsstelle kamen: Die Mutter war
an CH erkrankt; sie wollten die Ungewissheit über die Erbkrankheit für
sich selbst beseitigen, auch wegen ihrer weiteren Lebensplanung. Die Brüder, 46 und 40 Jahre alt, leiteten gemeinsam den elterlichen Mittelstandsbetrieb. Beide wurden als Risikopersonen unter intensiver Betreuung
genetisch untersucht und stellten sich
als Genträger herAbb. 2:
aus. Ein Bruder
Typischer Familienzeigt nun seit zwei
Stammbaum bei Chorea
bis drei Jahren
Huntington. Erst der
Symptome, der anDNA-Test bei V. sicherte
dere kommt in weletztlich die Diagnose in
nigen Wochen zur
dieser Familie.
neurologischen Abklärung seines aktuellen
Zustands
auf die HuntingtonStation. Vielleicht
hat er ja bereits erste Krankheitsanzei-
te Informationen bietet völlig anonym
das Internet (http://mhg.uni-bochum.de/
mhg/huntington1.htm).
Aber nicht nur Patienten mit bereits vorhandenen Krankheitszeichen
suchen Rat im HZ. Auch Risikopersonen unterziehen sich dem genetischen
Test und erhalten so Gewissheit, ob sie
die Genveränderung tragen und damit
irgendwann an CH erkranken werden.
Das ist ein schwerer Schritt, macht er
doch in vielen Fällen quasi über Nacht
aus Gesunden Kranke.
Seltene Sonderfälle sind vorgeburtliche Diagnostikanfragen. Auch zehn
Jahre nach Einführung des DNA-Tests
besteht stetiger Bedarf an molekulargenetischer Diagnostik, insgesamt wurden bisher im HZ NRW mehr als 2300
DNA-Tests durchgeführt. Damit ergeben sich optimale Voraussetzungen für
weitere patienten-orientierte Forschung, insbesondere wenn diese engverzahnt und interaktiv angelegt ist
chen, die er selbst gar nicht bemerkt.
Warum erkranken Nahverwandte
teilweise in sehr unterschiedlichem Lebensalter an CH? Es gilt, den genetischen Hintergrund der Erkrankung,
weitere Gene mit Einfluss auf Beginn
und Verlauf von CH abzuklären. Entsprechende Studien werden im HZ
NRW derzeit anhand des großen Patientenkollektivs durchgeführt. Erste
Ergebnisse werden noch in diesem Jahr
vorliegen.
Schon mit fünf Jahren
erkrankt
Im Fall von B.’s Tochter N. (Abb.2)
konnte und wollte niemand glauben auch die betreuenden Kinderärzte nicht
- dass die Kleine bereits mit fünf Jahren erste Krankheitszeichen von Chorea Huntington haben sollte: das Anfallsleiden, die Muskelschwäche und
ihre kaum nachweisbaren Bewegungsstörungen wurden auf andere Ursachen
zurückgeführt. Der DNA-Test belehrte
schließlich nach sechs Jahren Krankheitsverlauf eines Anderen: Frühkindliche CH auf der Grundlage eines extrem verlängerten Huntingtin-Gens (s.
Abb. 3).
Chorea Huntington kann als Modell
(Abb. 4) für andere neurodegenerative,
d.h. durch Nervenzelluntergang mit
Hirngewebsverlust verbundene Erkrankungen dienen. Dazu gehören die viel
häufigeren sog. Volksleiden des höhe46
Huntington-Zentrum NRW
Medizin
NEUROrubin 2003
mentöse Einstellung sowie intensive Pflege und fachkundige krankenpflegerische Betreuung. Die Humangenetik
informiert zum Gentest und
zur Vererbung der Erkrankung
und erläutert vorhersagende
Diagnosemöglichkeiten für
Risikopersonen. Insgesamt
sind beste Voraussetzungen
für individuelle und ganzheitliche Betreuung gegeben.
Seit der Eröffnung der
klinischen Einheit des HZ
NRW mit zwölf Betten in der
Neurologischen Universitätsklinik des St. Josef Hospitals Bochum
1996 wurden rund 1.200 CH-Patienten
stationär behandelt. Dazu kommen
mehr als 1.000 ambulant untersuchte
und behandelte Betroffene. Zum Konzept der klinischen Betreuung gehört
vorrangig die medizinische Versorgung
der häufig von verschiedenen Krankheitssymptomen betroffenen Patienten
mit Optimierung der MedikamentenTherapie. Für Genträger, die noch keine Symptome zeigen oder bei denen
sich die Krankheit noch im Frühstadium befindet, wird eine standardisierte
Status-Quo-Erhebung durchgeführt.
Dazu gehören ausführliche klinischneurologische Untersuchungen mit besonderer Berücksichtigung von Augenund Zungenbeweglichkeit sowie bildgebende Verfahren (CCT, MRT),
Abb. 3:
Die Gelelektrophorese offenbart
die Genveränderung:
Spur II zeigt das
verlängerte Gen (pathogen) und Spur V
das extrem verlängerte Gen (pathogen, Kind) im Vergleich zu gesunden
Menschen (Kontrollen: I, III und IV).
ren Lebensalters wie die Alzheimerund Parkinson-Krankheit. Die Forschungsergebnisse der letzten zehn Jahre haben den Erbdefekt bei CH und
dessen unmittelbare Folgen für das Gehirn weitgehend geklärt: Das Protein
Huntingtin tötet letztlich Nervenzellen
in bestimmten Gehirnanteilen, die für
wesentliche Funktionen wie die Bewegungskontrolle, aber auch die psychische Gesundheit notwendig sind.
Im HZ NRW erlaubt die spezifische
Klinikstation (für CH-Kranke und
Risikopersonen) inklusive psychologischer Betreuung die optimale medikaAbb. 4:
Modellkrankheit Chorea Huntington –
eine black box der individuellen
Versorgung der Patienten.
Neuropsychologie und technisierte
feinmotorische Testung (Motorische
Leistungsserie, MLS). Daneben ist ein
umfassendes medizinisches und soziales
Beratungs- und Unterstützungsprogramm für Betroffene und Angehörige
im Angebot, um den spezifischen Problemen dieser Familienerkrankung gerecht zu werden (s. Abb. 5).
HZ NRW: Patientenversorgung,
Gen- und Therapieforschung
Über diese klinischen Maßnahmen
hinaus bemüht sich das HZ NRW um
die Erforschung der genetischen und
biochemischen Grundlagen der Erkrankung und – in Kooperation mit weiteren deutschen und europäischen Zentren – um die Entwicklung moderner
Medikamente zur zukünftigen sog.
neuroprotektiven Therapie. Seit der
Identifikation des Huntingtin-Gens und
seines Produkts, des Proteins Huntingtin, wurden neue und wichtige Erkenntnisse zum Pathomechanismus der
CH gewonnen. Das verlängerte Huntingtin-Protein ist ein sog. stotterndes
Genprodukt mit einem verlängerten
Glutaminblock und dadurch neuen und
pathologischen Eigenschaften. Es kann
im Verlauf des Stoffwechsels nicht effizient abgebaut werden und verklumpt
im Zellkern von spezifischen Neuronen, die daraufhin absterben. Weiterhin
Huntington-Zentrum (HZ) NRW
St. Josef Hospital Bochum (Prof. Dr. H. Przuntek)
Huntington-Station:
Dr. J. Andrich, OA Dr. P.H. Kraus
Psychologie:
Dr. M. Finger, cand. psych. C. Prehn
Sozialarbeit:
Sozialpädagoge J. Blumenschein
Klinische Forschung:
Dr. J. Andrich, Dr. C. Saft
Campus Ruhr-Universität Bochum (Prof. Dr. J.T. Epplen)
Gen-Diagnostik:
S. Wieczorek (AIP), I. Alheite, Y. Pischel
Genetische Beratung:
Dr. A. Syska, Dr. C. Hammans, Dr. W.
Klein, Dr. E. Kunstmann, Dr. B. Miterski,
Dr. S. Stemmler
Forschung:
Dipl. biol. L. Arning, S. Wieczorek,
cand. med. S. Valentin
Städt. Kinderklinik Dortmund (Neuropädiatrie, Dr. Strehl)
für kindliche und jugendliche Fälle
info
47
Huntington-Zentrum
NRW
Medizin
NEUROrubin 2003
Abb. 5:
Im HZ NRW erlaubt die spezifische Klinikstation für
CH-Kranke und Risikopersonen eine individuelle
und ganzheitliche Versorgung
– von der psychologischen
Betreuung über die optimale
medikamentöse Einstellung
bis zur intensiven Pflege.
bindet Huntingtin eine Reihe anderer
Eiweiße, die für die Zelle essentiell
sind. Diese Proteine greifen u.a. auch
empfindlich in die Regulation der normalen Genexpression der Zelle ein.
Möglicherweise verändern sich dadurch ganze Proteinauf- und abbauwege der Nervenzelle und das natürliche Zusammenspiel der Proteine bzw.
ihre Funktion als Transport- oder
Rezeptorproteine:
1. Der veränderte Bereich des Huntingtin-Proteins interagiert z. B. mit
diversen Eiweißkörpern; verlängertes
Huntingtin-Protein aktiviert
evtl. direkt zelltod- induzierende Enzyme.
2. Die Bindung von Genregulatoren
führt im Zellkern zur
Fehlsteuerung der genetischen
Aktivität (durch Histon-Deazetylierung, HDAC).
3. Die reduzierte Bindung eines der mit Huntingtin interagierenden Proteine (Huntingtin-interacting Protein 1) führt
zur Fehlaktivierung von Enzymen und zu mitochondrialen
Störungen (Mitochondrien =
Zellkraftwerke; s. Abb. 1, unten rechts).
4. Fehlerhafte Interaktion mit
Membranenzymen führt zur
Fehlsteuerung der Moleküle
für die Erregungsübertragung
in Nervenzellen (erhöhte Toxizität durch Stimulation).
Aus diesen neuen Erkenntnissen könnten sich in Zukunft
Therapieoptionen mit Medikamenten
ergeben, die sich zum Teil heute schon
in der klinischen Erprobung befinden:
Ergebnisse einer europaweiten klinischen Studie mit dem Gluamatantagonisten Rilutek, an der das HZ NRW
beteiligt ist, erwarten wir Mitte des
Jahres 2004 (s. Punkt 4). Untersucht
werden weiterhin Enzyminhibitoren
(Studienschwerpunkt Boston), Aggregationshemmer (vorklinische Studien
z.B. mit Kongorot und anderen Stoffen
im Massenscreening-Verfahren, MaxPlanck-Institut für Molekulare Genitik,
Berlin) und HDAC-Inhibitoren (teilweise schon in der Prüfung für Phase
1-Studien, s. Punkt 2).
Auch die in Deutschland kontrovers diskutierte Stammzelltherapie
wird bereits in einigen vorwiegend
Einzelfall-Studien in England, Frankreich und den USA erprobt. Die ersten
Ergebnisse lassen erkennen, dass sich
die eingebrachten fetalen Zellen tatsächlich in den betroffenen sog. Stammganglien entwickeln und möglicherweise in diesen für die Bewegungskoordination so außerordentlich wichtigen Nervenzellansammlungen (Kernen) den Verlauf der Erkrankung beeinflussen können. Allerdings scheint diese Methode sehr nebenwirkungsreich
(Hirn-Blutungen) und insgesamt unsicher (z.B. Zystenbildung) zu sein. Der
bisherige Beobachtungszeitraum ist jedoch noch zu kurz, um ein abschließendes Urteil über die Transplantation
fällen zu können. Dennoch lassen die
Studien hoffen – auf bessere Behandlungsmöglichkeiten und zukünftig vielleicht auch auf Heilung für B., seine
Familie und alle anderen Betroffenen.
Chorea
help, still?
Huntington
–
how
to
The neurological and psychiatric
symptoms of Chorea Huntington range
from slight to extremely severe disturbances of movement, at times to
overt psychosis. This model hereditary
disease usually commences in the fifth
decade and leads to death finally
within some 20 years. Since 1993 the
diagnosis can be assured by a DNA
test. The Huntington center (HZ NRW)
supplies, in addition to mandatory
genetic counselling, also complete
clinical and social care. Novel insights
from research on the pathogenesis
trigger new hope on rational therapeutic strategies and options.
abstract
48
Tierphysiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Neurodegenerative Erkrankungen:
Mäuse stehen Modell
Das Problem der Forscher bestand
lange Zeit darin, dass sie
sterbende Nervenzellen am lebenden Menschen nicht untersuchen können und in Tieren diese Erkrankungen nicht vorkommen. Jetzt
helfen Mäuse Menschen.
C.C. Stichel
H. Lübbert
F
ür zahlreiche neurodegenerative Erkrankungen werden genetische Faktoren verantwortlich gemacht.
Bislang sind jedoch die zellulären Prozesse unbekannt, die durch diese genetischen Veränderungen gesteuert zu
spezifischen Krankheiten führen. Des-
Wenn Nervenzellen
sterben
halb versucht die Wissenschaft, zumindest Teilaspekte menschlicher Erkrankungen in Tiermodellen zu erforschen:
Mit Hilfe transgener Technologien werden in einem Organismus genetische
Mutationen erzeugt, die beim Menschen zu unheilbaren Krankheiten führen. Transgene Tiere ermöglichen eine
detaillierte Analyse der pathologischen
PD Dr. Christine C. Stichel, Prof. Dr.
Herrmann Lübbert, Lehrstuhl für Tierphysiologie
Mechanismen und bieten ein außerordentliches Potential für die Entwicklung neuer Therapieansätze.
Die Erfolge der modernen Medizin
in der Behandlung von Infektionskrankheiten und die verbesserte Vorbeugung und Therapie von Volkskrankheiten wie Bluthochdruck und
Zuckerkrankheit haben die Lebenserwartung der Bevölkerung westlicher
Industrienationen beträchtlich steigen
lassen. Die Menschen werden immer
älter, leiden damit aber auch mehr an
altersabhängigen Erkrankungen. Neurodegenerative Krankheiten gehören zu
den häufigsten dieser Erkrankungen
und werden im 21. Jahrhundert zunehmend zu sozioökonomischen Problemen führen.
Ein Leben ohne Zelltod ist undenkbar. Erst der programmierte Zelltod gewährleistet die richtige Form und Größe von Strukturen während der Entwicklung und entfernt geschädigte Zel-
Alzheimer und Parkinson:
Zelltod außer Kontrolle
len im erwachsenen Organismus. Findet Zelltod jedoch in Organen statt, die
nur eine beschränkte Fähigkeit zur Regeneration haben, so hat das verheerende Folgen. Bei Erkrankungen wie
Abb. 1:
Mikroinjektion von
Erbmaterial (DNA)
in einen Vorkern.
Über eine feine
Injektionskapillare
wird DNA in den
männlichen Vorkern eines einzelligen Mausembryos
injiziert. Die
Haltekapillare fixiert die Zelle.
49
Tierphysiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
info
Morbus (M.) Alzheimer und Morbus
(M.) Parkinson ist der Zelltod außer
Kontrolle geraten. Sie sind die beiden
häufigsten neurodegenerativen Erkrankungen, die mit einem fortschreitenden, massiven Verlust von Neuronen im
Mittel- bzw. Endhirn einhergehen und
zu erheblichen intellektuellen, kognitiven und motorischen Funktionsverlusten führen. Alzheimer-Patienten leiden unter zunehmendem Gedächtnisverlust, Sprach- und Bewegungsstörungen und Orientierungsschwierigkeiten, während es bei Parkinsonikern zu
50
Abb. 2:
Die Spuren 1, 3 und 4 zeigen die Wildtyp-Form des
Gens, somit handelt es
sich bei diesen Mäusen
um nicht-transgene Tiere.
Tier 2 ist transgen, erkennbar an der mutierten,
verkürzten Form des
Gens. Der Größenstandard in der linken
Spur erlaubt die Größenbestimmung der Banden
in den Spuren 1-4. (Nachweis des veränderten
Gens durch Polymerase
Chain Reaktion).
Gang- und Gleichgewichtsstörungen,
Zittern und Muskelsteifigkeit kommen kann.
Zur Zeit leiden allein in den USA
mindestens 4 Millionen Patienten an
M. Alzheimer, und ca. 1,2 Millionen
Personen sind von M. Parkinson betroffen. Trotz Kenntnis der Symptomatik und Funktionsstörungen sind die
Krankheitsmechanismen, die zum neuronalen Zelltod führen, noch weitgehend unverstanden. Daher ist es nicht
möglich, den Ausbruch der Krankheit
zu verhindern oder den Zelltod deutlich zu verlangsamen bzw. zu stoppen.
Vielversprechende Fortschritte auf dem
Gebiet der Molekularbiologie lassen
hoffen, dass in naher Zukunft die Ursachen und Mechanismen dieser Erkrankungen aufgeklärt werden können.
Durch genetische Kopplungsanalysen
Tierphysiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Transgene Tiere
Überexpression (Transgene)
Einbringen eines zusätzliche Gens, das zufällig integriert. Dies führt zu einem
Funktionsgewinn. Durch die Wahl des Promotors wird der Ort und die Menge
der Expression bestimmt. Durch das zusätzliche Anbringen von Kontrollelementen kann die Fremd-DNA gezielt in bestimmten Geweben bzw. zu einem
bestimmten Zeitpunkt exprimiert werden.
Knock-out
Entfernung eines Gens. Dies führt zu einem Funktionsverlust.
Knock-in
Veränderung des natürlichen Gens, z.B. Einführung einer Punktmutation, oder
Austausch eines endogenen Gens durch ein Fremdgen. Dies führt zu der Expression eines mutierten bzw. Fremdgens in normaler Menge.
krankungen widerspiegeln.
Die fremde genetische Information
fügt sich meist ungerichtet irgendwo in
das Genom der Zielzelle ein, oft auch
in mehreren Kopien. Durch die Kopplung des Gens mit einem zelltypspezifisch regulierten Promotor kann
das Gen ganz gezielt in bestimmten
Zelltypen „angeschaltet“ werden (s.
Info, S. 56: gezielte Veränderung). Der
Promotor, eine Nukleinsäuresequenz,
fungiert quasi als Genschalter. Er liegt
vor dem eigentlichen Transgen und
wird mit ihm in den Organismus ge-
info
wurden bereits Gene identifiziert, die
neurodegenerative Erkrankungen auslösen, wenn sie mutiert sind. Bisher
sind drei Gene für M. Alzheimer bekannt: Amyloid Precursor Protein
(APP), Präsenilin1 (PSEN1) und Präsenilin2 (PSEN2). Ebenfalls drei Gene
sind für die vererbbaren Formen des M.
Parkinson verantwortlich:
Parkin (Pk),
α- S y n u c l e i n
le Reaktionsmechanismen im
Degenerationsprozess zu identifizieren. Das Problem der
Wissenschaftler besteht darin,
dass sie die sterbenden Zellen
am lebenden Menschen nicht
untersuchen können und dass
in Tieren diese Erkrankungen
(SNCA) und Ubiquitin C-terminale
Hydrolase L1 (UCHL1) (Info, S. 52).
Damit ist jedoch noch nicht verstanden, wie die Mutationen zu dem sehr
komplexen Phänomen des neuronalen
Zelltods führen. Für die Entwicklung
nicht vorkommen.
Die Kenntnis der krankheitsverursachenden
Gene
und die in den 80er Jahren
entwickelte transgene Technologie ermöglichen es jedoch,
fremde Gene (Transgene) in
die Keimzellen von Säugetieren zu übertragen (Transgenesis) bzw. gezielt zu entfernen oder zu modifizieren
(s. Info 2, oben, und Abb. 2).
Dadurch können äußerst effizient Tiermodelle erzeugt
werden, die zumindest Teilaspekte dieser menschlichen Er-
Abb. 3:
Chimäre Maus - übertragen wird
ein mutiertes Gen in Zellen einer
braunen Mauslinie. Durch den
Transfer dieser Zellen in eine
Mauslinie mit weißer Fellfarbe
entstehen gefleckte Nachkommen.
Die Zellen mit brauner Pigmentierung
tragen das mutierte Gen.
Erst Krankheitsmechanismen klären,
dann Therapien entwickeln
von Therapieformen, die sich gegen die
Krankheitsursache richten, ist es unabdingbar, die durch die Mutation ausgelöste Kaskade krankhafter Stoffwechselveränderungen aufzuklären und zentra-
51
Tierphysiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
bracht. Mit Hilfe von Kontrollelementen, wie dem Tetrazyklin-Operator,
gelang es dann auch den Zeitpunkt zu
kontrollieren, zu dem das Gen aktiviert
wird (s. Info, S.56: konditionierte Veränderung).
Mit dieser Technologie erhielten
die Forscher ein völlig neuartiges und
vielversprechendes experimentelles
Handwerkzeug, um die pathologischen
Prozesse menschlicher Krankheitsbilder, die durch genetische Veränderungen verursacht werden, zu erforschen
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und Strategien für neue Therapien zu
entwickeln und zu erproben.
Mit dem Ziel die pathologischen
Mechanismen der Alzheimerschen und
Parkinsonschen Krankheiten zu entschlüsseln, haben wir in Zusammenarbeit mit der Firma Biofrontera Pharmaceuticals GmbH (www.biofrontera.de)
zahlreiche transgene Mauslinien erzeugt. Diese Mäuse tragen genetische
Mutationen, die in Menschen den Ausbruch der Krankheiten verursachen.
52
Promotor fungiert
als „Genschalter“
Abb. 4:
M. Alzheimer - Hirnschnitte
transgener Mäuse:
A: Expressionsmuster des mutierten
humanen Gens APP in der Hirnrinde.
Immunhistochemischer Nachweis mit
einem humanspezifischen Antikörper
gegen APP.
B: Ausbildung von Amyloid-plaques
in der Hirnrinde einer 18-Monate alten transgenen Maus.
C: Nahaufnahme eines Amyloidplaques.
D: Amyloid-plaque umgeben von reaktiven Gliazellen (Astrozyten).
In den transgenen Mäusen unseres
M. Alzheimer-Projekts werden die mutierten humanen Gene APP und PSEN1
einzeln oder beide gleichzeitig hergestellt (exprimiert). Gesteuert durch den
Thy1-Promotor findet man in nahezu
allen Neuronen des Gehirns das mutierte humane Protein APP (Abb. 4A). Diese APP-Mäuse entwickeln altersabhängig spezielle Ablagerungen, die sog.
Amyloid-Plaques (Abb. 4B-D). Sie
sind ein Kardinalsymptom der Alzheimer-Pathologie. Durch die Kombination der APP- und PSEN1-Mutationen ist
es uns gelungen, den Ausbruch der Er-
krankung in den Tieren zu beschleunigen und das Ausmaß der Schädigungen
zu verstärken.
In unserem Parkinson-Projekt haben wir inzwischen transgene Linien
für alle bisher bekannten krankheitsverursachenden Gene erzeugt. Neben
einer Parkin-Knockout-Maus, die die
autosomal-rezessive Form des jugend-
Tierphysiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Abb. 5:
M. Parkinson: Transgene α -synuclein
(SNCA)-Mäuse. Zellen in der Hirnrinde transgener Mäuse, in denen das
fremde Gen, hier das mutierte humane α -synuclein, hergestellt (exprimiert) wird. Mauslinie 1 (A, B) zeigt
eine ubiquitär neuronale Expression,
Mauslinie 2 (C, D) exprimiert das
Transgen nur in dopaminergen Neuronen und die Mauslinie 3 (E, F)
exprimiert das fremde Gen ausschließlich in Gliazellen.
lichen/frühen Parkinsonismus widerspiegelt, haben wir transgene Mauslinien erzeugt, die mutiertes humanes
UCHL1 oder SNCA herstellen und dadurch als Modelle für die autosomaldominanten Formen des M. Parkinson
dienen (s. Glossar). Indem wir verschiedene Promotoren einsetzen, erhalten wir Mauslinien, die das fremde Gen
in unterschiedliche Zellen und Hirnregionen tragen. So haben wir Mauslinien, die das Transgen
in allen Neuronen des
Gehirns (ubiquitär) bzw.
ausschließlich in dopaminergen
Neuronen
(Botenstoff Dopamin)
aktivieren und solche,
die das Transgen nur in
Stützzellen (Gliazellen,
s. Abb. 4) tragen.
Die spannenden
Fragen, die sich nun stellen sind (i), welche
Funktionsstörungen durch
die eingeführten Genmutationen in den Mäusen
ausgelöst werden, (ii) ob
sie denen von Parkinson-Patienten gleichen
und, wenn nicht, (iii)
welche kompensatorischen Mechanismen in
der Maus die Krankheitsentstehung erfolgreich
verhindert haben. Zur
Beantwortung dieser Fragen setzen wir
eine breite Palette histologischer und
molekularbiologischer Methoden sowie
Verhaltensstudien ein. Wir charakterisieren den pathologischen Zustand der
Tiere und definieren Zeitpunkte, die
mit deutlichen degenerativen Veränderungen einhergehen. Diese Zeitpunkte
stehen dann im Mittelpunkt unserer
Genexpressionsanalysen. Mit dem
DEPD ®-Verfahren (Digital Expression
Pattern Display, Patent-Nr. DE1980
6431C1) und einer hochentwickelten
Bioinformatik versuchen wir den Genen auf die Spur zu kommen, die die
degenerativen Prozesse steuern.
Die eingeführten Mutationen haben
bereits zu pathologischen Veränderungen in den Mäusen geführt: So hatte
z.B. das gezielte Entfernen des Gens
Parkin (Parkin-Knockout-Maus) bereits
in jungen Tieren biochemische und
Transgenic animal models
Abb. 6:
An einer Sterilbank wird das
Kulturmedium für die Stammzellen vorbereitet, die für die
Herstellung transgener Tiere
benötigt werden.
Animal models are important tools
used in experimental medical science
to better understand the pathogenesis
of human disease. Advances in molecular genetics provide approaches for
the establishment of animal models
using transgenic technology.
In order to learn more about the
molecular events underlying the neurodegenerative diseases M. Parkinson
and M. Alzheimer, we have developed
transgenic animals that mirror different
aspects of their neuropathology. Analyses of these animals give us valuable
insight and clues to the underlying
pathogenesis and allow us to develop
new therapeutic approaches.
abstract
53
Naturwissenschaften
Tierphysiologie
NEUROrubin 2003
Abb. 7:
Unter dem Mikroskop werden die gefärbten Hirnschnitte von transgenen
Mäusen ausgewertet. Transgene Tiere
erkennen die Forscher an veränderten
Neuronen bzw. Gliazellen, die beurteilt und gezählt werden.
Herstellung transgener Tiere
Konventionelle Veränderung
Einbringen von Fremd-DNA an unbestimmter Stelle in irgendein
Chromosom.
Gezielte Veränderung
(Gene Targeting)
Gene, die den
Zelltod bringen
Einführung eines zusätzlichen DNAFragments in ein Zielgen.
Einführung einer Deletion in ein
Zielgen.
Gezielte Veränderung einzelner
Nukleotide des Zielgens.
Konditionelle Veränderung
Gerichtete genetische Abwandlung,
die nur ein spezifisches Gewebe
oder einen Zeitabschnitt in der Entwicklung eines Organismus oder
beides betrifft.
info
54
morphologische Veränderungen in den
Neuronen zur Folge, die bei Parkinsonikern absterben. Auch wenn die Erkrankung bei den noch jungen Tieren
nicht vollständig identisch mit der
beim Menschen ist, so besteht die
Hoffnung, dass der Krankheitsprozess
fortschreitet und noch weitere, pathologische Veränderungen erzeugt.
Die in den transgenen Mäusen beobachteten Defekte werden dadurch
verursacht, dass durch das Entfernen
des Parkin-Gens weitere Gene an- bzw.
abgeschaltet werden. Die Gruppe dieser nachgeschalteten Gene haben wir
mit der DEPD®-Methode analysiert.
Schon in jungen transgenen Tieren fanden wir dabei bereits bekannte mit dem
Zelltod verbundene Gene, aber auch
eine bemerkenswerte Zahl von Genen,
die bislang nicht mit degenerativen Prozessen in Zusammenhang gebracht
wurden. Diese Gene eröffnen uns ein
ganz neues Verständnis zelltodinduzierender Prozesse.
Durch die transgenen Tiere haben
wir somit erstmals die Chance, die
Krankheit am lebenden Organismus zu
untersuchen und die krankheitsverursachenden Prozesse aufzuklären. Das
heißt auch, dass mit Hilfe dieser Tiere
neue Diagnosemethoden und Therapieansätze entwickelt werden können.
Glossar:
autosomal-rezessive Form: Das Gen liegt auf
einem Körperchromosom (Autosom), nicht auf
einem Geschlechtschromosom und seine Merkmalsausprägung tritt gegenüber der seiner Kopie
(Allel) zurück.
dominante Form: Vorherrschen der Merkmalsausprägung eines Gens.
IGSN
NEUROrubin 2003
International Graduate School for Neuroscience (IGSN)
Mit Prinzip über den eigenen Tellerrand schauen
Ercan Altinsoy hat in Istanbul
Maschinenbau studiert, Britta Jost in
Freiburg Biologie und Anna Abraham
Psychologie in Indien und England,
danach haben sie alle den Weg nach
Bochum gefunden, um an der International Graduate School for
Neuroscience (IGSN, Sprecher: Prof.
Dr. Klaus-Peter Hoffmann) ihren
Doktortitel PhD in Neuroscience zu
erwerben. Ihre Forschungsgebiete sind
vielfältig – von der gegenseitigen Beeinflussung auditiver und taktiler Reize über
den Sitz des kreativen Potenzials bis hin
zu den Strukturen einzelner Rezeptoren in
den Nervenzellen des Gehirns: Die IGSN
umfasst die Neurowissenschaften vom
Molekül bis zur Kognition. Insgesamt 29
Hochschullehrer aus den Fakultäten für
Medizin, Chemie, Biologie, Elektrotechnik und Psychologie sowie dem Institut
für Neuroinformatik der RUB arbeiten interdisziplinär zusammen und etablieren
die Neurowissenschaften als eigenes Fachgebiet. Dieser Ansatz hat an der Ruhr-Universität bereits Tradition: Zur Vorgeschichte der 2001 gegründeten IGSN gehören eine interdisziplinäre neurowissenschaftliche DFG-Forschergruppe (1990-
1996), das kognitions- und gehirnwissen
schaftliche Graduiertenkolleg der DFG
KOGNET (1991-2000), der seit 1996 bestehende neurowissenschaftliche Sonderforschungsbereich 509 NEUROVISION und
das Institut für Neuroinformatik. Mit der
Anerkennung der Neurowissenschaften an
der Ruhr-Universität als internationalem
Center of Excellence ist die IGSN Anziehungspunkt hoch begabter Bewerber aus
dem In- und Ausland. Damit will die IGSN
die internationale Konkurrenzfähigkeit des
Standorts Bochum erhöhen und die Qualität
des wissenschaftlichen Nachwuchses langfristig sichern.
Zehn Stipendien werden jährlich an
herausragende Absolventen medizinischer,
natur- und einiger ingenieurwissenschaftlicher Fächer vergeben, wenigstens ein
Drittel der Teilnehmer sollen
aus dem Ausland stammen. Sie
erforschen Fragen der Genetik
und Strukturanalyse einzelner Membranproteine bis hin
zur Entwicklung und funktionellen Charakterisierung des
Neokortex, sie widmen sich der
Modellbildung und der technischen Umsetzung in der Neuroinformatik. Auf dem Programm steht außerdem die Verknüpfung zwischen der
neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung und relevanten klinischen Krankheitsbildern. Diese Breite wissen die
PhD-Studierenden zu schätzen: „Interdisziplinarität ist für die Neurowissenschaft
wichtig, Denkstrukturen müssen erweitert
werden”, so die Biologin Britta Jost. „Und
es ist gut, in der IGSN Leuten zu begegnen, die auf derselben Ebene arbeiten.“
Jeder ist Experte seines eigenen Fachgebiets, muss sich jedoch in andere Bereiche
erst einarbeiten; „dumme“ Fragen gibt es
nicht. Tobias Niemann
Weitere Informationen zur IGSN im
Internet: http://www.rub.de/igsn
Sinneswahrnehmungen beeinflussen sich
Die Hände hören mit
Wenn wir mit geschlossenen Augen mit
dem Finger über zwei unterschiedliche
Sandpapierstücke streichen, können wir sofort sagen, welches rauer ist. Wir haben es
mit der Fingerspitze ertastet – aber nicht
nur: Wir haben auch das unterschiedliche
Geräusch wahrgenommen, das der Finger
auf dem Papier hervorgerufen hat. Nebensache? Informationen, die über verschiedene Wahrnehmungskanäle kommen, zu integrieren, ist eine grundlegende Funktion unseres Gehirns. „Wie genau das passiert und
wie sich die Sinneswahrnehmungen gegenseitig beeinflussen, ist nicht hinreichend
erforscht. Das liegt u.a. daran, dass es im
Experiment bislang schwierig war, den einzelnen Sinnen voneinander unabhängige
Reize zu präsentieren“, erklärt Ercan Altinsoy, der am Institut für Kommunikationsakustik die Interaktion von auditiver und
taktiler Wahrnehmung erforscht. Er bedient
sich für seine psychophysischen Studien
virtueller Umgebungen. Dort entspringen
die Reize nicht der physikalischen Realität,
sondern können künstlich generiert und
unabhängig voneinander verändert werden.
Altinsoy nutzt ein Simulationssystem,
mit dem man in physikalisch nicht existierende Umgebungen hineinhören kann. Er
hat es um eine taktile Komponente erweitert, die Oberflächeninformationen, Ganzkörperschwingungen und das sog. forcefeedback, das wir z. B. beim Klopfen oder
Schlagen empfinden, simulieren kann.
Durch Tests an Versuchspersonen hat er bereits herausgefunden, dass, auch wenn das
System immer dasselbe force-feedback
gibt, der Nutzer den Eindruck hat, kräftiger
geschlagen zu haben, wenn er ein lauteres
Geräusch dabei gehört hat. In anderen Experimenten hat Altinsoy die Verzögerungs-
toleranz zwischen einzelnen Reizen ermittelt: Wie lange dürfen Tastinformation und
Geräusch auseinander liegen, damit das
Gehirn sie als zusammengehörig interpretiert? Empfängt die Hand die Tastinformation nach dem Geräusch, dürfen nicht
mehr als 26 Millisekunden dazwischen vergehen, kommt hingegen das Geräusch verzögert, toleriert das Gehirn bis zu 49
Millisekunden. Andere Schwellenwerte ergaben Experimente mit Geräuschen und
Ganzkörperschwingungen: Kommt das Geräusch zuerst, dürfen bis zur Schwingung
höchstens 35 Millisekunden vergehen,
kommt die Schwingung zuerst, darf das
Geräusch nicht mehr als 39 Millisekunden
später erklingen. Weitere Tests sollen zeigen, welchen Einfluss die taktile Wahrnehmung auf die Lokalisation von Schallquellen hat.
Die Experimente sollen helfen, ein
besseres Verständnis der Integration von
akustischer und taktiler Information zu gewinnen und virtuelle Umgebungen möglichst realistisch erfahrbar zu machen. md
55
IGSN
NEUROrubin 2003
Trigeminus-Nerv aktiv:
Life übertragen aus der
Nervenbahn
Chemische Sinne spielen eine entscheidende Rolle im täglichen Leben der Säugetiere und des Menschen. Dazu gehört neben
Geruchs- und Geschmackssinn auch der
„trigeminale Sinn“. Diese Sinnessysteme vermitteln z.B. woraus sich die Nahrung
zusammen setzt. Schon vor der Aufnahme
der Nahrung informieren vor allem der Geruchs- und der trigeminale Sinn über ihre
Genießbarkeit. Zudem ist der Geruchssinn
von besonderer Bedeutung bei der sozialen
Kommunikation. Säugetiere erkennen
potenzielle Geschlechtspartner oder Feinde
an ihrem Körpergeruch. Der trigeminale
Sinn schützt den Organismus vor schädlichen Substanzen, indem er Sinneseindrücke
wie juckend, stechend, brennend oder beißend vermittelt. Dabei werden die chemischen Reize von freien Nervenendigungen des 5. Hirnnervs (Nervus trigeminus) in
den Schleimhäuten von Mund und Nase und
in den Geweben des Auges aufgenommen
und in elektrische Signale umgewandelt.
Diese werden dann entlang der Nervenfasern über das Ganglion trigeminale (Gasseri) in definierte Bereiche des Hirnstamms
geleitet. Dort bestehen Verbindungen zu
weiteren Nervenzellen, die für die Datenverarbeitung notwendig sind. Verschaltungen zwischen Nervenzellen im gesamten
Nervensystem bilden die Basis dafür, dass
Informationen aus der Umwelt geordnet
weitergeleitet und verrechnet werden und schließlich zur bewussten
Wahrnehmung führen können.
Erst die Kenntnis der funktionalen Verbindungen der Nervenzellen untereinander lässt uns die
Funktion einzelner Nervenzellen
sowie die Arbeitsweise und Informationsverarbeitung komplexer
Strukturen des Gehirns verstehen.
Moderne Techniken ermöglichen
es heute, die Aktivität von Nervenzellen unter natürlichen Bedingungen zu beobachten, z.B. den
Zusammenhang von Umweltreizen
und neuronalen Aktivitätsmustern einzelner
Zellen und funktionaler Netzwerke.
Nils Damann untersucht in seiner Doktorarbeit am Lehrstuhl für Zellphysiologie
die Aktivität trigeminaler Nervenzellen und
das funktionale Zusammenspiel von Nervenzellgruppen im Ganglion trigeminale von
Mäusen. Indem er über genetisch veränderte
Viren einen Calcium-empfindlichen Fluoreszenzfarbstoff in die Nervenzellen einschleust, macht er die neuronale Aktivität
dieser Zellen sichtbar. Mit optischen (bildgebenden) Verfahren blickt er „life“ und in
Echtzeit in den intakten Gewebeverband.
Da sich das ausgewählte Virus innerhalb des Nervensystems spezifisch über
aktivitätsgekoppelte Nervenzellen ausbrei-
Abb.: Trigeminale Nervenzellen produzieren
nach Virusinfektion ein fluoreszierendes Protein. Bei Bestrahlung mit Licht einer bestimmten
Wellenlänge leuchten die Nervenfasern und
Zellkörper charakteristisch.
tet (Neurotropie), vermittelt sein Verbreitungsmuster im Gehirn die exakte Funktionskarte der an der Informationsverarbeitung beteiligten Strukturen (s. Abb). Mit
immunhistochemischen und aktivitätsabbildenden Verfahren (Ca-Imaging) können
die trigeminalen Sinnesreize erstmals auf
ihrem Erregungs- und Verarbeitungspfad
durch das Mäusegehirn verfolgt werden.
Bausteine elektrischer Synapsen suchen:
Methode im Griff
Erst in den letzten Jahren machen sie
von sich reden, die elektrischen Synapsen
(Abb.1, A), auch Gap Junctions genannt: Es
sind kleine Kanäle, die benachbarte Zellen
miteinander verbinden und sich aus speziellen Proteinen (Connexinen) zusammensetzen. Elektrische Synapsen leiten Signale ohne Hilfe von Botenstoffen (wie die
chemischen Synapsen) und damit extrem
schnell von Nervenzelle zu Nervenzelle
weiter. Sie verbinden Neurone untereinander zu ganzen Netzwerken. Wenn es um
komplizierte Wahrnehmungen geht, die unser Gehirn aus vielen Detailinformationen
aufbaut, scheinen sie eine wichtige Rolle
zu spielen. Vermutlich sind elektrische
Synapsen mitverantwortlich für schnelle
rhythmische Entladungen, sog. Oszillationen, in der Hirnrinde und deren Weiterleitung über größere Distanzen hinweg zu
übergeordneten Neuronen.
56
Oszillationen kommen in unterschiedlichen Hirngebieten vor und werden mit höheren Hirnfunktionen wie Gedächtnisbildung und Wahrnehmung in Verbindung gebracht. Eine dieser Hirnregionen ist der
Hippocampus, der an der Bildung des Langzeitgedächtnisses beteiligt ist.
Svenja Weickert (Neuroanatomie und
Molekulare Hirnforschung) ist den elektrischen Synapsen im Hippocampus auf der
Spur, indem sie nach ihren Bausteinen, den
Connexinen, sucht und diese analysiert.
Bisher weiß man wenig über die Funktion,
molekulare Vielfalt und Konzentration dieser Proteine in den verschiedenen Hirnarealen. Deshalb möchte die PhD-Studentin
mit modernen molekularbiologischen Methoden auf RNA-Ebene klären, welche Proteine dieser Connexinfamilie an der elektrischen Kopplung im Hippocampus beteiligt
sind und welcher Zusammenhang zwischen
IGSN
NEUROrubin 2003
der Häufigkeit ihres Auftretens und ihrer
Funktion besteht.
Da bisherige Techniken, mit denen Connexine in spezifischen Zellgruppen untersucht wurden, zu widersprüchlichen Ergebnissen führten, setzt Svenja Weickert in ihrer Arbeitsgruppe als eine der ersten in
Deutschland die Lasermikrodissektion (Laser Microbeam Microdissection, LMM)
ein: Sie bringt dünne Gewebeschnitte auf
folienbeschichtete Objektträger auf und
färbt sie zur besseren Orientierung an. Mit
einem Laser schneidet sie dann unter dem
Mikroskop definierte Zellgruppen aus dem
Gewebe aus. Da das Gewebe auf der Folie
und nicht direkt am Objektträger haftet (s.
Abb.1, B-E), können einzelne Schnitte gesammelt werden. A us diesen Proben wird
die RNA isoliert und dann mit speziellen
Techniken (reverser Transkription, RT, und
Polymerase Chain Reaction, PCR)
in DNA umgesetzt und sehr spezifisch untersucht. So lässt die Real
Time RT-PCR-Technik Aussagen
zur Konzentration einer RNA in
der Probe zu: ein Fluorenszenzfarbstoff macht den Reaktionsverlauf bei dieser äußerst empfindlichen quantitativen Analyse
messbar – die RNA-Menge kann
unmittelbar abgelesen werden.
Svenja Weikert hat mit der
LMM-Methode inzwischen viel
Erfahrung sammeln können und
bereits einige Vertreter der Connexinfamilie im Hippocampus nachgewiesen. Sie wird diese Ergebnisse nun mit anderen elektrisch gekoppelten Hirnregionen
vergleichen. Schließlich will sie den Hippocampus zum Oszillieren bringen, um an-
hand der Konzentrationsveränderungen der
Connexine ihrer Funktion auf die Spur zu
kommen – die optimale Methode dafür hat
sie schon im Griff!
Plastizität des erwachsenen und alternden Gehirns:
Zirkelspitzenpaare tasten
„Was Hänschen nicht lernt Hans
(n)immer mehr“ – nicht zum ersten Mal
scheint hier wissenschaftliche Erkenntnis
den Volksmund zu widerlegen: Wie aktuelle Ergebnisse zeigen, sind Leistungssteigerung und Plastizität des Gehirns bis ins
hohe Alter möglich. Den Zusammenhang
zwischen Verhaltensänderungen und deren
Auswirkungen auf dafür zuständige Hirnbereiche untersucht Patrick Ragert (Institut
für Neuroinformatik) in seiner Doktorarbeit
an der IGSN. Indem er beobachtet, wie sich
bei veränderter Tastwahrnehmung (Perzeption) zugleich Bereiche des Gehirns umstrukturieren, erfährt er mehr über die physiologischen Mechanismen des „perzeptuellen Lernens“.
Seine Arbeiten konzentrieren sich auf
zwei Bereiche. Im Mittelpunkt stehen die
Auswirkungen eines passiven künstlichen
Trainings auf kortikaler und Verhaltensebene. Dies erfolgt mithilfe simultaner
Abb.: Zuwachs an Hirnaktivität im Bereich
des primären (S1) und sekundären (S2)
somatosensorischen Kortex durch künstliches passives Training .
Reizmuster unter genau definierten Bedingungen und in drei Trainingsschritten: Zunächst lernen Testpersonen vorgegebene
Tastreize zu unterscheiden, indem sie mit
dem Finger acht Zirkelspitzenpaare auf einer sich drehenden Scheibe ertasten müssen („aktives Lernen“). Daran schließt sich
das „künstliche Training“ an, bei dem die
rezeptiven Felder für das Tasten der Zirkelspitzenpaare an den Fingerspitzen der
Testpersonen mit genau definierten Reizen
stimuliert werden. Im dritten Schritt wird
das „aktive Lernen“ wiederholt. Dabei
zeigte sich, dass der Tastsinn durch „künstliches Training“ verbessert werden kann die Testpersonen ertasten wesentlich mehr
Zirkelspitzenpaare als beim ersten „aktiven
Lernen“. Patrick Ragert stellte außerdem
einen linearen Zusammenhang zwischen
verbessertem Tastsinn und Umstrukturierungen der dafür zuständigen Hirnareale
fest (s. Abb., SI und SII).
Neben den peripheren Reizen an den
Fingerspitzen stimuliert er auch direkt die
Hirnregionen, in denen die Reize der Fingerspitze verarbeitet werden. Er nutzt dafür
die repetitive transcranielle Magnetstimulation (rTMS), bei der sich mithilfe
eines Magnetfeldes die Aktivität in bestimmten Hirnregionen kurzzeitig verändern lässt. Die funktionellen Änderungen
im Gehirn erfasst er kernspintomografisch
und mit einer speziellen Hirnstrommessung
(SEP-mapping).
Im zweiten Teil seiner Arbeiten erforscht Ragert, wie sich aktives Training
im Vergleich zu fehlendem Training auf das
Alltagsleben und die Reorganisation des
Gehirns auswirken. Für diese Untersuchungen wählt er drei repräsentative Personengruppen aus: Menschen mit künstlerischen
Fähigkeiten (z.B. professionelle Musiker),
Patienten mit pathologischen Symptomen
(z.B. Schmerz) sowie ältere Menschen. Bei
Musikern lässt sich aufgrund ihres enormen
Trainings spezifischer musikalischer Fähigkeiten die kortikale Plastizität besonders
gut studieren. Patienten mit pathologischen
Symptomen wie etwa Schmerzen zeigen infolge fehlenden Trainings durch Nichtgebrauch der betroffenen Extremität häufig
erhebliche Reorganisationen im Gehirn.
Mithilfe bildgebender Verfahren wie
der Kernspintomografie weist er nach, dass
Alterungsprozesse deutliche funktionelle
Veränderungen im menschlichen Gehirn
verursachen. Er will nun herausfinden, ob
diese Prozesse in einem Zusammenhang
mit eingeschränkten motorischen, sensorischen sowie kognitiven Fähigkeiten stehen.
57
IGSN
Wo die Geistesblitze herkommen
Maler, Werber, Musiker, Schriftsteller –
sie alle leben von ihren guten Ideen: Ihr
Kapital ist ihre Kreativität. Der präfrontale
Kortex im vordersten Bereich des Gehirns
hinter der Stirn ist wahrscheinlich Hauptsitz dieser schöpferischen Kraft. Welche
kognitiven Vorgänge jedoch genau an den
komplexen kreativen Prozessen beteiligt
sind und wie sie in dieser Hirnregion auf
unterschiedliche Art und Weise verarbeitet
werden, ist bisher nicht bekannt. Um diese
Fragen zu ergründen, vergleicht Anna Abraham (Biopsychologie) kreative Leistungen
von gesunden Probanden mit denen von Patienten mit krankhaften Veränderungen des
präfrontalen Kortex, wie sie etwa bei Schizophrenie auftreten. Durch Unterschiede
zwischen diesen beiden Gruppen hofft sie,
auf Funktionen dieser Hirnregion rückschließen zu können. Ihre Hypothese: Die
Patienten werden die Kontrollgruppe in einigen kreativen Denkprozessen übertreffen.
Denn manche gesunden Abläufe in unserem Denken können bei kreativen Aufgaben eher hinderlich sein. So beziehen wir
in die Verarbeitung neuer Informationen
immer unsere Erfahrungen und Erwartungen mit ein (top-down processing). Bei
schizophrenen Patienten deutet hingegen
einiges darauf hin, dass diese Einbeziehung
von Vorwissen in kognitive Prozesse bei
ihnen vermindert ist – Aufgaben, bei denen
es von Vorteil ist, frei von Erfahrungen und
Erwartungen zu sein, müssten sie also bes-
Vorkommen und Funktion klären:
Rezeptor der „Extraklasse“
Einem noch wenig erforschten Rezeptor
des zentralen Nervensystems ist Britta Jost
(Entwicklungsneurobiologie) auf der Spur:
Der sog. GABA C -Rezeptor ist einer von
dreien, die für γ -Aminobuttersäure (GABA)
empfänglich sind. GABA ist der wichtigste
hemmende Botenstoff im Nervensystem von
Wirbeltieren. Durch das Zusammenspiel
zwischen hemmenden und erregenden
Botenstoffen wie z. B. Glutamat wird die
Nervenzellaktivität im Gehirn reguliert:
Trifft GABA auf einen für diesen Botenstoff empfänglichen Rezeptor, so öffnen
sich Kanäle, die bestimmte Ionen in die
Zelle hineinlassen und so das elektrische
Potenzial im Zellinneren herabsetzen. Von
diesem Potenzial hängt die Aktivität der
Zelle und die Weiterleitung der neuronalen Signalen ab.
Während die beiden Rezeptortypen GABA A und GABA B schon seit längerem bekannt sind, entdeckten Wissenschaftler
GABA C erst vor einigen Jahren. Dieser Rezeptor unterscheidet sich in der Zusammensetzung seiner Untereinheiten und der dar-
58
aus resultierenden Empfänglichkeit für verschiedene Botenstoffe so sehr von den anderen beiden GABA-Rezeptoren, dass die
Forscher ihm eine eigene Rezeptorklasse
zuwiesen. Wo GABA C genau vorkommt, in
welchem Entwicklungsstadium eines Organismus er vorhanden (exprimiert) ist und
welche Aufgaben er hat, untersucht Britta
Jost in ihrer Dissertation.
GABA C kommt gehäuft in der Netzhaut
und in visuellen Arealen des Gehirns vor,
z. B. im Colliculus superior, einer Hirnregion, die an den Koordinationsbewegungen der Augen beteiligt ist. Auch in der
Sehrinde lässt sich der Rezeptor nachweisen. Man nimmt daher an, dass GABA C
eine Rolle beim Sehprozess spielen könnte.
Um herauszufinden, ob der Rezeptor von
Geburt an im Gehirn vorhanden ist oder
sich erst später etabliert, ob seine Entstehung womöglich durch das Sehen selbst
beeinflusst wird, untersucht Britta Jost diverse Gewebeproben aus visuellen Hirnarealen. Mittels molekularbiologischer Techniken kann sie darin enthaltene Rezeptor-
ser lösen können als gesunde Testpersonen.
Diesen Effekt soll ein Experiment belegen:
Beide Gruppen sollen ein Tier zeichnen,
das auf einem fernen Planeten vorkommen
könnte, der vollkommen anders ist als die
Erde – eine schwierige Aufgabe, wenn das
irdische Vorwissen dabei im Weg steht.
Eine solche Begriffserweiterung ist jedoch
immer dann notwendig, wenn wir neue Ideen entwickeln. Vorangehende Untersuchungen an gesunden Probanden haben bereits
gezeigt, dass Menschen mit stärkeren psychotischen Zügen besser in der Lage sind,
ihre Begriffskonzepte zu erweitern (s. auch
Bild links im Vergleich zu Bild, rechts
oben) als Menschen mit schwächer ausgeprägten psychotischen Merkmalen. md
DNA für GABA C nachweisen, deren Gehalt
in den einzelnen Proben ermitteln und so
ein Entwicklungsprofil erstellen.
Um zu testen, welche äußeren Faktoren
die Entwicklung dieses Rezeptors beeinflussen, legt sie organotypische Zellkulturen von entsprechenden Hirnarealen an und
fügt der Nährlösung, die sie versorgt, bestimmte Faktoren zu, die als potenziell einflussreiche Kandidaten infrage kommen.
Dieses Kultursystem birgt den Vorteil, dass
Neurone nicht einzeln, sondern in ihrem ursprünglichen Verband wachsen können, was
eher dem natürlichen Zustand entspricht.
Ob eine Zelle den GABA C -Rezeptor
enthält, kann sie anhand elektrophysiologischer Messungen nachweisen: Sie stimuliert einzelne Neurone einer organotypischen Zellkultur mit GABA und leitet
über eine sog. patch-clamp-Messung den
Strom aus dem Zellinneren ab. Dieser
durch GABA induzierte Strom setzt sich
aus mehreren Komponenten zusammen. Er
kann von GABA A -, GABA B- und GABA C-Rezeptoren vermittelt werden. Um zu untersuchen ob GABA C -Rezeptoren beteiligt sind,
werden spezifische Stoffe, welche die
GABA A - und GABA B -Rezeptoren blockieren, verabreicht. Bleibt ein Reststrom, so
handelt es sich um den GABA C-vermittelten
Anteil, der durch Gabe eines GABA C -Antagonisten eliminiert werden kann.
Außerdem versucht Britta Jost mit morphologischen Untersuchungen herauszufinden, wo genau sich die GABA C -Rezeptoren
befinden. Die Forscher vermuten, dass sie
auf sog. Interneuronen sitzen, d. h. Nervenzellen, die andere Nervenzellen miteinander
verbinden. Mithilfe ihrer Daten soll eine
Übersicht über das Vorkommen von GABA C
entstehen. Außerdem versprechen ihre Ergebnisse genauere Einblicke in die Funktion dieser Rezeptoren im neuralen Netzwerk
des Colliculus superior. md
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