LV Hinduismus Betreute Studienanteile (II)

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Pht – Lehrgang „Ethik in Schule und Bildung I“ – 2012-14
LV Asiatische Hochreligionen I – Hinduismus
Betreute Studienanteile
Dr. Christoph Thoma - Lehrgangskoordinator
24.11.2013
pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14
Inhaltsverzeichnis
1
MANFRED HUTTER: MYSTIK UND GOTTESLIEBE AM BEISPIEL DER BHAGAVADGITA ..................................... 3
1.1
1.2
Ursprung und Gestalt der Bhagavadgita als Dokument hinduistischer Mystik ........................................................... 3
Die zwei Gestalten der Mystik ................................................................................................................................... 4
1.2.1
Jnana – Die philosophische Mystik: Vereinigung von Atman und Brahman ........................................................................ 5
1.2.1.1
Chandogya-Upanishad: Die Gleichnisse vom Schlaf und vom Salz ................................................................................. 5
1.2.1.2
Bhagavadgita: Durch Yoga zur Vereinigung von Atman und Brahman ........................................................................... 6
1.2.2
Bhakti - die emotionale Mystik der Gottesliebe.................................................................................................................... 7
1.2.2.1
Die Entwicklung von Bhakti in Südindien ........................................................................................................................ 8
1.2.2.2
Die Entwicklung von Bhakti in Nordindien ...................................................................................................................... 8
1.3
Die Bhagavadgita heute .............................................................................................................................................. 9
HEINRICH VON STIETENCRON: DIE HEILSAME VERNICHTUNG – ZORN UND GEWALT DES GOTTES SIVA ....... 9
2
2.1
2.2
Indra, Vishnu, Siva: Gewalt im Kampf gegen Dämonen, zur Durchsetzung der Ordnung ....................................... 10
Siva in den Mythen ................................................................................................................................................... 11
2.2.1
Siva, genannt Pasupai, Rudra, Kalabhairava, Mahakala ..................................................................................................... 11
2.2.1.1
Rudra, oder: Die Ambivalenz der Schöpfung ................................................................................................................ 11
2.2.1.2
Siva als Kalabhairava und Mahakalah: Die 4 Vernichtungen und dieEndzeitvision ....................................................... 12
2.2.2
Der yogische Aspekt Sivas ................................................................................................................................................. 14
2.2.2.1
Der Mythos vom Schicksal des Liebesgottes Kama ....................................................................................................... 14
2.2.3
Der Mythos von der Vernichtung des Dämonen Andhaka ................................................................................................. 15
2.2.3.1
Der Mythos ................................................................................................................................................................... 15
2.2.3.2
Deutung des Mythos: Blindheit und Gier kennzeichnen die Welt ................................................................................ 18
2.3
3
Abschluss: Siva und die Gewalt ............................................................................................................................... 18
SYSTEMATISCHE DARSTELLUNG: GRUNDZÜGE DES HINDUISMUS ................................................................ 19
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6
3.7
Entstehung ................................................................................................................................................................ 19
Schriften ................................................................................................................................................................... 19
Heilige Stätten .......................................................................................................................................................... 19
Lehre ........................................................................................................................................................................ 19
Feiern........................................................................................................................................................................ 19
Tod ........................................................................................................................................................................... 19
Reinkarnation ........................................................................................................................................................... 19
4
ZUSAMMENFASSUNG HINDUISMUS .............................................................................................................. 19
5
ZUR PFLICHTETHIK: KANT UND DIE GITA .................................................................................................... 19
6
QUELLENVERZEICHNIS ................................................................................................................................. 24
7
KOMPETENZWEGE ZUR INDIVIDUELLEN ODER GEMEINSAMEN BEARBEITUNG .............................................. 24
7.1
7.2
8
Fragen/Aufgaben zur Ertragssicherung .................................................................................................................... 24
Fragen/Aufgaben Ertragserweiterung ....................................................................................................................... 24
LITERATUR ................................................................................................................................................... 24
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1
Manfred Hutter: Mystik und Gottesliebe am Beispiel der Bhagavadgita
Innerhalb der einzelnen Hindu-Religionen lassen sich in großen Zügen zwei Typen von Mystik unterscheiden, nämlich die ‚philosophische Mystik‘ und die ‚emotionale Mystik‘, die sogenannte ‚Bhakti‘ oder ‚Gottesliebe‘. Wenn dabei eine Wertung erlaubt ist, so kann man erstere als eine „Elite-Mystik“ und zweitere als „Popular-Mystik“ bezeichnen. Beides findet sich
in der Bhagavadgita, einem Text des Vishnuismus. Dieser scheint durchaus repräsentativ zu
sein für Ausführungen hinsichtlich hinduistischer Mystik und damit verbunden dem Streben
nach der Überwindung der Folgen des Karma in der Wiederverkörperung.
Mystik ist ein Bereich der Religionsgeschichte, der Erfahrungen des transzendenten Heils
bereits in die jetzige Lebenswelt hereinholt. Dadurch ist mystische Erfahrung jeweils eine
subjektive Erfahrung, die nur ansatzhaft von Außenstehenden nachvollzogen werden kann.
Will man daher über Mystik im hinduistischen Kontext sprechen, so liegen uns zwar schriftlich festgehaltene Erfahrungen von Mystikern vor, die das Bild von Mystik prägen, die aber
nur äußerliche Phänomene erfassen können. Da Mystik zugleich eine individuelle Erfahrung
ist, kann man nicht von der hinduistischen Mystik schlechthin sprechen, doch lassen sich mit
M. von Brück1 drei Merkmale hinduistischer Mystik hervorheben:
(1) Sie zeigt ein Gespür für die Einheit der Phänomene der Wirklichkeit und die Erkenntnis, dass Gott in allem und alles in Gott ist.
(2) Sie strebt als höchste Seligkeit und als Ziel des Lebens die Vereinigung mit Gott an.
(3) Sie setzt voraus, dass - wenigstens ansatzhaft - diese Vereinigung bereits auf Erden erfahrbar wird, wobei eigenes Tun (wie Yogatechniken oder philosophische Erkenntnis)
oder göttliche Gnade zu dieser Erfahrung führen kann.
1.1 Ursprung und Gestalt der Bhagavadgita als Dokument hinduistischer Mystik
Im heutigen Kontext ist die Bhagavadgita (=Bhg.) im Mahabharata, dem großen Epos vom
Kampf zwischen den Pandavas und den Kauravas, im 6. Buch an jener Stelle eingeordnet, als
Arjuna den Mut als Krieger zeitweilig verliert: Er sieht sich seinen Verwandten und Lehrern
gegenüber, gegen die er kämpfen müsste. In dieser scheinbar aussichtslosen Situation zwischen dem ‚dharma‘ (‚Standespflicht‘) des Kriegers, und dem Versuch, den Verwandtenmord
zu vermeiden, belehrt Krishna, der als Arjunas Wagenlenker fungiert, den Helden. Diese Belehrung ist der Hauptbestandteil der Bhg., und sie zerstreut alle Zweifel Arjunas. Die ursprüngliche – selbständige – Bhg. dürfte bereits im 4./3. Jh. v. Chr. entstanden sein, ehe sie
wohl im 2.Jh. n. Chr. ins Mahabharata eingefügt wurde.2 Die runde Zahl von 700 Versen
dürfte die gute Erhaltung des Textes gefördert haben.
Insgesamt fügt sich die Bhg. mit ihrem vielfältigen Inhalt in die großen Traditionsstränge
der älteren Upanishaden ein, etwa wenn die Identität von Brahman und Atman stillschweigend vorausgesetzt, aber nicht besonders hervorgehoben wird, weil das höchste Prinzip theistisch – und zwar als Krishna – aufgefasst wird. Eine Besonderheit der Bhg. – und darin liegt
eine Ursache dafür, dass dieser Text gerade ab der Hindu-Renaissance in der 2. Hälfte des
l9.Jhs seine hervorragende Stellung unter dem Hindu-Schrifttum gewonnen hat – kann darin
gesehen werden, dass in ihr Krishna unterschiedliche Wege zum Heil lehrt, die eng miteinander verbunden sind und sich gegenseitig auch stützen; insofern liefert dieser Text – besser als
andere – ein religiöses „Angebot“, aus dem man – je nach individueller Neigung – das für die
eigene Entwicklung angemessene auswählen kann, ohne das Gefühl zu haben, einem (subjektiven) Eklektizismus zu verfallen.
1
2
M. v. Brück, 1996, S. 5.
H. v. Glasenapp, 1985, S. 166-168.
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Man kann die Bhg. als einen ‚mittleren Weg‘ zur Erlösung betrachten, der nicht nur insofern ein mittlerer Weg ist, als Extrempositionen vermieden werden, sondern auch deswegen,
weil zwischen einzelnen Positionen vermittelt wird. Schon eine erste äußerliche Gliederung
lässt dies erkennen, wenn die Kapitel 1-6 den Wert der (pflichtgemäßen) Tat und des Wissens, die Kapitel 7-12 den Wert der Gottesliebe und schließlich die Kapitel 13-18 den Wert
aller drei Bereiche darlegen, ohne dass man ‚karman‘ (‚Tat‘, ‚Werke‘), ‚Jnana‘ (‚Wissen‘)
und ‚bhakti‘ (‚Hingabe‘) strikt voneinander trennen darf. Vielmehr ist es aufschlussreich, dass
es der Bhg. gelingt, die ‚philosophische‘ und die ‚emotionale‘ Mystik gemeinsam zu propagieren, auch wenn Präferenzen für letztere anklingen.
Allerdings wird – im Vergleich zu späteren Bhakti-Texten – der Vorteil von Bhakti nie
ausdrücklich auf Kosten anderer Wege dargestellt, obschon sie am Ende der Bhg. als „Summe“ von Karman und Jnana steht: „Besser ist des eigenen Standes Ordnung, auch wenn sie
keine Vorzüge hat, als des fremden Standes Ordnung, gut erfüllt. Wenn jemand jene Tätigkeit
ausübt, die ihm von Natur vorgegeben ist, erlangt er keinen Makel. Wer die Bewusstheit losgelöst hat in jeder Beziehung, wer sein Selbst ersiegt hat, wem Ehrgeiz vergangen ist, der
nähert durch Entsagung sich jener höchsten Vollendung, die Freiheit von jeglichem Tun bedeutet. Wenn er Ichdünkel, Macht, Stolz, Lust, Zorn und Raffgier losgelassen hat, frei von
Besitzgefühl, befriedet ist, so ist er bereit für die Seinsweise des Urgrunds (‚brahman‘). Wer
mit dem Urgrund eins geworden ist, und sein Selbst abgeklärt hat, der leidet nicht und der
begehrt nicht; indem er allen Wesen gegenüber gleich ist, erlangt er die höchste Teilhabe
(‚bhakti‘) an mir. Durch Teilhabe erkennt er mich, wie ich in ganzem Umfang wirklich bin.
Danach, nachdem er mich der Wirklichkeit gemäß erkannt hat, geht er ohne Zwischenstufen
in mich ein.“3
1.2 Die zwei Gestalten der Mystik
Geht man von dieser Zusammenfassung aus, so wird deutlich, dass der Mystiker sich schrittweise von der richtigen Einschätzung der Werke und dem entsprechenden Handeln zur Erkenntnis entwickelt;4 diese Erkenntnis beseitigt nicht nur die Folgen der Taten, sondern führt
auch zur Einheit mit dem unpersönlichen Absoluten. Allerdings überschreitet die persönliche
Hingabe an den personalen Gott auch noch diese Erkenntnis. Damit ist – nicht nur am Ende
der Bhg. in der Zusammenfassung – wie ein roter Faden durch den Text hindurch eine Besonderheit der Mystik der Bhg. verdeutlicht:5 Das höchste Brahman, das das Ziel der mystischen
Vereinigung des individuellen Atman ist, ist der personale Gott, der Ishvara. Dieser hat seinen
Sitz in allen „Herzen“ und ist Objekt von Liebe und Verehrung durch die Gläubigen. Dass es
dabei die Mystik der Bhg. allerdings vermeidet, in einem ausschließlichen „entweder – oder“
das unpersönliche Brahman gegenüber dem persönlichen Ishvara auszuspielen, ist eine der
Stärken des Textes. Einerseits heißt es nämlich sehr konkret, dass derjenige, der die einzelnen
Geburten und Gestalten Krishnas kennt, in keine Wiedergeburt mehr eingeht;6 andererseits
lesen wir aber zugleich, wie derjenige, der Krishna verehrt, alle Qualitäten und Gestalten hinter sich lässt, d.h. ein solcher Gläubiger ein Brahmanwesen wird.7 Dass Krishna innerhalb der
Vision seiner Erscheinungsformen auch als Brahman identifiziert wird, wie schon die „alten
Weisen“ gesagt haben,8 fügt sich ebenfalls in dieses Gemeinsame der unterschiedlichen Formen der Mystik ein.
3
Bhg. 18, 47.49.53-55, zit. nach Schreiner 1991, Seite 134f.
Vgl. Bhg. 4,38-42.
5
Vgl. z.B. Bhg. 6,30f.
6
Vgl. Bhg. 4,7-9.
7
Vgl. Bhg. 14,26f.
8
Vgl. Bhg. 10,12.
4
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1.2.1 Jnana – Die philosophische Mystik: Vereinigung von Atman und Brahman
Das Wort ‚Jnana‘ bedeutet ‚Wissen‘, ‚Erkenntnis‘, allerdings nicht primär intellektuelle Erkenntnis, sondern die innere Erkenntnis transzendenter Zusammenhänge, die zwar nicht ohne
Studium bzw. einen Guru erzielt werden kann, sich aber auch nicht darin erschöpft. Versteht
man Jnana in einem solchen Sinn, so liegen die Anfänge dieser Mystik in den Upanishaden. 9
Die Upanishaden sind dabei die ersten in dieser Hinsicht relevanten „Dokumente, die mit abstrakten Begriffen das Umfassen oder Übersteigen alles Endlichen andeuten, die ausdrücklich,
durch Andeutung, durch ein bestimmtes Verhalten auf eine Erfahrung hinweisen, die eine
Vorwegnahme des endgültigen Heils ist.“10
Meditative Versenkung hat es zwar schon in der älteren vedischen Zeit gegeben. Was aber
für unsere Fragestellung relevant ist, dass ist die Tatsache, dass es hier [s.c. in der Bhg.] erstmals zu einem hohen Grad an philosophischer Abstraktion gekommen ist, bei der der Atman
(das Selbst) immer stärker in den Mittelpunkt der Versenkung – und Spekulation – gerückt
worden ist. Das Besondere auf dem Weg zur Mystik ist dabei, dass der Atman in der Meditation und Innenschau durch den Mystiker immer stärker als geistige Komponente des Menschen aufgefasst wurde, eine Bedeutungsentwicklung, die bemerkenswert ist, denn ursprünglich bezeichnete der Atman den Körper/Rumpf des Menschen. Einer der frühesten Texte, die
dafür interessant sind, findet sich in der Chandogya-Upanishad;11 die Meditation über das
Selbst führt hier ausdrücklich zur Formulierung, dass letztlich der Atman mit dem Brahman
vereinigt werden will. Gleichzeitig gewinnt man auch insofern eine Umschreibung der Eigenschaften des Selbst, als dies nicht mehr an den Raum gebunden, sondern nur noch geistiger
Natur und Zentrum aller Erkenntnis- und Willensakte ist.
Damit haben wir eine doppelte Charakterisierung: Die philosophische Mystik besteht in
der Erkenntnis (Jnana), dass Atman und Brahman vereinigt werden müssen, um den Dualismus zu überwinden, und aus der Einsicht, dass Atman und Brahman letztlich eins sind. Wer
eine solche besitzt, ist ein Elite-Mystiker und erfährt höchste Seligkeit, was sich auch äußerlich zeigt, denn ein solcher Mystiker wird friedvoll, entsagend und geduldig.12 Dass solche
Merkmale Ergebnisse – und nicht, wie spätere Texte vermehrt betonen, Voraussetzungen –
der mystischen Erfahrung sind, ist wert, ausdrücklich hervorgehoben zu werden.13
Die so erlangte mystische Erfahrung setzt also die Erkenntnis der wesenhaften Einheit der
Phänomene der Welt und der Überwelt voraus. Um diese Erkenntnis jedoch zu erlangen, ist
eine Belehrung notwendig, d.h. die Erfolgsaussicht dieser Art von Mystik ist mit dem eigenen
Bemühen verbunden, sich auf den Weg der Mystik führen zu lassen. Einige Stellen aus der
Chandogya-Upanishad illustrieren dabei nicht nur die Notwendigkeit der entsprechenden Belehrung durch einen Guru, sondern zeigen zugleich, dass die Erfahrung der abstrakten Einheit
von Atman und Brahman sich auf Bilder berufen kann, die durchaus anschaulich sind und
dem normalen Leben entspringen; durch sie kann die philosophisch-spekulative Lehre konkret verständlich gemacht werden.
1.2.1.1 Chandogya-Upanishad: Die Gleichnisse vom Schlaf und vom Salz
Anhand des Bildes vom Schlaf belehrt Uddalaka seinen Sohn Svetaketu:14 Wenn ein Mensch
schläft, so hat er sich mit dem Brahman vereinigt. Der Tiefschlaf ist wohl ein Bild äußerster
Ruhe, bei dem auch die geistige Substanz des Menschen, der Atman, völlig zur Ruhe gekommen ist; insofern ist das Bild des Schlafes durchaus geeignet, die Überzeugung auszudrücken,
9
Vgl. H. v. Glasenapp, 1985, S. 148-166; Meisig, 1996, S. 39-48.
Vgl. Vetter, 1994, S. 175.
11
Vgl. ChU 3,14.
12
Vgl. Brihadaranyaka-Upanishad [= BAU] 4,4,22f.
13
Vgl. Vetter, 1994, S. 180.
14
Vgl. ChU 6,8,1.
10
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dass in diesem Zustand die Einheit mit dem Brahman erreicht ist; in Analogie wird daraus
weiter abgeleitet, dass man auch im Tod mit dem Ur-Seienden wieder eins werden kann.15
Obwohl Schlaf oder Tod natürlich nicht Ausdruck mystischer Versenkung ist, so sind es doch
diese Überzeugungen, ohne die die Annahme der Vereinigung des Selbst des Mystikers mit
dem Brahman nicht möglich wäre. Auch eine andere Stelle aus derselben Upanishad ist hier
anzuführen, die als eine der bekanntesten der upanishadischen Literatur gelten kann; wiederum wird Svetaketu belehrt: „‚Tue hier Salz in das Wasser und stelle dich früh bei mir ein.‘ Er
tat so. Der sprach zu ihm. ‚Bringe mir das Salz, das du abends in das Wasser getan hast.‘ Er
tastete danach und fand es nicht, da es zergangen war. ‚Koste von dieser Seite. Wie schmeckt
es?‘ – ‚Salzig.‘ – ‚Koste von der Mitte. Wie schmeckt es?‘ – ‚Salzig.‘ – ‚Wirf etwas hinzu
und stelle dich bei mir ein.‘ Er tat so. [...] Der sprach zu ihm: ‚Das Seiende wirst du hier nicht
gewahr, (dennoch:) hier ist es. Dieser feinste Stoff durchzieht dieses All, das ist das Wahre,
das bist Du, Svetaketu.‘“16
Im letzteren Gleichnis wird das Salz, das zwar nicht mehr sichtbar ist, wenn es sich im
Wasser aufgelöst hat, aber trotzdem als feinstoffliche Substanz das Wasser durch und durch
bestimmt, mit dem Atman verglichen, der nicht materiell, aber dennoch hier ist. Der diese
Stelle (und einige andere) abschließende berühmte Satz: „Das bist du!“ („tat tvam asi“) besagt
dabei ursprünglich konkret, dass Svetaketus Atman wie das Salz im Beispiel ist, zwar nicht zu
ergreifen, aber dennoch das Wesentliche.17 Erst die spätere Deutung ab Shankara (8.Jh. n.
Chr.) geht einen (mystischen) Schritt weiter, indem man in diesem Satz die Einheit von
Svetaketus Atman mit dem universellen Brahman ausgesagt findet. Shankara sagt dabei sogar
ausdrücklich, dass derjenige, der Brahman erkennt, zu Brahman wird, wobei er eine diesbezügliche Aussage der Mundaka-Upanishad aufgreift.18 In dieser Hinsicht erreicht die philosophische Mystik im ‚advaitischen‘ (‚nichtdualistischen‘) Vedanta ihren Höhepunkt, indem
durch die mystische Erfahrung die traditionellen Überlieferungen nochmals reflektiert werden.19 Denn die vom advaitischen Vedanta betonte Einheit von Brahman und Atman ist ja
nicht substantiell neu, sondern nur ein konsequentes Festhalten und Betonen von Erfahrungen,
die schon in den Upanishaden rund ein Jahrtausend früher formuliert wurden.
1.2.1.2 Bhagavadgita: Durch Yoga zur Vereinigung von Atman und Brahman
Vor diesem Hintergrund ist es nun zu sehen, wenn auch die Bhg. Jnana als Wert auf dem Weg
zur Erreichung der Einheit von Atman und Brahman hinstellt,20 wobei dem Mystiker auch
Techniken des Yoga hilfreich sind. Es ist daher kaum zufällig, dass gerade die ersten Kapitel
der Bhg. den Jnana-Yoga als einen mystischen Weg zur Erlösung beschreiben. Wer nämlich
in yogischer Versenkung seinen Geist zügelt und von den Sinneseindrücken abzieht, wird
nicht nur von allen Taten und ihren Wirkungen frei, sondern überwindet auch Leidenschaften.
Damit wird sein Geist, in Weisheit und Versenkung gefestigt, zufrieden im Atman und durch
den Atman und erreicht somit den Brahman-Zustand, aus dem er auch nach dem Tod nicht
mehr zurückkehren wird.21 Dass dabei – im Unterschied zu den Upanishaden – Jnana in der
Bhg. meist auf ein theistisches Objekt gerichtet ist, wurde schon gesagt. Den Höhepunkt in
diesem Zusammenhang stellt dabei zweifellos die große Vision der Selbstoffenbarung
Krishnas in Kapitel 10 dar, wenn der Gott sich in allen Formen kundtut. Dennoch ist es
schwierig, selbst in diesem theistischen Kontext Krishna vollkommen zu erkennen,22 da die
Menschen meist nur die niedrige Natur des Gottes erkennen, nicht aber die höhere, die im
15
Vgl. Vetter, 1994, S. 176, 185.
ChU 6,13,1-3.
17
Vgl. Vetter, 1994, S.176.
18
Vgl. MU 3,2,9.
19
Vgl. auch M. v. Brück, 1996, S. 20-23; Meisig, 1996, S. 87-90.
20
Vgl. H. v. Glasenapp, 1985, S. 175-179.
21
Vgl. Bhg. 2,53-56.71-72.
22
Vgl. Bhg. 7,1-7.
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Lebensprinzip besteht, aus dem alles stammt und das die Welt erhält. Aber nur wer dies erkennt, erlangt die Einheit mit Gott.23
Trotz der Betonung von Wissen/Erkenntnis darf man diese als mystischen Weg nicht gegen die Gottesliebe ausspielen, wie Bhg. 12,1 zeigt: Denn als Arjuna fragt, ob diejenigen, die
Krishna liebend verehren, oder aber jene, welche das unzerstörbare und verborgene Brahman
verehren, also das bessere Wissen haben, gibt Krishna zur Antwort, dass er diejenigen, die ihn
voll Glauben hingebungsvoll verehren, als die ihm ergebensten ansieht; allerdings betont er
ausdrücklich, dass die Mühsal derer, die das Denken auf das unzerstörbare und verborgene
Brahman richten, noch größer ist; denn ein verborgenes Ziel wird von körperhaften Wesen ja
nur schwer erreicht.24 Damit kann die Stellung zu Jnana als Weg zur mystischen Einheit in
der Bhg. etwa wie folgt zusammengefasst werden: Die Bhg. (aner)kennt durchaus die Bedeutung von Jnana, wie diese in den Upanishaden hervorgehoben wird, durch die man die Einheit
von Atman und Brahman erlangen kann, wie Krishna sagt.25
1.2.2 Bhakti - die emotionale Mystik der Gottesliebe
Unter emotionaler Mystik ist jene Erscheinung der Hindu-Religionen zu verstehen, die als
‚Bhakti‘ bezeichnet wird. Das Wort bedeutet wörtlich die ‚Teilhabe‘ des Menschen an Gott
und die Teilhabe Gottes an den Menschen, d.h. ‚Bhakti‘ ist ‚die auf Gegenseitigkeit beruhende Liebe zwischen Gott und den Menschen‘.26 Daraus ergibt sich, dass Bhakti in allen Richtungen des ‚Hinduismus‘ grundsätzlich möglich und tatsächlich vorhanden ist, wenn auch mit
unterschiedlichen Akzentuierungen.
Die schwerpunktmäßige Ausprägung hat Bhakti im Vishnuismus erfahren. Allerdings ist
es bezeichnend, dass die (zufällig) älteste Belegstelle für das Wort Bhakti in der
Svetashvatara Upanishad vorkommt. In diesem Text identifiziert Svetashvatara, der Weise,
von dem die Upanishad ihren Namen hat,27 den Gott Rudra-Shiva mit dem Höchsten, d.h. –
entsprechend jüngerer Kategorisierung – der Text steht dem Shivaismus nahe. Der Akzent des
Textes liegt dabei nicht auf Brahman als dem Absoluten, sondern auf dem persönlichen
‚ishvara‘ (‚Herr‘), der als allwissend und allmächtig betrachtet wird und in dem das Brahman
manifest wird. Damit finden wir bereits in diesem ersten Text über Bhakti im Kern einige
Wesensmerkmale angedeutet, die die emotionale Mystik und Gottesliebe ausmachen: Sie ist –
im Unterschied zur philosophischen Mystik – theistisch ausgeprägt; ferner ist sie auf die Gnade Gottes – und weniger auf die eigene Leistung und Anstrengung, die allerdings nicht völlig
fehlt – ausgerichtet.
Dadurch überschreitet sie leichter als die philosophische Mystik die sozialen Begrenzungen, die durch das Kastensystem und die Lebensstadien gesetzt sind. Vielleicht darf man annehmen,28 dass diese Strömung der indischen Religionsgeschichte ihren Ursprung außerhalb
von brahmanischen Kreisen hat, wobei es aufgrund der Bedeutung von Krishna als dem
Bhakti-Gott schlechthin nahe liegt, den Ursprung dieser religiösen Ausdrucksform in Kriegerkreisen zu suchen. Dazu passt durchaus, dass auch die Bhg. mit ihrer Bedeutung für die
Bhakti im Milieu des Krieges angesiedelt ist. Allerdings scheint auch der frühe Buddhismus
einen gewissen Einfluss darauf ausgeübt zu haben, dass man einen Weg zur Erlösung suchte,
der weder am Opferkult noch an der (philosophischen) Erkenntnis orientiert ist. Jedenfalls
wird man festhalten müssen, dass Bhakti erst nach dem 5.Jh. v. Chr. entstanden ist, d.h. diese
Form der Mystik ist jünger als die vorhin skizzierte philosophische Mystik.
23
Vgl. Bhg. 7,17-19.
Vgl. Bhg. 12,2-5.
25
Vgl. Bhg. 13,12.15.17f.
26
Vgl. M. v. Brück, 1996, S. 16; Meisig, 1996, S. 125-128.
27
Vgl. SvetU 6,21-23.
28
Vgl. Schneider; 1989, S: 159f:
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Die Bhg. kann mit Recht als ein Lehrgedicht der Gottesliebe bezeichnet werden, wobei
immer wieder das Stichwort Bhakti auftaucht. Dieses persönliche Verhältnis Gott-Mensch
macht dabei diesen Text so anziehend. In der göttlichen Liebe zu den Menschen werden alle
Unterschiede aufgehoben, gleichgültig, ob jemand ein gelehrter Brahmane, eine Frau, ein
Vaishya oder ein Shudra ist;29 selbst ein Bösewicht wird dadurch, dass er Anteil an Krishna
als dem Höchsten findet, schnell tugendhaft und gelangt zum ewigen Frieden.30 Damit werden
nicht nur die – durch die Geburt bedingten – Schranken überwunden, sondern wird auch die
Kausalität des Karman durch die Liebe Gottes gnadenhaft abgebrochen. Deshalb kann derjenige, der sich auf die Liebe Gottes einlässt, höher gelten als ein Yogi, der sich durch seine
eigene Anstrengung der Gottheit nähert.31 Die Größe der Gottesliebe, die Krishna an Arjuna
verkündet, übersteigt z.T. menschliches Fassungsvermögen, so dass letztlich die Bhg. ein Geheimnis bewahrt, allerdings eines, das demjenigen, der sich ganz der Gottheit ergibt, verkündet werden soll.32
Damit ist zweifellos der Höhepunkt der Bhg. erreicht: Mystische Gottesliebe führt jeden
Menschen – trotz eigener Schlechtigkeit – zur Erlösung (‚moksha‘), vorausgesetzt, der
Mensch ist bereit, die Gottheit zu lieben. Wer Gott nicht liebt und daher auch die
dharmagemäßen Überlieferungen nicht befolgt, der wird von Krishna im Kreislauf der Wiederverkörperungen von einem zum nächsten dämonischen Mutterschoß geführt, was in der
völligen Gottferne am Tor der Hölle endet.33 Gläubige Liebe an die Gottheit entbindet den
Menschen somit nicht von der Verpflichtung, seinem Dharma gemäß zu leben und letztlich
ein Gleichgewicht zwischen Jnana und Bhakti anzustreben, so dass der Mensch immer seine
(kleinen) Schritte auf dem Heilsweg selbst gehen muss.
1.2.2.1 Die Entwicklung von Bhakti in Südindien
Sehr bedeutend ist – gerade für die Volksreligiosität bis in die Gegenwart – eine Entwicklung,
die etwa ab dem 6./ 7.Jh. sowohl im sanskritisierten Nordindien als auch im dravidischen Südindien sichtbar wird. Der Süden geht – zunächst im shivaitischen Kontext – einen eigenen
Weg, der einerseits gegen die Ritualisierung gerichtet ist, weshalb auch die bewusste Überwindung sozialer Bindungen angestrebt wird, was sich z.B. im Genuss von Alkohol und im
Stellenwert der Sexualität niederschlägt, die als Vereinigung mit Shivas Shakti (d.h. seiner
Energie) gesehen wird. Andererseits finden wir aber hier bereits die totale Hingabe (‚bhakti‘)
an Shiva, die alles andere – d.h. auch Kasten und Normen – sekundär macht. Aber genauso
werden südindische Götter vom nordindisch-vishnuitischen Krishna beeinflusst, so dass gegen Ende des 1. Jahrtausends n. Chr. deutliche gegenseitige Beeinflussungen greifbar werden.
Darüber hinaus sind die eigenständigen mystischen Traditionen Südindiens hervorzuheben,
die in der Poesie der Alvars ab der Mitte des 1. Jahrtausends n. Chr. die Liebe zu Gott als
Heilsweg schlechthin verherrlichen.34
1.2.2.2 Die Entwicklung von Bhakti in Nordindien
Für die nordindische Entwicklung der Bhakti-Frömmigkeit ist v.a. das Bhagavat-Purana wichtig: Krishna wird darin als Hirtengott geschildert, der eine erotische Seite in die Mystik bringt.
Wenn das Purana recht unverblümt die Liebe Krishnas zu den (verheirateten) Hirtinnen
(‚gopis‘) und v.a. zur verheirateten Radha schildert, was grundsätzlich alle Schranken überschreitet, so wird dies in der mystischen Betrachtung allegorisch zum Abbild der Liebe der
Seele zu Gott, ja ihrer Vereinigung mit Gott. Die emotionale Seite dieser Liebesvereinigung
einer Seele mit einer personalen Gottheit wird dabei von (volkstümlicheren) Texten und Rich29
Vgl. Bhg. 9,32f.
Vgl. Bhg. 9,30f.
31
Vgl. Bhg. 6,46.
32
Vgl. Bhg. 18,64-68.
33
Vgl. Bhg. 16,19-24.
34
Vgl. M. v. Brück, 1996, S. 15.
30
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tungen, die in der Nachfolge des Bhagavat-Purana entstehen, als höchster Heilsweg angesehen, der dann endgültig die Elite der „Erkenntnis-Mystiker“ überflügelt und die Vereinigung
mit dem Göttlichen für breite Schichten erschließt. Die manchmal doch eher abstrakte göttliche Liebe der Bhg. wird dadurch konkretisiert, dass das Bhagavat-Purana (und verwandte
Traditionen) als Erklärung und epische Ausformulierung des Lehrgedichtes gesehen wird.
1.3 Die Bhagavadgita heute
Die Bedeutung der Bhg. bis in die Gegenwart ist ungebrochen geblieben, obschon festzustellen ist, dass etwa zwischen dem 13. und der Mitte des l9.Jhs. der Text etwas in den Hintergrund gerückt war, um dann – z.T. auch mitbewirkt durch die europäische „Entdeckung“ der
Bhg., die ihrerseits nach Indien zurückgestrahlt hat – zu einer wesentlichen Urkunde des Hindu-Bewusstseins auf zurücken. Eine Fülle von neuen Kommentierungen ist entstanden, die –
je nach dem philosophischen Hintergrund des Kommentators – meist Präferenzen für Jnana
oder Bhakti zeigen. Damit wird an jene Traditionen der indischen Kommentare angeschlossen, die ebenfalls meist einen dieser Wege hervorheben.
Als erster dieser klassischen Kommentare ist die sogenannte ‚Anugita‘ zu sehen, die innerhalb des Mahabharata35 überliefert ist und frühestens ins 3.Jh. n. Chr. zu datieren sein dürfte;
darin wird deutlicher als in der Bhg. die Rolle von Jnana als Mittel, die Erlösung zu erlangen,
hervorgehoben. In der Nachfolge dieser inhaltlichen Akzentsetzung steht der Kommentar von
Shankara (8.Jh.), der am advaitischen Vedanta orientiert ist; obwohl für ihn Jnana im Mittelpunkt steht, verbindet er – und insofern bleibt er dem Original durchaus treu – häufig auch
Bhakti mit Jnana; Bhakti ist für ihn zwar kein Weg zur Erlösung, aber sie führt zum erlösungsnotwendigen Wissen, so dass Bhakti nie völlig negiert werden kann. Auch ein anderer
großer Kommentator des Mittelalters, Ramanuja (11. Jahrhundert), verbindet in seinem
Kommentar Bhakti und Jnana, ordnet dabei allerdings – gerade umgekehrt gegenüber
Shankara – Jana der Bhakti unter. Dabei hebt Ramanuja hervor, dass Bhakti intellektuell und
emotional-hingebungsvoll ist. Ramanujas Bhakti-Orientiertheit entspricht dabei ferner, dass
für ihn das Höchste Brahman in gewisser Weise auch Eigenschaften/Qualitäten besitzt; anders
formuliert kann man sagen, dass Ramanuja dadurch den Theismus der Bhg. in sein philosophisches System des modifizierten Advaita (Vishishtadvaita) integrieren kann.
2
Heinrich von Stietencron: Die heilsame Vernichtung – Zorn und Gewalt
des Gottes Siva
Wege zum innerem Frieden und zur Überwindung des Todes suchen die Menschen auch in
Indien in den Religionen. Aber der Gott Siva scheint alles andere als friedlich zu sein. Will
man den Mythen glauben, so bestimmen entweder Kampf, Erotik und Tanz sein Handeln,
oder er zieht sich von der Welt zurück, um im lebensfernen Eis des Himalaja härteste Askese
und Yoga zu üben. Gewalt gegen andere und Gewalt gegen sich selber – wie stimmt das mit
dem Konzept der höchsten Vollkommenheit der anfangslosen Gottheit überein?
Wer sich im Westen mit indischer Religiosität beschäftigt, wird oft von den Lehren des älteren Buddhismus oder von der monistischen Erlösungslehre des Vedanta besonders angezogen. Beide gehen vom Gedankengut der älteren Upanishaden aus und stellen das menschliche
Bemühen um Leidvermeidung, Gewaltverzicht und inneren Frieden in den Vordergrund.
Auch haben beide das Ziel, jenen Normalzustand des weltlichen Bewusstseins zu überwinden,
in dem das Individuum Krankheit, Schmerz und Tod unterworfen und weder allwissend noch
allmächtig ist, weil es in seiner Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit durch die Faktoren Zeit,
35
Vgl. Mahabharata 14,16ff. Siehe hierzu auch die Ausführungen in 1.1 Ursprung und Gestalt der Bhagavadgita als Dokument hinduistischer Mystik, S. 3: Das Mahabharata ist der Epos vom Kampf zwischen den Pandavas un den Kauravas, mit Arjuna als dem Krieger und
Krishna als seinem Wagenlenker.
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Raum und Kausalität auf einen winzigen Ausschnitt des Weltgeschehens eingeengt bleibt. Ist
dieses Bemühen erfolgreich, so soll das Ergebnis die Auflösung des Individuums (im Buddhismus) oder die Beseitigung seiner Begrenzung (im Vedanta) bewirken, so dass sein Bewusstsein dem absoluten, allumfassenden Bewusstsein gleich wird.
Überwindung der Begrenzung des Bewusstseins bedeutet jedoch Anstrengung. Es bedeutet
Kampf gegen die eigene physische Kondition, Kampf gegen Rastlosigkeit des Denkens und
der Sinne, es bedeutet Yoga und Askese als Mittel der Selbstdisziplinierung und der Bündelung aller Willenskräfte auf ein selbst gesetztes Ziel. Die Hindernisse, die sich einem solchen
Vorhaben in den Weg stellen, sind vielfältig und groß. Wir wissen das nicht nur aus den indischen, sondern auch aus allen anderen asketischen und kontemplativen Traditionen der
Menschheit. Es treten Versuchungen auf, Ablenkungen, körperliche und geistige I Störfaktoren verschiedenster Art, welche die Konzentration unterbrechen. Dieser Weg ist daher gar
nicht so friedlich, wie es beim äußeren Anblick eines Meditierenden den Anschein haben
mag. Auch die psychische Welt erweist sich als ein Schlachtfeld, auf dem Kämpfe ausgetragen und oft verloren werden. Nur selten gelingt ein Sieg, und dann ruft er sogleich neue stärkere Gegner auf den Plan.
Sowohl in der weiteren Entwicklung des Buddhismus (in den Lehren des ‚Mahayana‘ und
des ‚Vajrayana‘) als auch in den auf die Gottesliebe (‚bhakti‘) gegründeten theistischen Religionen der Hindus, die mit ähnlichen Problemen, der Selbstüberwindung und Selbstverwaltung zu kämpfen haben, nimmt daher in den Texten die Beschreibung von Konflikten eher zu
als ab. In der Sprache des Mythos nehmen die destruktiven Kräfte Gestalt an und konkretisieren sich als Götter oder Dämonen. Und wir werden sehen, dass dabei die destruktiven Kräfte
nicht immer die Dämonen sind, denn diesen sind die weltlichen Genüsse gerade recht. Auch
Götter besitzen destruktive Kräfte, und die Bewertung des zerstörenden Potentials als gut oder
böse, heilsam oder verderblich ist stets abhängig von der Perspektive, aus der man sie betrachtet. Deutlich ist, dass sich besonders in den tantrisch-esoterischen Kulten der Muttergöttinnen Indiens und im tantrischen Sivaismus eine Sprache durchsetzte, die mit Bildern extremer destruktiver Gewalt operiert – selbst da, wo sie sozusagen im gleichen Atemzug von einer liebenden Mutter spricht. Die alles gebärende Mutter ist auch die alles verschlingende.
Das potentiell Gefährdende ist auch das potentiell Erlösende.
2.1 Indra, Vishnu, Siva: Gewalt im Kampf gegen Dämonen, zur Durchsetzung der
Ordnung
In den Hindu-Religionen wird der Bereich der theologisch reflektierten und als unvermeidbar
verstandenen Gewalt in der Götterwelt auf mehrere Akteure verteilt. Da ist für die ältere Zeit
der Götterkönig Indra, dessen Aufgabe es ist, mit seiner Götterschar die Weltordnung zu beschützen und gegen die diese störenden Dämonen zu kämpfen. Hier wird also bereits in der
Götterwelt Gewalt eingesetzt, um eine Ordnung zu sichern, die für das Gedeihen der Lebewesen unerlässlich ist. Es geht um die Balance der Kräfte von Licht und Finsternis, Ordnung und
Chaos. Denn die Ordnung, welche den Lauf der Gestirne, den Ablauf der Jahreszeiten, den
Wechsel von Tag und Nacht regelt und auch die moralischen Werte setzt, bleibt nicht unangefochten. Schon ein Zuviel an Sonne oder an Regen kann schreckliche Folgen für die betroffenen Wesen haben. In dieser Ordnung werden allen Wesen, von den Göttern bis zu den Pflanzen, ihre spezifischen Aufgabenbereiche zugewiesen.
Indras Bedeutung tritt in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. allmählich zurück,
als neue Hochgötter aufsteigen und die Hoffnung der Menschen sich nicht mehr auf ein Paradies in Indras Himmel, sondern auf Erlösung aus dem Kreislauf der Geburten richtet. Die
Aufrechterhaltung der kosmischen Ordnung und der gesellschaftlichen Werte übernimmt nun
der Gott Visnu in seinen Inkarnationen. Den Kampf gegen die Dämonen nehmen er selber
und vor allem auch Siva oder Sakti, die große Göttin, auf. Und unter den drei großen Göttern
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Brahma, Visnu und Siva ist es etwa seit dem 3. Jh. n. Chr. explizit Siva, welchem die Rolle
des Weltzerstörers zufällt. Dass diese Rollenzuweisung nicht ganz unpassend ist und auf eine
frühe Wesensbestimmung dieses wilden und fremden Gottes seitens der vedischen Arier zurückgeht, zeigen die Mythen und der rituelle Umgang mit diesem Gott, der zunächst wohl
außerhalb des vedischen Pantheons stand. Mit seinen wilden Scharen, den Bäume entwurzelnden Stürmen, hauste er in den Schluchten der Berge: ein wilder, fast nackter unzivilisierter Jäger, der vom Opfer ausgeschlossen war und den man doch mit abseits niedergelegten
Opferresten befriedigen musste, weil man seine Krankheiten bringenden Pfeile fürchtete, die
vor allem die Rinderherden dezimierten.
2.2 Siva in den Mythen
2.2.1 Siva, genannt Pasupai, Rudra, Kalabhairava, Mahakala
Der Tatsache, dass man ihm die Macht über Tierkrankheiten zuschrieb, verdankt er vermutlich den Namen ‚Pasupati‘, was nur ‚Herr der Zuchttiere‘ bedeuten kann, und nicht "‘Herr der
Wildtiere‘, wie manche Forscher meinten, die diesen Gott mit einem Industal-Sigel in Verbindung bringen wollten.
Sein wichtigster Name aber war ‚Rudra‘, eine Bezeichnung, die schon die altindischen Etymologen als ‚Heuler‘ (von der Wurzel ‚rud‘), als ‚Roter‘ (von ‚rudira‘ = ‚Blut‘) oder als
‚Bäumebrecher‘ (‚drudra‘ für ‚darudra‘) zu deuten versucht haben. Erst in dem relativ späten
Mantrabrahmana taucht auch der Name ‚Virupaksa‘ auf, der ‚Schiefäugige‘, vielleicht weil
das in späteren Darstellungen um 90 Grad gedrehte, senkrecht über der Nasenwurzel stehende
dritte Auge dieses Gottes schon damals bekannt war.
2.2.1.1 Rudra, oder: Die Ambivalenz der Schöpfung
Wie dem auch sei, der wilde Gott war mächtig und musste irgendwie integriert werden. Die
Mythographen taten es unter anderem, auf folgende Weise: Als ‚Brahma-Prajapati‘, der ‚Herr
der Geschöpfe‘, beschlossen hatte, die Welt mit Lebewesen zu bevölkern, da erschuf er zuerst
vier geistgeborene Söhne (Sanaka, Sananda, Sanatana und Sanatkumara), die den Auftrag
erhielten, die Schöpfungsarbeit auszuführen. Diese Söhne aber waren so weise und so
vedakundig, dass sie ihr ganzes Denken sogleich auf das Brahman richteten, um in yogischer
Versenkung mit dem Einen Urgrund allen Seins zu verschmelzen, an der grobstofflichen Welt
hatten sie nicht das geringste Interesse. Als Brahma sah, dass sie nicht bereit waren, seinen
Auftrag auszuführen, stieg mächtiger Zorn in ihm auf, der dann in Gestalt des schrecklichen
Rudra aus seiner gerunzelten Stirn hervortrat. Der Gott Brahma aber war nun wieder ruhig,
und er erschuf, je nach Quelle, 6, 7, 10 oder sogar 21 weitere Söhne, die das Schöpfungswerk
ausführten, zu Prajapatis, d.h. zu Herren der Geschöpfe, wurden und die Vielheit der Lebewesen hervorbrachten.
Zorn also ist nach diesem Mythos das Wesen Rudras – vom Schöpfer Brahma extrapolierte
und personifizierte Wut. Interessanterweise entsteht diese Wut, weil Brahmas Schöpfungsplan
fehlschlägt. Seine Söhne machen nicht mit, sondern denken sogleich an Erlösung, und Brahma ist frustriert, weil dadurch sein Verlangen nach der Welt nicht, wie gewünscht, in Erfüllung geht. Schon ganz am Anfang der Schöpfung erweist sich also die Wunschstruktur von
Brahmas weltbezogenem Denken und Handeln sowohl als Quelle des Begehrens als auch als
Quelle des Zorns. Mit diesem, der sich in der Gestalt des Gottes Rudra manifestiert, tritt diejenige Göttergestalt ins Dasein, deren Aufgabe es sein wird, die Welt schließlich wieder zu
zerstören. Schöpfung und Zerstörung entspringen also, wie man sieht, aus der gleichen Quelle.
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Mehr noch, die Zerstörung wird mit Rudras Geburt bereits sichergestellt, ehe noch die
Schöpfung sich realisieren kann. Und es wird auch die strukturelle Komplexität deutlich, die
von Anfang an mit dem Unternehmen ‚Weltschöpfung‘ verbunden ist. Denn das kreative Bedürfnis des Gottes, die Welt zu erschaffen, ruft als allererstes eine für die indische Religiosität
charakteristische Gegenbewegung hervor, nämlich das Streben der erstgeborenen Söhne nach
befreiender Rückkehr in das ungeteilte absolute Bewusstsein. Damit ist auch das Endziel des
Schöpfungsgeschehens bereits vorweggenommen, nämlich die Erlösung der Seelen. Sie aber
erfordert den Sieg über alle Wünsche, die Abkehr von der Vielfalt, und sie gewinnt am Ende
ein unwandelbares Glück.
Die vernichtende Macht von Rudras Zorn kommt in einer Reihe von Mythen zum Ausdruck, die diesem Gott gewidmet sind, z.B. bei der Zerstörung des Opfers, das sein Schwiegervater Daksa ausrichten wollte. Dieser hatte alle anderen Götter dazu eingeladen, seinen
aschebeschmierten, unzivilisierten Schwiegersohn jedoch nicht. Aus Empörung darüber und
um die Ehrverletzung ihres Gemahls zu sühnen, stürzte sich Daksas Tochter Sati in das Opferfeuer ihres Vaters und verbrannte, woraufhin sich der Zorn Sivas (nach einigen Quellen in
Gestalt des Virabhadra) mit seinen wilden Horden auf die gesamte Opfergesellschaft stürzte,
den Daksa köpfte, die anderen Götter übel malträtierte und auf dem Opferplatz eine verheerende Verwüstung anrichtete.
2.2.1.2 Siva als Kalabhairava und Mahakalah: Die 4 Vernichtungen und dieEndzeitvision
Siegreiche Kämpfe gegen mächtige Dämonen sind ebenso Beweis von Sivas unwiderstehlicher Vernichtungsmacht wie die ihm beigegebenen Namen Kala und Mahakala, welche ihn in
wörtlicher Bedeutung als ‚Gott der Zeit‘, in übertragener Bedeutung als ‚Gott der Vergänglichkeit und des Todes‘ charakterisieren. Als ‚Kalabhairava‘ (‚Schreckenerregende Zeit‘) oder
‚Mahakala‘ (‚Große Zeit‘) wird Siva in Gestalt einer gewaltigen, vielarmigen, schwarzen Figur dargestellt, deren alles verschlingendes Maul scharfe Stoßzähne aufweist. Als Schmuck
trägt dieser Gott sowohl in der von Flammen umgebenen Haarkrone als auch am Gürtel
menschliche Totenschädel und aus Schädeln besteht auch seine lange, von den Schultern bis
zu den Knien herabhängende Girlande und seine Bettelschale. In kämpferischer Angriffsstellung, mit zorngeröteten runden Augen und mit zahlreichen Waffen in den Händen steht er auf
einem Leichnam und bietet ein furchterregendes Bild des Verderbens.
‚Mahakala‘ ist die ‚große, alles überwältigende Zeit‘, der ‚alles verschlingende Tod‘. In
dieser Form kommt Sivas Rolle als Weltvernichter besonders deutlich zum Ausdruck, da der
Zeit alles Lebendige zum Opfer fällt. Die indische Tradition unterscheidet aber zwischen vier
Arten oder Phasen, in denen sich die Vernichterrolle des Gottes realisiert. Es sind dies die
‚ständige‘ (‚nitya‘), die ‚periodische‘ (‚naimittika‘), die die gesamte Natur umfassende
(‚prakrta‘) und die schon ‚in diesem Leben endgültige Auflösung‘ (‚atyantika-pralaya‘).
Die erste von diesen vier Formen (‚nitya‘) betrifft das tägliche Verschwinden der Welt in
der Dunkelheit der Nacht, zugleich auch die tägliche Vernichtung von Lebewesen aller Art,
sei sie verursacht durch Alter, Krankheit, Unfall oder Gewalt. Die zweite, weit umfassendere,
aber nur gelegentlich in großen Zeitabständen eintretende Vernichtung eines Teils des Weltgebäudes und all seiner Insassen (‚naimittka-pralaya‘) findet statt, wenn sich der Gott Brahma
am Abend eines Brahma-Tages – der 4320 Millionen Menschenjahren entspricht – zum
Schlafe niederlegt. Zu dieser Zeit nimmt Brahma die ‚Lebensseelen‘ (‚jiva‘) aller Wesen in
sich auf, zieht also alle Wesen in sich zurück, wozu es nötig ist, dass ihre Körper alle sterben.
Dies tödliche Geschäft besorgt Rudra mit Feuersbrunst und Wasserflut. Festzuhalten ist, dass
alle Himmelsbewohner von Indras Himmel aufwärts dieser periodischen Zerstörung entgehen.
Damit werden sie zugleich dem Kreislauf der Geburten entzogen. Die Nacht Brahmas dauert
ebenso lange wie sein Tag. Danach sind die Unterwelten, die Erde und die beiden unteren
Himmel wieder gereinigt, und alle Wesen werden wieder aus Brahma entlassen, um einen
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neuen Zyklus zu beginnen. Diese Wesen sind also dem Kreislauf der Geburten nicht entronnen. Sie haben aber alle in früheren Geburten angehäuften karmischen Befleckungen abgestreift.
Erst am Ende eines Lebens des Gottes Brahma erfolgt die ‚völlige Weltauflösung‘
(‚prakrta- pralaya‘) – die dritte Phase der Vernichtung. Dies ist – nach sivaitischer Interpretation – der Moment, wenn außer Siva und seiner Sakti nichts mehr übrigbleibt. Wenn, wie
schon vorher geschildert, die Welten einschließlich der Götterwelt zu Asche geworden sind
und der Gott Siva-Mahakala sich mit den ausgebrannten Schädeln der Götter geschmückt hat,
beginnt er, vor den Augen seiner Gemahlin den Tandava-Tanz zu tanzen. Zu dieser Zeit wird
auch die Göttin in den Körper Sivas absorbiert, wonach dieser seinen Tanz beendet und die
Auflösung der Elemente beginnt. Das Element Erde löst sich nun in das Element Wasser, das
Wasser in Feuer, das Feuer in Wind, der Wind in Äther oder Raum auf. Dieser wird von dem
Individuationsprinzip ‚ahamkara‘ absorbiert, das seinerseits im ‚Großen Bewusstsein‘
(‚mahat, buddhi‘) und weiter in Brahman aufgeht. Alles Seiende ist wieder in seinen Ursprung
zurückgekommen. Und nun löst Siva Mahadeva auch die Verbindung zwischen der ‚Urnatur‘
(‚pradhana‘) und dem ‚reinen Bewusstsein‘ (‚purusa‘) und beendet damit die schöpferische
Selbsttätigkeit der als Maya, d.h. als eine die Lebenswelt schaffende und letztlich doch illusionäre Macht, aufgefassten Natur. Damit ist für alle Wesen verwirklicht, was sonst nur den
Yogins möglich ist, nämlich die Loslösung des Bewusstseins von den Fesseln der Materie und
folglich die endgültige Befreiung, das höchste Ziel aller Wesen.36
Die Schilderung dieses Vorgangs liegt in vielen Versionen vor und ist in Details und Bewertung je nach Quelle verschieden. Die vorgelegte Fassung stammt aus dem Kurma
Purana.37 Der gleiche Bericht aus einem visnuitischen Text würde sagen, dass mit dem Tode
Brahmas auch Siva stirbt und Visnu es ist, der die gesamte manifeste Welt in sich zurücknimmt, um auf den kosmischen Urwassern bis zum Beginn einer neuen Emanationsphase auszuruhen. Wichtig ist in unserem Zusammenhang nur, dass die Weltzerstörung von vornherein
vorgesehen ist, dass sie zum Heilsplan der Welt gehört und dass dafür eigens einer der größten Götter zuständig ist. Was im Text als furchterregendes Geschehen geschildert wird,
scheint zwar schrecklich und leidvoll - und wird in dem Moment, in dem es erlitten wird,
auch so empfunden -, es bewirkt aber das höchste Gut für alle Wesen, gewinnt das endgültige
Heil. Vernichtung ist hier also positiv, befreiend, sie löst die Fesseln, die die menschliche
Seele binden.
Vergleichen wir diese, auf zyklische Wiederkehr angelegte Endzeitvision mit derjenigen
der ebenfalls von Gewalt und Zerstörung geprägten Apokalypse, wie sie im linearen Geschichtsbild der jüdisch-christlichen Tradition entwickelt wurde, so unterscheidet sich das
Bild vor allem in zwei Punkten deutlich. Erstens findet eine Scheidung von Gerechten und
Verdammten nur im periodischen Auflösungsprozess (‚naimittika-pralaya‘) am Ende eines
Brahma-Tages statt. Sie bringt den Guten, die sich schon in einem der Himmel befinden, Befreiung aus dem Kreislauf der Geburten. Die Schlechten aber werden nicht vernichtet. Vielmehr werden sie in die Gottheit zurückgenommen und können den Weg ihrer weltlichen Existenz, der sie zur Befreiung führen soll, noch einmal unter den guten Startbedingungen einer
von allem Übel gereinigten Welt von neuem versuchen. Die zyklische Struktur des Weltgeschehens eröffnet ihnen neue Chancen. Vernichtungen sind nur temporär und jeweils mit der
Konsequenz, dass die Ausgangslage für die Heilsgewinnung wieder verbessert wird.
Zweitens führt auch die große oder vollständige Weltvernichtung nicht zu einer Ausrottung
des Bösen, sondern hier wird das geistige Prinzip (atman) in allen Seelen, auch in den bis dahin karmisch befleckten, wieder in ‚Purusa‘, in das ‚reine Bewusstsein‘, aufgenommen und
36
37
An dieser Stelle des Kurma Purana setzt deren Autor offenbar das brahman mit der prakrti des Samkhya Systems gleich.
Vgl. Kurma Purana, II, Kap. 45-46.
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von allen Bindungen an die Materie befreit. Es ist diese Bindung des Bewusstseins an den
Leib, welche die Leiderfahrung bewirkt. Der Körper alleine würde nichts empfinden. Ebenso
wenig leidet das Bewusstsein, wenn es frei ist von jeder, auch feinstofflichen Körperlichkeit.
Sowohl das Leid als auch die Gewalt sind ausschließlich in jenem Bereich angesiedelt, in dem
sich Geist und Materie verbinden.
2.2.2 Der yogische Aspekt Sivas
Obwohl hier also das abstrakte theologische Denken eine Trennung vornimmt, die dem Leid
seine Bedeutung nehmen soll, bleibt doch die explizite Präsenz von vernichtender Gewalt in
einer der höchsten Gottheiten beunruhigend und erscheint manch einem als abstoßend. Es
bedarf eines weiteren Schrittes, um die Bedeutung des Vernichtungsaspekts des Gottes Siva
richtig zu verstehen. Zu diesem Zweck wenden wir uns nun einem anderen Charakterzug des
Gottes zu, nämlich der ihm zugeschriebenen außerordentlichen Kraft des Yoga, mit welcher
er, jahrhundertelang in der eisigen Bergwelt des Himalaja sitzend, in tiefer Meditation alle
Spuren der Vielheit dieser Welt aus seinem Bewusstsein auslöscht. Auch dieser yogische Aspekt Sivas wird in den Mythen immer wieder ausgemalt. Siva ist der große Asket, der in tiefer
Versenkung die Welt vergisst und seine Aufgabe, die Dämonen zu bekämpfen, so lange vernachlässigt, dass diese an Macht gewinnen, die Götter aus ihren Wohnsitzen vertreiben, allerorts für Unruhe und Chaos sorgen und schließlich die den Göttern zugedachten Opfergaben
der Menschen selber verzehren.
2.2.2.1 Der Mythos vom Schicksal des Liebesgottes Kama
Wenn solche Situationen auftreten, wenn die Götter hungrig und machtlos werden und die
Ordnung der Welt bedroht ist, dann wird es Zeit, Siva aus seiner Versenkung zu erwecken.
Dass dies nicht einfach und zugleich auch gefährlich ist, zeigt der Mythos vom Schicksal des
Liebesgottes Kama. Dieser hatte es auf Wunsch der Götter unternommen, durch die Verbindung von Siva mit der Göttin Parvati für die Geburt eines Kriegsgottes zu sorgen, der in der
Lage wäre, selbst den starken Dämonenfürsten Taraka zu vernichten, welcher zu jener Zeit
die Götter vertrieben und an die Enden der Welt verbannt hatte. Parvati war bereit, aber Siva,
in seine Meditation versunken, nahm keine Notiz von ihr, obwohl Kama mit Hilfe seiner Liebespfeile bereits die Eiswüste um ihn her in eine blühende und duftende Frühlingswiese verwandelt hatte. So blieb denn Kama nichts anderes übrig, als den letzten Pfeil auf den großen
Gott selbst zu richten und ihn auf diese Weise etwas unsanft zu wecken. Der Pfeil traf ins
Herz, aber der mutige Schütze wurde augenblicklich vom Zornesblick Sivas zu Asche verbrannt. Dann erst tat der Pfeil seine Wirkung. Sivas Blick fiel auf die liebliche Parvati und das
Komplott der Götter führte schließlich, wenn auch erst nach weiteren Verzögerungen, zum
ersehnten Ergebnis.
Siva, der in einer meditativen Übung begriffen ist und sich um Auslöschung der Vielheit
aus seinem Bewusstsein bemüht, ist es nun selbst, der Gewalt erleidet. Ihn trifft der Pfeil der
Begierde – den Kama, der Liebesgott, ist die Begierde nach Lust – und reißt ihn aus seiner
Versenkung, macht also all seine Bemühungen zunichte. Das ist genau das, was viele Yogis
immer wieder zurückwirft, dass nämlich irgendein äußerer oder innerer Störfaktor in ihre
mühsam aufgebaute Konzentration einbricht, das zum Schweigen gebrachte Denkorgan und
die Sinne wieder weckt und dadurch das erhoffte Ziel wieder weit entrückt. Siva, der im Yoga
alle Wünsche besiegen will, wird hier seinerseits von den Wünschen besiegt. Da hilft es
nichts, dass sein zorniger Blick den Liebesgott verbrennt: Zwar zerstört Sivas Yogakraft den
Kama, aber dennoch hat Kama gesiegt, und mit ihm die Strategie der Götter. Triumphiert hat
in diesem Fall die Erhaltung der Welt über die Zerstörung der Welt.
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Es lohnt sich, den Verbindungslinien nachzugehen, die diesen Mythos mit dem vorher kurz
berichteten Schöpfungsmythos38 verknüpfen. Dort war es Brahma, der sein Ziel der Schöpfung nicht erreichte und aus Zorn den Rudra erschuf. Jetzt ist es Rudra, der sein Ziel der Auslöschung der Welt nicht erreicht und aus Zom den Kama, den Repräsentanten der geschlechtlichen Reproduktion des Lebens, verbrennt. Weil aber Rudra-Siva sich nun der Liebe und –
nach einiger Verzögerung – auch der Zeugung eines Kriegsgottes zuwendet – und damit übrigens auch den Liebesgott wiederbelebt –, wird er zum Retter der Welt, die er eigentlich vernichten wollte. Ebenso wie Brahma, der die Welt zu erschaffen beabsichtigte, zuerst deren
Zerstörer erschuf. Noch einmal wird also die strukturelle Ambivalenz von Werden und Vergehen, von Erschaffen und Vernichten deutlich. Die großen Götter sind nicht reine Repräsentanten einer einzigen Funktion, sondern sie tragen die Spannungen der Gegensätze in sich
selbst
Aus diesem Mythos ist auch abzuleiten, dass Siva nicht nur, wie im vorigen Mythos geschildert, die Welt in kosmischen Zyklen physisch vernichtet, sondern dass er sie – auch während sie noch besteht – innerlich in seinem eigenen Bewusstsein auslöscht. Eben dies ist die
Aufgabe der Disziplin des Yoga, dass sie die Sinnesorgane und das Bewusstsein von den
Dingen zurückzieht, so dass die durch die Sinne gegebene oder vorgegaukelte Vielheit der
Welt verschwindet. Erstrebt wird die Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen einzigen
Punkt, auf ein einziges Objekt der Meditation. Gelingt es, dass Subjekt und Objekt in der meditativen Konzentration gänzlich miteinander verschmelzen, dann – so behaupten zahlreiche
und recht unterschiedliche Quellen – bricht machtvoll und als beglückendes, lichthaftes Ereignis jene Einheitserfahrung auf, die schon in den Upanishaden als höchstes Ziel propagiert
wurde: die Erfahrung der Nicht-Zweiheit (advaita), der Identität von individuellem und absolutem Bewusstsein, von atman und brahman.
Auch als Yogin also zerstört Siva die Welt, aber der Ort dieser Vernichtung ist nicht die
Außenwelt, sondern das individuelle Bewusstsein. Damit sind wir beim Thema der vierten
und höchsten Form von Sivas weltvernichtender Aktivität, der ‚endgültigen Auflösung‘
(atyantika-pralaya) – endgültig deshalb, weil sie die vollständige Erlösung bewirkt und am
höchsten bewertet, weil dies schon in diesem Leben und nicht erst am Ende eines großen
Weltzyklus geschieht.
2.2.3 Der Mythos von der Vernichtung des Dämonen Andhaka
Ein weiterer Mythos soll diesen Aspekt von Sivas vernichtender Gewalt noch verdeutlichen
und dabei zugleich auch die Rolle des Bösen bzw. der Laster beleuchten. Es ist der Mythos
von der Vernichtung des Dämonen Andhaka, den ich in gekürzter Form aus Informationen
des Epos Mahabharata sowie des Vamana-, Kurma- und Sivapurana zusammenstelle.
2.2.3.1 Der Mythos
Einst war Siva hoch im Himalaja wiedereinmal in Meditation versunken, als die Göttin
Parvati in spielerischer Laune von hinten an ihren Gemahl herantrat und ihm mit beiden Händen die Augen zuhielt. Da erlosch mit einem Mal alles Licht. Es wurde stockfinster in der
Welt, und alle Freude wich aus den Herzen der Wesen. Es war, als ob es keine Sonne mehr
gäbe, als die Augen des Herrn aller Wesen so verdunkelt wurden, Angst breitete sich aus, und
ein furchtbares Getöse erscholl, als ob die wogenden Wasser des Weltuntergangs bereits ihr
Vernichtungswerk begönnen.
Gleich darauf aber verschwand die Finsternis wieder. Eine lodernde Flamme brach aus
Sivas Stirne hervor und ein drittes Auge erschien, das leuchtete mit so gewaltiger Glut, dass
38
S.o., 2.2.1.1 Rudra, oder: Die Ambivalenz der Schöpfung, S. 11.
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die ganze Umgebung in Flammen geriet und sogar der mächtige Berg Himavat zu schmelzen
begann. Alle Tiere flüchteten aus dem brennenden Wald und suchten Schutz bei Siva. Parvati,
die Tochter des Berges, war entsetzt und zog erschrocken die Hände von den Augen Sivas
zurück. Da wurde die Welt wieder hell, und der Gott zog die weltvernichtende Glut seines
dritten Auges wieder zurück. Ein freundlicher Blick Sivas stellte die Schönheit des Berges
und seiner Pflanzen wieder her. Die Berührung der zarten Finger der Göttin hatte aber eine
Erregung in dem großen Asketen bewirkt und ihn einen Schweißtropfen treiben lassen, der
von seiner Stirne hinabrann zum nunmehr geschlossenen Stirnauge und sich dort erhitzte.
Daraus entstand eine schreckliche, schwarze, augenlose Gestalt von großer Hässlichkeit und
Kraft. Dieses schwarze Wesen, das in blinder Finsternis geboren worden war, wurde
‚Andhaka‘, ‚der Blindling‘ genannt. Und da zu dieser Zeit der kinderlose König der Dämonen, Hiranyanetra, mit großer Willenskraft Askese übte, um endlich einen Sohn zu bekommen, schenkte ihm Siva diesen Andhaka als Sohn. Keiner außer mir selber wird ihn besiegen
können, so sagte er zu dem Dämonenkönig.
Andhaka wurde groß und stark. Weil er aber blind war, wurde er nach dem Tode seines
Vaters bei der Nachfolge in der Herrschaft über die Dämonen übergangen. Hiranyakasipu und
später dessen Sohn Prahlada wurden Herrscher der Dämonen. Da ging Andhaka in die Einsamkeit und übte dort fastend, mit erhobenen Armen auf einem Bein stehend, eine zehntausendjährige Askese. Als dies nichts nützte, begann er sich täglich ein Stück Fleisch aus dem
Leib zu schneiden und dies in seinem Opferfeuer darzubringen, bis er nur noch aus Knochen
und Sehnen bestand. Angesichts dieser überaus großen Willenskraft bekamen es die Götter
mit der Angst zu tun, und Brahma erschien, um ihm einen Wunsch zu erfüllen, damit er von
dieser schrecklichen Askese ablasse. Andhaka wünschte sich dreierlei: die Herrschaft über die
Dämonen; das göttliche Auge, das alles sieht; und dass er nicht getötet werden könne von
Göttern, Dämonen, Halbgöttern, Menschen und Schlangen, auch nicht von Visnu oder Siva.
Brahma erwiderte, er könne das alles haben, aber kein Wesen sei unsterblich, und so solle er
wenigstens eine Todesursache akzeptieren.
Andhaka überlegte ein wenig und wählte dann folgende Todesursache: Die beste Frau aller
Zeiten, auch der zukünftigen, werde er wie eine Mutter verehren, sei sie eine reife Frau, eine
junge Frau oder sogar ein Kind. Sollte er sich aber ihr gegenüber begehrlich oder unziemlich
verhalten, dann möge ihn das Verderben ereilen. Diese Todesursache war geschickt gewählt,
denn die Wahrscheinlichkeit, der besten aller Frauen überhaupt zu begegnen, war gering. Wer
weiß schon, ob nicht in Zukunft noch eine Bessere geboren wird? Auch hatte er nicht die Absicht, einer solchen Frau gegenüber nicht galant zu sein. Brahma stimmte zu. Und durch seine
Berührung regenerierte er auch Andhakas Leib, der nun wieder schön und stark und mit
leuchtenden Augen versehen war. Andhaka wurde nun zu einem Helden unter den Dämonen.
Die Herrschaft konnte ihm niemand streitig machen. Selbst die Götter vermochten ihm nicht
zu widerstehen und gerieten in große Not. Zahlreiche schöne Frauen aus den drei Welten umschwärmten ihn. Deshalb war er stolz. Sein Hochmut kannte keine Grenzen, er zwang die
Könige der Erde in seinen Dienst und quälte die drei Welten.
Eines Tages erblickte Andhaka, als er in der Welt herumstreifte, die liebliche Göttin
Parvati, wie sie sich auf dem Berg Mandara mit ihren Gespielinnen ergötzte, und entbrannte
in Begierde nach ihr. Fortan setzte er alles daran, sie zu besitzen. Zwar sagten ihm seine Ratgeber, dass Siva sein Vater, Parvati also so gut wie seine Mutter sei. Sie warnten ihn dringend
davor, sich auf solch ein Abenteuer einzulassen. Aber Andhaka war nicht aufzuhalten. Zunächst sandte er seine Leute aus, sie sollten Parvati rauben. Siva selber war gerade abwesend,
und der Moment schien günstig. Die Dämonen hatten aber nicht damit gerechnet, dass der
Torhüter Viraka und der elefantenköpfige Gott Ganesa, der Sohn der Parvati, so überaus starke Gegner waren. Sie verteidigten erfolgreich die Wohnstätte der Parvati und jagten die Dämonen schmählich in die Flucht.
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Nun wurde Andhaka wütend. Er sandte einen Boten zu Siva, um Parvati von ihm zu fordern. Die Antwort lautete, da müsse er schon Parvati selber fragen. Schließlich sei sie frei zu
entscheiden, wie es ihr beliebt. Er wandte sich also direkt an die Göttin und erhielt zur Antwort, sie könne nur dem Stärksten gehören. Wer mächtiger sei, Siva oder er, das müssten die
beiden unter sich ausmachen. Nun rüstete Andhaka sein Heer und machte sich bereit für den
großen Kampf mit Siva. Und auch Siva zog, mit Schlangen geschmückt und den Dreizack in
der Hand, von seinen Heerscharen und den Göttern gefolgt, gegen den Dämon Andhaka in die
Schlacht. Der Kampf begann und Siva gelang es, Andhaka mit einem Pfeil zu verwunden.
Nun blutete Andhaka, aber jeder Tropfen seines Blutes produzierte einen neuen Andhaka,
sobald er die Erde berührte. Tausende von Andhakas kämpften nun gegen Siva, alle von gleicher Kraft. Siva wurde bedrängt, er erwehrte sich der Dämonen nur mit Mühe.
Der Name Andhaka bedeutet blind. Zwar konnte er nun dank der Gabe Brahmas durchaus
sehen, aber das half noch nicht viel. Die geistige Blindheit war ihm geblieben, die Unwissenheit in Bezug auf metaphysische Wahrheit, und diese ist es, gegen welche Siva hier kämpft.
Sie aber reproduziert sich tausendfach, zeugt fortwährend neue Unwissenheit. Sivas Kampf
scheint aussichtslos. Da durchbohrt er den Dämon mit seinem Dreizack, hebt ihn hoch und
beginnt zu tanzen, während der Gott Visnu gleichzeitig mit seinem Diskus die sekundären
Andhakas alle vernichtet. Um das Blut aufzufangen, das noch immer aus Andhakas Wunde
tropft und nicht mehr auf die Erde fallen soll, benutzt Siva zunächst seine Bettelschale. Als
diese aber nicht ausreicht, bringt er aus den Flammen seines Mundes eine Sakti hervor, nämlich die Göttin Yogesvari, die Herrin des Yoga. Sie ist eine Form der Göttin Kali und gerät in
einen wahren Blutrausch. Mit lang heraushängender Zunge leckt sie die Blutstropfen auf,
welche vom aufgespießten Andhaka zur Erde fallen. Auch die anderen großen Götter entsenden ihre Saktis, sodass nun sieben Muttergöttinnen Siva beistehen. Sie alle sind damit beschäftigt, das Blut des Dämons der Blindheit zu schlürfen. Sie fangen es auf, ehe es die Erde
berührt und verhindern dadurch das Entstehen neuer Andhakas. So verblutet der Dämon, auf
Sivas Dreizack aufgespießt, ohne sich weiter reproduzieren zu können.
Wer sind diese Mütter, die das Blut des Dämons der Blindheit trinken und dadurch seine
Reproduktion verhindern? Man könnte erwarten, dass es besondere Erkenntniskräfte oder
Tugenden seien. Aber das Gegenteil ist der Fall. Es sind, wie uns der Mythos selber weiter
berichtet, verkörperte Laster, welche den Göttern entspringen. Wie ist das möglich? Was soll
das heißen? Wieso tragen Laster zur Vernichtung des Dämons der Blindheit bei? Mythen sind
voller Paradoxe, aber diese haben immer einen Sinn. Sieben der Mütter, so berichtet uns das
VamPurana, repräsentieren die Laster Stolz, Zorn, Überheblichkeit, Habgier, Neid, Tadelsucht und Geschwätzigkeit. Die achte, aus Siva selbst entstandene Yogesvari, übergreift alle
anderen und repräsentiert die Begierde, die eigentliche Hauptursache allen Übels und aller
Haftung am Kreislauf der Geburten. Diese Laster leben von der Blindheit des Menschen.
Herrschte Erkenntnis vor, so würden sie dahinsiechen. Sie fressen also gierig das Blut – d.h.
die Essenz, das Wesen – des Dämons der Blindheit. Damit geht aber die Reproduktionskraft
der Blindheit, des Nicht-Erkennens (avidya), in die Begierde und in die Leidenschaft ein und
kann in diesen, wenn man nur will, kontrolliert werden. Sie ist nicht mehr allgegenwärtig,
sondern kanalisiert.
Leidenschaft und Begierde sind negativ und erkenntnishemmend, aber sie enthalten zugleich göttliche Energie, die bewegt, die vorantreibt. Werden die Leidenschaften durch
Selbstzügelung beherrscht, so geht ihre Energie nicht verloren, sondern wird umgelenkt auf
die Steigerung der Erkenntniskräfte. Die mit Blindheit gespeiste, blutschlürfende Begierde
erweist sich, wenn ihre Energie auf das Eine gerichtet wird, als Yogesvari, als Herrin des Yoga, und somit als eine der heilsträchtigsten Gottheiten überhaupt. Die blutdürstige Erscheinung dieser Göttin, ihre offenkundige Vernichtungswut, ist auf dieser Ebene nichts anderes
als eine bildhafte Metapher für die im Yoga sich vollziehende Auflösung aller Erscheinungen
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und aller Bindungen an diese Erscheinung. Die Objekte werden vom Subjekt absorbiert und
verschwinden. In ähnlicher Weise absorbiert Yogesvari die potentielle Vielzahl von
Andhakas.
In gewisser Weise ist es also die Welt selbst, bzw. die im individuellen Bewusstsein präsente Welt in ihrer vordergründigen Vielheit, welche da, auf der Spitze von Sivas Dreizack
hängend, ausblutet. Der Dreizack selbst gilt als Symbol der Erkenntnis und entspricht dem
dritten Auge Sivas, welches ebenfalls die höchste Erkenntnis darstellt, mit deren Hilfe die
Welt in ihrer Vordergründigkeit vernichtet wird. Sie erinnern sich, dass die Welt sofort zu
verbrennen anfing, als Siva dies Auge öffnete. Leichtsinnig hatte Parvati, die verliebte Göttin,
seine beiden Augen, Sonne und Mond, im Spiel verdunkelt und damit die Welt in Finsternis
gestürzt. Sie werden sich aber auch erinnern, dass in dieser Situation eine Andeutung von
Lust auftritt, eine Andeutung von Erregung des asketischen Gottes unter der sanften Berührung der Frauenfinger, welche jenen Tropfen schöpferischer Flüssigkeit zur Erscheinung
bringt, der dann, über das wieder geschlossene, aber noch heiße dritte Auge rinnend, sich erhitzt und den Dämon Andhaka hervorbringt.
Es ist also Sivas eigener, in einem Moment der Dunkelheit lustgeborener Sohn, den er bekämpft und überwindet. Er muss ihn erschaffen, um ihn bekämpfen zu können, denn das
Lichte und das Dunkle entstammen der gleichen göttlichen Quelle. Er lässt ihn übrigens am
Ende des Mythos nicht einfach qualvoll sterben, sondern erlöst ihn zugleich von der undankbaren Aufgabe, Dämon zu sein, und holt ihn zu sich in sein göttliches Gefolge.
2.2.3.2 Deutung des Mythos: Blindheit und Gier kennzeichnen die Welt
Was hier im Mythos geschieht, ist ein Vorgang, den man in knappen Stichworten auch so
erzählen könnte: Das lichthafte Eine erschafft die Welt als eine Hülle, hinter der es sich verbirgt. Blindheit und Gier kennzeichnen das zyklisch fortschreitende Leben in dieser Welt. Die
Blindheit sieht nicht den Geist (Siva), der alles belebt, sondern dessen Maya, die selbstschöpferische, wandlungsfähige, sich selber als Materie zu unzähligen Gestalten formende Natur,
die sich als schöne Göttin verführerisch zeigt. In ihrer Begierde versucht die Blindheit, diese
Produktivkraft der Materie in ihre Gewalt zu bekommen, um dadurch das eigene Machtbedürfnis zu befriedigen. Das ist ein uraltes Streben der Menschheit. Es ist heute so aktuell wie
eh und je. Aber der Versuch scheitert, weil die Maya ein Produkt und Partner des Geistes ist,
die nur für diesen aktiv wird. Da nützt es auch nichts, wenn sich die Blindheit endlos reproduziert und in verschiedene Formen des Lasters ausdifferenziert. Der Blindheit geht es wie dem
durch ein Ich-Bewusstsein geprägten individuellen Bewusstsein: Sie sieht nur eine Vielheit
von Dingen, die von dem erkennenden Ich verschieden sind. Die dahinter verborgene transzendente Einheit vermag sie nicht zu erkennen. Und so hilft nur eines: die Blindheit durch
Erkenntnis zu vernichten, die Welt als Vielheit aus dem individuellen Bewusstsein zu löschen, damit es sich mit dem absoluten Bewusstsein zu vereinigen vermag.
Wer also diesen Kreislauf des Lebens in Blindheit durchbrechen und zum Einen zurückfinden will, der muss das tun, was der Gott in diesem Mythos tut, nämlich den Dämon der
Blindheit besiegen. Zu diesem Zweck muss er Siva auf den Weg der Askese und des Yoga
folgen. Wenn es ihm dabei nach hartem Kampf gelingt, die eigene Blindheit mit dem Spieß
der Erkenntnis zu durchbohren und seine Laster und Begierden zu Kräften der Heilsgewinnung zu transformieren, so durchbricht er den Kreis der Geburten und die Begrenzungen der
materiellen Welt. Wie der ausgeblutete Dämon Andhaka, gelangt auch er dann in die zeitlose
Gegenwart Sivas.
2.3 Abschluss: Siva und die Gewalt
Gewalt ist ein Strukturprinzip weltlichen Daseins, das auf der physischen und psychischen
Ebene gleichermaßen vorhanden und nötig ist. Ohne sie könnte die Weltordnung nicht gesiDr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Asiatische Hochreligionen I - Hinduismus
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chert werden. Ohne sie wäre es aber auch nicht möglich, aus dem weltlichen Leben auszubrechen und Befreiung zu finden. Ihre generelle Bewertung als negativ ist daher kurzsichtig.
Vielmehr hängt die Bewertung von Ziel und Ergebnis des Einsatzes von Gewalt ab. Geschieht
er unter dem Einfluss der Begierde, so führt dies zu tieferer Verstrickung in den Fesseln der
Materie. Geschieht er dagegen im Dienste höherer Erkenntnis, welche allein das individuelle
Bewusstsein aus seiner Begrenztheit zu lösen und gleich dem absoluten Bewusstsein grenzenlos und zeitlos weit zu machen vermag, so ist dies heilsam und führt zur Befreiung.
Das gilt insbesondere für die vernichtende Gewalt des Gottes Siva. Alle Schilderungen
zeigen ihn als Außenseiter der Gesellschaft, der mit ihren Regeln nicht konform geht, ja diese
verachtet. Als Aussteiger, der alle Konventionen missachtet, mag er Furcht oder Abscheu
hervorrufen. Aber was er bekämpft und verachtet, ist eine Welt des Scheins und der Vergänglichkeit, ein kontinuierlicher Kreislauf des Werdens, der zu immer neuen Toden führt. Der
Weg, der aus diesem Kreislauf herausführt, ist ein Weg des Yoga und der Erkenntnis. Er
durchbricht die Strukturen des vom Ich geprägten Bewusstseins, lässt Pluralität, Raum, Zeit
und Kausalität hinter sich und gewinnt die Omnipräsenz des transzendenten Bewusstseins,
das keinerlei Bindungen mehr unterliegt.
3
Systematische Darstellung: Grundzüge des Hinduismus
Die entsprechenden Ausführungen sind in sieben einzelnen pdf-Datein beigelegt.
3.1 Entstehung
3.2 Schriften
3.3 Heilige Stätten
3.4 Lehre
3.5 Feiern
3.6 Tod
3.7 Reinkarnation
4
Zusammenfassung Hinduismus
Die entsprechenden Ausführungen sind in einer weiteren pdf-Datei beigelegt.
5
Zur Pflichtethik: Kant und die Gita
Entnommen aus: Ram Adhar Mall, Der Hinduismus. Seine Stellung in der Vielfalt der Religionen, Darmstadt (Primus) 1997.
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6
7
Quellenverzeichnis

Hutter, Manfred: Mystik und Gottesliebe am Beispiel der Bhagavadgita. Bearbeitet
und
gekürzt
von
Ernst
Pohn,
in:
[email protected]
[http://religionv1.orf.at/projekt03/religionen/hindu/re_hi_fr_entstehung_stroemungen.
htm (24.11.2013)].

Stietencron, Heinrich von: Die heilsame Vernichtung – Zorn und Gewalt des Gottes
Siva. Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn, in: [email protected]
[http://religionv1.orf.at/projekt03/religionen/hindu/re_hi_fr_entstehung_geschichte.ht
m (24.11.2013)].

Mall, Ram Adhar: Der Hinduismus. Seine Stellung in der Vielfalt der Religionen,
Darmstadt (Primus) 1997.
Kompetenzwege zur individuellen oder gemeinsamen Bearbeitung
7.1 Fragen/Aufgaben zur Ertragssicherung
7.2 Fragen/Aufgaben Ertragserweiterung
8
Literatur
Brook, Peter (Regie); Carrière, Jean-Claude (Drehbuch): Mahabharata [3 DVDs], 1990.
Brück, Michael von (Hrsg.): Bhagavad Gita. Der Gesang des Erhabenen, Berlin (Verlag der
Weltreligionen im Insel-Verlag), 2007.
Brück, Michael von: Einheit der Wirklichkeit, München 1987.
Goto, Toshifumi; Witzel, Michael E. J. (Hrsg.): Rig-Veda: Das heilige Wissen. Erster und
zweiter Liederkreis, Berlin (Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag), 2007.
Hierzenberger, Gottfried: Der Hinduismus, Wiesbaden 2003.
Mall, Ram Adhar: Der Hinduismus. Seine Stellung in der Vielfalt der Religionen, Darmstadt
(Primus) 1997.
Oberlies, Thomas: Der Rigveda und seine Religion, Berlin (Verlag der Weltreligionen im
Insel-Verlag), 2012.
Simson, Georg von: Mahabharata - Die Große Erzählung von den Bharatas, Berlin (Verlag
der Weltreligionen im Insel-Verlag), 2011.
Slaje, Walter (Hrsg.): Upanischaden: Arkanum des Veda, Berlin (Verlag der Weltreligionen
im Insel-Verlag), 2009.
Trutwin, Werner: Hinduismus, Düsseldorf 2003.
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