Klonale Hämatopoese von unbestimmtem Potenzial

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ÜBERSICHTSARBEIT
Klonale Hämatopoese
von unbestimmtem Potenzial
Ein Risikofaktor für hämatologische Neoplasien
Michael Heuser, Felicitas Thol, Arnold Ganser
ZUSAMMENFASSUNG
Hintergrund: Bei Zytopenien wird zunehmend häufiger eine molekulargenetische Diagnostik von peripherem Blut
oder Knochenmark veranlasst. Hierbei können Genmutationen ohne morphologisches Korrelat einer hämatologischen Neoplasie diagnostiziert werden, wie beispielsweise
ein myelodysplastisches Syndrom (MDS). Um einer Fehldiagnose eines MDS vorzubeugen, wurde nun eine neue
Entität definiert. Diese stellt für die myeloischen Erkrankungen eine potenzielle Vorstufe dar, analog der monoklonalen Gammopathie unklarer Signifikanz für das Multiple
Myelom.
Methoden: Wir führten eine selektive Literaturrecherche in
PubMed durch mit den Begriffen „clonal hematopoiesis“,
„acute myeloid leukemia“ und „myelodysplastic syndrome“.
Ergebnisse: Klonale Hämatopoese von unbestimmtem Potenzial (clonal hematopoiesis of indeterminate potential,
CHIP) ist eine neue Entität, die somatische Mutationen in
Blut- oder Knochenmarkzellen nachweist. Sie erfüllt aber
keine weiteren Kriterien für eine hämatologische Neoplasie. Die Prävalenz von CHIP nimmt mit dem Alter zu und
liegt in der 8. Dekade bei circa 10 %. In Deutschland sind
hochgerechnet etwa 2 750 Personen betroffen. Das am
häufigsten mutierte Gen ist DNMT3A, gefolgt von TET2 und
ASXL1. Die Transformationsrate zu einer hämatologischen
Neoplasie beträgt 0,5–1 % pro Jahr und ist damit circa
13-fach erhöht. Wenn CHIP ein Zufallsbefund bei normalem Blutbild ist, sollte nach 3 Monaten und anschließend
jährlich ein Differenzialblutbild erhoben werden.
Schlussfolgerung: CHIP muss in die Differenzialdiagnose
von Patienten mit Zytopenien des peripheren Blutes einbezogen werden und kann helfen, die klinische Bedeutung
von klonaler Hämatopoese besser zu verstehen.
►Zitierweise
Heuser M, Thol F, Ganser A: Clonal hematopoiesis of
indeterminate potential—a risk factor for hematological
neoplasia. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 317–22.
DOI: 10.3238/arztebl.2016.0317
Klinik für Hämatologie, Hämostaseologie, Onkologie und
Stammzelltransplantation, Medizinische Hochschule Hannover:
Prof. Dr. med. Heuser, PD Dr. Thol, Prof. Dr. med. Ganser
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 18 | 6. Mai 2016
as menschliche Knochenmark produziert mehrere Millarden Zellen pro Tag. Diese Zellen werden gespeist von hämatopoetischen Stammzellen, die
auf eine Gesamtzahl von 11 000 bis 22 000 pro Person
geschätzt werden (1). Während die Abkömmlinge der
hämatopoetischen Stammzellen (sogenannte Vorläuferzellen) durch schnelle Zellteilung die Hauptlast der
Blutbildung tragen, teilen sich die Stammzellen nur selten im Lauf eines Lebens und tragen so zur genomischen Stabilität bei.
Genmutationen werden seit vielen Jahrzehnten als
Marker einer klonalen Entwicklung verwendet, die den
Ursprung aller mutierten Zellen von einer mutierten
„Mutterzelle“ anzeigt. Bei gesunden Individuen geht
man davon aus, dass die hämatopoetischen Stammzellen gleichmäßig zur Blutbildung beitragen. Im Gegensatz dazu ist eine Leukämie ein Extremfall der klonalen
Hämatopoese, in der eine Blutstammzelle fast die gesamte (krankhafte) Blutbildung übernommen hat und
dies zu schweren Ausreifungsstörungen (Blasten) sowie der Verdrängung der normalen Blutbildung (mit
konsekutiver Anämie, Neutropenie und/oder Thrombozytopenie) führt.
In den letzten fünf Jahren wurden die Genmutationen, die eine akute myeloische Leukämie (AML) auslösen können, umfassend durch Exon-Sequenzierung
untersucht (2). Zu den am häufigsten mutierten Genen
gehören DNMT3A, TET2 und ASXL1, die alle eine
wichtige Rolle in der epigenetischen Regulation spielen (DNMT3A für die DNA-Methylierung, TET2 für
die DNA-Hydroxymethylierung und ASXL1 für die
Histonmethylierung und Histonubiquitinierung) (3).
DNMT3A-Mutationen finden sich bei 18 % der AMLPatienten (4). Bei bis zu 40 % dieser Leukämiepatienten zeigt sich dabei ein interessantes
Phänomen: Obwohl unter einer intensiven Chemotherapie die Leukämiezellen aus dem Knochenmark verschwinden und auch die meisten leukämiespezifischen Mutationen nicht mehr nachweisbar sind, bleibt
eine bei Diagnosestellung vorhandene Mutation im
DNMT3A-Gen weiterhin nachweisbar, selbst bei Patienten, die langfristig geheilt sind (5, 6). Dies deutet
darauf hin, dass in einer hämatopoetischen Stammzelle zwar bereits eine DNMT3A-Mutation, aber noch
keine weiteren Leukämie-spezifischen Mutationen
nachweisbar sind. Diese Stammzelle wird als präma-
D
317
Normal/ICUS
+ DNMT3A
CHIP
+ ASXL1
MDS
+ TP53
AML
polyklonal
Blut
Knochenmark
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Abbildung 1: Schrittweise Entwicklung von polyklonaler (normaler, ohne Nachweis somatischer Mutationen) zu klonaler Hämatopoese von
unbestimmtem Potenzial (CHIP), myelodysplastischen Syndromen (MDS) und akuter myeloischer Leukämie (AML). ICUS, idiopathische Zytopenie unbestimmter Signifikanz. Die mutierten Gene (DNMT3A, ASXL1, TP53) sind nur exemplarisch dargestellt; es können andere Gene und
in anderer Reihenfolge betroffen sein.
ligne Stammzelle bezeichnet und trägt stärker zur
Blutbildung bei als andere Stammzellen (dass heißt
sie ist klonal expandiert), ohne eine Leukämie zu induzieren (Abbildung 1). Drei kürzlich veröffentlichte
Studien haben nun untersucht, ob klonal expandierte
hämatopoetische Stammzellen oder sogenannte prämaligne Stammzellen auch bei gesunden Personen
nachzuweisen sind (7–9). Aus diesen Untersuchungen
heraus wurde eine neue Krankheitsentität definiert,
die mit einem erhöhten Risiko für hämatologische
Neoplasien und einer erhöhten Mortalität einhergeht.
Diese Entität wird klonale Hämatopoese von unbestimmtem Potenzial (clonal hematopoiesis of indeterminate potential, CHIP) genannt (10). Wir führten eine selektive Literaturrecherche in PubMed durch mit
den Begriffen „clonal hematopoiesis“, „acute myeloid
leukemia“ und „myelodysplastic syndrome“. Im Folgenden stellen wir diese Entität vor und diskutieren
ihre klinische Bedeutung. Wir erwarten, dass dieses
Phänomen der klonalen Selektion aufgrund somatischer Mutationen auch auf andere Gewebe übertragbar ist, in denen eine mit dem Alter steigende Tumorinzidenz beobachtet wird.
CHIP – klonale Hämatopoese von
unbestimmtem Potenzial
Störungen der Blutbildung werden mit zunehmendem
Alter häufiger und sind mit erhöhter Morbidität, Hospitalisierung und Mortalität verknüpft. Sie stellen somit
ein medizinisches Problem insbesondere auch der
alternden Bevölkerung dar: Während bei Patienten im
Alter über 65 Jahre die Prävalenz der Anämie etwa
318
10 % beträgt, steigt dieser Anteil bei den über 85-Jährigen auf 20 % an. In einem Drittel der Fälle wird dafür
keine Ursache gefunden (11).
CHIP wird ganz wesentlich durch den Nachweis
somatischer, also nach Geburt erworbener Mutationen definiert. Am häufigsten wird man Patienten dieser Entität zuordnen, die aufgrund einer Zytopenie
(Anämie, Leukopenie, Thrombozytopenie) molekulargenetisch untersucht werden. Wichtige Differenzialdiagnosen bei Zytopenien des peripheren Blutes
sind klonale hämatopoetische Erkrankungen wie
zum Beispiel die myelodysplastischen Syndrome
(MDS). Die MDS sind als maligne Erkrankungen definiert durch:
● dysplastische Zellen im Knochenmark oder Ringsideroblasten oder eine Vermehrung von Myeloblasten bis 19 %
● Zytopenien im peripheren Blut
● Ausschluss von reaktiven Ursachen dieser Zytopenien (12).
Durch die zunehmende Gensequenzierung in der
Diagnostik von MDS kommt es nun aber immer wieder
zum Nachweis von somatischen Mutationen, während
die übrigen Kriterien für MDS nicht erfüllt sind. Daher
wurde die Entität CHIP eingeführt, die eine benigne
Erkrankung darstellt mit geringem Risiko der Transformation in myeloische oder lymphatische Neoplasien.
Diese kennt man von der monoklonalen Gammopathie
unklarer Signifikanz (MGUS) für Multiple Myelome
und der monoklonalen B-Lymphozytose (MBL) für die
chronisch lymphatische Leukämie. Diese Diagnosen
haben per se keinen Krankheitswert, gehen aber ähnDeutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 18 | 6. Mai 2016
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Klinische Bedeutung von CHIP
Drei große Studien haben sich mit der klinischen Bedeutung der klonalen Hämatopoese bei Menschen ohne
bekannte hämatopoetische Erkrankung befasst, wobei
die Mehrzahl der 32 290 untersuchten Patienten aus
Kohortenstudien zu Diabetes mellitus (7) und psychiatrischen Erkrankungen (8) stammten, während 2 728
Patienten solide Tumoren hatten (9). Bei allen Patienten wurde eine Exon-Sequenzierung aus Zellen des peripheren Blutes durchgeführt. Eine klonale Hämatopoese fand sich bei unter 40-Jährigen bei weniger als 1 %.
Bei Menschen zwischen dem 70. und 80. Lebensjahr
zeigte sich dagegen bei 9,5 bis 13,9 % eine klonale
Hämatopoese. Bei den über 80-Jährigen stieg dieser
Anteil bis auf 16,4 % (Grafik 1). Entsprechend der
Altersstruktur in Deutschland sind hier circa 2 750
Personen betroffen (Statistisches Bundesamt, Stand
31. 12. 2010). Männer sind 1,3-fach häufiger betroffen
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 18 | 6. Mai 2016
GRAFIK 1
CHIP
20
18
16
14
Prävalenz (%)
lich wie CHIP mit einer Transformationsrate von
1–2 % pro Jahr in maligne Erkrankungen über. CHIP
ist definiert durch:
● den Nachweis einer klonalen Hämatopoese (somatische Mutation)
● die Abwesenheit von Dysplasien der Hämatopoese im Knochenmark
● das Fehlen einer Blastenvermehrung im Knochenmark (Kasten).
Zytopenien im peripheren Blut können, müssen aber
nicht vorliegen. Ausgeschlossen sein müssen:
● paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH)
● MGUS
● MBL.
Die klonale Hämatopoese muss durch eine somatische Mutation mit einer varianten Allelfrequenz von
mindestens 2 % nachgewiesen sein (10). Diese sehr
niedrige Allelfrequenz liegt nur knapp über dem Detektionslimit der neuen Hochdurchsatzsequenzierverfahren und kann nur bei tiefer Sequenzierung sicher nachgewiesen werden (13), so dass wir für Allelfrequenzen
zwischen 2 und 10 % eine Lesetiefe von mindestens
500 Kopien und eine Wiederholung der Sequenzierung
zur Bestätigung empfehlen. Die wesentliche Abgrenzung zu Niedrigrisiko-MDS sind die fehlenden Dysplasien der Hämatopoese und zu Hochrisiko-MDS zusätzlich die normale Blastenzahl im Knochenmark, die bei
Hochrisiko-MDS erhöht ist. Abbildung 1 zeigt schematisch die Abgrenzung zwischen normaler Hämatopoese,
CHIP, MDS und AML. Die bisherige Definition der
idiopathischen Zytopenie unbestimmter Signifikanz
(ICUS) bleibt bestehen und unterscheidet sich von
CHIP durch das Fehlen von Klonalität, also dem Fehlen
von somatischen Aberrationen (14, 15). Im klinischen
Alltag sollen Patienten mit Zytopenien und Nachweis
somatischer Mutationen, aber nicht ausreichenden Kriterien für MDS, der Entität CHIP zugeordnet werden.
Dagegen wird es auf absehbare Zeit eine Rarität bleiben, dass ein Patient ohne Zytopenien aufgrund eines
Zufallsbefundes von somatischen Mutationen in der
Hämatopoese der neuen Entität CHIP zugeordnet wird.
12
10
8
6
4
2
0
< 41
41–50
51–60
61–70
71–80
> 80
Alter (Jahre)
Jaiswal et al.
Genovese et al.
Xie et al.
Altersabhängige Prävalenz von CHIP (7–9)
CHIP, klonale Hämatopoese von unbestimmtem Potenzial
GRAFIK 2
DNMT3A – 45
TET2 – 10
ASXL1 – 9
JAK2 – 8
PPM1D – 4
TP53 – 4
SF3B1 – 3
BCORL1 – 3
GNB1 – 3
GNAS – 2
SRSF2 – 2
CBL – 1
0
10
20
30
40
Häufigkeit (%)
50
60
Häufigkeit der mutierten Gene bei CHIP. Die Zahlen hinter dem Gennamen geben die Mutationsfrequenz in Prozent an (7–9). CHIP, klonale Hämatopoese von unbestimmtem Potenzial
319
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GRAFIK 3
CHIP
nein
ja
Zytopenie
– Diff-BB nach 3 Monaten,
– KMP
dann
– Diff-BB monatlich,
– Diff-BB alle 12 Monate
ab 4. Monat alle 3 Monate
Zunehmende Zytopenie oder Blasten im Diff-BB
KMP
Algorithmus zum klinischen Management von CHIP
Zytopenie definiert als Hb <10 g/dL, Thrombozyten < 100 000/µL, Neutrophile < 1 000/µL..
CHIP, klonale Hämatopoese von unbestimmtem Potenzial; Diff-BB, Differenzialblutbild; KMP,
Knochenmarkpunktion zur Gewinnung von Knochenmarkaspirat und -stanze für zytologische, histologische, zytogenetische und molekulargenetische Untersuchung
KASTEN
Definition von CHIP nach Steensma et al. (10)
A Kein Nachweis von morphologischen Kriterien für hämatologische
Neoplasien, insbesondere keine Dysplasien oder Blastenvermehrung
(DD MDS und AML)
B Ausschluss von PNH, MGUS und MBL
C Nachweis einer somatischen Mutation, die mit hämatologischen
Neoplasien assoziiert ist und eine Allelfrequenz von mindestens 2 % hat
(= Nachweis der Klonalität).
D Zytopenien im peripheren Blut können vorliegen, gehören aber nicht zur
Definition von CHIP (DD ICUS und MDS).
E Risiko der Progression in hämatologische Neoplasie 0,5–1 % pro Jahr
AML, akute myeloische Leikämie; CHIP, klonale Hämatopoese von unbestimmtem Potenzial; DD, differenzialdiagnostisch; ICUS, idiopathische Zytopenie unbestimmter Signifikanz; MBL, monoklonale
B-Lymphozytose; MDS, myelodysplastisches Syndrom; MGUS, monoklonale Gammopathie unklarer
Signifikanz; PNH paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie
als Frauen (7). Eine Anämie, Thrombozytopenie oder
Leukopenie kommt nicht häufiger bei Patienten mit
CHIP als bei Patienten ohne CHIP vor. Allerdings hatten Personen mit CHIP häufiger Bi- oder Trizytopenien im peripheren Blut (7). Die am häufigsten mutierten Gene sind solche, die auch bei AML- und
MDS-Patienten am häufigsten mutiert sind:
DNMT3A, TET2, ASXL1 (2, 13, 16) (Grafik 2). Dabei
hatten Mutationen in der DNA-Methyltransferase
DNMT3A die höchste Frequenz (26 bis 58 %) (7–9).
Das Risiko, eine maligne hämatologische Erkrankung
320
zu entwickeln, war für die Patienten mit somatischen
Mutationen 11- bis 13-fach erhöht. Das absolute Risiko allerdings, eine maligne hämatologische Erkrankung zu entwickeln, war mit einer Rate von 0,5 bis
1 % pro Jahr gering (7, 8). Von den Patienten mit
CHIP, die eine maligne hämatologische Erkrankung
zeigten, hatten circa 60 % eine myeloische (AML,
MDS, chronische myelomonozytäre Leukämie
[CMML], myeloproliferative Neoplasie [MPN]) und
circa 40 % eine lymphatische Neoplasie (chronische
lymphatische Leukämie [CLL], Multiples Myelom,
B-Zell-Lymphom) (8).
Interessanterweise war die Gesamtmortalität für
Patienten mit CHIP erhöht (Hazard Ratio [HR] 1,4;
p = 0,02). Während die Ergebnisse in einer Studie
Folge einer erhöhten Krebsmortalität waren (HR 2,0;
p = 0,02) (8), zeigte sich in einer zweiten Studie ein
erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Todesfälle (koronare Herzerkrankung und Schlaganfälle, HR 2,6;
p = 0,003) (7). Patienten mit höherer Allelfrequenz
der somatischen Mutationen hatten ein höheres Risiko sowohl für die Entwicklung einer hämatologischen
Neoplasie als auch für die Gesamtmortalität. Dies
deutet auf einen kausalen Zusammenhang zwischen
der klonalen Hämatopoese und den genannten Outcome-Parametern hin. Diese Ergebnisse legen zudem
nahe, dass CHIP über seine hämatologische Bedeutung hinaus sogar ein möglicher Indikator für den generellen Alterungsprozess ist.
Ätiologie und Pathogenese von CHIP
CHIP zeigt eine klare Assoziation mit dem Alter.
Zwei Phänomene können dafür verantwortlich sein:
Mit steigendem Alter duchläuft die hämatopoetische
Stammzelle zunehmende Replikationszyklen. Bei jeder Replikation entstehen Mutationen, die gegebenenfalls nicht repariert werden können. Die altersabhängig steigende Mutationsfrequenz konnte kürzlich
eindrücklich durch die DNA-Sequenzierung aus einzelnen hämatopoetischen Stammzellen von Gesunden
gezeigt werden (17). Während bei Neugeborenen 0
bis 1 Mutation pro Stammzelle nachweisbar war,
zeigten sich 4 bis 7 Mutationen bei 40- bis 50-Jährigen und 8 bis 12 Mutationen bei 70- bis 80-Jährigen.
Nur wenn diese Mutationen in für die Hämatopoese
wichtigen Genen entstehen, kommt es aber zu einer
klonalen Expansion dieser Stammzelle. Auf der anderen Seite kann eine Erschöpfung der Stammzellen,
beispielsweise durch Telomerverlust und Apoptose,
zu einer Verminderung der Diversität und Kompetition der verschiedenen Stammzellen führen, so dass
sich im Alter Stammzellen mit auch nur geringem
Wachstumsvorteil gegenüber anderen Stammzellen
durchsetzen können. Diese Annahme unterstützt eine
große, kürzlich veröffentlichte Studie zur aplastischen
Anämie (18). Bei aplastischer Anämie kommt es zu
einem schrittweisen Verlust der hämatopoetischen
Stammzellen und schweren Zytopenien. Nicht überraschend fanden sich bei einem Drittel der Patienten
somatische Mutationen mit niedriger Allelfrequenz in
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 18 | 6. Mai 2016
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weitgehend den gleichen Genen, die auch bei gesunden Personen mit klonaler Hämatopoese gefunden
wurden (DNMT3A, ASXL1, TP53, TET2, BCOR und
BCORL1) (18).
Genotoxischer Stress wie Chemikalien oder Strahlung kann die Mutationsrate in Zellen erhöhen. So
fand sich in der Studie von Genovese et al. eine Assoziation zwischen Rauchen und klonaler Hämatopoese
(HR 2,2; p < 0,001) (8), wie sie auch für MDS bekannt ist (19, 20). Dieser Zusammenhang könnte auch
das erhöhte kardiovaskuläre Risiko erklären, das in
der Studie von Jaiswal et al. gefunden wurde (7).
Klinisches Management von CHIP
Die hier vorgestellten Empfehlungen beruhen auf Expertenmeinungen, da es bisher keine klinischen Studien zu Patienten mit CHIP gibt. CHIP wurde als provisorische Entität definiert, um eine Fehldiagnose von
MDS zu vermeiden und negativen Folgen einer unnötigen Therapie vorzubeugen. Außerdem dient die Definition dazu, zukünftig vermehrt auf diese Patienten
zu achten und den klinischen Verlauf zu dokumentieren, um weitere Kenntnisse über diese provisorische
Entität zu erhalten. Es sollte derzeit kein Screening
auf CHIP bei gesunden Personen mit normalem Blutbild erfolgen, da erstens das Risiko für eine hämatologische Neoplasie gering ist und zweitens keine Interventionsmöglichkeit besteht.
Wenn CHIP als Zufallsbefund bei Patienten mit
normalem Blutbild gefunden wird, empfehlen wir, ein
Differenzialblutbild zunächst nach 3 Monaten und
dann alle 12 Monate zu erheben, um die Entwicklung/
Progression einer Zytopenie zu erkennen oder das
Auftreten von Blasten im Blut festzustellen.
Bei Patienten mit CHIP und peripherer Zytopenie
(Hb < 10 g/dL, Thrombozyten < 100 000/μL und/
oder Neutrophile < 1 000/µL) empfehlen wir neben
einer initialen Knochenmarkpunktion ein Differenzialblutbild nach 1, 2 und 3 Monaten und dann alle
3 Monate, um eine zunehmende Zytopenie oder Blasten
im Differenzialblutbild zu erkennen. Bei Nachweis
einer oder mehrerer zunehmender Zytopenien oder
von Blasten im Differenzialblutbild ist eine wiederholte Knochenmarkpunktion zur weiteren Diagnostik
mit Zytomorphologie, Histologie sowie eine zytound molekulargenetische Untersuchung angezeigt
(Grafik 3).
zieren und in Zukunft gezielt weiter zu untersuchen.
Ein Screening auf CHIP ist bei gesunden Personen
nicht indiziert. Allerdings ist es in Zukunft von Interesse, die Ursachen von CHIP abzuklären und Möglichkeiten zu evaluieren, der Transformation in eine
hämatologische Neoplasie vorzubeugen. Für die Therapie von MDS- und AML-Patienten muss ebenfalls
die wichtige Frage beantwortet werden, ob die CHIPassoziierten Mutationen effektive Therapietargets
sind, oder ob nicht eher die genetischen Veränderungen behandelt werden müssen, die zum Ausbruch der
Leukämie geführt haben. Das Konzept der klonalen
Stammzellexpansion in gesunden Individuen sollte
auch auf andere Gewebe bei Patienten übertragen
werden, die eine mit dem Alter steigende Tumorinzidenz aufweisen, wie kolorektale Karzinome, Brustkrebs oder Prostatatumore, um die Pathogenese dieser
Erkrankungen weiter aufzuklären.
KERNAUSSAGEN
● Klonale Hämatopoese von unbestimmtem Potenzial
(CHIP) wurde als neue Entität definiert.
● Klonale Hämatopoese wird definiert durch den Nachweis einer Genmutation, die mit hämatologischen Neoplasien assoziiert ist.
● Dysplasien und leukämische Blasten müssen ausgeschlossen werden.
● Klonale Hämatopoese nimmt mit dem Alter zu (10 % in
der 8. Dekade).
● Das Risiko der Transformation in eine hämatologische
Neoplasie beträgt 0,5–1 % pro Jahr.
Interessenkonflikt
Prof. Ganser erhielt Honorare für Beratertätigkeit von Boehringer-Ingelheim,
Celgene, Takeda und Tolero.
PD Thol wurde für wissenschaftliche Vorträge honoriert von Celgene.
Für die Durchführung von klinischen Auftragsstudien erhielt sie Honorare von
Celgene, und Boehringer-Ingelheim.
Prof. Heuser wurde für wissenschaftliche Vorträge honoriert von Celgene.
Für die Durchführung von klinischen Auftragsstudien erhielt er Gelder auf ein
Drittmittelkonto von Novartis, Karyopharm, Generis, Tetralogic, Berben Bio und
Daiichi Sankyo. Für ein von ihm initiiertes Forschungsvorhaben bekam er
Sachmittelunterstützung von Illumina.
Schlussfolgerung
Aktuelle Untersuchungen legen nahe, dass Mutationen in den Genen DNMT3A, TET2 und ASXL1 und
anderen eine klonale Hämatopoese induzieren. Die
klonale Hämatopoese ist ein altersabhängiges Phänomen und geht mit einem erhöhten Risiko für hämatologische Neoplasien einher. Die Transformationsrate
beträgt 0,5 bis 1 % pro Jahr und ist daher vergleichbar
mit den benignen Erkrankungen MGUS und monoklonale B-Lymphozytose. Die Definition von CHIP
dient dazu, Patienten mit somatischen Mutationen,
die die Kriterien für MDS nicht erfüllen, zu identifiDeutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 18 | 6. Mai 2016
Manuskriptdaten
eingereicht 8. 9. 2015, revidierte Fassung angenommen: 23. 11. 2015
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Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Michael Heuser
Klinik für Hämatologie, Hämostaseologie,
Onkologie und Stammzelltransplantation
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Straße 1, 30625 Hannover
[email protected]
Zitierweise
Heuser M, Thol F, Ganser A: Clonal hematopoiesis of indeterminate potential—
a risk factor for hematological neoplasia. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 317–22.
DOI: 10.3238/arztebl.2016.0317
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