Vortrag

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Ökonomische Lesegruppe: Historische Schulen
Zwei Ökonomien: Der Werturteilsstreit
Das Postulat der Werturteilsfreiheit bzw. Objektivität ist für das heutige Selbstverständnis der
Wirtschafts- und Sozialwissenschaften grundlegend.
Werturteilsdiskussion im Verein für Socialpolitik vom 5. Januar 1914 in Berlin
Weder 1914 begonnen noch aufgehört. Dennoch markiert sie den Anfang vom Ende der historischethischen Schule in der deutschen Ökonomik
Verein für Socialpolitik VfS („Socialreform-Verein“, gegründet 1872 in Halle)
- „Kathedersozialisten“:
Die Kathedersozialisten der ersten Stunde sind staats- und kaisertreu, von der Notwendigkeit
und Wirksamkeit sozialpolitischer Interventionen überzeugt und einig in der Abwehr des
Marxismus/Kommunismus einerseits und des (Manchester-)Liberalismus anderseits. (Rieter)
- Gründungsmitglied und Vorsitz: Gustav (von) Schmoller, Exponent der jüngeren Historische
Schule der Nationalökonomie
„Soziale Frage“: Ökonomen und Kaufleute vertraten die Auffassung, dass die sich
industrialisierende Gesellschaft durch eine „soziale Reform“ umgebildet werden müsse, um
revolutionären Umbrüchen vorzubeugen.
- Basis des sozialpolitischen Engagements war die empirische Sozialforschung, was die Frage
nach einer adäquaten Methodologie zunächst überflüssig machte.
- Der VfS sei auf „politisches Wirken“, nicht „theoretische Erörterung“ gerichtet.
-
Ende 1890er Spannungen:
liberale Radikalisierung (M. Weber) vs. soziale Erziehung (G. Schmoller)
Methodenstreit
Ist Nationalökonomie eine (empirische) Wissenschaft? Wer vertritt die „richtige“ Wirtschaftswissenschaft?
- älterer M’streit: Carl Menger (1840-1921) vs. Gustav Schmoller (1838-1917)
Anhänger der österreichischen Grenznutzenschule gegen Anhänger der deutschen
Historischen Schule
Schmoller begann den Streit 1883 mit der Rezension von Mengers „Untersuchungen über die
Methode der Sozialwissenschaften und der Politischen Ökonomie insbesondere“. Menger
reagierte daraufhin mit einer ausführlichen Stellungnahme, deren äusserst polemischer
Charakter Schmoller dazu bewog, von weiteren direkten Äusserungen Abstand zu nehmen.
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jüngerer M’streit: Max Weber (1864-1920) vs. Gustav Schmoller (1838-1917)
Auseinandersetzung um Werturteile in den Sozialwissenschaften
Wiener Tagung 1909: Un/Brauchbarkeit des Begriffs „Produktivität“
M. Weber gegen dessen wissenschaftliche Verwendung (Werturteil)
Nürnberger Tagung 1911: Im Eröffnungsvortrag bestimmt Schmoller die Tätigkeit des VfS als
wissenschaftliche Vorarbeit für die praktische Politik, was Werturteile unvermeidlich mache.
Weber beantragte daraufhin eine Sonderdebatte zur Werturteilsfrage. Stellungnahmen zu 4
Fragen waren bis 1. 4. 1913 einzureichen. Unveröffentlichtes Typoskript 134 S.
5. Januar 1914 Berliner Diskussion mit 52 Teilnehmern, kein Stenogramm.
Frage (Sombarts): Aufgabe der Nationalökonomie „festzustellen, dass etwas ist, oder
gleichzeitig, was sein soll“, d.h. sind Werturteile ein- oder auszuschliessen?
Antwort (Weber): Werturteile sind wissenschaftlich nicht begründbar; Normen können nicht
aus Tatsachen hergeleitet werden (naturalistischer Fehlschluss).
Postulat der Werturteilsfreiheit
„Wenn wir die Nationalökonomie als Wissenschaft auf das Gebiet exakter Erkenntnis einschränken, dann hört sie auf, uns irgend etwas über die Funktion der Wirtschaft im Leben der
Menschen zu sagen. Am Ende aller sozialwissenschaftlichen Erkenntnis steht immer die
Wertung des Erkannten vom Standpunkt der Gesamtheit.“ (Philippovich)
-
„Der theoretischen Nationalökonomie ist keine soziale, sondern allein eine individuelle
Betrachtungsweise angemessen. Sie hat sich auf die Analyse funktionaler Beziehungen
zwischen Gütermengen und Preisen zu konzentrieren. Resultat sollten in mathematische
Form gebrachte Theorien über Preis, Lohn, Zins und Rente sein.“ (Schumpeter)
Historische Schulen der Nationalökonomie
Nau: etatistischer Idealismus und ethischer Evolutionismus [L1]
-
„Sektierer und Aussenseiter“ (Rieter); Schmoller: „toter Hund“ (Kempsky, 1964)
Zugleich Anhänger und Kritiker der Klassik;
weder neoklassisch noch sozialistisch
Vorläufer: Friedrich List (1789-1846) „Theorie der produktiven Kräfte“
-
ältere Hist. Schule:
Bruno Hildebrand (1812-1878)
Karl Knies (1821-1898)
Wilhelm Roscher (1827-1894)
Julius Kautz (1829-1909)
„Jede Nationalökonomie hat zwei Hauptseiten, die harmonisch entwickelt werden müssen,
eine ethisch-politische und eine materiell-ökonomische.“ (Roscher)
Als Wissenschaft ist sie im Kreis der „moralisch-socialen Disciplinen“ anzusiedeln und hat das
historische, das ethische und das politische Moment gleichmässig zu berücksichtigen. (Kautz)
-
jüngere Hist. Schule:
Adolph Wagner (1835-1917)
Gustav Schmoller (1838-1917)
Georg Friedrich Knapp (1842-1926)
Lujo Brentano (1844-1931)
Karl Bücher (1847-1930)
Werner Sombart (1863-1941)
Max Weber (1864-1920)
Denkstil der Historischen Schulen (nach Rieter, WiSt):
- relativistisch/nicht universell/absolut:
Nationalökonomie ist keine „Welt- und Menschheitsökonomie“ (kein universeller homo
oeconomicus). Sie lässt sich nicht von den raum-zeitlichen (historischen) Bedingungen einer
Kultur und ihrer Entwicklung trennen.
- modellfeindlich:
Die mathematische Volkswirtschaftslehre beruht, wenn sie mehr sein will als eine eigentümliche Art der Illustration von Bekanntem, auf einer Verkennung der Natur volkswirtschaftlicher
Erscheinungen und ihrer Ursachen. Die Konstruktionen und Formeln verwenden Elemente,
die alle in Wirklichkeit nicht bestimmbar, einer Messung nicht fähig sind, und erwecken durch
Einsetzung von fiktiven Größen für psychische Ursachen und unmeßbare Marktverhältnisse
den Schein einer Exaktheit, die nicht besteht. (Schmoller)
- holistisch/nicht atomistisch/reduktionistisch:
Wirtschaftliche Phänomene sind soziale und institutionelle Phänomene, die man nicht in
isolierte Elemente auflösen kann (kein methodischer Individualismus). Ökonomische
Vorgänge - etwa die Allokation knapper Ressourcen - können nie unabhängig oder isoliert von
allen anderen kulturellen Einflüssen gesehen werden, weil sie ein Reflex dieser gesellschaftlichen Zusammenhänge sind. (Nau)
- organismisch/nicht mechanistisch:
Die funktionale Integration aller Teile eines sozialen Systems in ein historisch-genetisches
Beziehungsgeflecht wird vorausgesetzt. Die Psychologie soll durch die Analyse psycho-
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-
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physischer Lebenseinheiten die begriffliche Basis für eine Theorie sozialer Systeme
bereitstellen. (Nau)
evolutorisch:
Die Entwicklung (Wandel; Fortschritt) der Wirtschaft und Gesellschaft (und ihren Institutionen)
wird untersucht (Entwicklungsgesetze und -stufen). Mit fortschreitender Kultivierung der
Institutionen sollte auch die Pazifizierung der Gesellschaft einhergehen.
ethisch-normativ:
Die wirtschaftliche Entwicklung wird nicht nur beschrieben, sondern bewertet. In allem
volkswirtschaftlichen, wie in allem gesellschaftlichen und historischen Leben spielen sittliche
Werturteile über menschliche Handlungen und gesellschaftliche Einrichtungen eine
maßgebende Rolle. (Schmoller)
empiristisch:
Induktive (historische, statistische) Forschung soll der deduktiven Theorie- und Modellbildung
vorausgehen.
sozial-/kultur-/geisteswissenschaftlich:
Einerseits wird die Wirtschaftswissenschaft nicht dem naturwissenschaftlich-technischen
Bereich zugeordnet, anderseits werden alle mit den Menschen und ihrem Zusammenleben
befassten Disziplinen einbezogen. Die Nationalökonomie wird zu einer Gesellschaftswissenschaft, verstanden als Teil einer allgemeinen Kulturwissenschaft, erweitert.
Gustav Schmoller (1838-1917)
Professuren in Halle (1864-1872) Straßburg (1872-1882) und Berlin (1882-1913);
Mitglied des preußischen Staatsrats (1884), danach - als zunächst einziger Nationalökonom - Mitglied
der philosophisch-historischen Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1887) und
Vertreter der Universität Berlin im Preußischen Herrenhaus (1899); zudem Mitglied der Friedensklasse des Ordens Pour le merite;
1908 wurde Schmoller in den Adelsstand erhoben.
Er hatte weit reichenden sozialpolitischen Einfluß als Mitbegründer (1872) und langjähriger
Vorsitzender (seit 1890) des Vereins für Socialpolitik und als führendes Mitglied einer Reihe weiterer
Vereine, die sich der Volkswohlfahrt widmeten und sich für eine soziale Reform einsetzten.
Publizistischen Einfluß auf die deutsche Nationalökonomie nahm Schmoller durch die
Herausgeberschaft des Jahrbuchs für Gesetzgebung, Volkswirtschaft und Verwaltung im Deutschen
Reich (1881 ff.), das sich 1913 in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Volkswirtschaft und
Verwaltung umbenannte.
"Es schwebte mir", so Schmoller in seiner Antrittsrede vor der Preußischen Akademie der
Wissenschaften 1887, "immer die Aufgabe vor, das wirklich zu leisten und zu vollenden, was
Hildebrand, Knies und Roscher in der deutschen Nationalökonomie versucht haben: Diese
Wissenschaft gänzlich loszulösen von der Dogmatik der englisch-französischen Utilitätsphilosophie,
sie auf einen anderen, psychologisch und historisch tiefer und sicherer begründeten Boden zu
stellen."
"Ob das künftige Urteil dahin gehen werde, daß ich als Historiker gescheitert sei, weil ich zugleich
Nationalökonom war, als Nationalökonom, weil ich nicht aufhören konnte, Historiker zu sein, muß ich
dahingestellt sein lassen. Ich kann nur beides zugleich sein und bilde mir ein, das Beste, was ich zu
leisten vermag, dieser Verbindung zu danken."
Gerechtigkeit als Grundprinzip der Sozialreform
Die Hauptschwäche der liberalistischen Theorie lag nach Schmollers Auffassung darin, eine von
Staat und Recht losgelöste abstrakte Wirtschaftsgesellschaft zu fingieren. Folgen:
- der Staat hatte sich als intervenierende Institution verteilender Gerechtigkeit aus dem Bereich
individueller Lebensführung zu entfernen;
- das Elend der Arbeiterschaft und die Ungleichheit in der Vermögens- und Einkommensverteilung nahmen zu;
- die Gefahr revolutionärer Umbrüche stieg.
Eine sozialistische Infiltration der Arbeiterbewegung konnte abgewendet werden
- mittels sozialpolitischer Wirtschaftsregulierung (Wirtschaftsreform)
- mittels humanistischer Bildungspolitik (Bildungsreform).
Dazu muss aber die Ökonomie (wieder) auf den „Boden des Rechts und der Gerechtigkeit“ gestellt
werden.
Staat (idealistischer Etatismus)
Der Staat ist „das großartigste sittliche Institut zur Erziehung des Menschengeschlechts“. Es braucht
„eine starke Staatsgewalt, welche, über den egoistischen Klasseninteressen stehend, die Gesetze
gebe, mit gerechter Hand die Verwaltung leite, die Schwachen schütze, die unteren Klassen hebe.“
[L2;10]
Staat als Bildungsinstanz
„um die unteren Klassen so weit zu heben, zu bilden, zu versöhnen, daß sie in Harmonie und Frieden
sich in den Organismus der Gesellschaft und des Staates einfügen.“ [L2;10]
Staat als Verteilungsinstanz
Das sozial Wichtige ist weniger die individuelle Verteilung des Einkommens als die Verteilung nach
den gesellschaftlichen Klassen. Denn von der öffentlichen Meinung wird der Durchschnittslohn
wahrgenommen, als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt empfunden. Und dieser ist sicher nicht vom
Glück, vom Zufall abhängig. Er ist das Resultat der durchschnittlichen Eigenschaften der betreffenden Klasse im Zusammenhang mit den Beziehungen zu den anderen Gesellschaftsklassen; er ist vor
allem das Resultat bestimmter menschlicher Institutionen. [L13]
Psychologie
Handlungsmotive, Sitten und Institutionen bedingen einander wechselseitig: Handlungsmotive prägen
Sitten. Sitten formieren sich in Institutionen. Institutionen wiederum konditionieren als innere und
äußere Objektivationen Handlungsmotive. [L7]
Schmoller hebt hervor, daß das "psychologische Element" in der Volkswirtschaft für ihn durchaus
dasselbe meine wie das "ethische". Denn die "psychologischen Faktoren sind die Quelle dessen, was
ich meine, das Ethos ist das Produkt". (Schmoller)
"Mein Zweck in der theoretischen Volkswirtschaftslehre ist ja vor allem, neben der historischen eine breitere und tiefere psychologische
Begründung zu geben" und somit "die ganze Wissenschaft wieder auf ihre wahren Quellen" zurückzuführen, auf die "psychologischen,
sittlichen und historischen Probleme" (Schmoller)
Die Volkswirtschaftslehre hatte nach Schmoller hauptsächlich drei Aufgaben zu erfüllen:
- die Entstehungsgeschichte verschiedener ökonomischer Institutionen (Organisationsformen)
zu skizzieren,
- die gesellschaftliche Konstellation dieser Organisationsformen in bestimmten Wirtschaftsordnungen zu typologisieren (Wirtschaftsstile),
- und schließlich die historische Aufeinanderfolge verschiedener Wirtschaftsordnungen darzulegen (Wirtschaftsstufen).
"Es muß im Detail nachgewiesen werden, wie aus den Trieben die Handlungen, aus den Handlungen die Sitte, aus der Sitte das
wirtschaftliche, politische, kirchliche, rechtliche Kulturleben, wie aus all dem die großen Geschichtsepochen mit ihren verschiedenen
Tendenzen und Richtungen entstehen." (Schmoller)
Der Ökonom mußte hierbei die natürlichen - d.h. geographische, anthropologische und biologische im Zusammenhang mit den kulturellen - d.h. gesellschaftshistorischen, politisch-moralischen und
psychologischen - Gegebenheiten verschiedener Epochen sehen. Während er sich hinsichtlich der
natürlichen Gegebenheiten auf die Ergebnisse der Naturwissenschaften stützen konnte, sollte er
hinsichtlich der kulturellen Entwicklung eine genuin kulturwissenschaftliche Methodik anwenden. Die
alles gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben beherrschenden "Regeln" (Werturteile!), wurzelten
nach Schmoller in gemeinsamen "psychischsozialen Grundkräften". Es war die primäre Aufgabe
einer historisch- ethischen Volkswirtschaftslehre, diese Regeln darzulegen, weil Moral, Sitte und
Recht nur als psychische Erscheinungen wissenschaftlich begriffen werden konnten.
Sittlichkeit, Ethik und Kultur: „bürgerliches Versittlichungstelos“ (ethischer Evolutionismus)
"Alles menschliche Handeln ist ein gegenseitig bedingtes, ein Kompromiss zwischen den
verschiedenen Aufgaben und Zwecken des Menschen, die Einfügung jeder einzelnen Handlung wie
des einzelnen Menschen in den richtigen Zusammenhang des Ganzen. In diesem von Sitte und
Recht vermittelten Zusammenhang besteht alles Ethische." (Zit. Arbeiterfrage) [L2]
In Anlehnung an Diltheys „Wissenschaft vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat“ griff
Schmoller auf ein sittliches Entwicklungsmodell zurück, das die Geschichte als „Evolution des
Sittlichen“ verstand. [L3]
Schmoller betont bei dieser Entwicklung jedoch auch die Paradoxien dieses zivilisatorischen Fortschritts,
denn einerseits gebe es ohne ökonomischen und rechtlichen Fortschritt keine materielle und kulturelle Verbesserung,
andererseits verändere dieser Fortschritt aber die bestehende sittliche Gemeinschaft und schaffe Verteilungskämpfe. (Nau)
"Es ist das gemeinsame Ethos, wie der Grieche das in Sitte und Recht kristallisierte sittlichgeistige
Gemeinbewußtsein nannte, das alle Handlungen der Menschen also auch die wirtschaftlichen
beeinflußt." (Schmoller) In der doppelten Herkunft aus Vernunft und Tradition liegt die wesentliche
kulturanthropologische Konnotation, in der mit Ethos die Gesamtheit der von einem Volk als
verbindlich gelebten Leitbilder und Verhaltensmuster bezeichnet wird. Das Ethos repräsentiert
das, was Schmoller und die Historische Schule als den "einheitlichen Volksgeist", den "inneren
psychisch-moralischen Zusammenhang" der Menschen bezeichnete. [...] Das Ethos wird durch die
Ethik um- und fortgebildet. Und weil die Wirklichkeit des Ethos die der Institutionen ist, läuft
Schmollers Ethos-Ethik auf eine Institutionenethik hinaus. Denn in den Institutionen ist das realisierte
Ethos dem moralischen Individuum je schon vorgeordnet. [L3]
Institutionen
- Der weite Institutionenbegriff umfasst die geläufigen Formen wie den Markt, die Unternehmen
oder den Staat, aber auch informelle Konventionen und habituelle Eigenarten. [L3]
- Institutionen sind der "Kern aller wirtschaftlichen Politik". (Schmoller)
Sie sind legitim, wenn und insofern sie Ausdruck der (kultur- und epochenspezifischen)
Gerechtigkeitsvorstellungen sind.
- Einerseits regeln sie die sittliche Koordination der individuellen Handlungen,
anderseits sind sie selber das Resultat sittlicher Vergesellschaftung.
Status der Volkswirtschaftslehre
„Volkswirtschaft ist nicht eine Abkürzung für eine gewisse Summe von Einzelwirtschaften, sondern
ein reales Ganzes, d.h. eine verbundene Gesamtheit, in welcher die Teile in lebendiger
Wechselwirkung stehen und in welcher das Ganze als solches nachweisbare Wirkungen hat. Alle
ökonomischen Grössen (Angebot und Nachfrage, Arbeit, Einkommen, Preise, Geld etc.) können nur
in diesem Kontext verstanden werden.“ (Schmoller)
„Die Nationalökonomie ist eine Geisteswissenschaft. Zuviel naturwissenschaftliche Vorbildung
verunsichert die sichere Urteilskraft in politischen und staatswissenschaftlichen Entscheidungen. Sie
ist eine philosophische bzw. ethische Wissenschaft in Anlehnung an die Entwicklung der heutigen
Gesellschaftswissenschaften.“ (Schmoller)
Die exakte Wissenschaft unterstellte nach Schmoller immer schon ein Bild vom Ganzen, das einzelne
Phänomene in ihren Zusammenhängen erst begreifbar und aus deutbar machte. Eine teleologische
Betrachtung trat der induktiv vorgehenden Wissenschaft als leitendes Motiv, als "symbolisierende
Ergänzung" zur Seite. Erst wenn man sich über die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen
Institutionen ein Bild im Ganzen machen konnte, war man zu einer in die Zukunft gerichteten Politik
befähigt. [L7]
Die methodische Kontroverse lautet nicht: Deduktion oder Induktion, sondern: Isolierung des
wirtschaftlichen Motivs als einziger psychischer Kausalfaktor und damit Sozialökonomik als
selbständige Teildisziplin der Sozialwissenschaft – oder Berücksichtigung aller in concreto waltenden
Motive und damit Einschmelzung der Sozialökonomik in die Sozialwissenschaft.“ (Dietzel)
Dilthey hob in seiner Rezension von Schmollers Grundriß
der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre genau auf jenen hermeneutischen Zirkel
ab, den Schmollers wissenschaftliche Arbeit immer bewußt unterstellte:
"Die Beschreibung, welche sich auf die Beobachtung gründet, bedarf der Begriffsbildung;
der Begriff und seine Definition setzt eine Klassifikation der
Erscheinungen voraus; soll nun diese neue Gesamtheit derselben planvoll geordnet
werden, sollen die Begriffe das Wesentliche der Tatsachen aussprechen,
welche sie repräsentieren, dann setzen sie bereits die Erkenntnis des Ganzen
voraus. So entsteht ein Zirkel. Es ist im Grunde ein künstlerischer Vorgang, in welchem
die Macht, die Universalität und der objektive Charakter der Intuitionen
den Wert des Ergebnisses bestimmen." (Dilthey)
Dieser hermeneutische Zirkel kann folgendermaßen beschrieben werden: Ein
Strukturganzes - eine Handlung, ein Text oder ein Kultursystem - stellt eine
charakteristische Beziehung seiner Teile untereinander her. Es konstituiert sich
jedoch selbst erst in diesen Beziehungen. Das Ganze und seine Teile implizieren
sich somit wechselseitig. Ein Verstehen des Ganzen setzt deshalb die Kennntis
seiner Teile ebenso voraus, wie umgekehrt erst die Kenntnis des Ganzen überhaupt
die Zuordnung der Teile als Teile des Ganzen ermöglicht.
Schmollers Anliegen konzentrierte sich hierbei im Wesentlichen auf drei
Punkte:
(1) den nationalpädagogischen Anspruch universaler Wahrheit, befreit von materiellen Sonderinteressen und
verankert im sittlichen Medium der Vernunft,
(2) die Unabhängigkeit und Distanz von Partikularinteressen und, damit einhergehend,
(3) eine Ethisierung der Macht in Form des höheren Staatsbeamtentums.
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