Werte und Kompetenzen im Wandel. Brauchen wir eine neue Ethik

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Prof. Dr. Dagmar Borchers
Sandra Kohl
Werte und Kompetenzen im Wandel.
Brauchen wir eine neue Ethik des öffentlichen Dienstes?
16. Europäischer Verwaltungsreformkongress, Bremen, 2./3.12.2010
(1) Was ist das Alte?
(2) Warum funktioniert es nicht mehr?
(3) Was ist das Neue?
(4) Wie kann man es implementieren?
(5) Was bedeutet das konkret für den Einzelnen?
(6) Fazit & Ausblick
1 Was ist „das Alte“?
(a) Rahmenbedingungen:
• Stabilität und Wachstum(sillusion)
• Normalarbeitsverhältnisse
• Nationalstaat
• Fortschrittsoptimismus
• Angebotsmonopol der öffentlichen Verwaltung
(b) Werte: Das Bürokratiemodell
• Berufsbeamtentum als Leitprofession, Dominanz der Juristen
- Einheitliches Ethos, Hierarchie, Vorbildfunktion
- Normierung über Recht
- „Alte Werte“: Unparteilichkeit, Loyalität, Sparsamkeit, Verschwiegenheit,
Rechtmäßigkeit, Gerechtigkeit/Fairness, Neutralität, Integrität
2 Warum funktioniert es heute nicht mehr?
(a) Rahmenbedingungen
Gesellschaftliche Entwicklungen
• Steigende Unsicherheiten (z.B. Erwerbslosigkeit)
• Prozentualer Anteil älterer Bürgerinnen und Bürger steigend
• Divergierende Bildungsstandards
• Radikale Pluralität & kulturelle Diversität
• Sinkende finanzielle öffentliche Ressourcen
• Zunehmende öffentliche Anteilnahme & Kritik an staatlichem und administrativem
Handeln und Entscheiden
2 Warum funktioniert es heute nicht mehr?
(b) Werte: Heterogene Ansprüche auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger
Einerseits …
• Radikaler Individualismus & Egoismus
• Klares Bewusstsein über Rechte & Ansprüche
• Betonung kultureller Identität & individueller Bedürfnisse
• Hohe Ansprüche an staatliches Handeln (Qualität & Quantität)
• Grosses Interesse an moralischen Fragen
• Individuelles Engagement in Initiativen etc.
• Gezielte Einflussnahme auf öffentliche Entscheidungen
2 Warum funktioniert es heute nicht mehr?
(b) Werte: Wandel der Erziehungsziele im Langzeitvergleich
Erziehungsziele 1951-2001
Worauf sich die Erziehung von Kindern in erster
Linie hin ausrichten sollte (nur alte Bundesländer)
70%
Selbständigkeit/Freier Wille
Ordnungsliebe/Fleiß
Gehorsam/Unterordnung
60%
50%
40%
30%
20%
10%
0%
51
54
57
64
67
69
72
74
76
79
81
83
Quelle: EMNID, Mehrfachnennungen möglich
86
89
91
95
98
1
2 Warum funktioniert es heute nicht mehr?
(b) Werte: Differenzierung der Lebensstile
2 Warum funktioniert es heute nicht mehr?
(b) Heterogene Ansprüche auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger
Andererseits …
• Demokratiemüdigkeit
• Misstrauen gegenüber Politik & öffentlicher Verwaltung
• Gefühl mangelnder Einflussmöglichkeiten
• Schwindendes Interesse an Parteien & staatlichen Strukturen
2 Warum funktioniert es heute nicht mehr?
(b) Erosion des Vertrauens ?
Ganz allgemein: Was halten Sie von…
1 = überhaupt nichts ……….11 = sehr viel
Gewerkschaften
4,80
Arbeitgeberverbände
4,21
Wirtschaftsführer
4,19
Parteien
3,72
Politiker
3,53
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Quelle: Ethik-Monitor, Stiftung Wertevolle Zukunft 2006
3 Was ist das Neue?
(a) Rahmenbedingungen
Entwicklungen der öffentlichen Verwaltungen
Nach außen:
• Private/Public Partnerships
• Starke Serviceorientierung
• Starke öffentliche Kontrolle
Nach innen:
• Budgetkürzungen
• Hoher Effizienzdruck
• Modernisierungsdruck, rasantes Reformtempo
• Interner Wettbewerb
• Größere Entscheidungs- und Ermessensspielräume für den einzelnen
• Modifiziertes Berufs- und Selbstverständnis
3 Was ist das Neue?
(a) Rahmenbedingungen
Anzahl der Beschäftigten der Freien Hansestadt Bremen 2009
4.285
4.505
19.973
18.744
Kernverwaltung
Sonderhaushalte
Betriebe, Anstalten, Stiftungen
Beteiligungen
3 Was ist „das Neue“?
(b) Werte: Ethik-Probleme und Herausforderungen
• Ethisch problematisches Verhalten aufgrund von Strukturproblemen, z. B.
- dezentrale Korruption
- kollektive Entscheidungsprozesse mit einer Vielzahl von Akteuren
- tragische Fälle
• Formal nicht geregelte Bereiche und Grauzonen
• Rechtlich unterschiedliche Regelungen
• Unterschiedliche Werteorientierungen (Spannungsfeld Recht - Politik - Ökonomie - Moral)
• Neue Normen, neue Klasse unethischen Verhaltens
• Neue ethische und rechtliche Standards durch internationale Organisationen
3 Was ist „das Neue“?
(b) „Neue“ Werte: Was heißt „Handeln im öffentlichen Interesse“?
•
Berufsbeamtentum als Leitprofession, Dominanz der Juristen
–
–
–
•
Bürokratiemodell
Leitbild des Managers, Ökonomen
–
–
–
–
•
Einheitliches Ethos, Hierachie, Vorbildfunktion
Normierung über Recht
„Alte Werte“: Unparteilichkeit, Loyalität, Sparsamkeit, Verschwiegenheit,
Rechtmäßigkeit, Gerechtigkeit/Fairness, Neutralität, Integrität
Skepsis gegenüber Ethos, Ergebnisorientierung, Effektivität, Effizienz
„Neue Werte“: Wettbewerb, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit, Flexibilität, Teamgeist
Rechenschaftspflicht/ Begründung, Ergebnisverantwortung, Leistungsanreize
Kundennähe/Serviceorientierung, Transparenz, Bürgernähe, Offenheit
Öffentlich Beschäftigte moral agents, platonische Wächter
oder … kein spezifisches Ethos des öffentlichen Dienstes mehr?
–
–
–
Ethos-Pluralisierung?
Dialog über geteilte Werte und Umgang mit Wertekonflikten?
Von der Tugend zur Wertekompetenz?
NPM / Neues
Steuerungsmodell
Public sector ethics
Good Governance
Public Value Management
3 Was ist „das Neue“?
(b) „Neue“ Werte: Was heißt „Handeln im öffentlichen Interesse“?
„Alte“ Werte
„Neue“ Werte
• Unparteilichkeit
• Effizienz
• Loyalität
• Kundennähe / Serviceorientierung
• Sparsamkeit
• Transparenz
• Verschwiegenheit
• Offenheit
• Gerechtigkeit / Fairness
• Bürgernähe
• Rechtmäßigkeit
• Strikte Sachorientierung
• Neutralität
• Rechenschaftspflicht / Begründung
• Integrität
• Entscheidungs- & Handlungsfreiheit
• Vorbildfunktion
• Teamgeist
• Hierarchie
• Flexibilität
3 Was ist „das Neue“?
(b) „Neue“ Werte: Was heißt „Handeln im öffentlichen Interesse“?
Befund: Die „neuen“ Werte …
… setzen die „alten“ nur zum Teil außer Kraft; viele von ihnen behalten ihre
Gültigkeit
… können zum Teil als Neuinterpretationen alter Werte gelten (z.B. in Hinblick
darauf, was „Handeln im öffentlichen Interesse“ heute bedeutet)
… betreffen im Wesentlichen die Qualität von Prozessen und Entscheidungen in
ihrer Genese und ihren Resultaten
… sind nur zum geringsten Teil moralische Werte; die ethische Dimension liegt
eher versteckt in den Werthaltungen, die hinter den nicht-moralischen Werten
deutlich wird und die es ggf. zu berücksichtigen gilt
… sind inhaltlich diffus
… werfen möglicherweise ethische Folgeprobleme in der Umsetzung auf
4 Wie kann man es implementieren?
(a) Rahmenbedingungen / Rechtliche Regelungen: Instrumente einer Ethik-Infrastruktur
(OECD)
• Politisches Bekenntnis
• Effektive rechtliche Rahmenbedingungen
• Effiziente Rechenschaftsmechanismen
• Praktikable Verhaltensregeln
• Professionelle Sozialisationsmechanismen
• Unterstützende Bedingungen öffentlicher Dienst
• Ethische Koordinationsstelle
• Aktive Zivilgesellschaft
Ziel: Compliance und Integrität
4 Wie kann man es implementieren?
Drei Ebenen der Implementierung (Jann 2002)
„Struktur“
(formal)
Systemebene
„Kultur“ (informell)
„Governance“
z.B. Kulturtypen (Hofstede),
cleavages…
Problemlösungsfähigkeit von
Staat und Gesellschaft
Interorganisatorisch
Föderalismus,
Ressortabgrenzung,
etc.
Vertrauen in Institutionen
(VK I)
„Verwaltungskultur als politische
Kultur“
Problemlösungsverhalten
Policies, Evaluation, etc.
„Policy-Style“
Intraorganisatorisch
Hierarchieebenen
Kontrakte,
Normierung
Spezifische Einstellungen /
Orientierungen, Rollenkonzepte
(VK II)
„Verwaltungskultur als
Organisationskultur“
(VK III)
Problemlösungsverhalten
Reorganisation
Ethos, Korruption etc.
„Verwaltungsstil“
4 Wie kann man es implementieren?
Implementierung auf verschiedenen Ebenen: Rahmenbedingungen; Verwaltung,
individuelle Ebene als Ergänzende Komponenten
Selbstbindung I/Spielzüge; interne Organisation; externe Präsentation: Ebene der Verwaltung
Selbstbindung II/Tugenden: Ebene der Individuen
Rahmenordnung/Spielregeln: Ebene des Staates
„Ein Kooperationsüberschuss in Gestalt einer paretobesseren institutionellen Alternative
ist […] keine hinreichende Bedingung dafür, dass dieser Überschuss von den Beteiligten
auch realisiert wird. Es bestehen strategische Anreize für alle Beteiligten, die Verteilung
des zu erwartenden Überschusses zu ihren Gunsten zu beeinflussen und dafür
Ressourcen einzusetzen – einschließlich Verhandlungszeit –, die den zu erwartenden
Nettoüberschuss für alle vermindern und doch für einzelne Beteiligte zu einem
Nettovorteil im Vergleich zum relevanten status quo führen können“
4 Wie kann man es implementieren?
(b) Die individuelle Ebene
Folgeprobleme betreffen u. a. …
… die inhaltlich-begriffliche Präzisierung diffuser „neuer“ Werte
… die Entwicklung einschlägiger klarer Handlungsnormen
… die Implementierung von Werten und Normen
… die Interpretation und Umsetzung von neuen Werten im eigenen Verhalten und
im Kontext komplexer Entscheidungen
… den Umgang mit Wert- und Pflichtkollisionen
Beispiele:
? Was genau beinhalten „Transparenz“ oder „Offenheit“?
? Welche konkreten Handlungsnormen ergeben sich daraus?
? Was bedeutet Transparenz für mein eigenes Verhalten? Wie sollte sich diese
Werthaltung im Kontext komplexer Entscheidungen auswirken?
? Wie löse ich den Konflikt zwischen der Forderung nach Verschwiegenheit und der
nach Transparenz und Offenheit im Einzelfall auf?
5 Was bedeutet das konkret für den Einzelnen?
Was kann die Philosophie tun?
Hilfe bei …
… der Präzisierung von Wertbegriffen
… der Entwicklung von Handlungsnormen in Hinblick auf deren interne Logik
(Universalisierung, Allgemeinheit, Ableitungen etc.)
… der Auflösung von Wertkonflikten durch systematische Analyse
… der Schulung ethischer Kompetenzen im Umgang mit komplexen
Entscheidungsproblemen (u. a. im Rahmen von Studienprogrammen)
… der Entwicklung und Implementierung von Ethik-Kodizes
… der Sondierung und ggf. Lösung moralischer Konflikte im Kontext von
Ethik-Kommissionen
… der kritischen Evaluation von Prozessen und Verfahren in Hinblick auf ihre
ethischen Implikationen (z.B. Allokationsprozesse)
… der Entwicklung plausibler Argumente im Kontext von Begründungen und
der Offenlegung von relevanten Überlegungen oder internen Abläufen
5 Was bedeutet das konkret für den Einzelnen?
Was kann die Philosophie tun? Zur Lösung komplexer moralischer Entscheidungsprobleme
Möglichkeiten zur Auflösung eines Wertkonflikts:
1. Rationale Abwägung: Sind beide vermeintlichen Pflichten wirklich einschlägig?
2. Zwischenmenschliche Einigung/Veränderung der Situation: Wie kann ich eine
vermeintliche Pflicht auflösen?
3. Moralische Abwägung: Welche Pflicht ist meine Pflicht?
Relevante Fragen zur Strukturierung einer konkreten Problemlage könnten u. a. sein:
• Worin genau besteht der konkrete Konflikt?
• Sind die vermeintlichen Pflichten oder Prinzipien wirklich einschlägig?
• Kann ich wollen, dass sich jeder in dieser Situation an diese Regeln hält?
• Lässt sich meine Pflicht vielleicht in anderer Weise erfüllen? Ist die gebotene
Handlung durch eine kompatible Alternative substituierbar? Welche
Handlungsunterlassung ist eher kompensierbar?
• Wie würde meine Reaktion auf jemanden ausfallen, der sich in dieser Situation für
Handlung A bzw. B entscheidet und was genau würde ich ihm oder ihr ggf. vorwerfen?
5 Was bedeutet das konkret für den Einzelnen?
Fallbeispiel 1
Arbeitsbelastung durch Kollegen:
• Die persönlichen Probleme Ihres Kollegen wirken sich auf seine Arbeitsleistung aus.
Sie sehen, dass seine Nachlässigkeiten und Unzuverlässigkeit von diesen
Problemen herrühren und vermutlich vorübergehend sind. Sie übernehmen einen
Teil seiner Aufgaben, arbeiten länger, merken aber, dass ihr Ärger darüber
zunehmend steigt. Sie fragen sich, ob ihr Beistand gut für ihre Behörde ist und das
Verhalten ihres Kollegen fair Ihnen gegenüber.
5 Was bedeutet das konkret für den Einzelnen?
Fallbeispiel 2
Budget:
• Am Ende des Haushaltsjahres sind in Ihrem Budget noch Mittel übrig. Die vormals
geltenden Regelungen, nach denen die Mittel übertragbar sind, sind auf Grund der
angespannten Haushaltslage vor einigen Jahren wieder ausgesetzt worden. Sie
haben das ganze Jahr über effizient gewirtschaftet, sehen aber nun, dass in den
anderen Abteilungen die Ausgabenmoral zu wünschen übrig lässt. Bei Ihren
Mitarbeitern, die dies mitbekommen, nimmt die Unzufriedenheit zu, und auch Sie
überlegen, Ihr Verhalten nun zu ändern.
5 Was bedeutet das konkret für den Einzelnen?
Fallbeispiel 3
IT-Projekt:
• Sie sind in einem wichtigen IT-Projekt engagiert. Das Projekt hinkt dem
vorgesehenen Zeitplan hinterher, der Unmut der beteiligten Behörden wächst, die
Kosten steigen. Die technische Lösung steht, aber die Verwaltungsvorschriften
stehen der Umsetzung noch entgegen, und auch das Datenschutzgesetz ist nicht
eindeutig in ihrem Sinne interpretierbar.
5 Was bedeutet das konkret für den Einzelnen?
Fallbeispiel 4
Infizierung mit HIV:
• Sie arbeiten in der Drogenberatung und erfahren, dass ein HIV-positiver Klient sich
frisch verliebt hat und seiner Freundin noch nichts von seiner Krankheit mitgeteilt
hat. Es besteht die Vermutung, dass sie sich mit HIV infizieren könnte, zumal der
Klient sich Ihrem Rat zur Offenheit gegenüber nicht zugänglich zeigt. Sie sind hin
und her gerissen.
5 Was bedeutet das konkret für den Einzelnen?
Fallbeispiel 5
Übertragbare Krankheit:
• Sie arbeiten als Amtstierarzt und stellen fest, dass an mehreren Schlachttieren
massive Verdachtsfälle auf eine auch auf den Menschen übertragbare Krankheit
auftreten. Nachdem Sie mehrfach ihre Vorgesetzten darauf aufmerksam gemacht
haben, wurden die Tiere jedoch zum Verzehr frei gegeben. Sie überlegen nun, an
die Öffentlichkeit zu gehen.
6 Fazit & Ausblick
Fazit:
• Die Ethik ist ein zentraler, komplexer Bestandteil öffentlichen Verwaltungshandelns Die
ethische Dimension ist nicht immer direkt ersichtlich und wirft nichttriviale Fragen auf
• Neue Werte entwickeln sich in einem komplexen Zusammenspiel externer
gesellschaftlicher und interner Verwaltungs-Prozesse
• Neue Werte machen die alten nicht automatisch obsolet, und: sie können neue
Folgeprobleme mit sich bringen (Transaktionskosten)
• Entwicklung von Kompetenzen mit unterschiedlichen, auch sich widersprechenden Werten
als Aufgabe des Personalmanagements
• Ob es ein spezifisches Verwaltungsethos gibt, ist ungeklärt
• Es gibt in Deutschland noch keine prosperierende Bereichsethik „Verwaltungsethik“
Ausblick:
• Notwendigkeit empirischer Forschung zu ethischen Konflikten und
Konfliktlösungsstrategien in der Verwaltung
• Notwendigkeit der Entwicklung von Modellen zur Strukturierung und systematischen
Lösung mehrdimensionaler Entscheidungsprobleme
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