Skript vom 01 - Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie

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Skript vom 01. 02. 2010
Vorlesung: ‚Angewandte Ethik’
Dozent: Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin
Lehrstuhl für Philosophie IV
LMU München
Tutorium und Skript: Isabella Bühl M.A.
Rückfragen an: [email protected]
In der heutigen Vorlesung wurde ein Brückenschlag zwischen der ethischen Theorie und ihrer
praktischen Anwendung auf dem Feld der Wissenschaftsethik versucht.
Man ist davon ausgegangen, dass in der Wissenschaft (wie in anderen Lebensbereichen) ein
bestimmter Ethos vorherrscht (hinlänglich akzeptierte Vorstellung davon, was sich gehört).
Dieser Ethos kann mit bestimmten ethischen Paradigmen kollidieren. Wenn z.B. ein Wissenschaftler überzeugter Utilitarist sein sollte, könnte er sich genötigt sehen, zu betrügen, sollte
dadurch die Nutzensumme für viele Beteiligte erhöht und eigentlich niemand schlechter gestellt werden. Das widerspricht aber dem wissenschaftlichen Ethos der Wahrhaftigkeit.
Diese Norm wird in der Wissenschaft strenger gehandhabt als im Alltag.
Ausführliche Debatten wurden geführt zu dem Thema, ob und wie weit Wissenschaft ökonomisiert werden darf (mal von linker, mal von wirtschaftsliberaler Seite befürwortet, nicht Lager-spezifisch). Heute ist Konsens, dass zumindest die Grundlagenforschung nicht instrumentalisiert werden darf.
Auf wissenschaftlichen Kongressen wird nicht abgestimmt. (Das käme jedem absurd vor.)
Ist Wissenschaft anti-demokratisch? Karl Popper hat sich gegen eine bornierte Wissenschaft
ausgesprochen, die Allsätze aufstellt. Nicht vollständige Verifikation solle Forscher leiten,
sondern Falsifikation ihr Anliegen sein (Kritizismus). Ein induktives Prinzip, das ausgehend
von Protokollsätzen (Rudolf Carnap) unumstößliche Zusammenhänge aufbaut, lehnte er ab.
Wissenschaftliche Hypothesen sollten möglichst kühn, aber stichhaltig (!) sein, und sich möglichst leicht widerlegen lassen, also nicht schwammig oder trivial sein. Alles, was sie nicht
widerlegt, kann dann als ‚corroboration’ (~ Wahrscheinlichkeitszunahme) gewertet werden.
Von der Prüfung wissenschaftlicher Sätze darf generell keiner ausgeschlossen werden, die
Wissenschaftsgemeinschaft sollte inklusiv sein und sich nicht in Denkschulen spalten.
Dies sind hohe Anforderungen. Es gibt Theoretiker, die auf die kulturelle die Gebundenheit
von Wissenschaft abheben (gemeinsame Sprache, Denkmuster), aber ihre Argumente sind
kaum überzeugend. Gewisse Grundannahmen der Logik und Wissenschaftstheorie werden
von allen vernunftbegabten Subjekten geteilt. Wissenschaft ist – rein geschichtlich betrachtet
– kein europäisch-rationalistisches Exportgut (Arabien, Indien, China, etc.).
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Es gibt dennoch seit jeher „Wissenschaftssprachen“ (Latein, Englisch) und in einen Wissenschafts-typischen Ethos: den Primat epistemischer Rationalität -> Wissen muss v.a. wohlbegründet sein.
Man könnte sagen, der Akt-/oder Handlungsutilitarimus macht einen Kategorienfehler, wenn
er eine Handlung in der Wissenschaft nach ihrer Lust/Leid-Bilanz bewertet, weil dies einen
praktischen Ethos heranzieht, man aber von einem epistemischen Ethos ausgeht.
Die Interaktion von Wissenschaftlern soll auf Wissenserwerb, nicht auf Moralität orientiert
sein, deshalb wünscht man sich keine ethische Finalisierung, sondern offene, selbst-regulative
Strukturen.
Aber schon hier wird es komplex: Sind quantitative Evaluationskriterien von wissenschaftlichen Arbeiten (Zitations-Indexe) „gut“? Sagen sie etwas über die epistemische Qualität von
Wissenschaft aus? Ferner: Können sich Wissenschaftler über alle Interessenlagen hinwegsetzen und z.B. allein die Qualität eines Arguments geltend machen?
Wenn dem so wäre, könnte man diesen Zustand auf der Meta-Ebene durch Nützlichkeitsargumente rechtfertigen? (Z.B. werden seit langer Zeit Gelder in die Erforschung und Entwicklung der Kernfusion gesteckt, ohne dass ein Fusionsreaktor in Aussicht stünde. Man kann
argumentieren, dass der Wunsch nach Kenntnis der innersten Materiestrukturen dieses Projekt
ausreichend legitimiert.)
Ein weiteres Problem hat sich gezeigt, als zunehmend ‚esoterische’ (hoch-spezifische, für eine
kleine Wissenschaftlergemeinschaft zugängliche) Projekte sich als ökonomisch oder anderweitig relevant erwiesen. In den 70ern des letzten Jahrhunderts hat sich nach dem Abwurf der
Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki die ‚Concerned Scientists’-Bewegung entwickelt.
Wissenschaftler fingen an, die Frage zu stellen, ob sie sich überhaupt auf den epistemischen
Ethos zurückziehen dürfen und nicht die praktischen Konsequenzen ihrer Forschung genauso
im Auge haben sollten (vgl. ‚Die Physiker’ von Dürrenmatt).
Ein Mandarinen-Staat (chin. Mandarine als Alleinentscheider über Wert und Verbreitung einer Erkenntnis) möchte man aber genauso wenig haben, wie totale Verantwortungslosigkeit.
Also muss ein Mittelweg gefunden werden (Anregungen in AE).
Der Ethos ist für die Wissenschaft konstitutiv, aber Teil eines komplexen Interaktionsgefüges.
1.) Wissenschaft wird zu großen Teilen aus Steuern finanziert,
2.) Wissenschaftler haben eine Lehrverpflichtung, im Optimalfall sollte eine Wechselwirkung
zwischen Wissenschaftlern und Studierenden stattfinden,
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3.) Wissenschaft birgt Entwicklungsmöglichkeiten für Kultur, Technik, Politik, etc., sie ist mit
ihnen verwoben und ein objektives technology-assessment (was wird eine Technik uns „bringen“?) ist nicht möglich, weil zu viele unbekannte Faktoren im Spiel sind.
Insofern ist Wissenschaft nicht autark und muss sich den Forderungen eines externen Ethos
stellen. Das heißt:
- Wissenschaftler haben eine Pflicht zur Öffentlichkeit und Allgemeinverständlichkeit.
- An Naht- und Transferstellen sollten sie unentgeltlich als Sachberater auftreten.
- Die Politikberatung sollte Akademie-zentriert stattfinden (England, Frankreich, in D erst
ansatzweise), sodass von Politikern keine Lobby-Wissenschaftler „besorgt“ werden können.
Außerdem heißt das, Wissenschaftler müssen moralisch urteilsfähig sein. Naturwissenschaftler sollten nicht nur in ihrem Fach, sondern auch in ethischen Belangen geschult sein.
Am nächsten Montag ist Klausur. Das Tutorium findet dennoch statt. Ihr könnt dann restliche
Fragen stellen. Alles Gute für die Klausur und danke für euer Interesse!
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