GEWISSEN UND NORMEN subjektive Einsicht und allgemeine Gesetze GEWISSEN UND NORMEN Worum geht es? Bis jetzt, im Gang durch die Philosophiegeschichte wurde aufgezeigt, wie verschieden begründet wird, was sittlich richtig ist, wie also allgemeine sittliche Gesetze aufgestellt werden. Jetzt soll auf den einzelnen Menschen geschaut werden, der seine persönlichen sittlichen Überzeugungen hat, vielleicht im Gegensatz zu den allgemein geltenden sittlichen Normen. Es geht um die Spannung zwischen Gewissen und Norm. Gewissen –sein Verständnis Im Denksystem von Immanuel Kant wäre „Gewissen“ nicht anderes als die je-eigene praktische Vernunft, die vor dem Anspruch eines kategorischen Imperativs steht bzw. der Ort, wo das Sittengesetz über die eigene Vernunft dem einzelnen Menschen sich meldet. In christlicher Tradition hat der Einzelne eine größere Bedeutung Gewissen bei Thomas von Aquin (1225-1274) Thomas hat noch einen vor-modernen Ansatz, der aber mit dem Ansatz von Immanuel Kant verbunden werden kann, so dass deutlich wird, wie die beiden Ansätze sich ergänzen können. Thomas hat seine ethischen Überlegungen vor allem im Anschluss an den antiken Philosophen Aristoteles entwickelt, auch wenn gerade in der Gewissenslehre Akzente deutlich werden, die erst über das christliche Gedankengut in die Geistesgeschichte gekommen sind Gewissen bei Thomas von Aquin (1225-1274) Thomas verwendet den Ausdruck con-scientia, was wörtlich Mit-wissen (im Griechischen: syn-eidesis), im Deutsch Ge-Wissen (auch „Ge“ kann Gemeinschaft bedeuten). Con-scientia wäre zuerst das allgemeine Bewusstsein, das uns begleitet. Im sittlichen Bereich müsste man genau genommen immer sagen „conscientia moralis“ (=coscienza morale). Der deutsche Ausdruck Gewissen meint immer das „sittliche Bewusstsein“. Thomas bezieht nun dieses sittliche Mitwissen immer auf einzelne Akte, einzelne Handlungen. Gewissen bei Thomas von Aquin (1225-1274) Conscientia und Synderesis Thomas entfaltet die Gewissensproblematik auf zwei Schienen, für die er auch unterschiedliche Begriffe verwendet. Das aktuelle,eigentliche Gewissen (in der Situation) Das Wissen im Gewissen (die Voraussetzungen dafür) Das aktuelle Gewissen Thomas definiert das Gewissen als Anwendung eines (sittlichen) Wissens auf den einzelnen Akt. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Die Überlegung, ob der Akt moralisch richtig gewesen sei oder nicht; das wäre das nachfolgende Gewissen, das sich besonders stark meldet, wenn die Handlung böse war, dann plagt uns dieses Wissen, es wird zu „Gewissensbissen“. Vor dem Handeln aber kann das Gewissen auch bedeuten, dass ich erst überlege, wie ich richtig handeln soll, welche von den verschiedenen Möglichkeiten die sittliche richtige ist. Das wäre das vorausgehende Gewissen. Das Wissen im Gewissen Wie geht besonders beim vorausgehenden Gewissen nun der Prozess der Überlegung? Hier unterscheidet Thomas wiederum verschiedene Ebenen, um zum richtigen Wissen im Gewissen zu kommen: a) Synderesis a) Sapientia (=Weisheit) c) Scientia (= Wissen) Synderesis oder Urgewissen Der Ausdruck kommt von einem Schreibfehler eines Textes von Hieronymus (4. Jh.). Im Deutschen wird jetzt hauptsächlich der Ausdruck „Urgewissen“ verwendet, im Italienischen könnte man sagen „coscienza fondamentale“. Es ist nach Thomas das Wissen um die allgemeinen moralisch-praktischen Prinzipien, dass also das Gute zu tun und das Böse zu lassen ist. Es hat apriorischen Charakter, d. h. es kommt der Vernunft natürlicherweise zu. Praktisch bedeutet dies die Annahme, dass es so etwas wie eine Vernunft in sittlichen Dingen gibt, dass also das Handeln in sittlichen Dingen immer von der allgemeinen Überlegung ausgeht: Das Gute ist zu tun, das Böse zu lassen. Sapientia (=Weisheit) Es ist die erworbene Grundhaltung, also jenes menschliche Wissen, das sich auf die höchsten und letzten Gründe des Wirklichen bezieht. Es ist die weltanschauliche Grundeinstellung, wie der Mensch also Stellung bezieht zu den zentralen Fragen der Existenzerhellung, der Weltorientierung und der Transzendenzproblematik. Diese Grundorientierungen sind schon kulturell bedingt. Ein Chinese, der in einer ganz anderen kulturellen Tradition aufgewachsenen ist, setzt wiederum andere Prioritäten als ein Afrikaner oder ein Mensch der industrialisierten westlichen Gesellschaften. Scientia (= Wissen) Was man über die Erziehung und die Lebenserfahrung gelernt hat. Es ist jenes empirische Wissen, jener faktischer Kenntnisstand, der dem Menschen zur Verfügung steht. Man bedenke, wie viel Sachwissen in den heute anstehenden Fragen der Medizin, der Umwelt, des Umgangs mit den Technologien usw. erfordert ist. Das Gewissen im Vollzug Das aktuelle Gewissen appliziert nun die drei Ebenen des Wissens auf die bestimmte Handlung, die es zu vollziehen gilt. Es ist dies oft ein unmittelbares Urteil, wo auch die Affektivität eine große Rolle spielt. Besonders die Synderesis, aber auch die Sapientia ruhen in tiefen Personschichten. Man kann dieses dreistufige Gefüge im Gewissen auch den Motivationshorizont eines Menschen nennen, wobei im Gesamten sich diese Motivationshorizonte vielfach unterscheiden, weil eben viel erworbenes Wissen mit einfließt. Beispiel: Ableiten von gifthaltigen Industrieabwässern in einen Fluss Das Gewissen im Vollzug Es ergibt sich auch eine eigentümliche Dualität im Gewissen: das Ich (Gewissen) beurteilt sich selbst als Handelnden (aktive Rolle); zugleich erfährt es den Anruf des eigenen Gewissens –passive Rolle (Thomas und die christliche Tradition nennt diesen Anruf als Stimme Gottes, gemeint ist letztlich, dass es hier keine Beliebigkeit ist, sondern im Gewissen drängt sich eine Sinnstruktur der Wirklichkeit auf, über die Stimme der Vernunft). Gewissen bei Thomas und Kant Bei der Beschreibung des Vollzug s des Gewissens besteht eine Analogie zu Kants Argumentation: Moralprinzip, Maximen, Regeln, Situation. Beim erworbenen Wissen kann es Unterschiede (Fehler) geben, insofern gibt es unterschiedliche Gewissensurteile (Beispiel: Samariter und Brahmane). Für die moralische Qualität ist es ausschlaggebend, ob die Handlung dem eigenen Gewissensurteil entspricht, ob also der Wille gut oder böse ist. Auch hier stimmt Thomas mit Kant überein. Gewissen bei Thomas und Kant Man kann aber zwischen Thomas und Kant unterschiedliche Akzentuierungen sehen, vor allem in der Frage, wie der sittliche Anspruch im Gewissen begründet wird. Kant steht in der Tradition der „Wende zum Subjekt“, insofern steht im Zentrum der Universalisierung die wechselnde Anerkennung personaler Autonomie, was für alle Subjekte ein Gesetz sein kann – es bleibt so im Formalen (die Inhalte sind erst festzulegen). Thomas geht mehr von dem aus, was das Gute für den Menschen ist, er schaut auf die Neigungen der Menschen, die sich bei allen vorfinden, die als natürlich angesehen werden können (also naturale Unbeliebigkeiten), er fragt, was dem Wohl der Menschen dient. Insofern wird hier stärker auf die Inhalte reflektiert, die aber im Lichte der Erfahrung und der Vernunft dann immer wieder überprüft werden müssen. Die Autonomie des Gewissens und der Gewissensirrtum Ob ein Wille gut oder böse ist, hängt von seiner Gewissensgemäßheit ab, also davon, ob er sich „nach bestem Wissen und Gewissen“ auf das bezieht, was er in seiner Vernunft qua Gewissen als Pflicht erkannt hat. Nach Kant zeigt sich hier die Selbstgesetzgebung der aus sich selbst praktisch werdenden Vernunft im Unterschied zur naturkausalen Heteronomie der Lust-Unlust-Motivation. Von daher kommt es, dass wir die Moralität anderer Menschen nur beschränkt erkennen können, sie also nicht richten dürften. Die Autonomie des Gewissens und der Gewissensirrtum Wie kommt es aber, dass die einen Menschen in ihrem Gewissen so urteilen und die anderen anders, insofern sich widersprechen? Wahrheit und Irrtum richten sich doch nach dem Widerspruchsprinzip. Gibt es also einen Gewissensirrtum? Welche Rechte hat ein irrendes Gewissen? Der Gewissensirrtum Kant würde sagen: In strikt moralischer Hinsicht kann das Gewissen niemals irren, weil es der ausschließliche Maßstab der Moralität ist. Nach Thomas Sicht müsste man sagen: Irrtumsfreiheit liegt vor in der Synderesis, also im Bewusstsein um die letzten moralischen Prinzipien und auch im Bewusstsein, dass ich so handeln muss, wie ich es in meinem Gewissen erkannt habe. Ein Irrtum kann sich aber ergeben in der Sapientia, also in den weltanschaulichen Auffassungen, und in der Scientia, in der Einschätzung der empirischen Zusammenhänge der Situation, in dem was ich in meinem Gewissen als zu tun erkenne. Der Gewissensirrtum Im Grunde ist dies immer ein theoretischer Irrtum, der durch entsprechende Gewissensbildung behoben werden kann. Gewissensbildung ist dauernde Pflicht des von der Vernunft geleiteten Menschen. Ein moralischer Irrtum ist dies nicht, d.h. wenn ich nach meinem, unter einer objektiven Rücksicht irrigen Gewissen handle, bin ich dadurch nicht böse. Auch der im Gewissen irrende Mensch behält somit seine Rechte. Böse ist der Mensch nur, wenn er gegen sein Gewissen ungeordneten Neigungen und Präferenzen nachgibt und zugleich weiß, dass er dies nicht tun dürfte. Böse kann er auch sein, wenn er sträflich seine Gewissensbildung vernachlässigt. NORM UND SITTLICHKEIT Normen sind soziale Handlungsregeln; während rechtliche Normen erzwingbar sind, leben sittliche Normen von ihrer Akzeptanz in sozialen Gebilden. Warum genügt es nicht, die Praxis dem Urteil der individuellen Gewissen zu überlassen? Warum brauchen wir Normen? Aus 2 Gründen: Das Gewissen selbst in seiner Dialektik verweist auf dass Desiderat von Normen (es will die „scientia“ der Regeln und Normen auf den Einzelfall anwenden) Ohne ein Mindestmaß sozial akzeptierter Normen kann kein soziales Gebilde bestehen. Notwendigkeit von Normen Im Gewissen sind wir überzeugt, dass das, wovon wir im Gewissen überzeugt sind, objektiv wahr bzw. gut und richtig ist – dies ergibt sich aus der Vernunftstruktur des Gewissens. Zugleich wissen wir, dass dies mein Gewissensurteil ist. Wir haben also hier einen subjektiven Objektivitätsanspruch. Wenn wir aber nun mit abweichenden Gewissensurteilen von anderen konfrontiert werden, dann werden wir gedrängt, den Gegensatz aufzuarbeiten, in den Diskurs mit den anderen einzutreten, um so zu Urteilen kommen, die allgemein gültig sind. Wir werden also zur Bildung des eigenen Gewissens gedrängt, hin auf die Ausbildung von sittlichen Normen. Man kann die sittlichen Normen auch als verallgemeinerte Gewissensurteile ansehen, als Gewissensüberzeugungen, die in einer bestimmten Gesellschaft als allgemeingültig und insofern für alle verpflichtend angesehen werden. Notwendigkeit von Normen Es geht darum, dass eine Gesellschaft sich ausbildet, in der es möglich ist, auf humane Weise als freie Subjekte miteinander zu leben. Eine vollständige ANomie, d.h. eine Gesetzlosigkeit würde das Zusammenleben unmöglich machen, wäre eine totale Verwirklichung des Faustrechts, wobei die Schwächeren den Starken total ausgeliefert wären. Es braucht so ein gemeinsam akzeptiertes Ethos verstanden als Gefüge von akzeptierten sittlichen Normen. Was normiert werden muss, und was frei bleibt, das ist flexibel. Eine total bis in alle Einzelheiten normierte Gesellschaft wäre wiederum inhuman und widerspräche der Autonomie der Vernunftpersonen. Gewissen und Ethos Wir stehen auch hier in einer Dialektik: Einerseits bildet sich das Gewissen am vorgegebenen Ethos, indem es dieses verinnerlicht (internalisiert), sich mit auseinandersetzt, bis es zu einer autonomen Begründung des eigenen Standpunktes kommt. Hierfür sind die entwicklungspsychologischen Studien wichtig. Andererseits beeinflussen die Gewissensüberzeugungen der Einzelnen wiederum das Ethos und die darin vorhandenen Normen, es gibt also einen dauernden Wertewandel. Dies ist wiederum unterschiedlich in homogenen Gesellschaften und in heterogenen pluralistischen Gesellschaften. Cf. Folie: Gewissen und Ethos Beurteilung der Praxis Moralität ist nicht der einzige Gesichtspunkt, um eine Praxis zu beurteilen. Zur Klärung ist es wichtig die verschiedenen Ebenen zu unterschieden: Übereinstimmung mit dem Ethos Übereinstimmung mit dem Recht Übereinstimmung mit der Moralität Übereinstimmung mit der Religion Beurteilung der Praxis Übereinstimmung mit dem Ethos: In diesem Sinne wird umgangssprachlich etwas als sittlich bzw. unsittlich bezeichnet, also im Sinne einer Konformität bzw. NichtKonformität mit sozial akzeptierten normativen Standards. Dies ist beschreibend. Beispiel: Unsittliche Kleidung Beurteilung der Praxis Übereinstimmung mit dem Recht: Was dem Recht entspricht ist legal, was ihm widerspricht ist illegal. Das Verhältnis zwischen Recht und Moral kann man sich am Bild von zwei sich überschneidenden Kreisen vorstellen. Es gibt Normen des Rechts, die zugleich auch sittliche Normen sind (z.B. Tötungsverbot), es gibt sittliche Normen, die aber rechtlich nicht (mehr) geregelt sind (Beispiel: Ehebruch), es gibt rechtliche Normen, die nicht sittliche Relevanz haben, deren Übertretung nur rechtliche Strafen zur Folge hat (z.B. Verpackungsvorschriften von Gütern usw.) – die sittliche Relevanz dieser Regelungen ist hier nur entfernt gegeben. Beurteilung der Praxis Übereinstimmung mit der Moralität, d.i. ob eine Handlung für den Einzelnen gut oder böse ist. Das ausschlaggebende Urteil hängt hier vom persönlichen Gewissen ab, ob die gesetzte Handlung im Einklang mit dem persönlichen Gewissenurteil gestanden ist oder nicht. Nach diesem Urteil muss sich der Mensch als gut böse verstehen. Von außen her kann man eine Handlung nur danach beurteilen, ob sie objektiv den Normen entspricht oder nicht. Beurteilung der Praxis Übereinstimmung mit der Religion: Die meisten Religionen sehen einen Bezug zwischen dem persönlichen sittlichen Handeln und dem Gottesbezug. Wer sittlich gut handelt, ist im Einklang mit Gott, ist heilig. Wer unsittlich handelt, verstößt auch gegen Gottes Gebot und hat insofern eine Sünde begangen. Sünde ist nichts anderes als sittliche Schuld bezogen auf Gott. Im christlichen Verständnis ist die letzte Referenz die Liebe. Die Begründung der einzelnen Normen In der Geschichte der philosophischen Ethik haben wir die Kriterien für Normbegründung je nach den großen Systemen besprochen. Jetzt geht es um die Begründung der einzelnen Normen. Normenprobleme entstehen: Durch Verlust sozialer Akzeptanz gewisser Normen (z.B. in der Sexualethik) Durch neue Fragestellungen (z.B. ökologische Fragen) Durch Kollision zwischen sektoralen Ethosformen (z.B. Binnenethos der Unternehmer versus Ethos der Gewerkschaften; nationales Interesse versus internationales Interesse). Die Begründung der einzelnen Normen Prinzipiell bieten sich zwei Möglichkeiten der Normenbegründung an: durch Rekurs auf eine Autorität, die aber ihrerseits in ihrem Anspruch begründet sein muss, oder durch Prozesse eines auf Vernunft gegründeten Diskurses, durch den die Menschen dann von der Stimmigkeit der Normen überzeugt werden können. Zwischen diesen zwei Grundmöglichkeiten gibt es dann je verschiedene Mischformen, d.h. der Anteil der durch Autorität ungefragt vorgelegten Normen und jener, die erst über einen Begründungsvorgang Anerkennung gelangen, kann variieren. 1. Normenbegründung durch Autorität Über Personen Über Texte Über Traditionen Über das Recht Über die Wissenschaft Normbegründung über Personen Personen können aufgrund ihrer außerordentlichen persönlichen Eigenschaften (heiligmäßige oder charismatische Persönlichkeiten) in einer Gesellschaft so großes Ansehen erlangen, dass ihnen normensetzende Autorität zuerkannt wird. Informelle Autorität über die Vorbildfunktion. Diese Autorität können die Personen aber auch haben auf Grund ihres innegehabten Amtes – formale Autorität (man denke an die Autorität des Papstes innerhalb der katholischen Kirche). Normbegründung über Texte Hier geht es um die Autorität Heiliger Schriften, die den Anspruch erheben, kraft göttlicher Autorität Normen vorzulegen. Man denke an den Koran oder an die Bibel. Je nach Gesellschaft bzw. Entwicklung der Religionen ist man dabei bereit, sich hermeneutische Problemen, d.h. Problemen der Auslegung zu stellen. Denn geschichtliche Texte müssen aus ihrem Kontext interpretiert werden, wobei erst geklärt werden muss, inwieweit sie auch für die heutige Zeit noch gelten können. Normbegründung über Traditionen In statischen, homogenen Gesellschaften haben Überlieferungen, Sitten und Gebräuche schon auf Grund ihres Alters das Ansehen von Normen, an die man sich ausrichtet. Je differenzierter und dynamischer eine Gesellschaft aber ist, umso mehr verlieren diese Traditionen ihre normenbegründende Relevanz. Normbegründung über das Recht Gesetzliche Regelungen können Ethosbereiche stabilisieren, aber auch destabilisieren – es gibt so eine sittenbildende Kraft der Gesetze. Wenn etwas nicht mehr bestraft wird, folgert man gerne, dass die Handlung auch sittlich erlaubt sein muss (Beispiel Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs). Das Recht hat einen sehr großen Einfluss auf das sittliche Verhalten – Problem des „slippery slope“ = der schiefen Ebene. Normbegründung über die Wissenschaft Für die Regelung komplexer Sachbereiche braucht es die Informationen durch die entsprechenden Experten, die oft unterschiedlich sein können. Dabei muss aber immer auch unterschieden werden zwischen den übermittelten empirischen Tatsachen und den daraus gezogenen sittlichen Forderungen. Eine noch große Gefahr besteht darin, dass Wissenschaftler die Kompetenz für ihr Fach auf andere Sachbereiche übertragen und dazu Aussagen machen. Auch Philosophie und Theologie verstehen sich als Wissenschaften. Ihre Chance besteht aber vor allem darin, ein Vernunft- und Problembewusstsein in die normenethischen Diskurse einzubringen. 2. Normenbegründung durch Diskurs Es geht hier darum, durch von allen nachvollziehbare Argumente Überzeugung und so Zustimmung zu den vorgelegten Normen zu erzielen. Die Orte, wo solche Diskurse stattfinden gehen von der Familie und dem Klassenzimmer bis zur Gesellschaft als ganze. Große Bedeutung haben in unserer Zeit eigene Ethikkommissionen erlangt. Die darin vorgelegten und über Diskurs hergestellten Konklusionen können dann durch eine Mehrheit vertreten werden, während eine Minderheit oft noch eine gesonderte Position (eine „opinion“) abgibt. Dies ist besonders die Praxis in Fragen der Bioethik Normenbegründung durch Diskurs Große Bedeutung für das Gelingen von Diskursen haben in unserer heutigen Gesellschaft vor allem die Medien. Sie beeinflussen weitgehend die sittlichen Einstellungen und Überzeugungen (z.B. über Talk Shows). Allerdings muss ihre spezifische Dynamik beachtet werden. Vor allem wird ein Klima der Sachlichkeit verlangt. Es müssen so emotionale Aufschaukelungen, speziell in den Medien vermieden werden (durch sogenannte „Totschlag-Argumente“, wenn zum Beispiel Abtreibung mit dem Holocaust verglichen wird oder wenn jemandem, der für die Rechte der Embryonen eintritt, gleich Frauenfeindlichkeit unterschoben wird). Normenbegründung durch Diskurs Für die Argumentation können drei wichtige Formen hervorgehoben werden. 1) Die utilitaristische Argumentationsform 2) Die gerechtigkeitstheoretische Argumentationsform 3) Die klassisch-naturrechtliche Argumentation Cf. Folie: Argumentationsformen der Normenbegründung Die utilitaristische Argumentation Ihr Vorteil besteht darin, dass sie aufgrund ihrer schwachen Voraussetzungen mit breiter Zustimmung rechnen kann, wenn das Gute hedonistisch verstanden und das Richtige im Sinne eines sozialen Nutzenkalküls vorgestellt wird. (z.B. wirtschaftliche Vorteile). Sie hat aber auch gravierende Nachteile: Sie verfügt über kein Gerechtigkeitsprinzip. Das Leid des einen kann gegen ein größeres Maß an Lust des anderen aufgewogen werden. Das Nutzenkalkül hat seine Grenzen, sowohl wenn er rein quantitativ verstanden wird als auch wenn er qualitativ versucht wird. Das Nutzenkalkül ist aber für viele Bereiche als erste Basis für einen Kompromiss sehr wichtig. Die gerechtigkeitstheoretische Argumentation Auch hier gibt es unterschiedliche Positionen, die aber alle darin übereinkommen, dass sie von einem deontologischen Moralprinzip, nämlich von der gleichen Freiheit und Unverfügbarkeit (Selbstzweckhaftigkeit) der Personen ausgehen. Sie müssen prinzipiell konsensfähig sein, so dass ihnen jede betroffene Person zustimmen kann. Nur solche Normen können zugelassen werden, die prinzipiell vorteilhaft für jeden Betroffenen sind. Diese Argumentationsform ist in ihrer Ausprägung typisch neuzeitlich, indem sie von der Idee des freien sittlichen Subjekts ausgeht (Autonomie). Die gerechtigkeitstheoretische Argumentation Wir finden sie bei den modernen Vertragstheorien (Hobbes, Locke, Rousseau), vor allem bei Kant in seiner Theorie vom Reich der Zwecke. Für die modernen Gerechtigkeitstheorien möchte ich vor allem erwähnen John Rawls, aber auch Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel und Otfried Höffe. Die gerechtigkeitstheoretische Argumentation Es zeigt sich bei dieser Argumentation eine „moderne“ Tendenz, welche die Fragen des „guten Lebens“ mehr dem Privaten überlässt und das sittlich Normative auf den Raum vernünftig machbarer Koordinationsregelungen beschränkt. Wegen der pluralistischen Einstellungen bleibt dann nur ein schmaler Raum für den Konsens. In den Hintergrund tritt die Frage, ob es naturalunbeliebige Sinnperspektiven des Menschseins gibt. Z.B. wird der größte Bereich der Sexualethik, wo Sinnperspektiven für ein geglücktes menschliches Leben diskutiert werden, im Reich des Privaten belassen. Die klassisch-naturrechtliche Argumentation Diese Argumentation hat ihre Grundlagen in der Philosophie des Thomas von Aquin und in der Weiterentwicklung durch die Scholastik; sie ist auch heute noch relevant in der Moralbegründung, auf welche unter anderem die Katholische Kirche sich bezieht. Vorausgeschickt werden muss, dass unter Natur hier nicht die außermenschliche Natur verstanden wird, sondern wenn vom sittlichen Naturgesetz gesprochen wird, wird der Mensch verstanden, insofern er durch seine Vernunft Gesetzmäßigkeiten erkennt, die in einer sogenannten Seinsordnung vorfindbar sind. Vorausgesetzt wird auch, dass alles, was geschaffen ist, zurückgeht auf einen vernünftigen Schöpferwillen. Die klassisch-naturrechtliche Argumentation Für die theoretische Vernunft ist es so, dass sie sich vom Prinzip des Nicht-Widerspruchs leiten lässt. Die praktische Vernunft des Menschen geht aus vom Prinzip, dass das Gute zu tun und das Böse zu lassen ist, und geht bei der näheren Definierung dessen, was für den Menschen gut ist, davon aus, dass er in seinem Wesen gewisse naturale Unbeliebigkeiten vorfindet, deren Sinn es zu erkennen gilt. Z.B. dass der Mensch eine Einheit ist, ein GeistLeibwesen, das sich als Ganzes verwirklichen will (jeder Dualismus, dass also nur das Leibliche wichtig ist oder das Seelische, wäre abzulehnen); ebenso dass der Mensch als Mann und Frau gleiche Würde hat und welchen Sinn die Anziehung von Mann und Die klassisch-naturrechtliche Argumentation Das Charakteristische dieser Argumentation ist es also, dass sie die Wahrheitsfrage stellt und eine bestimmte Anthropologie vertritt bzw. immer wieder argumentativ erörtert. Der Mensch findet so über seine Vernunft in dem eigenen Menschsein gewisse Gesetzmäßigkeiten vor, die er auch sittlich zu achten hat (sittliches Naturgesetz), woraus sich auch bestimmte Rechte ergeben (Naturrecht als Grundgedanke des Völkerrechts und der Menschenrechte). Es gibt materiale Bestimmungen des Menschenwürdigen im Sinne relevanter Wert- und Sinnoptionen, die diskursfähig und rational entscheidbar sind. Die klassisch-naturrechtliche Argumentation Man kann keinen Praxisbereich des Menschen einfach beliebig durch Diskurs über Mehrheitsbescheide festlegen, sondern es gibt unhintergehbare anthropologische Sachverhalte, z.B. dass bei allen menschlichen Kulturen die Sexualität bestimmte Normierungen kennt, dass unser Triebleben immer kulturell überformt ist, dass der Mensch endlich und sterblich ist, dass auch Leiden und Krankheit zum Menschsein gehört usw. Die klassisch-naturrechtliche Argumentation Dabei muss man wiederum achten, dass diese Argumentationsform nicht naturalistisch oder biologistisch missverstanden wird. Alles, was uns die Humanwissenschaften aufweisen, ist einer ständigen Überprüfung durch die Vernunft unterworfen. Wir haben als Menschen gewisse Vorgaben und unterscheiden uns von den Tieren, andererseits ist die Frage nach dem Wesen des Menschen nie schlechthin beantwortet. Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen und bleibt sich trotz vieler vernünftiger Antworten immer auch eine offene Frage. Normenbegründung durch Diskurs Konklusion: Es muss versucht werden, alle drei Argumentationsformen (die utilitaristische, die gerechtigkeitstheoretische und die naturrechtlicher) auf vernünftige Weise zu einander in Beziehung zu bringen und zu integrieren.