9 EINFÜHRUNG Die Fundamentalmoral ist eine philosophisch-theologische Wissenschaft, die in den letzten Jahren einer eingehenden Analyse und ausführlichen Überprüfung unterzogen worden ist. Der Grund dafür ist, dass das sittliche Leben in diesem Zeitraum eine schwere Krise durchgemacht hat, und es notwendig war, etwas zu unternehmen, um ihre Ursachen zu erkennen und in entsprechender Form auf die durch sie aufgeworfenen Fragen zu antworten. Tatsächlich ist das auf das sittliche Leben und die Morallehre bezogene Wort «Krise» weiterhin zu hören und wird von den bedeutendsten Vertretern der Kultur unserer Zeit ständig wiederholt. Intellektuelle, Künstler, Philosophen, Politiker, Schriftsteller usw. fordern dazu auf, zu den ethischen Werten zurückzukehren, und verlangen nach letzten verbindlichen Begründungen für das sittliche Handeln des Menschen. Der Ruf nach Erneuerung der Ethik zeigt sich auch in verschiedenen feierlichen Dokumenten des Lehramtes der Kirche. Die Enzyklika Veritatis splendor betont unmissverständlich, dass die Sittenlehre sich in einer tiefen Krise befindet, weil sogar in der Kirche die christliche Vorstellung vom Leben und vom letzten Grund der Moraltheologie in bisher unbekanntem Ausmaß in Frage gestellt wird: „Es ist nämlich eine neue Situation gerade innerhalb der christlichen Gemeinschaft entstanden, die hinsichtlich der sittlichen Lehren der Kirche die Verbreitung vielfältiger Zweifel und Einwände menschlicher und psychologischer, sozialer und kultureller, religiöser und auch im eigentlichen Sinne theologischer Art erfahren hat. Es handelt sich nicht mehr um begrenzte und gelegentliche Einwände, sondern um eine globale und systematische Infragestellung der sittlichen Lehrüberlieferung aufgrund bestimmter anthropologischer und ethischer Auffassungen“ 1. Sicher ist es in einigen Fällen nicht angebracht, das Wort «Krise» allzu sehr zu betonen, da sie den Wendepunkt in einem geschichtlichen Abschnitt bedeuten kann, an dem eine bestimmte Sache ihre Gültigkeit verliert und durch eine andere ersetzt werden muss. Doch das trifft in diesem Fall kaum zu. Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor 4. 1 11432_GdM_kern_V3.indd 9 30.11.2012 10:01:09 10 Sicherlich war die Erneuerung der Darlegung der Moraltheologie etwas Dringendes, denn es war notwendig – wie das 2. Vatikanische Konzil und spätere Dokumente hinweisen –, dieses Fachgebiet in einem theologischen und biblischen Rahmen zu überdenken, in dem das sittliche Leben als Nachfolge und Nachahmung des Lebens Jesu betont werden sollte. Inzwischen ist man jedoch allgemein davon überzeugt, dass auf die angestrebte Reform eine Krise sowohl in der Lehre als auch im Leben folgte, die unberechtigt ist, weil sie jedes Maß überschreitet, noch dazu in der übertriebenen Weise, in der sie sich vollzieht. Diese Krise hat schließlich manche Moraltheologen dazu gebracht, unter Vorbehalt Ansichten zu vertreten, mit denen jemand, der an die biblische Offenbarung glaubt, nicht einverstanden sein kann. Einige behaupten, dass das sittliche Leben nicht zur christlichen Botschaft gehört, weil sie sich nur auf Glaubensinhalte beschränkt, und dass das ethische Verhalten in den privaten Bereich des Gewissens jedes Einzelnen fällt, abhängig von den kulturellen Vorstellungen der jeweiligen Zeit. Papst Johannes Paul II. äußerte sich folgendermaßen dazu: „Verbreitet ist auch der Zweifel am engen und untrennbaren Zusammenhang zwischen Glaube und Moral, so als würde sich die Zugehörigkeit zur Kirche und deren innere Einheit allein durch den Glauben entscheiden, während man in Sachen Moral einen Pluralismus von Anschauungen und Verhaltensweisen dulden könnte, je nach Urteil des individuellen subjektiven Gewissens bzw. der Verschiedenheit der sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen“ 2. Man könnte sich jedoch die Frage stellen, ob diese verkürzte Ansicht nicht einmal mehr die unweigerliche Folge des Pendelgesetzes ist: Einer Zeitspanne, in der das Christentum auf ein sittliches Programm beschränkt zu sein schien, folgt eine andere, in der man versucht, den sittlichen Zuständigkeitsbereich des christlichen Glaubens zu leugnen. Diese dialektische Haltung zeigt schon an sich, dass keine der beiden Thesen wissenschaftlich haltbar ist. Tatsächlich ist das Christentum von seinem Wesen her keine Ethik; es ist aber nicht weniger sicher, dass der christliche Glaube eine Ethik enthält, sodass Christentum und ethisches Verhalten nicht voneinander getrennt Ebd. 2 11432_GdM_kern_V3.indd 10 30.11.2012 10:01:09 11 werden können, wie Johannes Paul II. bestätigt: „Der Glaube besitzt auch einen sittlichen Inhalt: er schafft und verlangt ein konsequentes Engagement des Lebens, er unterstützt und vollendet die Annahme und Einhaltung der göttlichen Gebote“ 3. Da es nicht gelungen ist, die Sittenlehre im Rahmen der christlichen Sicht des Menschen richtig einzuordnen, scheint es folglich auch logisch zu sein, dass die Grundbegriffe dieses Faches einer umfassenden Umdeutung unterworfen wurden. Das hat dazu geführt, dass es hinsichtlich der Bedeutung und der Tragweite der grundlegenden Prinzipien, die das sittliche Leben rechtfertigen, wie die Freiheit, das Gewissen, die sittliche Norm oder das Sittengesetzt usw. keine Übereinstimmung gibt. Wenn also die Grundlagen der Moral derart erschüttert wurden, dann besteht kein Zweifel, dass ein ernstzunehmender Entwurf der Sittenlehre nicht nur einschneidend, sondern darüber hinaus vom Blickpunkt der Philosophie und der Offenbarung aus gerechtfertigt sein muss. Johannes Paul II. hat genau aus diesem Anlass die Enzyklika Veritatis splendor veröffentlicht, in der grundsätzliche Fragen der Sittenlehre der Kirche behandelt werden, die von einigen zeitgenössischen Theologen sträflich übergangen wurden. Aus dem gleichen Grund schien es angebracht, im Katechismus der katholischen Kirche eine vollständige und systematische Darstellung der christlichen Morallehre vorzulegen. Allerdings war es trotz der Bedeutung und Dringlichkeit der heutzutage von der Sittenlehre aufgeworfenen Probleme nicht möglich, sie alle in diesem kleinen Buch zu behandeln. Wir gehen vor allem auf die Grundfragen ein, von denen die christliche Sittenlehre ausgeht. Es wird auch kurz die Vernünftigkeit der Moral des Neuen Testaments sowie ihre feste begriffliche Grundlage behandelt. Da es hier nicht möglich ist, diese Themen vollständig zu erwägen, wurde dieser Mangel durch eine ausführliche Darlegung der Anhaltpunkte, die uns die Offenbarung bietet, ausgeglichen. Schließlich und endlich gründet, wie die klassischen Schriftsteller lehren, der Glaube des Christen nicht auf dem Fundament der Philosophen, sondern auf der Lehre Christi. Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor 89. 3 11432_GdM_kern_V3.indd 11 30.11.2012 10:01:09 12 Daher behandelt dieses kleine Buch hauptsächlich die biblische Lehre über das sittliche Verhalten des Gläubigen und bringt nur eine kurze Darstellung der Moraltheologie, entsprechend dem Ziel dieser Buchreihe, die grundlegenden Fragen der Theologie Lesern ohne spezielle theologische Vorbildung zugänglich zu machen. 11432_GdM_kern_V3.indd 12 30.11.2012 10:01:09