DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Aktuelle Medizin Zur Fortbildung Ohrgeräusche — Ursachen und Behandlung Hans-Joachim Opitz Aus der Abteilung für Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten (Leitender Arzt: Professor Dr. med. Hans-Joachim Opitz) des Johanniter-Krankenhauses Bonn D as Phänomen des Ohrensausens in Form eines hohen Tons oder eines „Klingelns" in einem Ohr oder beiden Ohren hat jeder Erwachsene schon einmal, meist für Sekunden, erfahren. Unverändert gilt auch heute, was Sataloff 1966 zum Tinnitus schrieb: „Tinnitus or noise in the ear is one of the most challenging symptomes in otology and medicine". 1. Klassifikation Ohrensausen ist keine Krankheit sui generis, sondern als Begleitphänomen von permanent oder remanent existierenden pathologischen Veränderungen des Hörorgans selbst oder seiner Umgebung zu sehen. Daraus leitet sich die wesentliche Unterteilung der Ohrgeräusche in objektiven und subjektiven Tinnitus ab. Den objektiven Ohrgeräuschen liegt eine objektive Schallquelle zugrunde, die vom Gehör registriert wird. Gefäßrauschen bei Gefäßstenosen, Glomustumoren, Hämangiomen u. a. sind hier einzuordnen. Unserem Verständnis und der Diagnostik wesentlich schwieriger zugänglich sind die sogenannten subjektiven Ohrgeräusche, die ohne ersichtliche objektive Ohrgeräusche sind permanent oder remanent Ausdruck von pathologischen Veränderungeh im Bereich des Hörorgans. Sie sind damit das Symptom einer Erkrankung. Je nach Grad der Belästigung bzw. Toleranz des Patienten wird in kompensierten und unkompensierten Tinnitus unterschieden. Dem objektiven Tinnitus ist stets eine Schallquelle zuzuordnen, die in der Mehrzahl der Fälle operativ ausgeschaltet werden kann. Dagegen sind die Ursachen des subjektiven Tinnitus erst in Ansätzen bekannt, und die Therapie ist entsprechend polypragmatisch. Neben der nicht sehr erfolgreichen medikamentösen Therapie (es sei denn, Tinnitus wird in Analogie zum Hörsturz frühzeitig behandelt) werden in letzter Zeit neuere Methoden, wie die lontophorese, Elektrostimulation, Masking und das Biofeedback angewandt. Tinnitus ist jedoch heute durch eine verbesserte Diagnostik eher einer Therapie zugänglich geworden. Schallquelle entstehen. Ihr Entstehungsort ist im sensorischen und neuralen Teil des Hörorgans angesiedelt. In den meisten Fällen besteht gleichzeitig eine Schwerhörigkeit bzw. ein Hörverlust einoder beidseitig. Es gibt jedoch auch viele Fälle, die kaum Veränderungen des Tongehörs im Audiogramm zeigen. Man weiß heute jedoch, daß ein als normal gemessenes Tongehör nicht unbedingt die „wahre pathophysiologische Situation" widerspiegelt. Es müssen erst relativ viele Sinnes- und Nervenzellen untergehen, um bei der einfachen audiometrischen Testung erkannt zu werden. So gesehen ist permanenter Tinnitus als sensibler Indikator für einen beginnenden pathologischen Prozeß zu sehen. Den Grenzbereich zwischen objektivem und subjektivem Tinnitus stellen Ohrgeräusche dar, die zwar objektiv, z. B. durch arteriosklerotische Veränderungen der kleinen und kleinsten Gefäße im Innenohr bzw. Mittelohr entstehen, aber ebensowenig wie die rein subjektiven Ohrgeräusche faßbar werden. Das Ohrenrauschen bei der Otosklerose ist wahrscheinlich hier einzuordnen. Neben der Unterteilung des Tinnitus in objektiven und subjektiven Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 36 vom 5. September 1984 (41) 2551 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ohrgeräusche UNIT 299-27 299--19 299-25 \--rr r-41r-ff--. mir 11 mv 100 MSEC Abbildung 1: Spontanaktivität in drei Einzelfasern des Hörnerven der Katze. Die spontane Entladungsrate schwankt zwischen wenigen Spikes bis zu 100 Spikes pro Sekunde (aus: Kiang 1965) Tinnitus ist eine gewisse qualitative Gliederung unter diagnostischen und therapeutischen Aspekten zweckmäßig. Wesentliche qualitative Merkmale sind der Tabelle 1 zu entnehmen. Die Befragung der Patienten nach der Qualität ihrer Ohrgeräusche ergibt häufig eine schillernde Beschreibung. Für gewisse therapeutische Maßnahmen oder aber auch für die Einschätzung der Therapieresistenz kann jedoch eine genauere Eingrenzung der Qualität und Quantität des Tinnitus von ausschlaggebender Bedeutung sein. Für die Wertung des Tinnitus hat die psychosomatische Komponente einen entscheidenden Stellenwert. Deshalb unterteilt man den Tinnitus in kompensierten und unkompensierten Tinnitus. Patienten in der Kategorie des kompensierten Tinnitus können mit ihrem Tinnitus leben. Sie empfinden ihn zwar als sehr belästigend, insbesondere in ruhigen Situationen (z. B. abends vor dem Einschlafen), sie werden jedoch damit fertig. Dagegen sind Patienten in der Kategorie des unkompensierten Tinnitus kaum fähig, mit ihrem Tinnitus zu leben. Sie werden bis zum Suizid getrieben. Sie sind für Otologen und Neurologen Problemfälle. Unter dem psychosomatischen Aspekt läßt sich auch die subjektive Bewertung der Lautstärke 2552 durch die Patienten einordnen. Häufig wird die Lautstärke des Tinnitus als äußerst laut geschildert. Die Verdeckung und der Lautstärkevergleich mit einem äußeren Schall ergeben jedoch meist niedrige, d. h. schwellennahe Intensitäten. Nicht verdeckbare Ohrgeräusche deuten auf zentralnervöse Ursachen hin. Im gleichen Maße, wie die subjektive Schilderung der Lautheit des Tinnitus mit einem vergleichbaren äußeren Schall nicht korreliert, gilt dies für die Beeinträchtigung der Sprach- und sonstigen Schallperzeption. Für den Patienten steht nicht selten weniger die Behinderung durch die Schwerhörigkeit als vielmehr durch den Tinnitus im Vordergrund. 2. Ursachen und Behandlung von objektivem Tinnitus 2.1. Mechanische Ursachen Bei einem Myoklonus des Musculus tensor tympani und des Musculus stapedius im Mittelohr kommt es zu einem klickartigen Geräusch bzw. zu einem tieffrequenten Brummen. Eine Durchtrennung der Sehne durch Operation ist bei permanentem Bestehen des Geräusches die Therapie der Wahl. Der häufig bei Enzephalitis und Apoplexie auftretende Palatomyoklonus mit einer Impulsfrequenz von 10 bis 200 Klicks in der Minute führt zu einem schnappenden Öffnen der Eustachischen Röhre. Eine Aufklärung der Patienten ist meist ausreichend. Tinnitusqualitäten breitbandig schmalbandig Rauschen tieffrequent mittelfrequent hochfrequent Tonal Komplexe Ohrgeräusche (Ton und Rauschen) Tabelle 1 (42) Heft 36 vom 5. September 1984 81. Jahrgang Ausgabe A gleichmäßig pulsierend gleichmäßig moduliert DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ohrgeräusche 2.2. Vaskulär bedingter Tinnitus Arteriovenöse Anastomosen bzw. Hämangiome im Bereich des äußeren Ohres sind operativ anzugehen. Die Resultate dieser Therapie sind recht erfolgreich. Angeborene intrakranielle Gefäßanomalien erfordern das neurochirurgische Vorgehen durch Clippen der Gefäße. Der Tinnitus bei Glomustumoren und hochstehendem Bulbus jugularis läßt sich durch operative Entfernung bzw. Obliteration in vielen Fällen erfolgreich behandeln. Tinnitusursachen O Tumoren des VIII. Hirnnerven bzw. der hinteren Schädelgrube 49 Bakterielle und virale Infektionen im labyrinthären und retrolabyrinthären Bereich • Degenerative Erkrankungen des ZNS und Innenohres O Schädel-Hirn-Traumen Anomalien der Arteria carotis interna sind jedoch kaum einer Therapie — es sei denn unter größten Gefahren — zugänglich. Der Verschluß der Carotis interna mit erheblichem geräuschhaften Tinnitus ist entweder gefäßchirurgisch oder in seltenen Fällen durch medikamentöse Behandlung anzugehen. • Presbyakusis • Hereditäre sensorineurale Schwerhörigkeiten 2.3. Tinnitus bei Affektionen der Tube und des Mittelohres • O Intoxikationen (Alkohol, Nikotin, Chinin, ASS, Diuretika, Aminoglykoside etc.) 2.3.1. Tubenfunktionsstörungen Die häufig bei starker Gewichtsabnahme, niedrigem Blutdruck, sowie Einnahme von Östrogenen vorkommende offene Tube ist nur bedingt als Ohrensausen zu bezeichnen. Atemgeräusche und sonstige Geräusche aus dem oropharyngealen Bereich werden in das Mittelohr weitergeleitet. Ein gewisses Druckgefühl korreliert mit den Atemdruckschwankungen. Die Therapiemöglichkeiten sind sehr beschränkt. Es sollte, wenn möglich, auf Östrogene verzichtet und eine Gewichtszunahme angestrebt werden. Der Rat zur Unterspritzung mit Silicon im Tubenostiumbereich ist nur mit größter Zurückhaltung zu geben. Die eingeschränkte Tubenöffnung bei einem Tubenkatarrh und die damit verbundene mangelnde Ventilation des Mittelohres führen zu einem Unterdruck. Das zunächst nur vorhandene Druckge- () Stoffwechselerkrankungen (Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen, Hypothyreosen, Avitaminosen etc.) Durchblutungsstörungen (Hypertonie, Hypotonie, vertebrobasiläre Insuffizienz bzw. HWS-Syndrom, etc.) O Gerinnungsstörungen O Barotraumen 0 Schalltraumen O Lärmschäden O Morbus Möniäre • Allergene abelle 2 fühl im Ohr kann bei stärkerer Verspannung zu einem hochfrequenten Tinnitus tonaler Art führen. Die Therapie besteht in der klassischen Behandlung mit ab- schwellenden Nasentropfen sowie der Durchführung von Tubendurchblasungen. Bei einer länger bestehenden Tubenfunktionsstörung kann es zu einem serösen oder mukösen Erguß im Mittelohr kommen. Dabei können Ohrgeräusche entstehen, die rauschhaften Charakter haben. Sie werden nicht selten mit einem Wasserfall verglichen. Die Therapie besteht wiederum in der Behandlung der Tubenfunktionsstörung, ggf. mit einer Drainage des Paukenergusses und der Belüftung des Mittelohres über ein Paukenröhrchen. Nach der Paracentese geben die Patienten meist spontan eine Besserung des Ohrenrauschens an. 2.3.2. Mittelohrentzündungen Das begleitende Ohrensausen bei akuter Otitis media infolge Hyperämie und Sekretansammlung im Mittelohr führt zu einem Rauschen und läßt sich in der Regel durch Antibiotikagaben einschließlich Tubenbehandlung beherrschen. Bei den chronischen Mittelohrentzündungen dürfte der Tinnitus allerdings vorwiegend durch Hyperämie hervorgerufen werden. In vielen Fällen gelingt es durch Tympanoplastik, das Ohrensausen zum Verschwinden zu bringen. 3. Ursachen von sensorineuralem Tinnitus Während wir beim objektiven Tinnitus und beim mittelohrbedingten Tinnitus die Ursache häufig sehr konkret eingrenzen und beseitigen können, sind die Ursachen für die Erzeugung von sensorineuralem Tinnitus nur indirekt bekannt. Die häufigsten Ursachen für das mittelbare Auftreten von Tinnitus zeigt die Tabelle 2. Experimentell läßt sich Tinnitus nach Schallbelastung beim Menschen und im Tierexperiment durch entsprechende Noxen, z. B. Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 36 vom 5. September 1984 (45) 2553 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ohrgeräusche 125 250 500 1000 2000 4000 8000 Hz 20 10 dB 0 G G 125 250 LL=KL R 500 1000 2000 4000 8000 Hz 20 10 0 dB 10 4r- 20 10 20 • 30 3 40 40 • 50 60 70 50 60 70 80 80 90 100 110 120 • 90 100 110 120 64 128 256 cl 512 1024 2048 4096 8192 1448 2896 5792 11584 Hz c2 c3 c4 c5 c6 64 128 256 512 1024 2048 4096 8192 1448 2896 5792 11584 Hz c2 c5 c3 c4 c6 • 125 250 500 1000 2000 4000 8000 Hz 20 10 G Inn G 125 250 500 1000 2000 4000 8000 Hz LL=KL LL=KL dB 0 • R 4- 10 20 30 40 -4> • 50 60 70 wr 80 90 100 110 120 64 R 20 10 0 dB 10 20 3 40 50 60 70 ■ 80 90 128 256 cl 512 1024 2048 4096 8192 1448 2896 5792 11584 Hz c2 c3 c4 c5 c6 64 128 256 512 c1 c2 100 110 120 1024 2048 4096 8192 1448 2896 5792 11584 Hz c5 c3 c4 c6 Abbildung 2a (oben links und rechts): Die Verdeckungskurve spiegelt die Intensitäten von Tönen bzw. Schmalbandrauschen wider, die zur Maskierung des Tinnitus bei bestimmten Frequenzen erforderlich sind. a) Ipsi- (•—•—•) und kontralaterale (X—X—X) Verdeckung eines Brausens (R) bei Baßschwerhörigkeit links infolge Morbus Meniere. — b) (unten links und rechts) Ipsi(•—•—•) und kontralaterale (X—X—X) Verdeckung eines tonalen Tinnitus (•) (links) bei Hochtonschwerhörigkeit Salicylate, Aminoglykoside u. a. erzeugen. Alle diese Ursachen haben letztendlich zur Folge, daß Sinnes- oder Nervenzellen permanent oder remanent geschädigt bzw. beeinträchtigt werden. In der Mehrzahl der Fälle ist der permanente oder remanente Hörverlust in bestimmten Frequenzbereichen das Korrelat. In den zurückliegenden Jahrzehnten war die Erklärung für die Entstehung des Tinnitus in einer Überaktivität von Sinnes- oder Nervenzellen im Sinne von Verlet2554 zungspotentialen die häufigst vertretene Meinung. Elektrophysiologische Untersuchungen von Kiang et al., Evans et al. und in letzter Zeit durch Kemp brachten neue Erkenntnisse. Seit man spontane akustische Emissionen im Gehörgang aus dem Innenohr registrieren kann, hat sich die Forschung und Klinik erneut dem Tinnitus zugewandt. Diese Art von Tinnitus wird heute im Sinne einer cochleären mechanischen Überaktivität unter dem Aspekt eines sogenannten positiven Feedbacks, d. h. der spontanen Erre- (46) Heft 36 vom 5. September 1984 81. Jahrgang Ausgabe A gung im Innenohrbereich, gesehen. Über hochempfindliche Mikrophonsonden gelingt es, im Gehörgang Tinnitus, meist tonaler Art, zu registrieren. Auf der anderen Seite wird in Betracht gezogen, ob der Tinnitus lediglich peripher initiiert ist und schließlich zur zentralen Manifestation führt. Langzeitergebnisse von Nervendurchtrennungen haben die Frage aufgeworfen, warum der Tinnitus in über 50 Prozent der Fälle nach Nervendurchtrennung nach einem erfolgreichen Kurzzeitin- DEUTSCHES ARZTEBLATT Ohrgeräusche tervall wieder auftritt. In diesem Zusammenhang wird die Frage diskutiert, ob periphere Läsionen Abnormitäten der zentralen Funktion in neurophysiologischen oder biochemischen Bereichen prädisponieren können. Außerdem erhebt sich die Frage, inwieweit efferent absteigende auditorische Bahnen an der Produktion von Tinnitus beteiligt sein könnten. Im Zusammenhang mit den genannten Fakten scheint aus unserer Sicht der Spontanaktivität ein hoher Stellenwert bei der Entstehung von Tinnitus zuzukommen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Spontanaktivität in allen Regionen des Hörsystems nachgewiesen werden kann (Abbildung 1). Tierexperimentelle Untersuchungen zeigen, daß die Spontanaktivität durch gewisse Noxen zum Erliegen kommt. Kiang konnte dies mit Kanamycinvergiftungen sehr eindrucksvoll zeigen. Evans führte ähnliche Versuche mit Salicylaten durch. Er konnte im Gegensatz zu Kiafig auch Hyperaktivitäten in Nervenfasern nach Schädigung bzw. toxischer Überdosierung finden. Unserer Auffassung nach kommt der veränderten Spontanaktivität durch pathologische Prozesse im sensorineuralen System des Hörorgans die entscheidende Bedeutung zu. Plötzlich einsetzende Hörverluste mit entsprechend verändert einhergehender Spontanaktivität, wie z. B. beim MeniöreAnfall oder beim Hörsturz, führen sehr dramatisch zu Tinnitus. Nach unseren Untersuchungen ist dabei die Qualität des Tinnitus mit dem jeweilig ausgefallenen Hörverlustareal gekoppelt, d. h. tieffrequente Hörverluste führen zu tieffrequentem Tinnitus, hochfrequente Hörverluste zu hochfrequentem Tinnitus oder aber Hörverluste über sehr breite Frequenzbereiche zu rauschhaftem Tinnitus. Abbildung 3: Position der Nadelelektrode bei Elektrostimulation am Promontorium 4. Diagnostik Die Voruntersuchungen schließen eine genaue Erhebung der Anamnese ein. Allgemeinerkrankungen, insbesondere allergische und metabolische Erkrankungen sowie Erkrankungen der Halswirbelsäule müssen erfaßt werden. leäre von retrocochleären Störungen abzugrenzen. Die Vestibularisprüfung und Röntgenaufnahmen der Felsenbeine ergeben sich in den meisten Fällen zwangsläufig. Zu den allgemeinen HNO-ärztlichen Untersuchungen gehört in jedem Falle die genaue mikroskopische Betrachtung des Trommelfells, insbesondere bei geräuschhaftem und pulsierend geräuschhaftem Tinnitus. Diese und noch weitergehende Untersuchungen (tomographische Kontrastdarstellung des inneren Gehörgangs, Computertomog ramm, Pneumozisternographie) sind nicht selten erforderlich, weil Tinnitus das einzige Symptom bei zum Beispiel Kleinhirnbrückenwinkeltumoren etc. sein kann. Auf diese Weise können Myoklonen der Ohrmuskeln durch Bewegung des Trommelfells sowie gefäßbedingtes Rauschen durch Gefäße im Trommelfell- bzw. Mittelohrbereich (Promontorium) festgestellt werden. Eine ganz wesentliche Unterstützung der Diagnostik ist uns heute durch die Elektrocochleographie, das heißt durch die Ableitung der Hirnstammpotentiale sowie der Potentiale der mittleren Latenz gegeben. Bei geräuschhaftem, insbesondere pulsierendem Tinnitus ist das Abhören mit dem Stethoskop am und um den Gehörgang von großer Bedeutung. In zunehmendem Maße gewinnt auch die Tinnitusanalyse (nach Feldmann) an Bedeutung, insbesondere wenn der Einsatz von Tinnitusmaskern therapeutisch in Frage kommt. Die Methode besteht darin, durch Breitbandrauschen, Töne und Schmalbandrauschen unterschiedlicher Frequenz den Tinnitus zu verdecken und damit bestimmte Kurvenverläufe zu gewinnen. Abbildung 2 zeigt ein entsprechendes Beispiel. Die audiologische Untersuchung darf sich in keinem Falle auf das Tonschwellenaudiogramm beschränken. Überschwellige Messungen (insbesondere Schwellenschwundtest und sonstige Lautheitsteste) müssen ergänzend durchgeführt werden, um coch- Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 36 vom 5. September 1984 (49) 2555 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ohrgeräusche 5. Behandlungsmethoden 5.1. Medikamentöse Behandlung Zunächst sollte geklärt werden, inwieweit bestimmte Noxen bzw. Grunderkrankungen als Ursachen in Frage kommen. Nach Goodey sind unter den Drogen Aspirin, Indomethacin, Chinin, Doxicyclin u. a. für die Auslösung von Tinnitus von Bedeutung. Bei Getränken und Genußmitteln spielen Kaffee, starker Tee, Tonic-Water und Rotwein eine auslösende Rolle. Bei Patienten mit Übergewicht und erhöhtem Cholesterin- bzw. Triglyceridspiegel sprechen nach Pulec Diätmaßnahmen sehr gut an. Eine kohlehydratarme Kost wird mittlerweile auch in unseren Breiten mit Reduzierung der Gesamtkalorienzahl recht erfolgreich eingesetzt. Die Erkennung und Eliminierung otologisch wirksamer Allergene ist unbedingt bei der Diagnostik und Therapie zu beachten. Im Rahmen von Grunderkrankungen ist Tinnitus bekannt bei frühem Diabetes, Hypoglykämie, Bluthochdruck, erhöhten Blutfettwerten, erhöhter Blutviskosität, Autoimmunkrankheiten, Migräne, Depression u. a. Ferner sind Veränderungen im Bereich des Kiefergelenks und der Halswirbelsäule zu beachten. Die heutige Auffassung bei der medikamentösen Therapie des Tinnitus besteht darin, Pharmaka einzusetzen, deren Effekt in Durchblutungsförderung, verbessertem Stoffwechselaustausch, Vasoaktivität und Mikrozirkulationsverbesserung besteht. Sieht man beim Einsatz dieser Medikamente vom psychopharmakokinetischen Effekt ab, d. h. sieht man den Einsatz global unter der verbesserten Durchblutung, so lehrt die Erfahrung, daß die Ergebnisse bei länger bestehendem Tinnitus in Analogie zur Besserung eines Hörverlustes 2556 schlecht sind. Eine gewisse Effektivität läßt sich nur bei kurzfristig bestehendem Tinnitus (Stunden, Tage) erzielen. So gesehen sollten wir Tinnitus als „Mini-Hörsturz" oder als maskierten Hörsturz betrachten. Einige recht einheitliche Bewertungen kommen dem Lidocain bei i. v. Gabe zu. Remanent über 10 Minuten bis 3 Tage kommt es zum Verschwinden des Tinnitus. Die Wirksamkeit wird antikonvulsiv analog dem Einsatz bei zentral bedingten Schmerzen gesehen. Zudem läßt die Wirksamkeit von Lidocain die Prognose hinsichtlich der Wirksamkeit von Antikonvulsiva zu. Patienten, die nicht auf Lidocain reagieren, antworten auch auf orale Antikonvulsiva nicht. Antikonvulsiva können neben der Besserung des Tinnitus subjektiv auch eine Verbesserung in der Klarheit und Wahrnehmung sowie eine verbesserte Toleranz von Hörgeräten und eine bessere Maskierung bei Anwendung von Hörgeräten erreichen. 5.2. Operative Therapie Von House et al. wird konstatiert, daß die operative Behandlung (Labyrinthektomie, translabyrinthäre Durchtrennung des Hörnerven) von Tinnitus, obgleich in einigen Fällen erfolgreich, keine zuverlässige und relevante Methode für die Behandlung von subjektivem Tinnitus ist. 6. Elektrostimulation zur Unterdrückung von Tinnitus Die Elektrostimulation des Hörorgans kann über feine nadelförmige Elektroden am Promontorium bzw. runden Fenster erfolgen. Die einfachste Methode besteht in der Promontorialreizung, wie bei der Elektrocochleographie (Abbildung 3). Die effektivere Methode scheint nach Aran und Cazals in (50) Heft 36 vom 5. September 1984 81. Jahrgang Ausgabe A der Reizung am runden Fenster zu bestehen. Sie stellt jedoch auch das aufwendigere Verfahren dar. In dieser Reizsituation kam es während der Stimulation in 60 Prozent der Fälle zum völligen Verschwinden des Tinnitus, während bei der Promontorialreizung partiell oder komplett 43 Prozent ein Verschwinden des Tinnitus bzw. eine Besserung angaben. Die auf diese Weise erreichte Unterdrückung des Tinnitus ist jedoch nur während der Stimulation vorhanden. 7. lontophorese Die lontophorese, d. h. das Einbringen eines Lokalanästhetikums in den Gehörgang unter Anlegen eines elektrischen Feldes bringt in seltenen Fällen den Tinnitus zum Verschwinden. 8. Tinnitus-Masker Tinnitus-Masker sollten immer dann in Erwägung gezogen werden, wenn alle sonstigen Maßnahmen zu keinem Erfolg geführt haben und die Patienten erheblich unter ihrem Tinnitus leiden. Zur Anwendung kommen dabei Geräte, die entweder ausschließlich der Maskierung des Tinnitus dienen, oder aber Hörgeräte, die gleichzeitig einen Maskierungseffekt bewirken, bzw. Geräte, die Hörgerät und Masker integrieren. Das angestrebte Ziel ist die sogenannte Residual-Inhibition, d. h. das Ausbleiben des Tinnitus auch nach Anwendung einer solchen Maskierung. Die besten Erfolge werden hier bei Tinnitus tonaler, insbesondere hochfrequenter Art erreicht. 9. Biofeedback Das bereits bei vielen anderen psychosomatisch beeinflußten Erkrankungen angewandte Biofeedback ist in verschiedenen Fällen von Tinnitus erfolgversprechend.> DEUTSCHES ÄRZTEBLATT FÜR SIE GELESEN Ohrgeräusche 10. Schlußbemerkung Durch eine differenzierte Anamnese und Diagnostik gelingt es in einer größeren Anzahl von Fällen, als dies allgemein angenommen wird, den Patienten unter Einbeziehung neuerer Behandlungsmethoden zu helfen. Der Aufwand wird häufig gescheut. Unter dem Aspekt der manchmal erheblichen Beeinträchtigung (bis zur Berufsunfähigkeit und bis zum Suizid) und der häufig einzigen Symptomatik beginnender Erkrankungen (z. B. Akustikusneurinom) sollte jedoch dieser Aufwand gerechtfertigt sein. Literatur Aran, J. 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Daß dieses Gebiet der Psychiatrie noch nicht weit entwickelt ist, könnte an einer mangelhaften Ausbildung, an der Abneigung gegen andere medizinische Fächer und an einem Mangel an Erfahrung liegen. Bereitliegende Ausbildungsmittel werden nicht einmal voll ausgenutzt. Pädiater sowie Kinder- und Jugendpsychiater haben seit jeher sich weit überschneidende Problemfelder, aber auch hier fällt die Einrichtung und Unterhaltung einer klar strukturierten Kooperation als gemeinsames Gebiet schwer. Zur Bestandsaufnahme der derzeitigen Rollenverteilung der an der Versorgung kranker Kinder beteiligten Disziplinen wurden in einer Übersichtsstudie in laufenden Ausbildungsprogrammen der kinder- und jungendpsychiatrischen Weiterbildung Art und Umfang des Kooperationstrainings erfaßt. Die schon durch Sperling et al. getroffene Feststellung, daß 13 bis 27 Prozent der kinder- und jugendpsychiatrischen Weiterbildungsprogramme keinen Kontakt mit dem pädiatrischen Versorgungssystem haben, wurde bestätigt. 75 Prozent der Programme verwenden 11 Prozent oder weniger der Ausbildungszeit auf die Kooperationsarbeit. Nur 17 Prozent der Programme bildeten über mehr als 17 Prozent der Zeit für Kooperationsarbeit aus. Mehr als 80 Prozent der Programme se- hen gemeinsame Visiten mit Pädiatern, Gespräche mit Sozialarbeitern, Krankenpflegern, Werktherapeuten, Lebenehilfeorganisationen und Rehabilitationseinrichtungen vor. Als besonders ausbildungsgeeignet erscheinen Einrichtungen für Vorsorge- oder Frühförderung bzw. Langzeitkliniken ebenso wie Spezialsprechstunden für Grenzgebiete zwischen Pädiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Daß Zusammenarbeit mit Hausärzten nicht erwähnt wird, ist ein ausgesprochener Mangel. Die gemeinsame Ausbildung mit Angehörigen anderer Fachrichtungen (Psychologie, Sozialarbeiter etc.) ist die Regel, überraschend selten allerdings sind, trotz ähnlicher Interessengebiete, Sozialpädiater beteiligt. Die Befunde zeigen einen bemerkenswerten Widerspruch auf: Psychiatrische Kooperation wird zunehmend als wichtig angesehen, fast 3/4 aller Ausbildungsprogramme verwenden allerdings weniger als 1 /io der Zeit darauf. Denkbare Ursachen sind folgende Punkte: Eine Scheu vor anderen medizinischen Aspekten bei den Kinder- und Jugendpsychiatern, deren Gebiet sich eher aus der Jugendgerichtsbarkeit und der Heilpädagogik als aus Psychiatrie und Pädiatrie herleitet; das Fehlen qualifizierter Lehrer und Literatur; ein gestiegenes Interesse der Pädiater für psychosoziale Fragen; Finanzierungssorgen beeinträchtigen die Ausbildungsbemühungen; belastende Arbeitscharakteristika des Kooperationsgebietes, die viele zum Wechsel bewegen. Dennoch ist eine Verbesserung der Ausbildung wichtig, da übergreifende Einsichten der Versorgungsqualität zugute kommen. Dabei sollte es jedoch nicht zu Rollendiffusion oder Identitätsunsicherheit kommen, die eine effektive Arbeit und Kommunikationsfähigkeit mit anderen Disziplinen behindern. mtk Fritz, G. K.; Bergmann, A. S.: ConsultationLiaison Training for Child Psychiatrists: Results of a Survey. Gen. Hospit. Psychiatry 6 (1984) 25-29 Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 36 vom 5. September 1984 (53) 2557