Ohrgeräusche - Deutsches Ärzteblatt

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Aktuelle Medizin
Zur Fortbildung
Ohrgeräusche —
Ursachen und Behandlung
Hans-Joachim Opitz
Aus der Abteilung für Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten
(Leitender Arzt: Professor Dr. med. Hans-Joachim Opitz)
des Johanniter-Krankenhauses Bonn
D
as Phänomen des Ohrensausens in Form eines hohen Tons oder eines „Klingelns" in einem Ohr oder beiden
Ohren hat jeder Erwachsene
schon einmal, meist für Sekunden, erfahren. Unverändert gilt
auch heute, was Sataloff 1966
zum Tinnitus schrieb: „Tinnitus or
noise in the ear is one of the most
challenging symptomes in otology
and medicine".
1. Klassifikation
Ohrensausen ist keine Krankheit
sui generis, sondern als Begleitphänomen von permanent oder
remanent existierenden pathologischen Veränderungen des Hörorgans selbst oder seiner Umgebung zu sehen. Daraus leitet sich
die wesentliche Unterteilung der
Ohrgeräusche in objektiven und
subjektiven Tinnitus ab. Den objektiven Ohrgeräuschen liegt eine
objektive Schallquelle zugrunde,
die vom Gehör registriert wird.
Gefäßrauschen bei Gefäßstenosen, Glomustumoren, Hämangiomen u. a. sind hier einzuordnen.
Unserem Verständnis und der Diagnostik wesentlich schwieriger
zugänglich sind die sogenannten
subjektiven Ohrgeräusche, die
ohne ersichtliche objektive
Ohrgeräusche sind permanent oder remanent Ausdruck von pathologischen
Veränderungeh im Bereich
des Hörorgans. Sie sind damit das Symptom einer Erkrankung. Je nach Grad der
Belästigung bzw. Toleranz
des Patienten wird in kompensierten und unkompensierten Tinnitus unterschieden. Dem objektiven Tinnitus ist stets eine Schallquelle zuzuordnen, die in der
Mehrzahl der Fälle operativ
ausgeschaltet werden kann.
Dagegen sind die Ursachen
des subjektiven Tinnitus erst
in Ansätzen bekannt, und
die Therapie ist entsprechend polypragmatisch. Neben der nicht sehr erfolgreichen medikamentösen Therapie (es sei denn, Tinnitus
wird in Analogie zum Hörsturz frühzeitig behandelt)
werden in letzter Zeit neuere Methoden, wie die lontophorese, Elektrostimulation,
Masking und das Biofeedback angewandt. Tinnitus ist
jedoch heute durch eine
verbesserte Diagnostik eher
einer Therapie zugänglich
geworden.
Schallquelle entstehen. Ihr Entstehungsort ist im sensorischen
und neuralen Teil des Hörorgans
angesiedelt. In den meisten Fällen
besteht gleichzeitig eine Schwerhörigkeit bzw. ein Hörverlust einoder beidseitig. Es gibt jedoch
auch viele Fälle, die kaum Veränderungen des Tongehörs im Audiogramm zeigen.
Man weiß heute jedoch, daß ein
als normal gemessenes Tongehör
nicht unbedingt die „wahre pathophysiologische Situation" widerspiegelt. Es müssen erst relativ
viele Sinnes- und Nervenzellen
untergehen, um bei der einfachen
audiometrischen Testung erkannt
zu werden. So gesehen ist permanenter Tinnitus als sensibler Indikator für einen beginnenden pathologischen Prozeß zu sehen.
Den Grenzbereich zwischen objektivem und subjektivem Tinnitus
stellen Ohrgeräusche dar, die
zwar objektiv, z. B. durch arteriosklerotische Veränderungen der
kleinen und kleinsten Gefäße im
Innenohr bzw. Mittelohr entstehen, aber ebensowenig wie die
rein subjektiven Ohrgeräusche
faßbar werden. Das Ohrenrauschen bei der Otosklerose ist
wahrscheinlich hier einzuordnen.
Neben der Unterteilung des Tinnitus in objektiven und subjektiven
Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 36 vom 5. September 1984 (41)
2551
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Ohrgeräusche
UNIT
299-27
299--19
299-25
\--rr
r-41r-ff--. mir 11 mv
100 MSEC
Abbildung 1: Spontanaktivität in drei Einzelfasern des Hörnerven der Katze. Die spontane Entladungsrate schwankt zwischen wenigen Spikes bis zu 100 Spikes pro Sekunde (aus: Kiang 1965)
Tinnitus ist eine gewisse qualitative Gliederung unter diagnostischen und therapeutischen
Aspekten zweckmäßig. Wesentliche qualitative Merkmale sind
der Tabelle 1 zu entnehmen.
Die Befragung der Patienten nach
der Qualität ihrer Ohrgeräusche
ergibt häufig eine schillernde Beschreibung. Für gewisse therapeutische Maßnahmen oder aber
auch für die Einschätzung der
Therapieresistenz kann jedoch eine genauere Eingrenzung der
Qualität und Quantität des Tinnitus von ausschlaggebender Bedeutung sein.
Für die Wertung des Tinnitus hat
die psychosomatische Komponente einen entscheidenden Stellenwert. Deshalb unterteilt man
den Tinnitus in kompensierten
und unkompensierten Tinnitus.
Patienten in der Kategorie des
kompensierten Tinnitus können
mit ihrem Tinnitus leben. Sie
empfinden ihn zwar als sehr belästigend, insbesondere in ruhigen
Situationen (z. B. abends vor dem
Einschlafen), sie werden jedoch
damit fertig. Dagegen sind Patienten in der Kategorie des unkompensierten Tinnitus kaum fähig,
mit ihrem Tinnitus zu leben. Sie
werden bis zum Suizid getrieben.
Sie sind für Otologen und Neurologen Problemfälle.
Unter dem psychosomatischen
Aspekt läßt sich auch die subjektive Bewertung der Lautstärke
2552
durch die Patienten einordnen.
Häufig wird die Lautstärke des
Tinnitus als äußerst laut geschildert. Die Verdeckung und der
Lautstärkevergleich mit einem äußeren Schall ergeben jedoch
meist niedrige, d. h. schwellennahe Intensitäten. Nicht verdeckbare Ohrgeräusche deuten auf zentralnervöse Ursachen hin.
Im gleichen Maße, wie die subjektive Schilderung der Lautheit des
Tinnitus mit einem vergleichbaren
äußeren Schall nicht korreliert,
gilt dies für die Beeinträchtigung
der Sprach- und sonstigen Schallperzeption.
Für den Patienten steht nicht selten weniger die Behinderung
durch die Schwerhörigkeit als
vielmehr durch den Tinnitus im
Vordergrund.
2. Ursachen und Behandlung
von objektivem Tinnitus
2.1. Mechanische Ursachen
Bei einem Myoklonus des Musculus tensor tympani und des Musculus stapedius im Mittelohr
kommt es zu einem klickartigen
Geräusch bzw. zu einem tieffrequenten Brummen. Eine Durchtrennung der Sehne durch Operation ist bei permanentem Bestehen des Geräusches die Therapie
der Wahl.
Der häufig bei Enzephalitis und
Apoplexie auftretende Palatomyoklonus mit einer Impulsfrequenz
von 10 bis 200 Klicks in der Minute
führt zu einem schnappenden Öffnen der Eustachischen Röhre. Eine Aufklärung der Patienten ist
meist ausreichend.
Tinnitusqualitäten
breitbandig
schmalbandig
Rauschen
tieffrequent
mittelfrequent
hochfrequent
Tonal
Komplexe Ohrgeräusche
(Ton und Rauschen)
Tabelle 1
(42) Heft 36 vom 5. September 1984 81. Jahrgang Ausgabe A
gleichmäßig
pulsierend
gleichmäßig
moduliert
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Ohrgeräusche
2.2. Vaskulär bedingter Tinnitus
Arteriovenöse Anastomosen bzw.
Hämangiome im Bereich des äußeren Ohres sind operativ anzugehen. Die Resultate dieser Therapie sind recht erfolgreich. Angeborene intrakranielle Gefäßanomalien erfordern das neurochirurgische Vorgehen durch Clippen
der Gefäße. Der Tinnitus bei Glomustumoren und hochstehendem
Bulbus jugularis läßt sich durch
operative Entfernung bzw. Obliteration in vielen Fällen erfolgreich
behandeln.
Tinnitusursachen
O Tumoren des VIII. Hirnnerven bzw. der hinteren
Schädelgrube
49
Bakterielle und virale Infektionen im labyrinthären
und retrolabyrinthären
Bereich
•
Degenerative Erkrankungen des ZNS und Innenohres
O Schädel-Hirn-Traumen
Anomalien der Arteria carotis interna sind jedoch kaum einer Therapie — es sei denn unter größten
Gefahren — zugänglich. Der Verschluß der Carotis interna mit erheblichem geräuschhaften Tinnitus ist entweder gefäßchirurgisch
oder in seltenen Fällen durch medikamentöse Behandlung anzugehen.
•
Presbyakusis
•
Hereditäre sensorineurale
Schwerhörigkeiten
2.3. Tinnitus bei Affektionen
der Tube und des Mittelohres
•
O Intoxikationen (Alkohol,
Nikotin, Chinin, ASS,
Diuretika, Aminoglykoside
etc.)
2.3.1. Tubenfunktionsstörungen
Die häufig bei starker Gewichtsabnahme, niedrigem Blutdruck,
sowie Einnahme von Östrogenen
vorkommende offene Tube ist nur
bedingt als Ohrensausen zu bezeichnen. Atemgeräusche und
sonstige Geräusche aus dem oropharyngealen Bereich werden in
das Mittelohr weitergeleitet. Ein
gewisses Druckgefühl korreliert
mit den Atemdruckschwankungen. Die Therapiemöglichkeiten
sind sehr beschränkt. Es sollte,
wenn möglich, auf Östrogene verzichtet und eine Gewichtszunahme angestrebt werden. Der Rat
zur Unterspritzung mit Silicon im
Tubenostiumbereich ist nur mit
größter Zurückhaltung zu geben.
Die eingeschränkte Tubenöffnung
bei einem Tubenkatarrh und die
damit verbundene mangelnde
Ventilation des Mittelohres führen
zu einem Unterdruck. Das zunächst nur vorhandene Druckge-
()
Stoffwechselerkrankungen (Diabetes mellitus,
Fettstoffwechselstörungen, Hypothyreosen, Avitaminosen etc.)
Durchblutungsstörungen
(Hypertonie, Hypotonie,
vertebrobasiläre Insuffizienz bzw. HWS-Syndrom,
etc.)
O Gerinnungsstörungen
O Barotraumen
0
Schalltraumen
O Lärmschäden
O Morbus Möniäre
•
Allergene
abelle 2
fühl im Ohr kann bei stärkerer
Verspannung zu einem hochfrequenten Tinnitus tonaler Art führen. Die Therapie besteht in der
klassischen Behandlung mit ab-
schwellenden Nasentropfen sowie der Durchführung von Tubendurchblasungen.
Bei einer länger bestehenden Tubenfunktionsstörung kann es zu
einem serösen oder mukösen Erguß im Mittelohr kommen. Dabei
können Ohrgeräusche entstehen,
die rauschhaften Charakter haben. Sie werden nicht selten mit
einem Wasserfall verglichen. Die
Therapie besteht wiederum in der
Behandlung der Tubenfunktionsstörung, ggf. mit einer Drainage
des Paukenergusses und der Belüftung des Mittelohres über ein
Paukenröhrchen. Nach der Paracentese geben die Patienten
meist spontan eine Besserung
des Ohrenrauschens an.
2.3.2. Mittelohrentzündungen
Das begleitende Ohrensausen bei
akuter Otitis media infolge Hyperämie und Sekretansammlung im
Mittelohr führt zu einem Rauschen und läßt sich in der Regel durch Antibiotikagaben einschließlich Tubenbehandlung beherrschen. Bei den chronischen
Mittelohrentzündungen dürfte der
Tinnitus allerdings vorwiegend
durch Hyperämie hervorgerufen
werden. In vielen Fällen gelingt es
durch Tympanoplastik, das Ohrensausen zum Verschwinden zu
bringen.
3. Ursachen
von sensorineuralem Tinnitus
Während wir beim objektiven Tinnitus und beim mittelohrbedingten Tinnitus die Ursache häufig
sehr konkret eingrenzen und beseitigen können, sind die Ursachen für die Erzeugung von sensorineuralem Tinnitus nur indirekt
bekannt. Die häufigsten Ursachen
für das mittelbare Auftreten von
Tinnitus zeigt die Tabelle 2.
Experimentell läßt sich Tinnitus
nach Schallbelastung beim Menschen und im Tierexperiment
durch entsprechende Noxen, z. B.
Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 36 vom 5. September 1984 (45) 2553
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Ohrgeräusche
125 250 500 1000 2000 4000 8000 Hz
20
10
dB 0
G
G
125
250
LL=KL
R
500 1000 2000 4000 8000 Hz
20
10
0 dB
10
4r-
20
10
20
•
30
3
40
40
•
50
60
70
50
60
70
80
80
90
100
110
120
•
90
100
110
120
64
128 256
cl
512 1024 2048 4096 8192
1448 2896 5792 11584 Hz
c2
c3
c4
c5
c6
64
128
256
512 1024 2048 4096 8192
1448 2896 5792 11584 Hz
c2
c5
c3
c4
c6
•
125 250 500 1000 2000 4000 8000 Hz
20
10
G
Inn
G
125 250 500 1000 2000 4000 8000 Hz
LL=KL
LL=KL
dB 0
•
R
4-
10
20
30
40
-4>
•
50
60
70
wr
80
90
100
110
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64
R
20
10
0 dB
10
20
3
40
50
60
70
■
80
90
128 256
cl
512 1024 2048 4096 8192
1448 2896 5792 11584 Hz
c2
c3
c4
c5
c6
64 128
256
512
c1
c2
100
110
120
1024 2048 4096 8192
1448 2896 5792 11584 Hz
c5
c3
c4
c6
Abbildung 2a (oben links und rechts): Die Verdeckungskurve spiegelt die Intensitäten von Tönen bzw. Schmalbandrauschen wider, die zur Maskierung des Tinnitus bei bestimmten Frequenzen erforderlich sind. a) Ipsi- (•—•—•) und kontralaterale (X—X—X)
Verdeckung eines Brausens (R) bei Baßschwerhörigkeit links infolge Morbus Meniere. — b) (unten links und rechts) Ipsi(•—•—•) und kontralaterale (X—X—X) Verdeckung eines tonalen Tinnitus (•) (links) bei Hochtonschwerhörigkeit
Salicylate, Aminoglykoside u. a.
erzeugen. Alle diese Ursachen haben letztendlich zur Folge, daß
Sinnes- oder Nervenzellen permanent oder remanent geschädigt
bzw. beeinträchtigt werden. In der
Mehrzahl der Fälle ist der permanente oder remanente Hörverlust
in bestimmten Frequenzbereichen das Korrelat.
In den zurückliegenden Jahrzehnten war die Erklärung für die Entstehung des Tinnitus in einer
Überaktivität von Sinnes- oder
Nervenzellen im Sinne von Verlet2554
zungspotentialen die häufigst vertretene Meinung. Elektrophysiologische Untersuchungen von
Kiang et al., Evans et al. und in
letzter Zeit durch Kemp brachten
neue Erkenntnisse. Seit man
spontane akustische Emissionen
im Gehörgang aus dem Innenohr
registrieren kann, hat sich die Forschung und Klinik erneut dem Tinnitus zugewandt. Diese Art von
Tinnitus wird heute im Sinne einer
cochleären mechanischen Überaktivität unter dem Aspekt eines
sogenannten positiven Feedbacks, d. h. der spontanen Erre-
(46) Heft 36 vom 5. September 1984 81. Jahrgang Ausgabe A
gung im Innenohrbereich, gesehen. Über hochempfindliche Mikrophonsonden gelingt es, im Gehörgang Tinnitus, meist tonaler
Art, zu registrieren. Auf der anderen Seite wird in Betracht gezogen, ob der Tinnitus lediglich peripher initiiert ist und schließlich
zur zentralen Manifestation führt.
Langzeitergebnisse von Nervendurchtrennungen haben die Frage aufgeworfen, warum der Tinnitus in über 50 Prozent der Fälle
nach Nervendurchtrennung nach
einem erfolgreichen Kurzzeitin-
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Ohrgeräusche
tervall wieder auftritt. In diesem
Zusammenhang wird die Frage
diskutiert, ob periphere Läsionen
Abnormitäten der zentralen Funktion in neurophysiologischen oder
biochemischen Bereichen prädisponieren können.
Außerdem erhebt sich die Frage,
inwieweit efferent absteigende
auditorische Bahnen an der Produktion von Tinnitus beteiligt sein
könnten.
Im Zusammenhang mit den genannten Fakten scheint aus unserer Sicht der Spontanaktivität ein
hoher Stellenwert bei der Entstehung von Tinnitus zuzukommen.
Es ist eine bekannte Tatsache,
daß Spontanaktivität in allen Regionen des Hörsystems nachgewiesen werden kann (Abbildung
1). Tierexperimentelle Untersuchungen zeigen, daß die Spontanaktivität durch gewisse Noxen
zum Erliegen kommt. Kiang konnte dies mit Kanamycinvergiftungen sehr eindrucksvoll zeigen.
Evans führte ähnliche Versuche
mit Salicylaten durch. Er konnte
im Gegensatz zu Kiafig auch Hyperaktivitäten
in
Nervenfasern
nach Schädigung bzw. toxischer
Überdosierung finden.
Unserer Auffassung nach kommt
der veränderten Spontanaktivität
durch pathologische Prozesse im
sensorineuralen System des Hörorgans die entscheidende Bedeutung zu. Plötzlich einsetzende
Hörverluste mit entsprechend verändert einhergehender Spontanaktivität, wie z. B. beim MeniöreAnfall oder beim Hörsturz, führen
sehr dramatisch zu Tinnitus. Nach
unseren Untersuchungen ist dabei die Qualität des Tinnitus mit
dem jeweilig ausgefallenen Hörverlustareal gekoppelt, d. h. tieffrequente Hörverluste führen zu
tieffrequentem Tinnitus, hochfrequente Hörverluste zu hochfrequentem Tinnitus oder aber Hörverluste über sehr breite Frequenzbereiche zu rauschhaftem
Tinnitus.
Abbildung 3: Position der Nadelelektrode bei Elektrostimulation am Promontorium
4. Diagnostik
Die Voruntersuchungen schließen
eine genaue Erhebung der Anamnese ein. Allgemeinerkrankungen, insbesondere allergische
und metabolische Erkrankungen
sowie Erkrankungen der Halswirbelsäule müssen erfaßt werden.
leäre von retrocochleären Störungen abzugrenzen. Die Vestibularisprüfung und Röntgenaufnahmen der Felsenbeine ergeben
sich in den meisten Fällen
zwangsläufig.
Zu den allgemeinen HNO-ärztlichen Untersuchungen gehört in
jedem Falle die genaue mikroskopische Betrachtung des Trommelfells, insbesondere bei geräuschhaftem und pulsierend geräuschhaftem Tinnitus.
Diese und noch weitergehende Untersuchungen (tomographische Kontrastdarstellung des inneren Gehörgangs, Computertomog ramm, Pneumozisternographie) sind nicht selten erforderlich, weil Tinnitus das einzige
Symptom bei zum Beispiel Kleinhirnbrückenwinkeltumoren etc.
sein kann.
Auf diese Weise können Myoklonen der Ohrmuskeln durch Bewegung des Trommelfells sowie gefäßbedingtes Rauschen durch Gefäße im Trommelfell- bzw. Mittelohrbereich (Promontorium) festgestellt werden.
Eine ganz wesentliche Unterstützung der Diagnostik ist uns heute
durch die Elektrocochleographie,
das heißt durch die Ableitung der
Hirnstammpotentiale sowie der
Potentiale der mittleren Latenz
gegeben.
Bei geräuschhaftem, insbesondere pulsierendem Tinnitus ist das
Abhören mit dem Stethoskop am
und um den Gehörgang von großer Bedeutung.
In zunehmendem Maße gewinnt
auch die Tinnitusanalyse (nach
Feldmann) an Bedeutung, insbesondere wenn der Einsatz von
Tinnitusmaskern therapeutisch in
Frage kommt. Die Methode besteht darin, durch Breitbandrauschen, Töne und Schmalbandrauschen unterschiedlicher Frequenz den Tinnitus zu verdecken
und damit bestimmte Kurvenverläufe zu gewinnen. Abbildung 2
zeigt ein entsprechendes Beispiel.
Die audiologische Untersuchung
darf sich in keinem Falle auf das
Tonschwellenaudiogramm beschränken. Überschwellige Messungen (insbesondere Schwellenschwundtest und sonstige Lautheitsteste) müssen ergänzend
durchgeführt werden, um coch-
Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 36 vom 5. September 1984 (49)
2555
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Ohrgeräusche
5. Behandlungsmethoden
5.1. Medikamentöse Behandlung
Zunächst sollte geklärt werden,
inwieweit bestimmte Noxen bzw.
Grunderkrankungen als Ursachen
in Frage kommen. Nach Goodey
sind unter den Drogen Aspirin, Indomethacin, Chinin, Doxicyclin
u. a. für die Auslösung von Tinnitus von Bedeutung. Bei Getränken und Genußmitteln spielen
Kaffee, starker Tee, Tonic-Water
und Rotwein eine auslösende
Rolle.
Bei Patienten mit Übergewicht
und erhöhtem Cholesterin- bzw.
Triglyceridspiegel sprechen nach
Pulec Diätmaßnahmen sehr gut
an. Eine kohlehydratarme Kost
wird mittlerweile auch in unseren
Breiten mit Reduzierung der Gesamtkalorienzahl recht erfolgreich eingesetzt.
Die Erkennung und Eliminierung
otologisch wirksamer Allergene
ist unbedingt bei der Diagnostik
und Therapie zu beachten. Im
Rahmen von Grunderkrankungen
ist Tinnitus bekannt bei frühem
Diabetes, Hypoglykämie, Bluthochdruck, erhöhten Blutfettwerten, erhöhter Blutviskosität, Autoimmunkrankheiten, Migräne, Depression u. a. Ferner sind Veränderungen im Bereich des Kiefergelenks und der Halswirbelsäule
zu beachten.
Die heutige Auffassung bei der
medikamentösen Therapie des
Tinnitus besteht darin, Pharmaka
einzusetzen, deren Effekt in
Durchblutungsförderung, verbessertem Stoffwechselaustausch,
Vasoaktivität und Mikrozirkulationsverbesserung besteht.
Sieht man beim Einsatz dieser
Medikamente vom psychopharmakokinetischen Effekt ab, d. h.
sieht man den Einsatz global unter der verbesserten Durchblutung, so lehrt die Erfahrung, daß
die Ergebnisse bei länger bestehendem Tinnitus in Analogie zur
Besserung eines Hörverlustes
2556
schlecht sind. Eine gewisse Effektivität läßt sich nur bei kurzfristig
bestehendem Tinnitus (Stunden,
Tage) erzielen. So gesehen sollten wir Tinnitus als „Mini-Hörsturz" oder als maskierten Hörsturz betrachten.
Einige recht einheitliche Bewertungen kommen dem Lidocain bei
i. v. Gabe zu. Remanent über 10
Minuten bis 3 Tage kommt es zum
Verschwinden des Tinnitus. Die
Wirksamkeit wird antikonvulsiv
analog dem Einsatz bei zentral
bedingten Schmerzen gesehen.
Zudem läßt die Wirksamkeit von
Lidocain die Prognose hinsichtlich der Wirksamkeit von Antikonvulsiva zu. Patienten, die nicht auf
Lidocain reagieren, antworten
auch auf orale Antikonvulsiva
nicht.
Antikonvulsiva können neben der
Besserung des Tinnitus subjektiv
auch eine Verbesserung in der
Klarheit und Wahrnehmung sowie
eine verbesserte Toleranz von
Hörgeräten und eine bessere
Maskierung bei Anwendung von
Hörgeräten erreichen.
5.2. Operative Therapie
Von House et al. wird konstatiert,
daß die operative Behandlung
(Labyrinthektomie, translabyrinthäre Durchtrennung des Hörnerven) von Tinnitus, obgleich in einigen Fällen erfolgreich, keine zuverlässige und relevante Methode
für die Behandlung von subjektivem Tinnitus ist.
6. Elektrostimulation
zur Unterdrückung von Tinnitus
Die Elektrostimulation des Hörorgans kann über feine nadelförmige Elektroden am Promontorium bzw. runden Fenster erfolgen.
Die einfachste Methode besteht in
der Promontorialreizung, wie bei
der Elektrocochleographie (Abbildung 3). Die effektivere Methode
scheint nach Aran und Cazals in
(50) Heft 36 vom 5. September 1984 81. Jahrgang Ausgabe A
der Reizung am runden Fenster
zu bestehen. Sie stellt jedoch
auch das aufwendigere Verfahren
dar. In dieser Reizsituation kam es
während der Stimulation in 60
Prozent der Fälle zum völligen
Verschwinden des Tinnitus, während bei der Promontorialreizung
partiell oder komplett 43 Prozent
ein Verschwinden des Tinnitus
bzw. eine Besserung angaben.
Die auf diese Weise erreichte Unterdrückung des Tinnitus ist jedoch nur während der Stimulation
vorhanden.
7. lontophorese
Die lontophorese, d. h. das Einbringen eines Lokalanästhetikums in den Gehörgang unter Anlegen eines elektrischen Feldes
bringt in seltenen Fällen den Tinnitus zum Verschwinden.
8. Tinnitus-Masker
Tinnitus-Masker sollten immer
dann in Erwägung gezogen werden, wenn alle sonstigen Maßnahmen zu keinem Erfolg geführt haben und die Patienten erheblich
unter ihrem Tinnitus leiden. Zur
Anwendung kommen dabei Geräte, die entweder ausschließlich
der Maskierung des Tinnitus dienen, oder aber Hörgeräte, die
gleichzeitig einen Maskierungseffekt bewirken, bzw. Geräte, die
Hörgerät und Masker integrieren.
Das angestrebte Ziel ist die sogenannte Residual-Inhibition, d. h.
das Ausbleiben des Tinnitus auch
nach Anwendung einer solchen
Maskierung. Die besten Erfolge
werden hier bei Tinnitus tonaler,
insbesondere hochfrequenter Art
erreicht.
9. Biofeedback
Das bereits bei vielen anderen
psychosomatisch beeinflußten Erkrankungen angewandte Biofeedback ist in verschiedenen Fällen
von Tinnitus erfolgversprechend.>
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FÜR SIE GELESEN
Ohrgeräusche
10. Schlußbemerkung
Durch eine differenzierte Anamnese und Diagnostik gelingt es
in einer größeren Anzahl von Fällen, als dies allgemein angenommen wird, den Patienten unter
Einbeziehung neuerer Behandlungsmethoden zu helfen. Der
Aufwand wird häufig gescheut.
Unter dem Aspekt der manchmal
erheblichen Beeinträchtigung
(bis zur Berufsunfähigkeit und bis
zum Suizid) und der häufig einzigen Symptomatik beginnender
Erkrankungen (z. B. Akustikusneurinom) sollte jedoch dieser
Aufwand gerechtfertigt sein.
Literatur
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of tinnitus. in: Ciba Foundation Symposium 85,
Tinnitus, Pitmann (1981) — Chüden, H. G.: Differentialdiagnose des Ohrensausens, Med.
Klin. 77 (1982) 623-625 — Evans, E. V.; Wilson,
J. P.: Animal models of tinnitus, in: Ciba Foundation Symposium 85, Tinnitus, Pitmann
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Subjective head noises (tinnitus aurium), Laryngoscope 75 (1965) 1610-1618 — Goodey, R.
J.: Drugs in the treatment of tinnitus, in: Ciba
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(1981) — Goodhill, V.: The management of tinnitus, Laryngoscope 60 (1950) 442-450 — Grossan, M.: A brief introduction to biofeedback for
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Symposium 85, Tinnitus, Pitmann (1981)
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Tinnitus: A new management, Laryngoscope
88 (1978) 413-419 — Wedel, H. v.; Opitz, H. J.:
Ein Beitrag zur Behandlung von Ohrgeräuschen mit Tinnitus-Maskern, Laryng. Rhinol.
59 (1980) 542
Professor Dr. med.
Hans-Joachim Opitz
Johanniter-Krankenhaus
Johanniterstraße 3-5
5300 Bonn 1
Kooperationstraining
in der Kinderund Jugendpsychiatrie
Zum Problemkreis der Zusammenarbeit medizinischer Disziplinen hat sich unter der Bezeichnung „Consultation-LiaisonPsychiatry" ein spezielles psychiatrisches Gebiet herausgebildet,
das unter dem Aspekt gesehen
wird, den „klassischen" Disziplinen der Medizin die pschychosoziale Dimension nahezubringen
und einen psychiatrischen Beitrag
zur Behandlung internistischer,
chirurgischer, radiologischer und
anderer Patienten zu leisten. Daß
dieses Gebiet der Psychiatrie
noch nicht weit entwickelt ist,
könnte an einer mangelhaften
Ausbildung, an der Abneigung gegen andere medizinische Fächer
und an einem Mangel an Erfahrung liegen. Bereitliegende Ausbildungsmittel werden nicht einmal voll ausgenutzt. Pädiater sowie Kinder- und Jugendpsychiater
haben seit jeher sich weit überschneidende Problemfelder, aber
auch hier fällt die Einrichtung und
Unterhaltung einer klar strukturierten Kooperation als gemeinsames Gebiet schwer.
Zur Bestandsaufnahme der derzeitigen Rollenverteilung der an
der Versorgung kranker Kinder
beteiligten Disziplinen wurden in
einer Übersichtsstudie in laufenden Ausbildungsprogrammen der
kinder- und jungendpsychiatrischen Weiterbildung Art und Umfang des Kooperationstrainings
erfaßt. Die schon durch Sperling
et al. getroffene Feststellung, daß
13 bis 27 Prozent der kinder- und
jugendpsychiatrischen Weiterbildungsprogramme keinen Kontakt
mit dem pädiatrischen Versorgungssystem haben, wurde bestätigt. 75 Prozent der Programme
verwenden 11 Prozent oder weniger der Ausbildungszeit auf die
Kooperationsarbeit. Nur 17 Prozent der Programme bildeten
über mehr als 17 Prozent der Zeit
für Kooperationsarbeit aus. Mehr
als 80 Prozent der Programme se-
hen gemeinsame Visiten mit Pädiatern, Gespräche mit Sozialarbeitern, Krankenpflegern, Werktherapeuten, Lebenehilfeorganisationen und Rehabilitationseinrichtungen vor. Als besonders ausbildungsgeeignet erscheinen Einrichtungen für Vorsorge- oder
Frühförderung bzw. Langzeitkliniken ebenso wie Spezialsprechstunden für Grenzgebiete zwischen Pädiatrie und Kinder- und
Jugendpsychiatrie. Daß Zusammenarbeit mit Hausärzten nicht erwähnt wird, ist ein ausgesprochener Mangel. Die gemeinsame Ausbildung mit Angehörigen anderer
Fachrichtungen (Psychologie, Sozialarbeiter etc.) ist die Regel,
überraschend selten allerdings
sind, trotz ähnlicher Interessengebiete, Sozialpädiater beteiligt.
Die Befunde zeigen einen bemerkenswerten Widerspruch auf:
Psychiatrische Kooperation wird
zunehmend als wichtig angesehen, fast 3/4 aller Ausbildungsprogramme verwenden allerdings
weniger als 1 /io der Zeit darauf.
Denkbare Ursachen sind folgende
Punkte: Eine Scheu vor anderen
medizinischen Aspekten bei den
Kinder- und Jugendpsychiatern,
deren Gebiet sich eher aus der
Jugendgerichtsbarkeit und der
Heilpädagogik als aus Psychiatrie
und Pädiatrie herleitet; das Fehlen qualifizierter Lehrer und Literatur; ein gestiegenes Interesse
der Pädiater für psychosoziale
Fragen; Finanzierungssorgen beeinträchtigen die Ausbildungsbemühungen; belastende Arbeitscharakteristika des Kooperationsgebietes, die viele zum Wechsel
bewegen. Dennoch ist eine Verbesserung der Ausbildung wichtig, da übergreifende Einsichten
der Versorgungsqualität zugute
kommen. Dabei sollte es jedoch
nicht zu Rollendiffusion oder
Identitätsunsicherheit kommen,
die eine effektive Arbeit und Kommunikationsfähigkeit mit anderen
Disziplinen behindern. mtk
Fritz, G. K.; Bergmann, A. S.: ConsultationLiaison Training for Child Psychiatrists: Results of a Survey. Gen. Hospit. Psychiatry 6
(1984) 25-29
Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 36 vom 5. September 1984 (53)
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