Meinungsstarker Propagandist Das Schallplattenerbe Harnoncourts

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Meinungsstarker Propagandist
Das Schallplattenerbe Harnoncourts
Die erste Begegnung: Monteverdi „L’Orfeo“. Nikolaus Harnoncourt mit der ersten
vollständigen Gesamtaufnahme – so jedenfalls lautete die Empfehlung seiner damaligen
Plattenfirma Telefunken: „Das Alte Werk“. WDR III hatte diese Produktion seinerzeit
gesendet, bzw. angelegentlich empfohlen; heute würde man sagen ‚gefeatured‘. Das muss
um 1970 gewesen sein. Dieser „L’Orfeo“ ging direkt in Herz und Hirn. Die Aufnahme habe
ich mir sofort kaufen müssen, was für einen Schüler mit schwachen Finanzmitteln gar nicht
so leicht war. In der schönen Leinenkassette waren drei dicke Langspielplatten. Eine Karte
lag dabei, der zu entnehmen war, dass es sich bei meinem Exemplar um die Nummer II /
348 handelt. So wurde damals diese Produktion gefeiert. Auf der letzten Seite gab es eine
Einführung von Nikolaus Harnoncourt. Die zweite große Erleuchtung kam 1980: „Idomeneo“.
Damit verbunden war für mich die Entdeckung von Mozarts Seria-Opern, die hier in einem
aufrührerischen Klangbild erschienen, als sei das eine Musik des Sturm und Drang.
Damit einherging die eigene prophetische Einschätzung, dass „Don Giovanni“, sobald
Harnoncourt den machen würde, nur großartig werden kann. Als diese Aufnahme 1988 dann
erschien, machte sich eine gewisse Enttäuschung breit. Vielleicht war die Konkurrenz zu
groß. Aber so leicht kann man es sich mit diesem Jahrhundertgenie nicht machen. 2014,
zum 85. Geburtstag habe ich diese Aufnahme auf dem sonntäglichen Opernsendeplatz hier
in SWR2 eingesetzt, denn inzwischen hatte ich festgestellt, dass diese Aufnahme großartig
ist.
Die Alte Musik, die sogenannte historisch informierte Aufführungspraxis, ist sein
Leitgedanke. Anfangs war das möglicherweise wirklich ein Wissensschatz, um zu
rekonstruieren, wie das seinerzeit geklungen hat. Später, und das gilt ganz gewiss für heute,
wurde daraus mehr und mehr eine Perspektive zum aktuellen Musizieren, ein Konzept das
nicht am Grad der mitgelieferten Historizität zu messen ist, sondern an den Ergebnissen
eines persönlichen Zugangs. Dass Harnoncourt auch das angesammelte Wissen über Zeit
und Zeitlichkeit mitdenkt, versteht sich von selbst. Den Bereich der sogenannten ‚Alten
Musik‘ hat er ohnehin längst überschritten. Er dirigiert Bruckner und Schumann, Johann
Strauß und Beethoven oder Smetana und Offenbach. Harnoncourts Aufnahmen wirken
letztlich auch wie ‚Konzept-Alben‘, die in Ausschnitten und Häppchen eigentlich nicht
funktionieren, sondern nur als GANZES. Abgesehen davon ist er ein meinungsstarker
Propagandist seiner augenblicklichen Theoriefreudigkeit, in die er sich manchmal
richtiggehend verrennt. Wenn er Verdis „Aida“ realisiert, ist er der Einzige, der alles richtig
macht. Das fordert Widerspruch heraus, aber beim Hineinhören in diese nicht ganz
unproblematische Aufnahme wird klar: Was das Orchester angeht, kommt er weiter als
jüngst Antonio Pappano in einer hochpreisig inszenierten Glitzerproduktion. Und wenn er
etwa Mozarts letzte drei Sinfonien als eine Art Oratorium ohne Worte, als eine monumentale
Botschaft in drei Teilen apostrophiert, dann ist er gar nicht mehr so weit vom romantisch
verseuchten 19. Jahrhundert entfernt. Er pflegt seine eigene musikalische Hermeneutik, die
bei ihm freilich etwas anderes ist, nämlich eine radikalisierte Form der „Klangrede“.
Der Mann hat keine Berührungsängste mit den Stars des internationalen Musikgeschäfts.
Längst ist er selber einer von ihnen geworden. Er hat mit Edita Gruberova, Cecilia Bartoli
oder Anna Netrebko musiziert. Sie – die Stars – wachsen bei ihm über sich hinaus. Ob sein
jüngstes „Mozart-Album“ mit Lang Lang wirklich gebraucht wird, mag sich erst in einigen
Jahren entscheiden. Seine Platten werden uns noch eine Weile beschäftigen. Und
manchmal ist man erstaunt, wie haltbar gerade die älteren unter ihnen sind. Sein „L’Orfeo“
von 1968 erscheint mir jedenfalls widerständiger als der spätere, an den sich freilich die
Erinnerungen an die szenischen Aufführungen in Zürich in der Regie von Jean Pierre
Ponnelle geheftet haben. Und manchmal findet man unter seinen Aufnahmen welche, die es
so nie wieder gegeben hat; den zweiten Satz etwa aus Haydns Militär-Sinfonie, produziert
1987 mit dem Concertgebouw Orkest in Amsterdam.
Rückblick auf das Schallplattenerbe Harnoncourts in der Sendung „SWR2 Cluster“ vom
4.2.2016
Reinhard Ermen
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