Theaterspielen im klinischen Setting

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Theaterspielen im klinischen Setting
Walter Pfaff
17.3.0 Zusammenfassung
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17.3.1 Einleitung
Nachdem ich bis 1990 die Techniken der Schauspielkunst für das Spielen von sozialen
Dramen auf der Bühne brauchte gehe ich seitdem der Frage nach, wie theatrale Verfahren im
Alltag eingesetzt werden können, um die Handlungsfähigkeit von Menschen in schwierigen
Situationen zu verbessern. Im Centre de Recherches Théâtrales im Burgund experimentierte
ich mit Theatertechniken als Medium in interkulturellen Situationen und im Maxim Theater
Zürich erprobte ich anschliessend deren Brauchbarkeit für die Selbstintegration von
Migranten in die lokale Gesellschaft. Das Projekt Theaterspielen im klinischen Setting geht
einen Schritt weiter und erforscht, wie theatrale Spielverfahren die Ressourcen von psychisch
kranken Menschen vermehren und diese im gewünschten Rahmen wieder handlungsfähig
machen können. Der Pilotversuch findet 2011 an der psychiatrischen Klinik Königsfelden mit
1
schizophrenen Langzeitpatienten statt. Dass ein Theatermacher sich zur Arbeit in die
Psychiatrische Klinik begibt erscheint naheliegend weil erstens sein Wissen von den Formen
des menschlichen Spiels den Benutzern der Klinik nützlich werden kann, was dieser Aufsatz
zeigen möchte. Und zweitens, weil die extremen Ausdrucksformen des menschlichen Lebens
das Theater seit jeher nähren, wie ein Blick auf die Themen der griechischen Tragödien zeigt.
Die Situation des Theatermachers in der Klinik ist nicht so verschieden von der des
Ethnologen in einer ihm fremd erscheinenden Kultur. Es gilt auch für ihn das Fremde zu
verstehen in einer beständigen Pendelbewegung zwischen dem Fremden und dem Eigenen
(vgl. Pfaff 1998, S. 97-121). Der Theatermacher muss sich dabei stets bewusst sein, dass er
den Patienten Fragen stellt, die ihn auch selber betreffen und ihn irritieren können. Er sucht in
der Begegnung mit den erkrankten Personen nach dem Kontrast zu seinem eigenen Leben, ein
Kontrast aber der vielleicht nicht in allem so grundverschieden ist, dass er ihn nicht
ansatzweise verstehen könnte. Als Theatermacher spürt er dass gerade in den Extremen das
Wesen des menschlichen Lebens oft am klarsten erscheint. Wie es in der Klink wirklich
aussieht lernt er aus der Perspektive der Benutzer die sie in Anspruch nehmen. Um die
erkrankten Menschen als Subjekte wahrzunehmen muss er sich dafür öffnen, dass nicht nur er
auf die Patienten, sondern die Patienten auch auf ihn wirken. Das Befremdende an ihnen löst
Emotionen und Vorstellungen aus und diese sind mit Ausgangspunkte seines Verstehens.
Bosse (1983) hat darauf hingewiesen, dass seine eigenen von Trieben und Wünschen
geleiteten Verhaltensformen ihm leicht aus dem Blick geraten und dass seine Patienten dies
spüren und aufgreifen. Die Psychiatriepflegerin F.H. hat mir zum Beispiel mitgeteilt, dass die
Patienten ihre Ärzte und Pfleger in unbeobachteten Momenten umwerfend komisch
nachspielen.
17.3.2 Ausgangslage
Von 2008 bis 2010 führte ich unter dem Titel „Creating Belonging by Means of Performance“
im Auftrag des Schweizerischen Nationalfonds ein Forschungsprojekt durch, welches den
Nachweis für die Produktivität des Einsatzes theatraler Mittel für die Selbst-Integration von
Migranten erbrachte. Das Forschungsprojekt wies qualitativ nach, dass Migranten theatrale
Techniken bei der Darstellung ihres Selbst als Rollen im Alltagsleben nutzten um
Zugehörigkeit zu schaffen. Die Spieler entwarfen in der Sicherheit der Theaterproben diese
Rollen im Hinblick auf kommende Interaktionen mit der lokalen Bevölkerung und übten sie
ein mit dem Ziel, ihre Aufnahme in lokale soziale Gruppen zu erleichtern. Auf Grund einer
2
Anregung eines Arztes der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich fragte ich mich in der
Folge, ob und auf welcher Grundlage die damals entwickelten Spielverfahren für eine Arbeit
im klinischen Setting fruchtbar werden könnten. Dazu fasste ich Menschen in klinischer
Behandlung auf als Individuen, denen die gesellschaftliche Integration nicht gelingt und nahm
an, dass Spielverfahren, welche die Integration von Migranten erleichterten, auch für deren
Re-Integration wirksam sein könnten.
Verfahren zu entwickeln, welche Menschen in klinischer Betreuung die Selbst-Navigation mit
Hilfe von Spielverfahren ermöglichen erscheint mir wichtig vor dem aktuellen Befund einer
„raging epidemic of mental illness, at least judged by the increase in the number of treated for
it“ (Angell 2011, S. 18-22). Gleichzeitig diskutieren aktuelle Publikationen die Problematik
einer Behandlung mit Psychopharmaka. Whitaker (2011, S. 21) schreibt: „Prior to treatments,
patients diagnosed with schizophrenia, depression, and other psychiatric disorders do not
suffer from any known ‚chemical imbalances’. However, once a person is put on a psychiatric
medication, which, in one manner or another, throws a wrench into the usual mechanics of a
neuronal pathway, his or her brain begins to function....abnormally“.
Vor diesem Hintergrund werde ich mit Menschen, welche in stationärer klinischer Betreuung
sind, die Verfahren der spielerisch-theatralen Praxis weiter entwickeln, wie ich sie im
MAXIM Theater erprobt hatte. Das Spielen soll ihnen die Navigation in schwierigen
Umständen erleichtern und ihnen ermöglichen, die dabei entstehenden Handlungen als
kreativen Umgang mit den Anforderungen der Umwelt zu verstehen. Ich möchte
experimentell erkunden, ob theatrale Mittel, die für die Selbstintegration von ‚gesunden’
Menschen erfolgreich wirkten, auch von psychisch kranken Menschen nutzbar sind bei dem
Versuch der Wiederherstellung ihrer Handlungsfähigkeit im gewünschten sozialen Rahmen.
Das Experiment möchte erweisen, dass die Fähigkeit zu Spielen zu neuen Haltungen, neuem
Wissen und neuen Lebens-Perspektiven führt.
17.3.3 Theater
Als Theatermacher verstehe ich die Entwicklung einer speziellen Form des Theaterspielens
für das klinische Setting als Schritt auf dem Weg einer Forschung welche die Möglichkeiten
erkundet, die Mittel des Theaters in den Dienst sozialer Aufgaben zu stellen. Damit reagiert
der Theatermacher auf das veränderte gesellschaftliche Umfeld einer performativen
Gesellschaft (vgl. Schechner 1999), welches im Paradox Wir spielen so sehr Rollen im Leben
dass es genügte mit Spielen aufzuhören um Theater zu machen Ausdruck findet. Der Begriff
3
‚Theater’ ist in unserem Zusammenhang natürlich problematisch denn er ruft Vorstellungen
hervor, welche dem hier unterliegenden Spielbegriff teilweise zuwiderlaufen. Wenn ich ihn
trotzdem beibehalte dann weil er sofort das Element der Verkörperung hervorhebt und
kompetitive oder aleatorische Formen wie Wettkampf (agon) und Glücksspiel ausschliesst. Es
geht um play und nicht um game. Im Unterschied aber zu Theater steht erstens mit Marx
mein Spielbegriff dem Begriff der Arbeit wie etwa in der ‚Arbeit des Schauspielers’ entgegen,
denn wie dieser feststellt, „kann die Arbeit nicht Spiel werden“ (Marcuse 1967, S. 251) .
Zweitens setzt der Theatermacher in der Klinik weniger auf den mimetischen und mehr auf
den methetischen (gr. µ!"#$%& „Teilhabe“, auch „Teilnahme“) Charakter der Spielhandlung.
Alle Anwesenden kreieren gemeinsam ein Spiel. Drittens führt der Theatermacher in der
Klinik einen zentralen Paradigmawechsel im Verständnis von Theater herbei. Während wir
unter Theater traditionell ein Setting vom Typus „Setz dich, ich erzähle Dir eine Geschichte“
verstehen, bezieht sich Theaterspielen hier auf ein interaktives Setting vom Typus „Steh auf,
wir machen ein Spiel!“. Es schafft damit Ereignisse die weniger den Charakter einer
Theateraufführung zeigen sondern mehr den eines Dromenon (drom-e-non von <gk. drae. to
do, to act, to make, to accomplish) als einer Spielhandlung die gemeinsam durchgeführt wird.
Viertens bezieht sich das Wort Theater auf Aufführungen, deren Wirkungsabsicht auf das
Publikum abzielt, der Montagepunkt der Aktionen liegt im Kopf des Zuschauers. In unserem
Fall aber liegt die Wirkungsabsicht bei den Spielenden selbst und der Montagepunkt
entsprechend im Kopf des Spielenden. Das Theater braucht per definitionem Zuschauer, das
Spiel (lt. ludus) aber kommt ohne Zuschauer aus. Der Theatermacher in der Klinik sucht also
einen Weg, die Mittel des Theaters in Vereinbarung zu bringen mit einem nicht-theatralen,
auf eine soziale Wirksamkeit bezogenen Zweck. Die Spielenden in der Klinik sind somit nicht
Schauspieler sondern ganz einfach Menschen, die spielen.
Dass gerade die Mittel des Theaters brauchbar erscheinen liegt darin, dass das Theater seit
dem 19. Jahrhundert die Menschen im Alltagsleben beobachtet und daraus Spieltechniken
entwickelt hat um das reale Leben auf der Bühne wahrheitsgetreu darzustellen. Der
Theatermacher in der Klinik nutzt diesen Prozess und kehrt ihn um indem er fragt, wie die
Techniken des Theaterspielens zu einem nutzbaren Werkzeug für das tägliche Leben werden
können. Goffman (2010) hat umfassend gezeigt wie Menschen die möglichen Effekte von
Spieltechniken im Alltag strategisch einsetzen um ihre Handlungsziele zu erreichen. Sie
beginnen ihr Selbst als Rolle darzustellen und ihren Ausdruck auf situationsspezifische
Kommunikationsziele hin theatral zu gestalten.
4
17.3.4 Spieltrieb
„The natural thing is playing“ (Winnicott)
Spielen ist eine universelle und nicht reduzierbare Fähigkeit des homo ludens (vgl. Huizinga
2009). Der Theatermacher in der Klinik postuliert, dass erst der Spieltrieb den anthropos
physei zum zoòn politicòn macht und dass es die Instanz des Spieltriebs ist, welche das
gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen in all seinen Formen erschuf, sowohl auf der
Makroebene der Gesellschaften wie auf der Mikro-Ebene der Individuen und ihrer
Interaktionen. Gegenüber dieser hervorragenden Wichtigkeit des Spieltriebs haben ihm die
Wissenschaften erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt und so ist er in der Tat eine Art
weissen Flecks auf der Landkarte des menschlichen Wissens geblieben. Man muss bis zu
Schillers 14. und 15. Brief über die ästhetische Erziehung zurückgehen, um ihn in seiner
Bedeutung als das, was den Menschen überhaupt zum Menschen macht gewürdigt zu sehen:
„der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da
ganz Mensch, wo er spielt“ (Schiller 1966, S. 238)
Der Theatermacher in der Klinik erkennt also jede zwischenmenschliche Handlung als eine
vom Spieltrieb mit gestaltete Form. Er hat damit im Spieltrieb ein sicheres Fundament und
seinen stärksten Verbündeten. Wie aber erschafft der Spieltrieb die Möglichkeiten und
Formen zwischenmenschlicher Handlungen? Der Anthropologe Victor Turner (1995, S.163165) hat mit einem überraschenden Blick auf die Anwendung des Begriffs Spiel in der
Sprache der Technik einen entscheidenden Hinweis gegeben. Ein Kolben zum Beispiel hat
und braucht Spiel im Zylinder. Die Lenkung des Autos hat zuviel Spiel. Spiel ist hier also
gerade das was zwischen zwei fest fixierten Abläufen liegt und zwischen ihnen vermittelt, ihr
Funktionieren gerade durch einen offenen freien Zwischenraum erst ermöglicht. Ohne Spiel
würde der Kolben klemmen, die Lenkung überreagieren. Im englischen Wort Enter-tainment
ist das noch sichtbar. Es kommt vom französischen entre-tenir: ‚dazwischen-halten’. Der
Spieltrieb schafft also einen Zwischenraum zwischen von anderen Kräften beherrschten fixen
Abläufen und diesen offenen, freien Zwischenraum nennen wir Spiel. Damit offenbart die
technische Anwendung des Begriffes genau den Wert des ‚Dazwischen’ in menschlichen
Handlungen, den der Theatermacher als Raum des Spielens in der Klinik nutzt. Dieser Raum
liegt nicht ‚innen’, in der Welt der Träume, Halluzinationen und Phantasien noch ist er
‚aussen’, in der Welt der harten Fakten ausserhalb der eigenen Kontrolle. Der
Kinderpsychiater und Psychoanalytiker Winnicott hat diesen Raum des Dazwischen treffend
5
einen ‚potentiellen Raum’ genannt und gesagt „Play is in fact neither a matter of inner
psychic reality nor a matter of external reality“ (Winnicott 2005, S. 129). Gesellschaftliche
Erfahrung als Spielerfahrung liegt somit zwischen dem Individuum und der Umgebung der
Anderen. Es ist ein Raum zwischen der Erfahrung des existentiellen Getrennt-Seins (jeder
stirbt allein) und der Erfahrung des unauflöslichen zwischenmenschlichen Verbunden-Seins
als zoòn politicòn. Die Weisen des Oszillierens zwischen diesen Polen bestimmt das
menschliche Sein vom ersten Schrei des Neugeborenen und die Analyse von deren Formen
bildet die Grundlage der psychoanalytischen Praxis. Dieses Oszillieren wird vom Spieltrieb in
Szene gesetzt und ist immer eine kreative Tätigkeit und Erfahrung in Raum und Zeit als der
Grundform des Seins. In diesem Spielen bewegt sich das Individuum von der Abhängigkeit
(des Kleinkindes etwa von der Mutter) zur Autonomie (vgl. Klein 2010). Spielen verbindet so
Vergangenheit als kulturelle Erfahrung, Gegenwart als Ort des Handelns und Zukunft als Feld
des gesellschaftlich Möglichen. Der Theatermacher nimmt die ungewohnten, weil vom Feld
des ‚Normalen’ abweichenden Handlungsweisen der Patienten, die der behandelnde Arzt in
unterschiedlichen Krankheitsbildern zu fassen sucht, mit seinem im Theater als dem Ritual
des Spielens geschulten Blick zuerst und vor allem als eigenartige Ausformungen
(„Störungen“) der Tätigkeit des Spieltriebs wahr und sucht einen Weg, um dieser Tätigkeit
ihren ursprünglichen Raum und ihre Bestimmung zurück zu geben und damit die
Spielfähigkeit des Patienten zu reanimieren. Gelingt das ist sein eigentliches Ziel erreicht. Der
Theatermacher in der Klinik sucht also nicht etwas Neues zu finden als vielmehr etwas sehr
Altes wiederzufinden. Sein Vorteil liegt, könnte man sagen, in seinem rituellen
Spezialistentum: er kennt Verfahren des Rückgriffs auf den unverwüstlichen und stets in der
Verkörperung agierenden Spieltrieb, der viele Formen des menschlichen Ausdruckes prägt.
Damit kommen die oft unglücklich getrennten Elemente des menschlichen Ausdrucks wie
Sprache, Text, Pantomime, Musik, Stimme, Tanz und Bewegung in einer Spielhandlung
zusammen. Der Theatermacher in der Klinik schafft dafür einen potentiellen Raum des Spiels,
der allen Patienten offensteht, der keiner Zutrittsklauseln und Vorkenntnisse bedarf und in
dem das Tun, das folgt aus dem Lustprinzip des Spieltriebes, allmählich Freude machen kann.
17.3.5 Störung des Spieltriebs
Der Theatermacher in der Klinik kann nicht sagen wie es zur Störung der Tätigkeit des
Spieltriebs kam, es ist die Aufgabe u.a. der politischen Philosophie, die Ursachen und Formen
seiner Repression in den gesellschaftlichen Strukturen aufzuzeigen. Es scheint aber dass die
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Mechanismen der Unterdrückung des Spieltriebs nicht bloss auf Ereignisse in der frühesten
Phasen der menschlichen Entwicklung zurückzuführen sind, sie können in jeder Lebensphase
wirksam werden. Aus dem bisher vom Spielen als einem Oszillieren zwischen zwei Polen
Gesagten geht aber hervor, dass seine Qualität die der Bewegung ist und dem Begriff Spiel so
die Adjektive leicht und wandelbar zugehören. Entsprechend erkennt der Theatermacher die
Symptome der Störung des Spieltriebs in einer Hemmung dieser Bewegung, die sich physisch
oder psychisch als Erstarrung, Verfestigung und Fixierung anzeigen. (Mögliche Ursachen
dieser Störungen rühren vielleicht auch daher, dass der Mensch kaum noch psychische
Schutzmechanismen gegenüber den immer aggressiveren Leistungsanforderungen einer
spätmodernen Gesellschaft entwickeln kann und depressiv erkrankt (vgl. Ehrenberg 2008).
Die Identitäten und die Zugehörigkeiten, welche die Tätigkeit des Spieltriebs erschafft und an
die Bedingungen der Umwelt anpasst, scheinen sich durch den Druck der äusseren oder der
inneren Welt in einer Form zu fixieren und zu verfestigen, welche den notwendigen
Handlungsspielraum und damit die Selbstwahrnehmung des Betroffenen als autonomes
Individuum behindert. Diesen Tendenzen der Erstarrung entgegenzuwirken heisst die dem
Spieltrieb eigene Qualität der Bewegung wieder herzustellen. „The work done {by the
therapist} is directed towards bringing the patient from a state of not being able to play into a
state of beeing able to play“ (Winnicott 2005, S. 51).
Wenn das menschliche Leben gesehen werden kann als ein Oszillieren zwischen der inneren
und der äusseren Welt und wenn der Spieltrieb als das Prinzip dieser Bewegung und als
Beziehung zwischen den zwei Polen erkannt ist, dann ist zu erwarten dass eine Störung des
Spieltriebs und dessen Bewegung zum Bruch dieser Beziehung und damit zu einer Fixierung
am dem einen oder dem anderen Pol führt. Dem scheint Winnicotts aus der psychiatrischen
Praxis gewonnen Einsicht zu entsprechen, dass eine Existenz ohne Spielfähigkeit entweder zu
einer Fixierung am Pol der äusseren Realität führt (‚compliance’), bei der die äussere Welt
nur mehr erlebt wird als Gitter von Verhaltensmassregeln und Gesetzen, in das man sich unter
Zwang einzufügen hat. Der Mensch ist so vollkommen in der äusseren, als objektiv
gesehenen Realität gefangen dass er den Zugang zur inneren Welt der Phantasie und der
Träume verloren hat. Damit einher geht ein Gefühl dass das Leben grau und wenig lebenswert
ist (Depression). Am anderen Pol einer Fixierung in der Innenwelt wiederum bleibt für den
Menschen das Gefühl für die Realität schwach und diese in einem gewissen Grad ein bloss
subjektives Phänomen (Schizophrenie) (ebd. S. 87-89). Beide Störungen des Spieltriebs
gehen einher mit dem Verlust des potentiellen Raumes und mit dem Verlust der Bewegung
7
welche zwischen dem innerem Leben und der äusserer Realität vermittelt und in welcher der
Spielende sich als lebendige Einheit erfahren kann.
17.3.6 Theatermacher in der Klinik
Der Theatermacher in der Klinik fragt nicht nach der Aetiologie der Beeinträchtigung der
Spielfähigkeit, also nicht danach was bei einem bestimmten Individuum die Störung der
Spielfähigkeit hervorgerufen hat, das ist die Aufgabe des behandelnden Arztes. Er arbeitet mit
bestimmten aus der Theaterarbeit gewonnen pragmatischen Gesetzen. Pragmatische Gesetze
sagen uns was zu tun ist, damit dieses oder jenes geschehen kann oder geschieht; sie sagen
aber nicht warum das so geschieht (vgl. Grotowski 1991, S. 236). Der Theatermacher in der
Klinik wendet sich also weniger dem zu was gespielt wird, er fragt nicht, was das Spiel
ausgedrückt hat, sondern interessiert sich mehr dafür, was es in Gang bringt, wie es sich
entwickelt, wohin es strebt und welche Formen in seiner unvorhersehbaren Entwicklung
entstehen. Der Spieltrieb ist im Kind am reinsten ausgebildet, ein durch Repression gestörter
Spieltrieb kann deshalb am besten aus seinem kindlichen und lustbetonten Wesen heraus
reanimiert werden. Da der Spieltrieb dem Lustprinzip folgt muss der Patient zur Freude am
Spiel verführt werden. Der Theatermacher folgt dazu einer via negativa die darin besteht
Hindernisse aus dem Weg zu räumen, Verfestigungen aufzulösen und Blockaden aufzuheben.
Die Erfahrungen im Forschungsprojekt „Creating Belonging“ haben gezeigt, dass der
Spielverantwortliche kaum im Voraus wissen kann wie und was die Patienten im Spiel für
sich suchen und finden. Dies ist erst durch längerfristige Beobachtung retrospektiv
aufzudecken. Deshalb muss die jeweilige Spielanlage so gebaut sein, dass sie offen ist für die
verschiedenen und sehr individuellen Wege der Spieler und dass jeder Spieler seinen
Bedürfnissen und seiner Suche möglichst frei und ungehindert nachgehen kann. Der
Spielleiter begleitet den Patienten-Spieler auf diesem Weg von einem Zustand, in dem er
nicht spielen kann zu einem Zustand, in dem er die Freude am Spielen und dadurch eine
ursprüngliche kreative Beziehung zur Welt wieder findet. Der Theatermacher wird das
Geschehen so wenig als möglich verbal interpretieren sondern versuchen, dem Spieler die
Möglichkeit zu geben sich auszudrücken, ohne dass der Weg über eine Bewusstwerdung
durch Sprache führen muss. Er versucht, wie es Klein (2010, S. 109) vom Kunsttherapeuten
fordert, Symptome indirekt anzugehen, die Abwehr zu respektieren und Widerstände
spielerisch zu umgehen. So kann der Spielende als homo ludens sein Spiel intuitiv
wahrnehmen als seine Verbundenheit mit dem universellen gesellschaftlichen Wesen des
Menschen (zoòn politicon). Der Spieler begegnet seinen eigenen Schwierigkeiten in den
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Schwierigkeiten, vor die ihn das Schöpferische des Spielens stellt. Dieses Schöpferische des
Spielens kann gesehen werden als ein Prozess der Transformation (ebd., S. 44). Die
Patienten-Spieler kreieren mit Hilfe der beruhigenden Distanz des potentiellen Raumes zur
Innen- wie zur Aussenwelt und der Fiktionalität der Spielfigur (‚Nicht-Ich’) Spielhandlungen,
in denen der intuitive Weg ihrer persönlichen Suche plötzlich kurz aufscheint. Der
Theatermacher begleitet diesen Prozess diskret und versucht das Entstehen von zunehmend
klaren Ausdrucksformen zu begünstigen. Diese werden das künstlerische Material abgeben,
das die Patienten (wenn sie es wünschen) später der Gesellschaft im Wiederspielen zur
Reflexion vorschlagen. Und wenn es am Anfang einzige Aufgabe des Theatermachers ist, den
Spass am Spielen zu befördern so darf und soll er allmählich im Rahmen des individuell
jeweils Möglichen Anforderungen an Form und Durchführung stellen, denn diese
Herausforderung anzunehmen bereitet dem Patienten Freude durch neu gewonnenes
Selbstvertrauen. Denn in der Gestaltung des Spiels drückt der Patient seinen aktiven
Entschluss und Willen aus, sich nicht passiv seiner Krankheit als seinem Unglück zu ergeben.
Er übernimmt Verantwortung für die Bewegung des Spiels und damit auch für die
Mitspielenden. Das eigene Leben wird im fiktionalen Raum des Spiels in Bezug gesetzt zum
realen Leben mit seinen unumgänglichen Konflikten und Beschwernissen, aber auch seinem
kreativen, spielerisch-fröhlichen Potential.
17.3.7 Theaterspielen im klinischen Setting
„Il est commode de pouvoir être chaos pour commencer“ Paul Klee
Im Vorfeld schafft der Theatermacher in Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal den
sicheren und verlässlichen Rahmen, innerhalb dessen der Patient seinen eigenen Weg finden
und seine Spielhandlungen ausprobieren kann. Dazu gehören vor allem ein geeigneter
Spielraum, eine feste Spielzeit und einfache Spielregeln. Das praktische Tun geschieht
parallel auf zwei ‚Spiel-Feldern’ welche den zwei Bewegungsrichtungen des Spieltriebs
entsprechen. Auf dem ersten Feld richtet sich der Spieltrieb auf den Spielenden selbst, auf
seinen Körper und seine Wahrnehmung. „In der Arbeit mit schizophrenen Patienten ist die
Bewegung als Basiselement der Therapie von entscheidender Bedeutung. Hier können sie
lernen, ihre eigene Körperlichkeit als Basis ihrer Identität zu erfahren“ (Junker und
Cimmermans 2002, S.178). Auf dem zweiten Feld richtet er sich auf die Mitspielenden, auf
die allmähliche Annäherung an alltägliche Situationen und auf die Aussenwelt.
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Das Tun auf dem ersten Feld geschieht auf der prä-expressiven Ebene. Es richtet sich nicht
aus auf die Intentionen, Gefühle und Identifikationen der Spielenden, also nicht auf das was
man im Theater Psycho-Technik nennt und was zur Ausbildung des Schauspielers gehört. Das
Tun auf der prä-expressiven Ebene kümmert sich darum, wie die Energie des Spielers im
Spiel lebendig werden kann und was er tun muss um in Bewegung zu kommen und eine
lebendige Präsenz im Spiel zu erreichen. Das Ziel ist die Lebendigkeit der Spielhandlung und
nicht ihr Inhalt oder ihre Bedeutung. „The pre-expressive level {...} is therefore an operatic
level, {...} a pragmatic category, a praxis, the aim of which, during the process ist to
strengthen the performer’s scenic bios“ (Barba und Savarese 1991, S.188). Das Tun beginnt
mit einfachen Uebungen zur Entdeckung der inkulturierten Körpertechniken und den Formen
der eignen Wahrnehmung. („Anthropologists define as inculturation the process of passive
sensory-motor absorption of the daily behaviour of a given culture“ (ebd., S. 190). Es setzt
einen Prozess in Gang, der die sinnliche Wahrnehmung nach innen wie nach aussen
spielerisch bewusst macht. Einfachste physische Tätigkeiten, die üblicherweise unbewusst
ablaufen wie zum Beispiel das Gehen gewinnen Gestalt und Form durch die Setzung und
Wahrnehmung bestimmter Qualitäten wie zum Beispiel die von Rhythmus oder
Gleichgewicht. Die Spielformen führen allmählich zu einer neuen Selbstwahrnehmung und
damit einer neuen Wahrnehmung der Umwelt. Die Arbeit ist vor allem individuell, der
Patient-Spieler arbeitet allein, auch wenn er den Raum mit den Mitspielern teilt. Hat der
Spieler sein Thema und seine Form einer Spielhandlung gefunden, kann er den Mitspielern
Kontakt anbieten ohne sich oder sie zu forcieren. In den ersten einfachen Spielen mit Partnern
werden vor allem Vertrauen, Verlässlichkeit und Aufmerksamkeit nach innen wie nach
aussen aufgebaut. Der Spieler beginnt Abläufe, die er bisher als unverrückbar feste
Gegebenheiten und geradezu als Ausdruck seiner Identität gesehen hat, spielerisch in kleinen
Details zu verändern. Ein Prozess der Veränderung kommt in Gang.
Das Tun auf dem zweiten Feld richtet sich aus auf die Interaktionen in der Gruppe und setzt
Spiele des ‚als-ob’ in Gang. Die Spielziele sind nicht wie beim Schauspiel auf eine Wirkung
bei Zuschauern gerichtet sondern auf die Interaktionen mit den Mitspielenden, also auf ein
Geben und Nehmen, auf Impulse und Reaktionen und damit auf einen Austausch. Der
Spielleiter greift auf unterschiedliche Formen des interaktiven Theaters zurück, vor allem auf
die Methoden der Improvisation welche zentrale Fähigkeiten wie Spontaneität und
Kreativität, Offenheit anstatt Blockieren, Verantwortung übernehmen und Angebote machen
schult und als Medium für Veränderungen von Verhaltensweisen dient. In der Improvisation
können die Beteiligten Passivität und Lähmung überwinden und aktiv ihre Rollen verändern.
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Das ‚als-ob’ , das auf theatrale Effekte ausgerichtet beginnt, wird allmählich ‚unsichtbar’ in
dem Sinne, dass der Spielende die gespielten Rollenfiguren immer geschickter einsetzt
innerhalb einer Strategie der Kommunikation mit der Umwelt (vgl. Pfaff 2010). Der
Spielleiter muss sich bewusst sein, dass er nicht arbiträr eingreifen darf in die Rollenwahl der
Spielenden und ihnen die Rollen nicht als Autor auf den Leib zu schreiben versucht wie die
Maschine dem Verurteilten in Kafkas Strafkolonie. Beide Felder sind vielfältig verbunden
und allmählich erkennen die Spielenden die impliziten Beziehungen zwischen Körper,
Wahrnehmung und Handlung. Die kreativen Möglichkeiten der Spielanlage beruhen darauf,
dass diese ein geschütztes Feld des Probehandelns ermöglicht. Die Aufgabe des Spielleiters
ist es, die Kette von Spielhandlungen in Gang zu setzen und in Gang zu halten bis der Patient
die eigene Fähigkeit zum und die Freude am Spielen wieder entdeckt, wodurch allmählich
eine Art Selbstheilung in Gang kommt.
Die Pflegenden werden wahrnehmen wie das spielerische Tun allmählich das Alltagsleben in
der Klinik durchdringt. Jetzt wird es zentral wichtig dass die Pflegenden mitspielen, die
Veränderungen positiv unterstützen und den Patienten nicht aus eigener Gewohnheit in seine
alte Rolle zurück zwingen. Sie sollten dieses Wiedererwachen des Spieltriebes und die neuen
Farben im Verhalten des Patienten mit Zuneigung unterstützen. Damit werden sie ganz
natürlich zu Mitwissenden und indirekt zu Mitspielenden und damit zu einem Teil der
Spielgemeinschaft, in der die Patienten das Leben als Spiel und sich selber als Mitspieler
erfahren und sich damit in der realen Aussenwelt allmählich spielerisch re-integrieren können.
Literatur
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Ehrenberg A (2008) Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart.
Frankfurt a M: Suhrkamp.
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Marcuse H (1967) Der eindimensionale Mensch. Zürich: Ex Libris.
Junker J, Cimmermans G (2002) Dramatherapie in der Behandlung schizophrener Patienten.
In: Müller-Weith D et al. (Hrsg), Theater Therapie. Ein Handbuch. Paderborn:
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Pfaff W (1998) The Meeting. In: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur
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Winnicott D W (2005) Playing and Reality, London and New York: Routledge.
12
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