Theaterspielen im klinischen Setting Walter Pfaff 17.3.0 Zusammenfassung !"#$%&'()*+$*,")*#)-"#$.&**"-$,)*$(&/,$)-($(",#$"#01-2#"&/,$"#3&"("'$4"&$5"#$ 6'*"#(*7*+8'2$5"#$9"-4(*&'*"2#)*&1'$:1'$.&2#)'*"';$!&"("#$<#*&="-$8'*"#(8/,*>$ 3&"$5&"$5)4"&$"#)#4"&*"*"'$?"#0),#"'$3"&*"#$"'*3&/="-*$3"#5"'$=@''"'$07#$5&"$ <#4"&*$A&*$B(C/,&(/,$=#)'="'$."'(/,"'$&A$=-&'&(/,"'$9"**&'2;$D'$E7/=2#&00$)80$ 5&"$%&2"'(/,)0*"'$5"($9B&"-*#&"4"($F!"#"$%&'()*G$(/,-H2*$"#$B#)=*&(/,"$ ?"#0),#"'$:1#$8A$5&"$IH,&2="&*$5"#$J)*&"'*"'$+8A$9B&"-"'$+8$0@#5"#';$K"&A$ L,")*"#(B&"-"'$&'$5"#$M#8BB"$-"#'"'$5&"$J)*&"'*"'$5&"$"'*(*","'5"'$<=*&1'"'$ )-($=#")*&:"'$6A2)'2$A&*$5"'$<'01#5"#8'2"'$5"#$<8(("'3"-*$+8$:"#(*","';$ !8#/,$5)($N8()AA"'(B&"-"'$"'*(*",*$"&'"$&AA"#$#")-&(*&(/,"#"$8'5$0"&'"#"$ %&'(/,H*+8'2$5"#$J)#*'"#;$!&"$J)*&"'*"'$"'*5"/="'$5)(($(&"$5"'$?"#-)80$5"#$ O)'5-8'2$&'$&,#"A$9&''"$4"(*&AA"'$=@''"';$!)($=)''$&,#"$E"PD'*"2#)*&1'$&'$ 5&"$M"("--(/,)0*$"'*(/,"&5"'5$"#-"&/,*"#';$!"''$5&"$,&"#$:1#2"(*"--*"'$<'(H*+"$ 07#$"&'"$L,")*#1*,"#)B&"$07,#"'$5&"$10*$2"*#"''*"'$%-"A"'*"$5"($A"'(/,-&/,"'$ <8(5#8/=($3&"$9B#)/,">$L"Q*>$J)'*1A&A">$.8(&=>$9*&AA">$L)'+$8'5$K"3"28'2$ &'$(+)(,$9B&"-,)'5-8'2$+8()AA"';$$ 17.3.1 Einleitung Nachdem ich bis 1990 die Techniken der Schauspielkunst für das Spielen von sozialen Dramen auf der Bühne brauchte gehe ich seitdem der Frage nach, wie theatrale Verfahren im Alltag eingesetzt werden können, um die Handlungsfähigkeit von Menschen in schwierigen Situationen zu verbessern. Im Centre de Recherches Théâtrales im Burgund experimentierte ich mit Theatertechniken als Medium in interkulturellen Situationen und im Maxim Theater Zürich erprobte ich anschliessend deren Brauchbarkeit für die Selbstintegration von Migranten in die lokale Gesellschaft. Das Projekt Theaterspielen im klinischen Setting geht einen Schritt weiter und erforscht, wie theatrale Spielverfahren die Ressourcen von psychisch kranken Menschen vermehren und diese im gewünschten Rahmen wieder handlungsfähig machen können. Der Pilotversuch findet 2011 an der psychiatrischen Klinik Königsfelden mit 1 schizophrenen Langzeitpatienten statt. Dass ein Theatermacher sich zur Arbeit in die Psychiatrische Klinik begibt erscheint naheliegend weil erstens sein Wissen von den Formen des menschlichen Spiels den Benutzern der Klinik nützlich werden kann, was dieser Aufsatz zeigen möchte. Und zweitens, weil die extremen Ausdrucksformen des menschlichen Lebens das Theater seit jeher nähren, wie ein Blick auf die Themen der griechischen Tragödien zeigt. Die Situation des Theatermachers in der Klinik ist nicht so verschieden von der des Ethnologen in einer ihm fremd erscheinenden Kultur. Es gilt auch für ihn das Fremde zu verstehen in einer beständigen Pendelbewegung zwischen dem Fremden und dem Eigenen (vgl. Pfaff 1998, S. 97-121). Der Theatermacher muss sich dabei stets bewusst sein, dass er den Patienten Fragen stellt, die ihn auch selber betreffen und ihn irritieren können. Er sucht in der Begegnung mit den erkrankten Personen nach dem Kontrast zu seinem eigenen Leben, ein Kontrast aber der vielleicht nicht in allem so grundverschieden ist, dass er ihn nicht ansatzweise verstehen könnte. Als Theatermacher spürt er dass gerade in den Extremen das Wesen des menschlichen Lebens oft am klarsten erscheint. Wie es in der Klink wirklich aussieht lernt er aus der Perspektive der Benutzer die sie in Anspruch nehmen. Um die erkrankten Menschen als Subjekte wahrzunehmen muss er sich dafür öffnen, dass nicht nur er auf die Patienten, sondern die Patienten auch auf ihn wirken. Das Befremdende an ihnen löst Emotionen und Vorstellungen aus und diese sind mit Ausgangspunkte seines Verstehens. Bosse (1983) hat darauf hingewiesen, dass seine eigenen von Trieben und Wünschen geleiteten Verhaltensformen ihm leicht aus dem Blick geraten und dass seine Patienten dies spüren und aufgreifen. Die Psychiatriepflegerin F.H. hat mir zum Beispiel mitgeteilt, dass die Patienten ihre Ärzte und Pfleger in unbeobachteten Momenten umwerfend komisch nachspielen. 17.3.2 Ausgangslage Von 2008 bis 2010 führte ich unter dem Titel „Creating Belonging by Means of Performance“ im Auftrag des Schweizerischen Nationalfonds ein Forschungsprojekt durch, welches den Nachweis für die Produktivität des Einsatzes theatraler Mittel für die Selbst-Integration von Migranten erbrachte. Das Forschungsprojekt wies qualitativ nach, dass Migranten theatrale Techniken bei der Darstellung ihres Selbst als Rollen im Alltagsleben nutzten um Zugehörigkeit zu schaffen. Die Spieler entwarfen in der Sicherheit der Theaterproben diese Rollen im Hinblick auf kommende Interaktionen mit der lokalen Bevölkerung und übten sie ein mit dem Ziel, ihre Aufnahme in lokale soziale Gruppen zu erleichtern. Auf Grund einer 2 Anregung eines Arztes der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich fragte ich mich in der Folge, ob und auf welcher Grundlage die damals entwickelten Spielverfahren für eine Arbeit im klinischen Setting fruchtbar werden könnten. Dazu fasste ich Menschen in klinischer Behandlung auf als Individuen, denen die gesellschaftliche Integration nicht gelingt und nahm an, dass Spielverfahren, welche die Integration von Migranten erleichterten, auch für deren Re-Integration wirksam sein könnten. Verfahren zu entwickeln, welche Menschen in klinischer Betreuung die Selbst-Navigation mit Hilfe von Spielverfahren ermöglichen erscheint mir wichtig vor dem aktuellen Befund einer „raging epidemic of mental illness, at least judged by the increase in the number of treated for it“ (Angell 2011, S. 18-22). Gleichzeitig diskutieren aktuelle Publikationen die Problematik einer Behandlung mit Psychopharmaka. Whitaker (2011, S. 21) schreibt: „Prior to treatments, patients diagnosed with schizophrenia, depression, and other psychiatric disorders do not suffer from any known ‚chemical imbalances’. However, once a person is put on a psychiatric medication, which, in one manner or another, throws a wrench into the usual mechanics of a neuronal pathway, his or her brain begins to function....abnormally“. Vor diesem Hintergrund werde ich mit Menschen, welche in stationärer klinischer Betreuung sind, die Verfahren der spielerisch-theatralen Praxis weiter entwickeln, wie ich sie im MAXIM Theater erprobt hatte. Das Spielen soll ihnen die Navigation in schwierigen Umständen erleichtern und ihnen ermöglichen, die dabei entstehenden Handlungen als kreativen Umgang mit den Anforderungen der Umwelt zu verstehen. Ich möchte experimentell erkunden, ob theatrale Mittel, die für die Selbstintegration von ‚gesunden’ Menschen erfolgreich wirkten, auch von psychisch kranken Menschen nutzbar sind bei dem Versuch der Wiederherstellung ihrer Handlungsfähigkeit im gewünschten sozialen Rahmen. Das Experiment möchte erweisen, dass die Fähigkeit zu Spielen zu neuen Haltungen, neuem Wissen und neuen Lebens-Perspektiven führt. 17.3.3 Theater Als Theatermacher verstehe ich die Entwicklung einer speziellen Form des Theaterspielens für das klinische Setting als Schritt auf dem Weg einer Forschung welche die Möglichkeiten erkundet, die Mittel des Theaters in den Dienst sozialer Aufgaben zu stellen. Damit reagiert der Theatermacher auf das veränderte gesellschaftliche Umfeld einer performativen Gesellschaft (vgl. Schechner 1999), welches im Paradox Wir spielen so sehr Rollen im Leben dass es genügte mit Spielen aufzuhören um Theater zu machen Ausdruck findet. Der Begriff 3 ‚Theater’ ist in unserem Zusammenhang natürlich problematisch denn er ruft Vorstellungen hervor, welche dem hier unterliegenden Spielbegriff teilweise zuwiderlaufen. Wenn ich ihn trotzdem beibehalte dann weil er sofort das Element der Verkörperung hervorhebt und kompetitive oder aleatorische Formen wie Wettkampf (agon) und Glücksspiel ausschliesst. Es geht um play und nicht um game. Im Unterschied aber zu Theater steht erstens mit Marx mein Spielbegriff dem Begriff der Arbeit wie etwa in der ‚Arbeit des Schauspielers’ entgegen, denn wie dieser feststellt, „kann die Arbeit nicht Spiel werden“ (Marcuse 1967, S. 251) . Zweitens setzt der Theatermacher in der Klinik weniger auf den mimetischen und mehr auf den methetischen (gr. µ!"#$%& „Teilhabe“, auch „Teilnahme“) Charakter der Spielhandlung. Alle Anwesenden kreieren gemeinsam ein Spiel. Drittens führt der Theatermacher in der Klinik einen zentralen Paradigmawechsel im Verständnis von Theater herbei. Während wir unter Theater traditionell ein Setting vom Typus „Setz dich, ich erzähle Dir eine Geschichte“ verstehen, bezieht sich Theaterspielen hier auf ein interaktives Setting vom Typus „Steh auf, wir machen ein Spiel!“. Es schafft damit Ereignisse die weniger den Charakter einer Theateraufführung zeigen sondern mehr den eines Dromenon (drom-e-non von <gk. drae. to do, to act, to make, to accomplish) als einer Spielhandlung die gemeinsam durchgeführt wird. Viertens bezieht sich das Wort Theater auf Aufführungen, deren Wirkungsabsicht auf das Publikum abzielt, der Montagepunkt der Aktionen liegt im Kopf des Zuschauers. In unserem Fall aber liegt die Wirkungsabsicht bei den Spielenden selbst und der Montagepunkt entsprechend im Kopf des Spielenden. Das Theater braucht per definitionem Zuschauer, das Spiel (lt. ludus) aber kommt ohne Zuschauer aus. Der Theatermacher in der Klinik sucht also einen Weg, die Mittel des Theaters in Vereinbarung zu bringen mit einem nicht-theatralen, auf eine soziale Wirksamkeit bezogenen Zweck. Die Spielenden in der Klinik sind somit nicht Schauspieler sondern ganz einfach Menschen, die spielen. Dass gerade die Mittel des Theaters brauchbar erscheinen liegt darin, dass das Theater seit dem 19. Jahrhundert die Menschen im Alltagsleben beobachtet und daraus Spieltechniken entwickelt hat um das reale Leben auf der Bühne wahrheitsgetreu darzustellen. Der Theatermacher in der Klinik nutzt diesen Prozess und kehrt ihn um indem er fragt, wie die Techniken des Theaterspielens zu einem nutzbaren Werkzeug für das tägliche Leben werden können. Goffman (2010) hat umfassend gezeigt wie Menschen die möglichen Effekte von Spieltechniken im Alltag strategisch einsetzen um ihre Handlungsziele zu erreichen. Sie beginnen ihr Selbst als Rolle darzustellen und ihren Ausdruck auf situationsspezifische Kommunikationsziele hin theatral zu gestalten. 4 17.3.4 Spieltrieb „The natural thing is playing“ (Winnicott) Spielen ist eine universelle und nicht reduzierbare Fähigkeit des homo ludens (vgl. Huizinga 2009). Der Theatermacher in der Klinik postuliert, dass erst der Spieltrieb den anthropos physei zum zoòn politicòn macht und dass es die Instanz des Spieltriebs ist, welche das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen in all seinen Formen erschuf, sowohl auf der Makroebene der Gesellschaften wie auf der Mikro-Ebene der Individuen und ihrer Interaktionen. Gegenüber dieser hervorragenden Wichtigkeit des Spieltriebs haben ihm die Wissenschaften erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt und so ist er in der Tat eine Art weissen Flecks auf der Landkarte des menschlichen Wissens geblieben. Man muss bis zu Schillers 14. und 15. Brief über die ästhetische Erziehung zurückgehen, um ihn in seiner Bedeutung als das, was den Menschen überhaupt zum Menschen macht gewürdigt zu sehen: „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Schiller 1966, S. 238) Der Theatermacher in der Klinik erkennt also jede zwischenmenschliche Handlung als eine vom Spieltrieb mit gestaltete Form. Er hat damit im Spieltrieb ein sicheres Fundament und seinen stärksten Verbündeten. Wie aber erschafft der Spieltrieb die Möglichkeiten und Formen zwischenmenschlicher Handlungen? Der Anthropologe Victor Turner (1995, S.163165) hat mit einem überraschenden Blick auf die Anwendung des Begriffs Spiel in der Sprache der Technik einen entscheidenden Hinweis gegeben. Ein Kolben zum Beispiel hat und braucht Spiel im Zylinder. Die Lenkung des Autos hat zuviel Spiel. Spiel ist hier also gerade das was zwischen zwei fest fixierten Abläufen liegt und zwischen ihnen vermittelt, ihr Funktionieren gerade durch einen offenen freien Zwischenraum erst ermöglicht. Ohne Spiel würde der Kolben klemmen, die Lenkung überreagieren. Im englischen Wort Enter-tainment ist das noch sichtbar. Es kommt vom französischen entre-tenir: ‚dazwischen-halten’. Der Spieltrieb schafft also einen Zwischenraum zwischen von anderen Kräften beherrschten fixen Abläufen und diesen offenen, freien Zwischenraum nennen wir Spiel. Damit offenbart die technische Anwendung des Begriffes genau den Wert des ‚Dazwischen’ in menschlichen Handlungen, den der Theatermacher als Raum des Spielens in der Klinik nutzt. Dieser Raum liegt nicht ‚innen’, in der Welt der Träume, Halluzinationen und Phantasien noch ist er ‚aussen’, in der Welt der harten Fakten ausserhalb der eigenen Kontrolle. Der Kinderpsychiater und Psychoanalytiker Winnicott hat diesen Raum des Dazwischen treffend 5 einen ‚potentiellen Raum’ genannt und gesagt „Play is in fact neither a matter of inner psychic reality nor a matter of external reality“ (Winnicott 2005, S. 129). Gesellschaftliche Erfahrung als Spielerfahrung liegt somit zwischen dem Individuum und der Umgebung der Anderen. Es ist ein Raum zwischen der Erfahrung des existentiellen Getrennt-Seins (jeder stirbt allein) und der Erfahrung des unauflöslichen zwischenmenschlichen Verbunden-Seins als zoòn politicòn. Die Weisen des Oszillierens zwischen diesen Polen bestimmt das menschliche Sein vom ersten Schrei des Neugeborenen und die Analyse von deren Formen bildet die Grundlage der psychoanalytischen Praxis. Dieses Oszillieren wird vom Spieltrieb in Szene gesetzt und ist immer eine kreative Tätigkeit und Erfahrung in Raum und Zeit als der Grundform des Seins. In diesem Spielen bewegt sich das Individuum von der Abhängigkeit (des Kleinkindes etwa von der Mutter) zur Autonomie (vgl. Klein 2010). Spielen verbindet so Vergangenheit als kulturelle Erfahrung, Gegenwart als Ort des Handelns und Zukunft als Feld des gesellschaftlich Möglichen. Der Theatermacher nimmt die ungewohnten, weil vom Feld des ‚Normalen’ abweichenden Handlungsweisen der Patienten, die der behandelnde Arzt in unterschiedlichen Krankheitsbildern zu fassen sucht, mit seinem im Theater als dem Ritual des Spielens geschulten Blick zuerst und vor allem als eigenartige Ausformungen („Störungen“) der Tätigkeit des Spieltriebs wahr und sucht einen Weg, um dieser Tätigkeit ihren ursprünglichen Raum und ihre Bestimmung zurück zu geben und damit die Spielfähigkeit des Patienten zu reanimieren. Gelingt das ist sein eigentliches Ziel erreicht. Der Theatermacher in der Klinik sucht also nicht etwas Neues zu finden als vielmehr etwas sehr Altes wiederzufinden. Sein Vorteil liegt, könnte man sagen, in seinem rituellen Spezialistentum: er kennt Verfahren des Rückgriffs auf den unverwüstlichen und stets in der Verkörperung agierenden Spieltrieb, der viele Formen des menschlichen Ausdruckes prägt. Damit kommen die oft unglücklich getrennten Elemente des menschlichen Ausdrucks wie Sprache, Text, Pantomime, Musik, Stimme, Tanz und Bewegung in einer Spielhandlung zusammen. Der Theatermacher in der Klinik schafft dafür einen potentiellen Raum des Spiels, der allen Patienten offensteht, der keiner Zutrittsklauseln und Vorkenntnisse bedarf und in dem das Tun, das folgt aus dem Lustprinzip des Spieltriebes, allmählich Freude machen kann. 17.3.5 Störung des Spieltriebs Der Theatermacher in der Klinik kann nicht sagen wie es zur Störung der Tätigkeit des Spieltriebs kam, es ist die Aufgabe u.a. der politischen Philosophie, die Ursachen und Formen seiner Repression in den gesellschaftlichen Strukturen aufzuzeigen. Es scheint aber dass die 6 Mechanismen der Unterdrückung des Spieltriebs nicht bloss auf Ereignisse in der frühesten Phasen der menschlichen Entwicklung zurückzuführen sind, sie können in jeder Lebensphase wirksam werden. Aus dem bisher vom Spielen als einem Oszillieren zwischen zwei Polen Gesagten geht aber hervor, dass seine Qualität die der Bewegung ist und dem Begriff Spiel so die Adjektive leicht und wandelbar zugehören. Entsprechend erkennt der Theatermacher die Symptome der Störung des Spieltriebs in einer Hemmung dieser Bewegung, die sich physisch oder psychisch als Erstarrung, Verfestigung und Fixierung anzeigen. (Mögliche Ursachen dieser Störungen rühren vielleicht auch daher, dass der Mensch kaum noch psychische Schutzmechanismen gegenüber den immer aggressiveren Leistungsanforderungen einer spätmodernen Gesellschaft entwickeln kann und depressiv erkrankt (vgl. Ehrenberg 2008). Die Identitäten und die Zugehörigkeiten, welche die Tätigkeit des Spieltriebs erschafft und an die Bedingungen der Umwelt anpasst, scheinen sich durch den Druck der äusseren oder der inneren Welt in einer Form zu fixieren und zu verfestigen, welche den notwendigen Handlungsspielraum und damit die Selbstwahrnehmung des Betroffenen als autonomes Individuum behindert. Diesen Tendenzen der Erstarrung entgegenzuwirken heisst die dem Spieltrieb eigene Qualität der Bewegung wieder herzustellen. „The work done {by the therapist} is directed towards bringing the patient from a state of not being able to play into a state of beeing able to play“ (Winnicott 2005, S. 51). Wenn das menschliche Leben gesehen werden kann als ein Oszillieren zwischen der inneren und der äusseren Welt und wenn der Spieltrieb als das Prinzip dieser Bewegung und als Beziehung zwischen den zwei Polen erkannt ist, dann ist zu erwarten dass eine Störung des Spieltriebs und dessen Bewegung zum Bruch dieser Beziehung und damit zu einer Fixierung am dem einen oder dem anderen Pol führt. Dem scheint Winnicotts aus der psychiatrischen Praxis gewonnen Einsicht zu entsprechen, dass eine Existenz ohne Spielfähigkeit entweder zu einer Fixierung am Pol der äusseren Realität führt (‚compliance’), bei der die äussere Welt nur mehr erlebt wird als Gitter von Verhaltensmassregeln und Gesetzen, in das man sich unter Zwang einzufügen hat. Der Mensch ist so vollkommen in der äusseren, als objektiv gesehenen Realität gefangen dass er den Zugang zur inneren Welt der Phantasie und der Träume verloren hat. Damit einher geht ein Gefühl dass das Leben grau und wenig lebenswert ist (Depression). Am anderen Pol einer Fixierung in der Innenwelt wiederum bleibt für den Menschen das Gefühl für die Realität schwach und diese in einem gewissen Grad ein bloss subjektives Phänomen (Schizophrenie) (ebd. S. 87-89). Beide Störungen des Spieltriebs gehen einher mit dem Verlust des potentiellen Raumes und mit dem Verlust der Bewegung 7 welche zwischen dem innerem Leben und der äusserer Realität vermittelt und in welcher der Spielende sich als lebendige Einheit erfahren kann. 17.3.6 Theatermacher in der Klinik Der Theatermacher in der Klinik fragt nicht nach der Aetiologie der Beeinträchtigung der Spielfähigkeit, also nicht danach was bei einem bestimmten Individuum die Störung der Spielfähigkeit hervorgerufen hat, das ist die Aufgabe des behandelnden Arztes. Er arbeitet mit bestimmten aus der Theaterarbeit gewonnen pragmatischen Gesetzen. Pragmatische Gesetze sagen uns was zu tun ist, damit dieses oder jenes geschehen kann oder geschieht; sie sagen aber nicht warum das so geschieht (vgl. Grotowski 1991, S. 236). Der Theatermacher in der Klinik wendet sich also weniger dem zu was gespielt wird, er fragt nicht, was das Spiel ausgedrückt hat, sondern interessiert sich mehr dafür, was es in Gang bringt, wie es sich entwickelt, wohin es strebt und welche Formen in seiner unvorhersehbaren Entwicklung entstehen. Der Spieltrieb ist im Kind am reinsten ausgebildet, ein durch Repression gestörter Spieltrieb kann deshalb am besten aus seinem kindlichen und lustbetonten Wesen heraus reanimiert werden. Da der Spieltrieb dem Lustprinzip folgt muss der Patient zur Freude am Spiel verführt werden. Der Theatermacher folgt dazu einer via negativa die darin besteht Hindernisse aus dem Weg zu räumen, Verfestigungen aufzulösen und Blockaden aufzuheben. Die Erfahrungen im Forschungsprojekt „Creating Belonging“ haben gezeigt, dass der Spielverantwortliche kaum im Voraus wissen kann wie und was die Patienten im Spiel für sich suchen und finden. Dies ist erst durch längerfristige Beobachtung retrospektiv aufzudecken. Deshalb muss die jeweilige Spielanlage so gebaut sein, dass sie offen ist für die verschiedenen und sehr individuellen Wege der Spieler und dass jeder Spieler seinen Bedürfnissen und seiner Suche möglichst frei und ungehindert nachgehen kann. Der Spielleiter begleitet den Patienten-Spieler auf diesem Weg von einem Zustand, in dem er nicht spielen kann zu einem Zustand, in dem er die Freude am Spielen und dadurch eine ursprüngliche kreative Beziehung zur Welt wieder findet. Der Theatermacher wird das Geschehen so wenig als möglich verbal interpretieren sondern versuchen, dem Spieler die Möglichkeit zu geben sich auszudrücken, ohne dass der Weg über eine Bewusstwerdung durch Sprache führen muss. Er versucht, wie es Klein (2010, S. 109) vom Kunsttherapeuten fordert, Symptome indirekt anzugehen, die Abwehr zu respektieren und Widerstände spielerisch zu umgehen. So kann der Spielende als homo ludens sein Spiel intuitiv wahrnehmen als seine Verbundenheit mit dem universellen gesellschaftlichen Wesen des Menschen (zoòn politicon). Der Spieler begegnet seinen eigenen Schwierigkeiten in den 8 Schwierigkeiten, vor die ihn das Schöpferische des Spielens stellt. Dieses Schöpferische des Spielens kann gesehen werden als ein Prozess der Transformation (ebd., S. 44). Die Patienten-Spieler kreieren mit Hilfe der beruhigenden Distanz des potentiellen Raumes zur Innen- wie zur Aussenwelt und der Fiktionalität der Spielfigur (‚Nicht-Ich’) Spielhandlungen, in denen der intuitive Weg ihrer persönlichen Suche plötzlich kurz aufscheint. Der Theatermacher begleitet diesen Prozess diskret und versucht das Entstehen von zunehmend klaren Ausdrucksformen zu begünstigen. Diese werden das künstlerische Material abgeben, das die Patienten (wenn sie es wünschen) später der Gesellschaft im Wiederspielen zur Reflexion vorschlagen. Und wenn es am Anfang einzige Aufgabe des Theatermachers ist, den Spass am Spielen zu befördern so darf und soll er allmählich im Rahmen des individuell jeweils Möglichen Anforderungen an Form und Durchführung stellen, denn diese Herausforderung anzunehmen bereitet dem Patienten Freude durch neu gewonnenes Selbstvertrauen. Denn in der Gestaltung des Spiels drückt der Patient seinen aktiven Entschluss und Willen aus, sich nicht passiv seiner Krankheit als seinem Unglück zu ergeben. Er übernimmt Verantwortung für die Bewegung des Spiels und damit auch für die Mitspielenden. Das eigene Leben wird im fiktionalen Raum des Spiels in Bezug gesetzt zum realen Leben mit seinen unumgänglichen Konflikten und Beschwernissen, aber auch seinem kreativen, spielerisch-fröhlichen Potential. 17.3.7 Theaterspielen im klinischen Setting „Il est commode de pouvoir être chaos pour commencer“ Paul Klee Im Vorfeld schafft der Theatermacher in Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal den sicheren und verlässlichen Rahmen, innerhalb dessen der Patient seinen eigenen Weg finden und seine Spielhandlungen ausprobieren kann. Dazu gehören vor allem ein geeigneter Spielraum, eine feste Spielzeit und einfache Spielregeln. Das praktische Tun geschieht parallel auf zwei ‚Spiel-Feldern’ welche den zwei Bewegungsrichtungen des Spieltriebs entsprechen. Auf dem ersten Feld richtet sich der Spieltrieb auf den Spielenden selbst, auf seinen Körper und seine Wahrnehmung. „In der Arbeit mit schizophrenen Patienten ist die Bewegung als Basiselement der Therapie von entscheidender Bedeutung. Hier können sie lernen, ihre eigene Körperlichkeit als Basis ihrer Identität zu erfahren“ (Junker und Cimmermans 2002, S.178). Auf dem zweiten Feld richtet er sich auf die Mitspielenden, auf die allmähliche Annäherung an alltägliche Situationen und auf die Aussenwelt. 9 Das Tun auf dem ersten Feld geschieht auf der prä-expressiven Ebene. Es richtet sich nicht aus auf die Intentionen, Gefühle und Identifikationen der Spielenden, also nicht auf das was man im Theater Psycho-Technik nennt und was zur Ausbildung des Schauspielers gehört. Das Tun auf der prä-expressiven Ebene kümmert sich darum, wie die Energie des Spielers im Spiel lebendig werden kann und was er tun muss um in Bewegung zu kommen und eine lebendige Präsenz im Spiel zu erreichen. Das Ziel ist die Lebendigkeit der Spielhandlung und nicht ihr Inhalt oder ihre Bedeutung. „The pre-expressive level {...} is therefore an operatic level, {...} a pragmatic category, a praxis, the aim of which, during the process ist to strengthen the performer’s scenic bios“ (Barba und Savarese 1991, S.188). Das Tun beginnt mit einfachen Uebungen zur Entdeckung der inkulturierten Körpertechniken und den Formen der eignen Wahrnehmung. („Anthropologists define as inculturation the process of passive sensory-motor absorption of the daily behaviour of a given culture“ (ebd., S. 190). Es setzt einen Prozess in Gang, der die sinnliche Wahrnehmung nach innen wie nach aussen spielerisch bewusst macht. Einfachste physische Tätigkeiten, die üblicherweise unbewusst ablaufen wie zum Beispiel das Gehen gewinnen Gestalt und Form durch die Setzung und Wahrnehmung bestimmter Qualitäten wie zum Beispiel die von Rhythmus oder Gleichgewicht. Die Spielformen führen allmählich zu einer neuen Selbstwahrnehmung und damit einer neuen Wahrnehmung der Umwelt. Die Arbeit ist vor allem individuell, der Patient-Spieler arbeitet allein, auch wenn er den Raum mit den Mitspielern teilt. Hat der Spieler sein Thema und seine Form einer Spielhandlung gefunden, kann er den Mitspielern Kontakt anbieten ohne sich oder sie zu forcieren. In den ersten einfachen Spielen mit Partnern werden vor allem Vertrauen, Verlässlichkeit und Aufmerksamkeit nach innen wie nach aussen aufgebaut. Der Spieler beginnt Abläufe, die er bisher als unverrückbar feste Gegebenheiten und geradezu als Ausdruck seiner Identität gesehen hat, spielerisch in kleinen Details zu verändern. Ein Prozess der Veränderung kommt in Gang. Das Tun auf dem zweiten Feld richtet sich aus auf die Interaktionen in der Gruppe und setzt Spiele des ‚als-ob’ in Gang. Die Spielziele sind nicht wie beim Schauspiel auf eine Wirkung bei Zuschauern gerichtet sondern auf die Interaktionen mit den Mitspielenden, also auf ein Geben und Nehmen, auf Impulse und Reaktionen und damit auf einen Austausch. Der Spielleiter greift auf unterschiedliche Formen des interaktiven Theaters zurück, vor allem auf die Methoden der Improvisation welche zentrale Fähigkeiten wie Spontaneität und Kreativität, Offenheit anstatt Blockieren, Verantwortung übernehmen und Angebote machen schult und als Medium für Veränderungen von Verhaltensweisen dient. In der Improvisation können die Beteiligten Passivität und Lähmung überwinden und aktiv ihre Rollen verändern. 10 Das ‚als-ob’ , das auf theatrale Effekte ausgerichtet beginnt, wird allmählich ‚unsichtbar’ in dem Sinne, dass der Spielende die gespielten Rollenfiguren immer geschickter einsetzt innerhalb einer Strategie der Kommunikation mit der Umwelt (vgl. Pfaff 2010). Der Spielleiter muss sich bewusst sein, dass er nicht arbiträr eingreifen darf in die Rollenwahl der Spielenden und ihnen die Rollen nicht als Autor auf den Leib zu schreiben versucht wie die Maschine dem Verurteilten in Kafkas Strafkolonie. Beide Felder sind vielfältig verbunden und allmählich erkennen die Spielenden die impliziten Beziehungen zwischen Körper, Wahrnehmung und Handlung. Die kreativen Möglichkeiten der Spielanlage beruhen darauf, dass diese ein geschütztes Feld des Probehandelns ermöglicht. Die Aufgabe des Spielleiters ist es, die Kette von Spielhandlungen in Gang zu setzen und in Gang zu halten bis der Patient die eigene Fähigkeit zum und die Freude am Spielen wieder entdeckt, wodurch allmählich eine Art Selbstheilung in Gang kommt. Die Pflegenden werden wahrnehmen wie das spielerische Tun allmählich das Alltagsleben in der Klinik durchdringt. Jetzt wird es zentral wichtig dass die Pflegenden mitspielen, die Veränderungen positiv unterstützen und den Patienten nicht aus eigener Gewohnheit in seine alte Rolle zurück zwingen. Sie sollten dieses Wiedererwachen des Spieltriebes und die neuen Farben im Verhalten des Patienten mit Zuneigung unterstützen. Damit werden sie ganz natürlich zu Mitwissenden und indirekt zu Mitspielenden und damit zu einem Teil der Spielgemeinschaft, in der die Patienten das Leben als Spiel und sich selber als Mitspieler erfahren und sich damit in der realen Aussenwelt allmählich spielerisch re-integrieren können. Literatur Angell M (2011) The Epidemic of Mental Illness: Why? The New York Review of Books, June 23 Barba E und Savarese N (1991) The secret Art of the Performer. London: Routledge, S. 190 Bosse, H (1982) Die Chancen von Subkultur und Gegenkultur in der Dritten Welt, in: Das Fremde verstehen. Gespräche über Alltag, Normalität und Anormalität, Frankfurt a.M,: Qumran Verlag S. 75-77 Ehrenberg A (2008) Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a M: Suhrkamp. Goffman E (2010) Wir alle spielen Theater. München: Piper Verlag, 8. Aufl. Grotowski J (1991) Pragmatic Laws. In: Barba E und Savarese N, The secret Art of the Performer. London: Routledge. Huizinga J (2009) Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg: Rowohlt. 11 Klein J (2010) L’Art-Thérapie. Paris: Presses Universitaires de France, Septième édition. Marcuse H (1967) Der eindimensionale Mensch. Zürich: Ex Libris. Junker J, Cimmermans G (2002) Dramatherapie in der Behandlung schizophrener Patienten. In: Müller-Weith D et al. (Hrsg), Theater Therapie. Ein Handbuch. Paderborn: Junfermann. Pfaff W (1998) The Meeting. In: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft, 39. Jhg. Heft 2, S. 97-121. Pfaff (2010), Creating Belonging by Means of Performance. Abschlussbericht SNF/Dore, Institute for Cultural Studies in the Arts (www.homoludens.cc; downloads; letzter Zugriff 15. 12. 2011) Schechner R (1999) Believed-in Theatre. In: Caduff C und Pfaff-Czarnecka J (Hg.) Rituale heute. Theorien-Kontroversen-Entwürfe. Berlin: Reimer. Schiller F (1966) Ueber die ästhetische Erziehung, Schriften 4, Frankfurt: Insel. Turner V (1995) Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt: Fischer . Whitaker R (2011) Anatomy of an Epidemic: Magic Bullets, Psychiatric Drugs, and the Astonishing Rise of Mental Illness in America. Crown. Zitiert in Angell (2011, S. 21) Winnicott D W (2005) Playing and Reality, London and New York: Routledge. 12