MEDIZIN-REPORT Spätfolgen nach einer Krebsbehandlung im Kindesalter Irene Schmid Walther Stamm Mit den heute zur Verfügung stehenden Behandlungsstrategien können insgesamt etwa 60% aller an Krebs erkrankten Kinder geheilt werden. Im Jahr 2010 wird somit einer von 250 Menschen im Alter von dann 15 bis 45 Jahren ein Überlebender nach einer Krebserkrankung im Kindesalter sein. Den meisten wird man nicht anmerken, dass sie einmal eine schwere Erkrankung durchgemacht haben. Sie sind in der Gesellschaft integriert, haben ihren Beruf und gründen eine Familie. Aber wir alle sind uns bewusst, dass die meist intensiven Behandlungen (Operation, Chemotherapie, Bestrahlung) nicht nur akute Komplikationen hervorrufen können, sondern auch Spätschäden, die sich erst Jahre nach Abschluss der Behandlung zeigen. Im Folgenden soll Ihnen eine grobe Zusammenfassung gegeben werden, was auftreten kann und auf was geachtet werden sollte (ausgenommen sind Patienten nach Stammzelltransplantation). Diese Zusammenfassung soll Ihnen keine Angst machen, denn die meisten Spätfolgen können, wenn Sie rechtzeitig erkannt werden, gut behandelt werden. Welche regelmäßigen Untersuchungen für eine rechtzeitige Erkennung erforderlich sind und was beim Auftreten von Spätschäden getan werden kann, haben wir auf den folgenden Seiten für Sie zusammengestellt. Ganz sicher ist die Möglichkeit des Auftretens von Spätschäden kein Grund, die jetzt notwendige Intensiv-Therapie abzulehnen, denn Spätfolgen treten nach heutigem Kenntnisstand insgesamt eher selten auf. Die jetzt gegebene Intensivbehandlung ist aber erforderlich, damit Ihr Kind überhaupt überleben kann. HERZ Die Anthrazykline Doxorubicin (ADR, Adriblastin®), Daunorubicin (DNR, Daunoblastin®) und Idarubicin (IDR, Zavedos®) sind wichtige Medikamente in der Behandlung von kindlichen Krebserkrankungen, auf deren Einsatz nicht verzichtet werden kann. Aber diese Medikamente können Nebenwirkungen auf das Herz haben. Sie können den Herzmuskel schädigen und zu einem Herzmuskelversagen mit Ausweitung der Herzinnenräume (sogen. dilatative Kardiomyopathie) führen (s. Abb. 1A und 1B). Die Schädigung am Herz ist abhängig von der Gesamtdosis, die gegeben wurde, als auch von der Art, wie das Medikament gegeben wurde. Vor einigen Jahren noch wurde vermutet, dass Gesamtdosen von < 500 mg/m2 Körperoberfläche sicher seien. Inzwischen weiss man aber, dass auch niedrigere Gesamtdosen zu einer Schädigung des Herzens führen können. Eine Bestrahlung im Bereich des Herzens (z.B. Thymus/Mediastinalbestrahlung > 40 Gy) erhöht die Gefahr eines späteren Herzversagens, vor allem durch Schädigung der Herzkranzgefäße. Anthrazykline können auch zu Rhythmusstörungen führen. Abbildung 1 A: Die Herzfigur im Röntgenbild ist normal. Nach heutigem Stand kennt man keine „sichere“ Gesamtdosis der Anthrazykline. Man weiß, dass Kardiomyopathien (Herzmuskelversagen) bedingt durch Anthrazykline noch Jahre nach dem Einsatz auftreten können und dass die Therapiemöglichkeiten dann beschränkt sind. Risikogruppen scheinen besonders ehemalige Patienten der Osteosarkom-, Ewingsarkom- und Weichteilsarkomstudien zu sein. Bei Leukämien ist die Gefahr äußerst gering. Was tun? Bei Diagnose der malignen Erkrankung werden ein EKG und ein Echokardiogramm durchgeführt. Diese Untersuchungen werden je nach Einsatz der Anthrazykline in kürzeren oder längeren Abständen wiederholt. Es wird dann jeweils entschieden, ob Anthrazykline gegeben werden können. In der Nachsorge werden die Kontrollen je nach Primärerkrankung und damit je nach Gesamtdosis durchgeführt. Geheilte sollten darauf hingewiesen werden, dass noch nach vielen Jahren Probleme mit dem Herzen auftreten können, ohne jedoch allen lebenslange Herzuntersuchungen aufzwingen zu müssen. Abbildung 1 B: Die Herzfigur ist viel breiter und verstrichen, hinweisend auf eine Herzmuskelinsuffizienz. Die Diagnose „Kardiomyopathie“ wird mit Echokardiographie bewiesen. 6 MEDIZIN-REPORT Spätfolgen nach einer Krebsbehandlung im Kindesalter LUNGE Als Risikogruppe sind alle Patienten nach Bestrahlung des Mediastinums/Thymus und der Lunge anzusehen. Was tun? In der Nachbeobachtungszeit sollten bei diesen Kindern Lungenuntersuchungen durchgeführt werden, Lungenfunktionsuntersuchungen nur dann, wenn klinisch Auffälligkeiten vorhanden sind. Allerdings werden entsprechende Lungenveränderungen nur sehr selten beschrieben. GEHÖR Risikopatienten sind die Kinder, die Platinderivate erhalten (Cisplatin, Carboplatin), da diese Medikamente vor allem die äußeren Haarzellen des Innenohrs schädigen können. Der Hörschaden beginnt im oberen Frequenzbereich, d.h. in Bereichen, die außerhalb unseres Sprachbereiches liegen und somit nur mit speziellen Untersuchungen zu entdecken sind. Mit zunehmender Dosis erreicht die Schädigung tiefere Frequenzen nun auch des Hauptsprachbereiches. Achtung: Die Schädigung kann erst Jahre später auftreten und ist leider weitgehend irreversibel. Als besonders gefährdet sind Kinder, die eine Cisplatintherapie nach Schädelbestrahlung erhalten haben, anzusehen. Abbildung 2: Das Röntgenbild zeigt keine gerade, sondern eine verdrehte Wirbelsäule. Das nennt man Skoliose. Bei dem Patienten wurde im Kindesalter der gesamte Bauch mit einer hohen Dosis bestrahlt. Was tun? Während der Behandlung mit Cisplatinderivaten werden Hörtestungen (Audiometrie) beim HNO-Arzt durchgeführt (später: je nach individuellem Problem). ENDOKRINOLOGIE Durch eine Krebsbehandlung kann die Produktion unterschiedlicher Hormone kurzzeitig oder auch dauerhaft beeinträchtigt werden. Als Spätfolgen können dann Störungen in den Stoffwechsel- und Reifungsprozessen auftreten, die durch diese Hormone gesteuert werden: WACHSTUM: Abbildung 3: Während der Krebsbehandlung pausiert das Längenwachstum. Nach dem Ende der intensiven Chemotherapie kommt es jedoch zum Aufholwachstum, d.h. das Wachstumsdefizit wird wieder ausgeglichen. Das Wachstumshormon wird im Mittelhirn gebildet. Bei Kindern, die eine Schädelbestrahlung mit über 30 Gy erhalten haben (z.B. bei Kindern mit Hirntumoren), ist es möglich, dass das Wachstumshormon ganz ausfällt und das Kind somit nicht mehr wachsen kann. Chemotherapie allein führt zu keiner bleibenden Störung der Wachstumshormone. Eine Bestrahlung der Wirbelsäule kann zu einem verzögerten Rumpfwachstum führen oder bei einer einseitigen Bestrahlung zu einer Skoliose (d.h. Verdrehung) der Wirbelsäule (s. Abb. 2). Eine Wachstumskurve eines Patienten mit Wachstumshormonmangel. Man sieht, dass der Patient ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr gewachsen ist und aus seiner ursprünglichen Linie (Perzentile) herausfällt. Zur Erläuterung einer Wachstumskurve: Liegt die Körpergröße des Kindes z.B. auf der Linie 50, bedeutet das, dass das Kind, wenn man 100 Kinder mit genau dem gleichen Alter in einer Reihe aufstellt, mit seiner Körperlänge genau in der Mitte ist. Was tun? Einen Ausfall des Wachstumshormons erkennt man ganz einfach an der fehlenden Zunahme der Körpergröße in einer Wachstumskurve (siehe Abb. 3). Bei diesen Kindern müssen Hormontestungen durchgeführt werden und gegebenenfalls Wachstumshormon (frühestens 2 Jahre nach Ende der Therapie) gegeben werden. Ein Mangel an Wachstumshormon kann ein Hinweis sein, dass eine weitreichendere Störung des Hormonhaushaltes vorliegt. Es muss deswegen ebenfalls kontrolliert werden, ob nicht auch andere Hormone ausgefallen sind. Somit wird verständlich, dass Nachsorgeuntersuchungen bis zum Erreichen der Pubertät nötig sind. SCHILDDRÜSE: Bestrahlungen im Kopf-, Gesichts- und Thymusbereich können eine Schilddrüsenfunktionsstörung (Unterfunktion) auslösen. Was tun? Da eine solche Unterfunktion mit Schilddrüsenhormonen gut behandelbar ist, sind jährliche Schilddrüsenuntersuchungen angezeigt. 7 MEDIZIN-REPORT Spätfolgen nach einer Krebsbehandlung im Kindesalter FORTPFLANZUNG: Die Entwicklung der Psyche bzw. des Zentralnervensystems (neuropsychologische Entwicklung) nach überstandener Therapie ist äußerst vielfältig. Nach prophylaktischer Kopf-Bestrahlung einer akuten lymphatischen Leukämie, die zur Verhinderung eines Rezidives im Kopf durchgeführt wird, können nachweisbare Strukturänderungen im Gehirn gefunden werden (z.B. Nachweis per Kernspinuntersuchung) und neuropsychologische Störungen auftreten. Die Kopfbestrahlung bei akuter lymphatischer Leukämie (ALL) wird inzwischen jedoch nur noch bei wenigen Kindern durchgeführt und mit deutlich niedrigeren Dosen als früher (12/18 Gy jetzt gegen 24 Gy früher). Die Leistungen bestrahlter Patienten liegen häufiger unter denen der nicht bestrahlten Kinder. Es treten Schwächen der Sprache (verbale) aber auch von Denkleistungen (kognitive) und des Kurzzeitgedächtnisses auf, die durch Aufmerksamkeitsstörungen und geringere Konzentrationsfähigkeit verursacht sind. Bei geheilten ALL-Patienten waren in allen Untersuchungen geringe Beeinträchtigungen im Vergleich zu den Normalwerten nachzuweisen, ohne dass jedoch daraus gravierende Einschränkungen im Alltagsleben abzuleiten wären. Jedoch treten Strukturveränderungen im Zentralnervensystem (ZNS) und neuropsychologische Beeinträchtigungen auch nach hochdosiertem Methotrexat i.v. als ausschließliche ZNS-Prophylaxe auf. Eine Bauchbestrahlung kann die Eierstöcke oder Hoden direkt schädigen. Intensive Chemotherapie kann die Hoden auch bei Kindern, die noch nicht in der Pubertät sind, so verändern, dass im Erwachsenenalter Unfruchtbarkeit (Infertilität) auftreten kann. Was tun? Nach einer Chemotherapie muss bei Kindern die Pubertätsentwicklung verfolgt werden. Bei Auffälligkeiten sollte weitere Diagnostik erfolgen (bei Jungen ab dem 14. LJ, bei Mädchen ab dem 12 LJ). Infertilität kann bei Jungen nach Abschluss der Pubertät aber nur mithilfe eines Spermiogramms nachgewiesen werden. Hodengewebe reagiert insgesamt empfindlicher auf Therapie als die Eierstöcke, so dass Männer nach einer Krebstherapie häufiger infertil sind als Frauen. Somit sollte Jungen im Alter von z.B. 18 Jahren vorgeschlagen werden, ein Spermiogramm zu erstellen, um die Problematik einer eingeschränkten Zeugungsfähigkeit frühzeitig zu klären. Bei Mädchen sollte eine ausführliche Zyklusanamnese im 18. LJ erstellt und die Basaltemperatur für 1-3 Monate gemessen werden. Bisher gibt es keine erhöhte Rate an Missbildungen bei den Kindern ehemaliger Krebskinder nach Chemotherapie. Soweit keine Infertilität besteht, kann der Wunsch nach eigenen Kindern deswegen nur unterstützt werden. Besonders schwierig ist Kopf-Bestrahlung bei Kindern mit Gehirntumoren. Da das noch wachsende Gehirn besonders anfällig ist, sollten Kinder unter 4 Jahre nur im äußersten Notfall bestrahlt werden. Die Strahlendosis mit 56 Gy ist hoch und kann zu erheblichen intellektuellen, neurologischen und hormonellen (endokrinen) Funktionsstörungen führen. NIERE Bestrahlung der Niere, Platinderivate und Ifosfamid können zu Nierenfunktionsstörungen führen, die sich in einer veränderten Filterleistung zeigen. Die während einer Ifosfamid-Behandlung ausgelösten Veränderungen sind häufig reversibel. Eine klinisch nicht sichtbare Schädigung der Filterleistung der Niere (Tubulusschädigung) wird bei fast 40% der mit Ifosfamid behandelten Kinder gefunden. Bei sehr hoher Gesamtdosis von Ifosfamid (60 g/m2 Körperoberfläche) kann sich innerhalb von drei Jahren nach Behandlungsende eine schwere Tubulusschädigung entwickeln. Im Alltagsleben erreichen die allermeisten Patienten jedoch eine normale Lebensqualität. Was tun? Viele der oben genannten Spätfolgen können durch kognitive Fördermaßnahmen ausgeglichen werden. Nach Cisplatinbehandlung handelt es sich häufig um irreversible Veränderungen, deshalb wird während der Behandlung immer nach einer erhöhten Urinausscheidung von Phosphat, Natrium, etc. gefahndet. Durch Wässerung und den Einsatz von Mannit zur Förderung der Ausscheidung kann der Nierentoxizität von Platinderivaten vorgebeugt werden. Bei Auftreten einer Tubulopathie kommt es durch Verlust von Phosphat klinisch nach Jahren zu einer Wachstumshemmung, im Extremfall, falls lange unentdeckt, zu einer Verbiegung der Röhrenknochen, z.B. in Form von O-Beinen. ZWEITMALIGNOME Was tun? Das Auftreten ist erhöht in ehemaligen Bestrahlungsfeldern. Beispiele: Schilddrüsenkarzinome sind überproportional häufig, v.a. wenn eine Strahlentherapie in Schilddrüsennähe zur onkologischen Therapie gehörte. Nach intensiver Chemo- und Strahlentherapie bei Rhabdomyosarkomen und Ewing-Sarkomen treten Zweittumoren meist im Bereich des ehemaligen Strahlentherapiefeldes auf. Aber auch Topoisomerase-II Hemmer (VP16) können sekundäre Leukämien mitverursachen. Sicherlich begünstigt auch eine genetische Disposition (Neigung) eine Zweiterkrankung. Durch die verbesserten Behandlungsmöglichkeiten und Gesamtüberleben der Kinder ist das Auftreten von erneuten Krebserkrankungen (Zweitmalignomen), die mit der primären Diagnose zunächst nichts zu tun haben, zu einem Problem geworden. Diese Zweiterkrankungen können bereits kurz nach Beendigung der Primärbehandlung auftreten, aber auch erst viele Jahre später. Als Therapie muss der Patient unter anderem hohe Dosen Phosphat einnehmen. Entdeckt wird die Tubulopathie nur durch Urinuntersuchungen (am Besten im Sammelurin über einige Stunden) und Bestimmung der Elektrolyte im Urin und Blut. Treten während einer 3-jährigen Nachbeobachtungszeit keine tubulären Schädigungen auf, kann die regelmäßige Nierenkontrolluntersuchung abgeschlossen werden. NERVENSYSTEM Alle Daten zu Zweitmalignomen werden im Kinder-Krebsregister in Mainz gesammelt. In ersten Auswertungen konnte eine Inzidenz von 3% (3 von 100 ehemals krebserkrankten Kindern) ermittelt werden. Mit einer Schädigung von Nerven außerhalb des Kopfes (periphere Nervenschädigung) als Spätfolge ist nicht zu rechnen. Die bekannte Neuropathie nach Vincristin ist reversibel. 8 MEDIZIN-REPORT Spätfolgen nach einer Krebsbehandlung im Kindesalter ZUSAMMENFASSUNG: Je nach Grunderkrankung und Therapie werden in den einzelnen Therapieprotokollen Ratschläge über die Nachsorge nach intensiver Therapie gegeben (siehe Tabelle 1). Aber das Vorgehen bei der Nachsorge des einzelnen Patienten hängt entscheidend von der individuellen Krankengeschichte ab. Zur Erfassung der Spätfolgen sollen zuerst Basisuntersuchungen als grobe Orientierung eingesetzt werden (siehe Tabelle 2). Falls sich hier Auffälligkeiten ergeben, wird das Programm erweitert. Auch über den zeitlichen Verlauf und die Abstände der Untersuchungen entscheidet der behandelnde Arzt mit Berücksichtigung der individuellen Krankengeschichte. Mit dieser Vorgehensweise können eventuelle Spätfolgen rechtzeitig erkannt werden, ohne den Patienten ein unzumutbares Untersuchungsprogramm aufzubürden. Nach einer 5-jährigen Nachbeobachtungszeit können die vorgeschlagenen Kontrolluntersuchungen reduziert werden, mit Ausnahme der endokrinologischen Untersuchungen, die bis zur Pubertät durchgeführt werden sollen. Insgesamt sollte im weiteren Verlauf vor allem auf Veränderungen der Herzleistung und Zweittumorerkrankungen geachtet werden. Tabelle 1: Mögliche Spätfolgen nach onkologischer Therapie Die Wahrscheinlichkeit wird wie folgt bewertet: + bekannt, (+) möglich und - eher unwahrscheinlich. Aus: „Empfehlungen zur Erfassung von Spätfolgen, Konsensuspapier der GPOH“ von Beck JD, et al. Klin Pädiatr 307(1995): 186-192. Tabelle 2: Basisuntersuchungen 9