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Ockham und der Universalienstreit – Hintergrund-Paper
1. Allgemeines
Ein gewisses Problem, zu erklären, worum es beim sogenannten Universalienstreit geht, ist,
daß man diesen Streit nur schwer beschreiben kann, ohne dazu Position zu beziehen. Ein
Problem, ausgerechnet anhand von Texten Ockhams den Universalienstreit einzuführen, ist,
daß Ockhams Texte bereits eine späte (und sehr technische) Entwicklungsstufe der
Diskussion darstellen und daß Ockhams Position nicht völlig klar ist. Es kann also nur um
einen groben Eindruck von der Debatte gehen, nicht etwa um eine abschließende Würdigung.
Der Universalienstreit ist der Streit um den Status von Universalien. Doch was sind
Universalien? Nun, wörtlich: „Allgemeinheiten“ oder „Allgemeines“. Und was ist mit
„allgemein“ gemeint? Tja, da scheiden sich die Geister schon. Einig sind sich jedenfalls alle
darin, daß es Wörter gibt, die auf mehr als einen Gegenstand zutreffen können. Dazu gehören
die meisten Adjektive, philosophisch so relevante wie „gut“ oder „schön“ ebenso wie die
Farbwörter „rot“ etc. Aber auch Substantive wie „Mensch“ (in der Phrase „ist ein Mensch“)
gehören zu dieser Art Wörter. Man mag diese Wörter, weil man eben irgendein Etikett
braucht, Allgemein-Wörter oder generelle Terme nennen – noch ohne zu behaupten, daß diese
Wörter selbst etwas Allgemeines sind. Von diesem Blickwinkel her betrachtet geht es beim
Universalienstreit um eine Art Metaphysik der Grammatik: Wie läßt sich die Funktionsweise
von generellen Termen philosophisch befriedigend erklären?
2. Positionen
2.1. Universalienrealismus
Der kleinste gemeinsame Nenner des Universalienrealismus ist: Es gibt Allgemeines auf
seiten der Dinge.
2.1.1. Starker Universalienrealismus - Platon (427-347v.Chr.)
Die älteste Theorie zum Universalienstreit (der damals natürlich noch nicht so hieß) ist auch
eine der radikalsten: Platons Ideenlehre. Etwas verkürzt gesagt steht ein genereller Term nach
dieser Theorie ebenso für genau einen Gegenstand wie ein Name für genau einen Gegenstand
steht. Nur ist der Gegenstand ein anderer als im Falle des Namens: es ist eine platonische
Idee. Daß der generelle Term auf den Träger des Namens zutrifft, hat seine Entsprechung
darin, daß dieser an der Idee teilnimmt, für die der generelle Term steht. Mehrere
raumzeitliche Objekte können dabei an derselben Idee in vollem Maße teilnehmen, weil Ideen
selbst nicht raumzeitlich sind. Nichtsdestotrotz sind sie in höchstem Maße selbständig und
real. Sie sind allgemeine Gegenstände, die getrennt von den raumzeitlichen Gegenständen
existieren. Näheres zu dieser Position und Belege finden sich in meinem Vortrag zum
Höhlengleichnis auf dieser website.
2.1.2. Gemäßigter Universalienrealismus – Aristoteles (384-322 v.Chr.)
Ein genereller Term steht für etwas auf seiten der Dinge, allerdings nicht für ein selbständiges
Ding, sondern für eine in den Dingen realisierte „Form“ oder tatsächlich in den Dingen
vorhandene Eigenschaft, die diese tatsächlich gemeinsam haben (Slogan: universalia in
rebus). Prominentester und erster Vertreter dieser Position ist Aristoteles. Seine Äußerungen
dazu in den sog. Substanzbüchern der „Metaphysik“ gehören zu den schwierigsten und
unklarsten Texten der Philosophiegeschichte. In der Tat ist der gemäßigte
Universalienrealismus sehr schwer zu formulieren (wie kann eine Form die Form vieler Dinge
sein?) Literatur: Christof Rapp (Hg.), Aristoteles, Metaphysik, Die Substanzbücher (Reihe:
Klassiker auslegen), Berlin, Akademie-Verlag, 1996.
2.1.3. Vermittelnde Position in der Spätantike – Boethius (480-524)
In der Spätantike macht Boethius m.E. einen wenig beachteten, aber interessanten
Vermittlungsversuch innerhalb des realistischen Lagers: Das Universale existiert verstreut in
den Dingen, wird aber durch den Geist abstrahierend als Eines zusammengefaßt und damit so
aufgefaßt, wie es ihm eigentlich angemessen ist. Literatur: vgl. die Seite zum Hauptseminar
Universalienstreit Jansen / Strobach.
2.2. Nominalismus
Der kleinste gemeinsame Nenner des Nominalismus ist: Es gibt nichts Allgemeines auf seiten
der Dinge. Es gibt nur Einzelnes. Diese sind aber in gewissen Hinsichten einander ähnlich.
Dies gibt Anlaß, sie unter generelle Terme einzuordnen. Allgemein sind einzig gewisse
Komponenten der Sprache oder des Denkens.
Es hat im Mittelalter auch Universalienrealisten gegeben. Der Nominalismus ist aber in seinen
verschiedenen Varianten der eigentlich interessante mittelalterliche Beitrag zum
Universalienstreit.
2.2.1. Radikaler Nominalismus in der frühen Philosophie des Mittelalters
– der sagenhafte Roscelin
Extreme Nominalisten sind extrem schwer zu finden. Durch die gängigen
Zusammenfassungen geistert als typischer und einziger Vertreter des extremen Nominalismus
im 11. Jahrhundert ein gewisser Roscelin de Compiègne, der Lehrer des bedeutenden
Philosophen Petrus Abälard. Leider ist von Roscelin nur ein für seine Position nicht allzu
ergiebiger Brief an Abälard überliefert. Die Position Roscelins ist daher nur aus Textstellen
seiner eher universalienrealistisch eingestellten Gegner bekannt. Die bekannteste Stelle ist die
Erinnerung Anselms von Canterbury (1033- 1109) an Roscelin als einen der
...haeretici, qui non nisi flatum vocis putant esse universales substantias...
Häretiker, die meinten, die universalen Substanzen seien
nichts als ein Hauch der Stimme.
(Anselm von Canterbury, De incarnatione Verbi, 256A, nach Reiners, S.28)
Was ist unter diesem Vorwurf zu verstehen? Er ist bei Anselm formuliert vom Standpunkt
eines Autors aus, der von der Existenz universaler Substanzen ausgeht. Und von diesem
Standpunkt aus ist es natürlich absurd zu sagen, was substantiell existiert, sei nur ein
Worthauch. Was eigentlich gemeint ist, sieht man, wenn man nachvollzieht, daß die frühen
Nominalisten Aristoteles nominalistisch interpretiert haben. Das wird etwa bei Abälard
deutlich, obwohl er seinen Lehrer hier als zu extrem kritisiert (Lieber divisionum 471, nach
Reiners, S.38): Genera und Spezies, als Paradebeispiele für Universalien, sind (z.B. laut
Cat.5) nach Aristoteles etwas, was von Einzeldingen ausgesagt wird. Mit etwas, was
ausgesagt wird, können nur Worte gemeint sein. Also sind Genera und Spezies bloße Worte.
Anders ausgedrückt: Es gibt keine Genera und Spezies; es gibt nur Genus-Wörter und
Spezies-Wörter (Vgl. auch Reiners Kap.3, besonders S.20f). Viel mehr ist über Roscelins
Position nicht zu ermitteln.
2.2.2. Betonung des zeichenhaften Rede (sermo) - Petrus Abälard (1079- 1142)
Im Gegensatz zu Roscelin sind von Abälard genügend Texte überliefert, um seine genaue
Position zu erkennen. Es ist zweifellos Nominalist im oben erläuterten Sinn. Er kritisiert
allerdings Roscelin als zu extrem, und es fragt sich, ob er daher selbst noch als extremer
Nominalist gelten kann. Abälard meint (ungefähr): Gesprochene Wörter als physikalische
Ereignisse (eben Luftschwingungen) können nicht allgemein sein; sie können nur im Rahmen
einer von Menschen per Konvention (institutio) eingeführten Sprache als sprachliche Zeichen
(sermones) allgemeine Bedeutung übernehmen. Abälard betont den Gebrauch von Wörtern im
Rahmen eines Zeichensystems und kritisiert an Roscelin, daß sie dadurch mehr sind als bloß
vox: eben sermo. Neuerdings geht Hermann Weidemann soweit, Abälards Theorie an die
Theorie des späten Wittgenstein heranzurücken (vgl. seinen Beitrag in: Gerhard Leibold und
Winfried Löffler (Hg.), Entwicklungslinien mittelalterlicher Philosophie, Vorträge des 5.
Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie [Innsbruck, 1.-4.Februar 1998]
Teil 2, Wien (Hölder-Pichler-Tempsky), 1999).
2.2.3. Begriffe im Kopf – William von Ockham (ca.1286-ca.1349)
a) Essentials von Ockhams Position
Ockham argumentiert gegen jede Form des Universalienrealismus. Er selbst vertritt, daß
einzig im Geist existierende Begriffe (intentiones) allgemein sind und dies auch nur in dem
Sinn, daß sie als Zeichen für mehrere Dinge stehen können. Diese Position wird oft, da
Begriffe darin das einzig Allgemeine sind, Konzeptualismus genannt und manchmal vom
Nominalismus überhaupt abgegrenzt (was mir übertrieben zu sein scheint).
b) Das Ökonomieprinzip und das Allmachtsprinzip
Ockham tendiert aufgrund seines Ökonomieprinzips dazu, Denkakte mit den intentiones zu
identifizieren und eine Trennung zwischen Denkakt und unabhängig davon existierendem
Denkinhalt abzulehnen. Das Ökonomieprinzip bezieht sich auf Denkprinzipien und ist ein
wissenschaftstheoretisches Gebot: Man soll möglichst elegante Theorien bauen. Damit ist,
wie Ockham betont, nicht gesagt, daß Gott die Welt besonders elegant gebaut hat – im
Gegenteil: Ockham würde das als Einschränkung von Gottes Allmacht ansehen. Ist es für
Thomas v. Aquin klar, daß die Welt, weil sie von Gott geschaffen ist, schön geordnet ist
(ordo-Gedanke), so wäre dies in Ockhams Sichtweise eine unzulässige Beschränkung.
Ockham kann somit als erster Antirealist in der Wissenschaftstheorie gesehen werden: die
Wissenschaft soll elegante Theorien bauen, selbst wenn die Wirklichkeit komplizierter ist als
die Theorie; es geht nicht um Abbildung. Dieser Gedanke wird in jüngster Zeit von Bas v.
Fraassen stark gemacht (The Scientific Image, 1980).
c) Mentale Sprache
Ockham unterscheidet Begriff und materiales Zeichen für den Begriff (Sprachlaut oder Schrift
auf Papier). Und er meint, daß die Begriffe keiner speziellen Sprache angehören (diese
entsteht, wenn man vereinbart, gewisse Laute für gewisse Gedanken zu äußern, hat also etwas
mit der Lautebene zu tun). Begriffe sind vielmehr Komponenten einer universellen
Gedankensprache. Dieser Gedanke nimmt etwas von Freges Projekt einer „Begriffsschrift des
reinen Denkens“ vorweg und wird zur Zeit wieder von Autoren wie Noam Chomsky und
Jerry Fodor stark gemacht (Fodor nennt diese Sprache „Mentalese“).
d) Nominalismus im Detail
Ockham unterscheidet begriffliche Zeichen, die für extramentale Dinge stehen und
begriffliche Zeichen, die für begriffliche Zeichen stehen. So trifft der mit dem Wort „Spezies“
zum Ausdruck gebrachte Begriff auf Begriffe zu - und nicht etwa auf etwas in der
außermentalen Wirklichkeit.
Außerdem baut Ockham die zur Logik gehörende Suppositionslehre aus, die besagt, daß ein
sprachlicher Ausdruck im Satzzusammenhang verschiedene Rollen spielen kann. Damit kann
er ein notorisches Problem für den Nominalismus lösen: er kann Sätze wie „ ‚Mensch‘ ist eine
Spezies“ analysieren, ohne anzunehmen, daß es Spezies in der Wirklichkeit gibt.
e) Tropes
Ockham ist der Meinung, der Satz „Sokrates ist weiß“ sei genau dann wahr, wenn man auf
etwas wahrheitsgemäß mit den Worten „Dies ist Sokrates“ hinweisen kann und
wahrheitsgemäß auf dasselbe mit „Dies ist etwas Weißes“ hinweisen kann. Doch was heißt
hier „Etwas Weißes“? Außerdem definiert er als „weiß“ mit Hilfe des Abstraktum „Weiße“,
das für eine Qualität an einem Objekt steht (sowas gibts also). Wie kann er zugleich
konsequent nominalistisch behaupten, es gebe nur Einzelnes? Sind nicht Qualitäten etwas
Allgemeines? Dies legt die (z.B. von Hans Kraml geäußerte) Vermutung nahe, daß Ockham
eine frühe Form der zur Zeit heiß diskutierten Tropes-Theorie vertreten hat, die statt mit
allgemeinen mit konkreten Qualitäten („dieses spezielle Rot“ etc.) arbeitet. Zur „Tropes“Theorie vgl. die Aufsätze von Williams und Daly in Mellor / Oliver und das entsprechende
Kapitel bei Loux.
4. Literatur
Für Informationen zu Roscelin und Abälard sehr gut zu lesen und noch immer häufig zitiert:
Josef Reiners, Der Nominalismus in der Frühscholastik, Münster 1910 (Baeumker-Beiträge
Band 8, Heft 5).
Zu Abälard sehr lesenswert und mit zweisprachiger Aufbereitung der wesentlichen Texte aus
Logica Ingredientibus und Logica „Nostrorum sociorum petitioni“: Martin M. Tweedale,
Abailard on Universals, Amsterdam 1976.
Für eine systematische Einführung auf neuestem Stand (incl. Tropes) unschlagbar sind die
beiden Kapitel über Universalien in: Metaphysics (London 1998).
Ebenfalls sehr brauchbar (auch für Primärtexte zu den Tropes): Mellor / Oliver, Properties
Viele Texte in Übersetzung (u.a. Boethius) bietet: Wöhler, Der Universalienstreit, 2. Bde.
Die referierten Thesen Ockhams lassen sich bis auf das Allmachtsprinzip alle aus den im
Seminar gelesenen Ausschnitten aus der SL belegen. Ansonsten:
- Das zweisprachige Reclam-Heft Ockham, Texte zur Theorie der Wissenschaft und
Erkenntnis enthält brauchbare Überblicks-Erläuterungen von Ruedi Imbach.
- Sehr aufschlußreich finde ich die Passagen über Ockham im S/I, obwohl dort die Bedeutung
Ockhams merkwürdig tief gehängt wird.
- Biografisch sehr informativ, bestens belegt und gut zum Ökonomieprinzip, allerdings vom
Duktus her nicht restlos präzise ist: Jan P. Beckmann, Wilhelm von Ockham (Beck Reihe
„Große Denker“).
Mit einer gewissen Vorsicht zu genießen sind die klassischen englischen Übersetzungen und
Arbeiten des (sit venia verbo) Ockham-Papstes Ph. Boehner F.O.M., der m.E. Ockham schon
durch die Wortwahl in der Übersetzung bedenklich stark zum Proto-Empiristen macht.
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