Jahrbuch 2006/2007 | Bock, Ralph | Rekonstruktion der Genom-Evolution im Labor Rekonstruktion der Genom-Evolution im Labor Reconstruction of genome evolution in the laboratory Bock, Ralph Max-Planck-Institut für molekulare Pflanzenphysiologie, Potsdam-Golm Korrespondierender Autor E-Mail: [email protected] Zusammenfassung Tierische und pflanzliche Zellen besitzen nicht nur einen Zellkern, in dem das Erbgut lokalisiert ist, sondern darüber hinaus auch Zellorganellen, die gleichfalls Gene enthalten. Im Verlauf der Evolution w anderten zahlreiche Gene aus diesen Organellen in den Kern ein und mussten sich an ihre neue Umgebung anpassen, um funktionsfähig zu w erden. Durch neue Techniken und Selektionsverfahren ist es gelungen, diese Prozesse bei Pflanzen im Labor nachzuvollziehen und experimentell zu untersuchen. Summary The transfer of genes from organelles to the nucleus and the conversion of such prokaryotic genes into functional eukaryotic genes occur only on large evolutionary timescale and thus have escaped rigorous experimental analysis. The design of stringent selection schemes for gene transfer from the plastid to the plant’s nuclear genome has now made it possible to reproduce such extremely rare events in the laboratory. Pflanzenzellen besitzen insgesamt drei Genome: ein großes im Zellkern und zw ei deutlich kleinere in den Mitochondrien und Plastiden (Chloroplasten). Mitochondrien und Plastiden haben eine faszinierende Entstehungsgeschichte. Sie stammen von ursprünglich selbständigen Lebew esen ab, die vermutlich vor über einer Milliarde Jahren von einer so genannten präeukaryotischen (eukaryotisch = mit Zellkern) Vorläuferzelle verschluckt, aber nicht verdaut w urden: Zunächst w urde ein Proteobakterium von einer Einstülpung der Zellmembran umschlossen und schließlich vollständig in das Innere, das Protoplasma der präeukaryotischen W irtszelle aufgenommen. Die W irtszelle hat das verschluckte Proteobakterium dann kompromisslos versklavt: Das Bakterium verlor seine Unabhängigkeit, w urde zum Mitochondrium umfunktioniert und diente fortan seiner W irtszelle zur Energiegew innung durch Atmung. Diesen Zelltyp mit zw ei Genomen (im Zellkern und in den Mitochondrien) finden w ir heute in allen Tieren und Pilzen. Bei der Entstehung der Pflanzenzelle w iederholte sich die Versklavung eines Bakteriums, die auch als Endosymbiose bezeichnet w ird, ein w eiteres Mal (Abb.1). Nun w urde ein Cyanobakterium (eine Blaualge, die bereits zur Photosynthese befähigt w ar, also Lichtenergie in chemische Energie umw andeln konnte) aufgenommen und zum zw eiten Typ DNA-haltiger Zellorganellen, den Plastiden, umfunktioniert. Plastiden und Mitochondrien sind aufgrund dieser Entstehungsgeschichte von zw ei Membranen umschlossen: die äußere stammt von der W irtszelle, die innere vom aufgenommenen Bakterium. © 2007 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 1/6 Jahrbuch 2006/2007 | Bock, Ralph | Rekonstruktion der Genom-Evolution im Labor Entste hung de r P fla nze nze lle und ihre r DNA-ha ltige n O rga ne lle n, de r Mitochondrie n (rot) und C hloropla ste n (grün) Vorlä ufe r de r O rga ne lle n wa re n fre ile be nde Ba k te rie n, die von e ine r „Urze lle “ (=prä e uk a ryotische Ze lle ) um schlosse n wurde n. Auf die se W e ise sind a us so ge na nnte n P rote oba k te rie n die für die Atm ung zustä ndige n Mitochondrie n e ntsta nde n und a us C ya noba k te rie n (Bla ua lge n) die für die P hotosynthe se ve ra ntwortliche n C hloropla ste n. Die P fe ile inne rha lb de r Ze lle n ve rde utliche n R ichtung und Um fa ng de s Ge ntra nsfe rs zwische n de n Ge nom e n de r P fla nze nze lle : R ie sige Me nge n ge ne tische r Inform a tion wurde n im Ve rla uf de r Evolution a us de n P la stide n- und Mitochondrie nge nom e n in da s Ke rnge nom übe rtra ge n, k le ine re Me nge n a n Inform a tion a uch a us de n P la stide n in die Mitochondrie n sowie a us de m Ze llk e rn in die Mitochondrie n. © Ma x -P la nck -Institut für m ole k ula re P fla nze nphysiologie Nach der Endosymbiose erfolgte im Zuge der allmählichen Umw andlung der aufgenommenen Bakterien in Zellorganellen eine hochgradig komplexe genetische Umstrukturierung aller beteiligten Genome. Eine gew altige Menge an bakteriellen (prokaryotischen) Genen w urde im Verlauf der Evolution aus den Genomen der aufgenommenen Bakterien in das Kerngenom der W irtszelle transferiert (Abb. 1). Dies hat dazu geführt, dass die Organellengenome heute nur noch einige Dutzend Gene enthalten, obw ohl die Bakterien, aus denen sie hervorgegangen sind, vermutlich mindestens ein paar Tausend Gene besaßen [1, 2]. Indirekte Hinw eise auf diesen Gentransfer aus den Mitochondrien- und Plastidengenomen in das Kerngenom haben Sequenzähnlichkeiten zw ischen Kerngenen und Genen aus Proteobakterien bzw . Cyanobakterien geliefert. Auch gibt es einige Fälle von offensichtlich erst vor relativ kurzer Zeit transferierten Genen. Solche Gene liegen bei einigen Pflanzenarten noch in den Organellen vor, w ährend sie bei anderen Arten aber bereits im Kerngenom zu finden sind [2]. W ie kann ein Gen aus dem von zw ei Membranen umschlossenen Plastiden- oder Mitochondriengenom in das Kerngenom gelangen? Da die Übertragung tausender Gene aus den Organellen in den Kern offenbar in riesigen evolutionären Zeiträumen ablief und demzufolge niemand jemals ein solches Ereignis beobachten konnte, entzog sich diese Frage bislang einem experimentellen Zugang. Die Entw icklung neuer Technologien, die es erlauben, Plastidengenome höherer Pflanzen gentechnisch zu verändern [3, 4, 5], hat es in den letzten Jahren ermöglicht, w ichtige Schritte dieses evolutionären Prozesses im Labor nachzuvollziehen und die molekularen Grundlagen des Gentransfers zw ischen Organellen- und Kerngenomen zu analysieren. Gentransfer im Zeitraffer In einem Schlüsselexperiment zur Rekonstruktion des Gentransfers im Labor w urden Chloroplastengenome in der Modellpflanze Tabak gentechnisch verändert, indem zw ei zusätzliche Gene eingebracht w urden. W ährend eins der beiden Gene, aadA genannt, für das Chloroplastengenom maßgeschneidert ist durch seine bakterielle (prokaryotische) Genstruktur und eine Resistenz gegen das Antibiotikum Spectinomycin vermittelt, ist das zw eite Gen, nptII, für den Zellkern konstruiert w orden (eukaryotische Genstruktur) und verleiht den Pflanzen, im Kern platziert, eine Resistenz gegen das Antibiotikum Kanamycin (Abb.2). © 2007 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 2/6 Jahrbuch 2006/2007 | Bock, Ralph | Rekonstruktion der Genom-Evolution im Labor R e k onstruk tion de s Ge ntra nsfe rs a us de m C hloropla ste nge nom in da s Ke rnge nom Mitte ls C hloropla ste ntra nsform a tion we rde n zwe i Ge ne für Antibiotik a re siste nze n in da s P la stide nge nom von Ta ba k pfla nze n e inge fügt: e in Spe ctinom ycin-R e siste nzge n (a a dA), da s pla stidä re Ex pre ssionssigna le be sitzt (de n P la stide nprom otor P rrn und de n P la stide nte rm ina tor P psbA) sowie e in Ka na m ycin-R e siste nzge n (nptII), da s übe r nuk le ä re Ex pre ssionssigna le ve rfügt (P rom otor und Te rm ina tor de s 35S-Ge ns a us de m P fla nze nvirus C a MV). psa B, rps14, trnG und ycf9 sind be na chba rte Ge ne im P la stide nge nom . © Ma x -P la nck -Institut für m ole k ula re P fla nze nphysiologie Im Chloroplasten ist nptII dagegen nicht aktiv. Pflanzen mit transgenen Plastidengenomen sind demzufolge zw ar resistent gegen Spectinomycin, reagieren aber empfindlich auf Kanamycin. Wenn Zellen dieser Pflanzen in einem Gew ebekultursystem einer Selektion auf Kanamycinresistenz ausgesetzt w erden, so sollten nur solche Zelle überleben können, die das nptII-Gen aus dem Plastidengenom in das Kerngenom verschoben haben (Abb.3). Se le k tion a uf Ge ntra nsfe r a us de m C hloropla ste nge nom in da s Ke rnge nom Die e rze ugte n tra nspla stom ische n P fla nze n sind re siste nt ge ge n Spe ctinom ycin, a be r nicht ge ge n Ka na m ycin, da die nuk le ä re n Ex pre ssionssigna le im P la stide nge nom nicht a bge le se n we rde n k önne n. W e nn da s Ka na m ycin-R e siste nzge n je doch in de n Ze llk e rn springt, wird e s dort a bge le se n und e rla ubt W a chstum de r P fla nze nze lle n in Ge ge nwa rt von Ka na m ycin. © Ma x -P la nck -Institut für m ole k ula re P fla nze nphysiologie Mit dieser experimentellen Strategie gelang es in der Tat, Pflanzen zu selektieren, die das nptII-Gen in den Zellkern transferiert hatten [6]. Genetische und molekulare Untersuchungen bestätigten, dass das Gen im Kerngenom angekommen w ar: Die Kanamycinresistenz w urde nach den Mendel'schen Regeln vererbt (w ährend Chloroplastengene mütterlich vererbt w erden) und die DNA des nptII-Gens konnte im Genom des Zellkerns nachgew iesen w erden. Erstaunlich hoch w ar die Frequenz, mit der ein solcher Gentransfer aus dem Chloroplasten in den Zellkern detektiert w urde: In ungefähr einer von 5 Millionen Zellen w ar das nptII-Gen in den Zellkern gesprungen [6] (Abb.4). © 2007 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 3/6 Jahrbuch 2006/2007 | Bock, Ralph | Rekonstruktion der Genom-Evolution im Labor Se le k tion von Ge ntra nsfe r-Ere ignisse n in tra nspla stom ische n P fla nze n Be i Zuga be von Ka na m ycin zum Kulturm e dium e rsche ine n die k a na m ycinre siste nte n Ze lllinie n e ntwe de r a ls k le ine grüne Ze llha ufe n (sog. C a lli, rote r P fe il link s) ode r a ls re ge ne rie re nde Sprosse (re chts). Da s um ge be nde ble iche Ge we be stirbt a ufgrund se ine r Em pfindlichk e it ge ge n Ka na m ycin a b. © Ma x -P la nck -Institut für m ole k ula re P fla nze nphysiologie Worin bestehen die Konsequenzen einer solch hohen Rate an Gentransfer zw ischen den Organellen und dem Zellkern? Zum einen verändern die Befunde unser Verständnis von genetischer Homogenität innerhalb einer Art und innerhalb eines Organismus. Dies w ird offensichtlich, w enn man sich klarmacht, dass zum Beispiel ein Tabakblatt aus w esentlich mehr als fünf Millionen Zellen besteht. Die Zellen in ein und demselben Blatt einer Pflanze sind folglich nicht notw endigerw eise genetisch identisch, sondern können sich im Muster der in das Kerngenom transferierten Organellensequenzen unterscheiden. Eine w eitere interessante Konsequenz ergibt sich aus dem zufälligen Einbauort transferierter Organellengene im Kerngenom. Mit einer gew issen Wahrscheinlichkeit kann der Einbau in ein Gen des Kerngenoms erfolgen und dieses damit zerstören. Somit könnte der Transfer von Organellen-DNA in den Zellkern auch zum spontanen Auftreten von Mutationen (so genannten „somatischen Mutationen“) beitragen. Wie werden transferierte Gene aktiv? Die Übertragung eines Gens aus den Plastiden in den Kern führt zunächst nicht zu einem neuen funktionsfähigen Kerngen. W ie am Beispiel der beiden Resistenzgene aadA und nptII erläutert, liegt dies daran, dass sich Plastidengene und Kerngene fundamental in ihrer Struktur unterscheiden: Ein Plastidengen hat eine bakterielle (prokaryotische) Genstruktur und kann daher nicht im Zellkern funktionieren, w o die Gene eine eukaryotische Genstruktur aufw eisen. Im oben beschriebenen Schlüsselexperiment w urde dieses Problem umgangen, indem das nptII-Gen mit eukaryotischen Expressionssignalen (Promotor und Terminator; Abb. 2) versehen w urde und so direkt nach seinem Transfer aus dem Plastiden- in das Kerngenom aktiv sein konnte. Beim evolutionären Gentransfer w äre dies nicht der Fall: Das Gen w ürde im Zellkern ankommen und könnte nicht abgelesen w erden, d.h. nicht in eine Boten-RNA übersetzt w erden. W ie kann aus einem solchen inaktiven ehemaligen Chloroplastengen ein funktionsfähiges Kerngen w erden? Diese Frage w urde einer experimentellen Analyse zugänglich, als es gelang, Pflanzenlinien zu isolieren, die ein so großes Stück Plastiden-DNA in den Kern übertragen hatten, dass darauf nicht nur das KanamycinResistenzgen nptII, sondern auch das benachbarte Spectinomycin-Resistenzgen aadA lag (Abb. 2). Das aadAGen liefert nun genau das geeignete Untersuchungsobjekt: Es ist ein prokaryotisches Gen (mit einem Plastidenpromotor und -terminator) und ist im Zellkern nicht aktiv. Folglich sind die Gentransferpflanzen mit dem aadA-Gen im Zellkern empfindlich gegen das Antibiotikum Spectinomycin. In einem w eiteren groß angelegten Selektionsexperiment w urde nun untersucht, ob und w ie dieses inaktive aadA-Gen im Kern © 2007 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 4/6 Jahrbuch 2006/2007 | Bock, Ralph | Rekonstruktion der Genom-Evolution im Labor angelegten Selektionsexperiment w urde nun untersucht, ob und w ie dieses inaktive aadA-Gen im Kern funktionsfähig w erden kann. Dazu w urden Zellen einer Selektion auf spectinomycinhaltigem Kulturmedium ausgesetzt. Auf diese Weise gelang es tatsächlich, Pflanzen zu erhalten, in denen das aadA-Gen im Zellkern aktiv gew orden w ar [7]. Als nächstes galt es nun, die molekularen Mechanismen aufzuklären, die zur Aktivierung des aadA-Gens geführt hatten. Dabei stellte sich heraus, dass in allen acht selektierten Pflanzenlinien sehr ähnliche Vorgänge an der Genaktivierung beteiligt w aren. In allen Fällen w ar es dem aadA-Gen gelungen, durch relativ einfache Mutationen (sog. Deletionen), den Promotor des benachbarten Kerngens „einzufangen“ und nun für seine eigene Expression zu nutzen. Erstaunlicherw eise reichte dieser eine molekulare Umbau aus, um das Gen im Zellkern funktionsfähig zu machen. Ähnliche Veränderungen im Terminatorbereich des Gens w aren nicht nachw eisbar. Tatsächlich ergab eine Analyse der aadA Boten-RNA, dass der Plastidenterminator von der Genexpressionsmaschinerie des Zellkerns benutzt w erden konnte, obw ohl die molekularen Mechanismen zum Stoppen des Ablesevorgangs im Zellkern völlig anders sind als im Chloroplasten [7]. Diese Experimente haben erste Einsichten in die molekularen Prozesse geliefert, die die Genome der eukaryotischen Zelle seit ihrer Geburt vor mehr als einer Milliarde Jahren geformt haben. Mit neuen Methoden und gentechnischen Verfahren ist es nun möglich, diese Prozesse im Labor in einem Zeitraum von nur w enigen Jahren ablaufen zu lassen. Das eröffnet die aufregende Perspektive, Vorgänge, die normalerw eise nur in riesigen evolutionären Zeiträumen ablaufen, im Zeitraffer experimentell nachzuvollziehen und die zugrunde liegenden Mechanismen aufzuklären. Originalveröffentlichungen Nach Erw eiterungen suchenBilderw eiterungChanneltickerDateilisteHTML- Erw eiterungJobtickerKalendererw eiterungLinkerw eiterungMPG.PuRe-ReferenzMitarbeiter Editor)Personenerw eiterungPublikationserw eiterungTeaser (Employee mit BildTextblockerw eiterungVeranstaltungstickererw eiterungVideoerw eiterungVideolistenerw eiterungYouTubeErw eiterung [1] Kahlau, S., Aspinall, S., Gray, J. C. and Bock, R.: Sequence of the tomato chloroplast DNA and evolutionary comparison of Solanaceous plastid genomes. Journal of Molecular Evolution 63, 194-207 (2006). [2] Bock, R.: Extranuclear inheritance: Gene transfer out of plastids. Progress in Botany 67, 75-98 (2005). [3] Bock, R.: Plastid biotechnology: prospects for herbicide and insect resistance, metabolic engineering and molecular farming. Current Opinion in Biotechnology, in press. [4] Bock, R. and Khan, M. S.: Taming plastids for a green future. Trends in Biotechnology 22, 311-318 (2004). © 2007 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 5/6 Jahrbuch 2006/2007 | Bock, Ralph | Rekonstruktion der Genom-Evolution im Labor [5] Ruf, S., Hermann, M., Berger, I. J., Carrer, H. and Bock, R.: Stable genetic transformation of tomato plastids and expression of a foreign protein in fruit. Nature Biotechnology 19, 870-875 (2001). [6] Stegemann, S., Hartmann, S., Ruf, S. and Bock, R.: High-frequency gene transfer from the chloroplast genome to the nucleus. Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 100, 8828-8833 (2003). [7] Stegemann, S. and Bock, R.: Experimental reconstruction of functional gene transfer from the tobacco plastid genome to the nucleus. 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