Script zur Vorlesung Praktische Philosophie II: Angewandte Ethik Dozent: Prof. Nida-Rümelin 1. Sitzung - 18. 10.2011: Einführung in die Ethik aufgezeichnet von A. Hevelke Zum Ablauf der Klausur: Es wird 3-5 Fragen geben, Sie müssen eine davon in einem Essay beantworten. Dabei geht es weniger um die richtige Wiedergabe von Fakten, als um plausible Argumentationen gute Begründungen. Referenz zu behandelten Theorien/Kriterien Generelles zur Ethik 1. Einteilung der Philosophie (Einordnung des Begriffes der Ethik) Die Einteilung der Philosophie, wie sie im Groben bis heute üblich ist, geht auf die Stoa zurück. Ursprünglich wurde die gesamte Wissenschaft als Teil der Philosophie angesehen. Insofern fallen eine ganze Reihe von Teilgebieten, die ursprünglich zur Philosophie gehörten, inzwischen heraus. 1. Physik: Erforschung der Natur. Heute: Naturphilosophie (Die empirischen Naturwissenschaften haben sich von der Philosophie abgespalten) 2. Logik: Erforschung des Denkens - Regeln des korrekten Argumentierens (Die Logik gehört auch heute zu den Teilgebieten der Philosophie) 3. Ethik: Erforschung menschlicher Praxis Heute: Ethik, Politische Philosophie, Sozialphilosophie etc. (Die Ökonomie, Soziologie, etc haben sich heute als eigene Disziplinen ausserhalb der Philosophie entwickelt) Dem Begriff der Ethik kommt somit eine doppelte Bedeutung zu.1 Sie kann 1. als Überbegriff für die philosophische Erforschung menschlicher Praxis verwendet werden. Sie bezeichnet 2. aber auch einen einzelnen darunter fallenden philosophischen Teilbereich. Im Rahmen dieser Vorlesung wird »Ethik« in erster Linie in dieser 2. Bedeutung verwendet. 2. Subdisziplinen der Ethik - was wird jeweils thematisiert? Metaethik Die Disziplin der Ethik wird hier selbst zum Forschungsgegenstand Metaethik im engen Sinne: Sprachphilosophische Analysen moralischer Ausdrücke. Metaethik im weiteren Sinne: Zusätzlich auch Ethische Erkenntnistheorie & Ontologie 1 Zusätzlich haben einige Philosophen noch einmal abweichende Verwendungen des Begriffes, das spielt hier aber erst einmal keine Rolle 1 Beispielfragen: Gibt es moralische Tatsachen? Welche Bedeutung haben Prädikate wie „ist gut“, „ist schlecht“, „ist richtig“ oder „ist falsch“? Gibt es so etwas wie Werte in der Welt? Und wenn nicht, worauf beziehen wir uns dann? Theoretische Ethik Theoretische Ethik entwickelt Theorien richtiger Praxis. Hauptaufgaben ist hier Entwicklung und Systematisierung von Prinzipien bzw. Kriterien richtigen Handelns. Beispiel für ein Konzept der theoretischen Ethik: Utilitarismus Angewandte Ethik/ Bereichsethiken Ursprüngliches angedachtes Aufgabenfeld: Reine Anwendung der im Rahmen der theoretischen Ethik entworfenen Theorien. Problem: In der Praxis so nicht umsetzbar Beispiel: Medizinethik Seit Ende der 60er Jahre ist klar, das mit den neuen medizinischen Möglichkeiten auch neue ethische Probleme entstanden sind. Prominentes Beispiel: Eluana Englaro, die 17 Jahre lang im Wachkoma lag und am Leben erhalten wurde. Zur Lösung solcher Probleme sind in den USA Ethikkommissionen gegründet worden, die sich mit diesen Problemen auseinandersetzen sollten. Mitglieder waren behandelnde Ärzte, Juristen, und Ethiker (Philosophen) Es hat sich dabei herausgestellt, dass theoretische Ethiker massive Probleme dabei hatten, die jeweiligen Theorien auf praktische Fragen anzuwenden. Das galt für Utilitaristen ebenso, wie für Deontologen. (Der Utilitarist versucht Nutzensummen aufzurechnen, der Kantianer untersucht die Verallgemeinerbarkeit verschiedener Handlungsmaximen.) Fazit Stephen Toulmin: Die ethische Debatte hat sich in solche abstrakten Höhen hinaufgeschwungen, dass sie für die Praxis keinerlei Relevanz mehr hat.2 Im Rahmen der Ethikkommissionen wurde dann so vorgegangen, dass man nach Vergleichsfällen suchte, in denen die geteilten Intuitionen zum richtigen Vorgehen klarer waren, und dann Parallelen und Unterschiede untersucht wurden. Wichtige Erkenntnis für eine solche Vorgehensweise: Zum Teil sind unsere moralischen Intuitionen inkohärent. Dann müssen sie jeweils hinterfragt werden: welche sind stärker/klarer, etc. Moralische Urteile (well-considered moral judgements) bezüglich konkreter Handlungssituationen stehen dabei allgemeinen Prinzipien gegenüber. Der Ethiker versucht beide in ein Gleichgewicht zu bringen. Fazit => Wenn diese Analyse stimmt, dann ist der Begriff „angewandte Ethik“ eigentlich in die Irre führend: Wir wenden nicht einfach Theorien an. Insofern ist es sinnvoller, von Bereichsethiken zu sprechen. Medizinethik ist die Ethik der Medizin, nicht einfach nur die Anwendung der Theoretischen Ethik auf den Bereich der Medizin3 2 Siehe dazu: „good reasons approach“ Stephen E. Toulmin, The place of Reason in Ethics, University of Chicago Press, Chicago (1986) 2 Empirische Ethik Nach Abspaltung der empirischen Wissenschaften von der Philosophie wurde die Empirie eine Zeit lang völlig aus der Philosophie herausgehalten. Dies hat sich inzwischen wieder geändert. Ein Hauptfokus der Empirischen Ethik: Ethische Experimente. Sammlung intuitiver Urteile in Bezug auf verschiedene Szenarios: Beispiele für Szenarios: 1. Szenario: Gesetzentwurf zum Abschuss gekaperter Flugzeuge von Otto Schily. Gekippt vom Verfassungsgericht wegen Instrumentalisierung der Insassen; Begründung mit Menschenwürde, nicht mit Recht auf Leben. 2. Szenario: Der Sheriff. (nach Bernard Williams) Ist es legitim, einen Unschuldigen in einem Schauprozess hinzurichten, wenn dadurch Tote durch Schießereien (sagen wir 5/Monat) verhindert werden? 3. Szenario: die Organspende. Darf der Arzt einen leicht zu rettenden Bewusstlosen sterben lassen, um mit seinen Organen 5 andere zu retten? 4. Szenario: Der Eisenbahnwaggon. Ein Eisenbahnwaggon rast auf eine Menschenmenge zu, die auf den Gleisen steht. Wir können ihn umleiten, aber auf dem anderen Gleis steht auch jemand (ein Einzelner) Sollen wir ihn umleiten? Modifikation: wir müssten einen Einzelnen eigenhändig umbringen, um die Menge zu retten (etwa davorstoßen). Macht das einen Unterschied? Werden Menschen (grade Menschen unterschiedlicher Kulturkreise) mit diesen Szenarien konfrontiert, so beantworten sie diese zum Teil sehr unterschiedlich. Eine – inbesondere in der postmodernen Denkschule - verbreitete These zur Erklärung kulturspezifisch unterschiedlicher Beurteilungen lautet, »Subjekt«, »Zurechnung«, »Verantwortung« seien Erfindungen der Aufklärung oder zumindest nichts, was in jeder Kultur automatisch gegeben ist. (Bsp: das „glücklichste Volk der Erde“ in dem die Menschen nur im »Jetzt« leben.) Dagegen spricht: Auch wenn uns viele Bräuche sehr fremd erscheinen, basieren sie häufig auf durchaus bekannten Überlegungen. =>Parallele zwischen der Tötung von alten Menschen in Notzeiten und der Triage -Regelung für Militärärzten bei einem Massenanfall von Verletzten . (Man behandelt weder die sehr leicht, noch die sehr schwer verletzten.) Fazit: Jede Interpretation der gesammelte Daten muss begründet & hinterfragt werden => Auch die empirische Ethik ist nicht theoriefrei 3. Metaethik: Leitende Fragen/typische Fragestellungen 1. Gibt es moralische Tatsachen? Zum Begriff der Tatsachen: In der Welt gibt es Dinge und wenn wir Tatsachen feststellen, dann Stellen wir Relationen zwischen Dingen her. 3 Siehe dazu: Stephen E. Toulmin, How medicine saved the life of ethics. In: Joseph P. DeMarco, Richard M. Fox, New Directions in Ethics: The Challenge of Applied Ethics, Routledge, New York (1986) 3 Gemäß der sog. Abbildtheorie gibt es Dinge in der Welt, auf deren Ordnung wir in der Lage sind uns mit sprachlichen Ausdrücken zu beziehen. So entspricht etwa „Die Katze sitzt auf der Matte“ zwei Objekten in der Welt (Katze, Matte) die in einer bestimmten Relation zueinander stehen: R(K, M). Nach Wittgenstein sprechen wir im Falle wahrer Aussagen von einer Isomorphie (Gleichheit der Beziehungen/Struktur) von Welt und Sprache. Frage: Gibt es nun zwischen Aussagesätzen wie „Die Katze sitzt auf der Matte“ und „Unser Steuersystem ist ungerecht“ eine Analogie oder handelt es sich um zwei unterschiedliche, nicht vergleichbare Formen von Aussagen? I. Max Weber: Forderung nach Wertfreiheit der Wissenschaft Trennung von Tatsachen und Werten Werte und Tatsachen sind ihm zufolge zwei Sphären, die nichts miteinander zu tun haben. Die Sphäre der Werte ist der Wissenschaft nicht zugänglich. Wertfragen sind existenzielle Fragen, Fragen der persönlichen Entscheidung Werte haben im Rahmen der Wissenschaft nur zwei legitime Rollen: 1. Als epistemische (sich auf die wissenschaftliche Praxis beziehende) Werte. Diese sind für die Wissenschaft konstitutiv. (keine Fälschung von Daten, etc) Hier ist der Wert aber nicht Forschungsgegenstand 2. Im Rahmen der Sozialwissenschaften. Hier haben Werte Kulturbedeutung, weil sie ein Faktor menschlichen Handelns sind. Die Wissenschaft kann sich auf Werte aber nur im Sinne von empirisch aufteilbaren Üblichkeiten beziehen. => Forderung nach Wertfreiheit, Herausforderung an die Philosophie II. G.E. Moore: ethischer Intuitionismus Beschäftigung mit Ethik im Rahmen der analytische Philosophie - Principia Ethica4 (1903) Annahme 1: Es gibt Eigenschaften, die sind nicht analysierbar. So kann etwa die Eigenschaft der Farbe Gelb nicht bloß als bestimmtes Frequenzspektrum begriffen werden. Auch jeder weitere Versuch, eine genaue Definition für „gelb“ zu finden schlägt fehl. Annahme 2: Moore stellt eine Analogie her zwischen der Eigenschaft gelb und der Eigenschaft gut zu sein. Die Eigenschaft gut erklärt sich nach Moore von selbst, sie ist intuitiv einsehbar und nicht weiter analysierbar Was ist gut? Antwort Pluralistisch5: Wohlergehen, Freundschaft, Schönheit, etc. sind alle in sich gut. Erkannt wird dies rein durch Intuition => ethischer Intuitionismus: Das Freundschaft gut ist, ist ebenso klar, wie das die Tafel weiß ist) Fazit: Intuitionismus hat zwei Teile: 1. eine Theorie des Wertvollen (axiologisch) und 2. eine Theorie des Sollens (deotologisch) Man kann das, was man soll, konsequentialistisch 4 Die Principia Ethica gibt es als Reclam-Ausgabe: George E. Moore, Principia Ethica, Reclam, Ditzingen (1996) 5 im Gegensatz zu klassischen Utilitarismus 4 ableiten, aus dem was gut ist. Letzteres kann man intuitiv erkennen, ebenso wie die Existenz der Verbindung zwischen Wert und Sollen. => Für Moore ist Ethik und Empirie also in hohem Maße Analog zu verstehen, Intuitionismus kam dann in die Kritik. Denn warum weiß man, dass Freundschaft gut ist? So klar wie bei Farben ist das nicht, schließlich streiten wir uns ständig über Wertfragen. Parallele zu Farben müsste begründet werden, und das liefert der Intuitionismus nicht. Einschub: Argument des naturalistischen Fehlschlusses (nach Moore): Alle ethischen Theorien, die sich allein auf empirische Sachverhalte begründen, scheitern. Hauptargument: „open question Argument“: Die Tatsache, dass etwas der Fall ist begründet noch nicht, weshalb man etwas zu tun hat. Wenn etwa Gesetze der geschichtlichen Entwicklung gibt (Marxismus) ist nicht erkennbar, inwiefern sich daraus (und ohne zusätzliche moralische Annahmen) Handlungsanweisungen ergeben sollen. III. Ethischer Subjektivismus (Position 3) Grundthese: Ethik ist reines Produkt von Üblichkeiten und subjektiven Haltungen. Emotivismus (Radikalste Form): »Gut« in der Ethik ist wie »gut« beim Essen: Ein reiner Ausdruck der subjektiven Präferenz, Grammatik der Moralsprache führt uns hier schlicht in die Irre. (Etwa C.L. Stevenson) 5