Inhaltsverzeichnis Vorwort k 7 1. Kapitel Der junge Dichter in Rom k 9 2. Kapitel Gedichtbücher k 28 3. Kapitel Catulls lyrisches Ich k 51 4. Kapitel Weshalb ist es Dichtung? k 76 5. Kapitel Architektur der Dichtung k 105 6. Kapitel Lieder für mehrere Stimmen: Anspielungen, Intertext und Übersetzungen k 137 7. Kapitel Catull-Rezeption von der Antike bis zum 16. Jahrhundert k 167 Bibliographie k 193 Anmerkungen k 202 Anhang 1: Catulls Versmaße k 220 Anhang 2: Glossar metrischer und rhetorischer Begriffe k 220 6 Inhaltsverzeichnis Register k 221 Index der Gedichte Catulls k 223 1. Kapitel k Der junge Dichter in Rom Romae vivimus: illa domus, illa mihi sedes, illic mea carpitur aetas. (Catull, carmen 68.34–35) Catull ist der am einfachsten zugängliche der antiken Dichter. Seine Gedichte (selbst die langen) vermitteln eine emotionale Unmittelbarkeit und Eindringlichkeit, die beim Leser Sympathie wecken. Die Emotionen selbst – Liebe, Trauer, Freude, Hass, Verachtung – sind klar, direkt, leidenschaftlich und, wie wir gerne annehmen möchten, unseren eigenen sehr ähnlich. Sie sind nicht im Abstrakten angesiedelt, sondern in der realen, historischen Welt des spätrepublikanischen Rom. Dieses Rom, das für uns mit ein paar leichten, aber gut sitzenden Pinselstrichen lebendig gemacht wird, ist eine virtuelle literarische Figur in dieser Dichtung, mit seinen Politikern, Lebemännern (und -frauen), zwielichtigen Gestalten und Dichtern. Catulls Sprache scheint zumeist so klar und direkt wie seine Gefühle. Sein charakteristisches Versmaß, der Hendekasyllabus, wirkt entspannt, dialogorientiert und eingängig. Er ist (außerordentlich!) belesen und gelehrt, aber wenn man ihn zum ersten Mal liest, muss man nicht genauso gelehrt sein wie er, um auf sein Werk zu reagieren. Viele seiner Gedichte (carmina) sind mit weniger als 20 Versen recht kurz, so dass auch jemand, der nicht ganz so gut Latein kann, sie in einer einzelnen Sitzung zu bewältigen vermag. Dennoch trügt der Schein, was Catulls Zugänglichkeit betrifft. Er zieht uns so geschickt in seine Welt und seine emotionale Landschaft hinein, dass wir das Gefühl bekommen, ihn viel besser zu kennen, als wir es tatsächlich tun – ein wenig wie einen scheinbar offenherzigen Bekannten, den wir eine Zeitlang kennen und dann herausfinden, dass wir ihn gar nicht wirklich kennengelernt haben. Die emotionale Unmittelbarkeit und die realistischen Details in Catulls Gedichten können einen vergessen lassen, dass seine Dichtung (wie alle Dichtung) vor allem eines ist: Fiktion. Der Catull, dem wir in seinen Gedichten begegnen, ist bloß eine Figur, ein Charakter, den der Dichter Catull geschaffen hat, und wir können nie sicher sein, wo das 10 1. Kapitel eine aufhört und das andere beginnt. Wir werden uns mit diesem „lyrischen Ich“ Catulls in Kapitel 3 näher beschäftigen. In diesem Kapitel jedoch soll dargelegt werden, was wir über Catull, den Dichter, selbst in Erfahrung bringen können – den Urheber (nicht das Thema) seiner Dichtung, und über die Welt, in der er seine Gedichte verfasste. Fragmente einer Biographie Ein paar Details aus Catulls Leben werden in antiken Quellen beschrieben. Der Schriftsteller Hieronymus (4. Jahrhundert) erwähnt Catull zweimal in seinen Chronica, einer chronologischen Liste historischer Daten. Für das Jahr 87 v. Chr. schreibt er: „Gaius Valerius Catullus, der Lyriker, wird in Verona geboren“ (Chronica 150H) und für 58 v. Chr.: „Catullus stirbt in Rom im dreißigsten Jahr seines Lebens“ (Chronica 154H). Dennoch können Hieronymus’ Daten nicht richtig sein. Catull selbst erwähnt Ereignisse der Jahre 55 und 54 v. Chr.; er lebte auf jeden Fall noch im August 54, als sein Freund Calvus Vatinius anklagte (was er in carmen [ = c. 53] erwähnt). 1 Forscher akzeptieren in der Regel die Annahme, dass Catull im Alter von 29 oder 30 starb (vielleicht tat er dies tatsächlich, auch wenn jung zu sterben doch etwas sehr „Poetisches“ hat). Sie passen Hieronymus’ Chronologie entsprechend an und geben Catulls Lebensdaten mit 84–54 oder (öfter) 82–52 v. Chr. an. Dennoch ist Hieronymus’ Zeugnis wichtig, auch wenn seine Chronologie ungenau ist. Er liefert uns zumindest ungefähre Daten, identifiziert Catull als Lyriker (was oft umstritten ist, wie wir sehen werden) und siedelt ihn in Verona und Rom an, Orten, die in seinen Gedichten eine wichtige (wenn auch ganz unterschiedliche) Rolle spielen. Hieronymus entnahm seine Informationen über Catull wahrscheinlich einer sehr viel früheren Arbeit über das Leben von Literaten: de viris illustribus, das der Biograph Sueton etwa Anfang des 2. Jahrhunderts verfasste. Dieses Werk ist heute zwar verloren, aber in seiner Biographie über Iulius Caesar erwähnt Sueton ein anderes wichtiges biographisches Detail. Er verwendet folgende Anekdote über Catull, die demonstriert, wie sehr Caesar daran gelegen war, selbst äußerst berechtigten Ärger, der ihn betraf, aus der Welt zu schaffen: Valerius Catullus, der ihm dauerhafte Schande bereitet hatte durch seine Verse über Mamurra, bat [Caesar] um Entschuldigung, und er lud ihn noch am selben Tag zum Essen ein und genoss weiterhin die Gastfreundschaft seines Vaters, wie er es zuvor zu tun pflegte. (Iulius Caesar 73) Der junge Dichter in Rom 11 Catull schrieb zwei Gedichte, die Caesar und seinen Handlanger Mamurra angreifen (c. 29 und 57). 2 Sueton (und Caesar) könnten an beide Gedichte gedacht haben, aber carmen 57 ist besonders bösartig. Es beginnt folgendermaßen: Die schamlosen Schwuchteln passen sehr schön zusammen, die Tunte Mamurra und Caesar. (57.1–2) Die Geschichte bei Sueton ist ein wertvoller Hinweis auf den Grad der Verbreitung von Catulls Dichtung, denn die Verse auf Mamurra müssen sehr bekannt gewesen sein, wenn Caesar glaubte, dass sie ihm „dauerhafte Schande bereitet“ hatten. Die Geschichte ist zudem überraschend informativ, was Catulls Familie und seine soziale Stellung betrifft. Der wesentliche Punkt hierbei ist, dass die Valerii von Verona einen solchen Status und Reichtum genossen, dass sie als häufige Gastgeber eines so bedeutenden Mannes wie Caesar in Erscheinung treten konnten. Die Italiener verorten den Grundbesitz der Valerii seit der Renaissance in Sirmione (dem antiken Sirmio), auf einer wunderschönen Halbinsel im Gardasee in der Nähe von Verona gelegen. Dies geht zwar auf archäologische Funde zurück (die dort gefundenen Ruinen einer großen römischen Villa aus dem 1. Jahrhundert n. Chr.), aber mehr noch auf Catulls carmen 31, in dem er Sirmio seine Heimatstadt und sich selbst als ihren Meister (erus) bezeichnet. Die moderne Forschung stimmt dieser Sichtweise zu, und man nimmt an, dass die Stätte auch ein Jahrhundert nach Catulls Zeit noch im Familienbesitz war, als die Villa gebaut wurde. 3 Sueton sagt nicht, wann Catulls Entschuldigung und das Abendessen mit Caesar stattfanden, aber es muss mitten in der Zeit des Gallischen Krieges gewesen sein, Mitte der 50er Jahre, als Caesar oft in Gallia Cisalpina („Gallien diesseits der Alpen“, d. h. Norditalien) überwinterte. 4 In jedem Fall muss Catulls Vater (den der Dichter niemals erwähnt) zu dieser Zeit noch gelebt haben. Das berühmteste biographische Detail aber stammt aus Apuleius’ apologia (Mitte des 2. Jahrhunderts). Als Reaktion auf den Vorwurf, er verwende für die in seinen erotischen Gedichten besungenen Jungen Pseudonyme, sagt er: „Dann sollen sie ebenso gut Gaius Catullus anklagen, weil er den Namen ‚Lesbia‘ für Clodia verwendet hat“ (apologia 10). Apuleius’ Identifikation Lesbias setzt Catulls berühmteste Figur und die Gedichte über sie in einen bestimmten sozialen Kontext, denn Clodia war Mitglied einer der wichtigsten und ältesten Patrizierfamilien in Rom, der Claudii. Die Schreibweise ihres Namens (Clodia, nicht Claudia) verrät uns, dass sie die Schwester des berüchtigten Demagogen Publius Clodius Pulcher war, der die 12 1. Kapitel „populare“ Schreibweise seines Namens verwendete. Aber es ist nicht klar, welche seiner Schwestern sie war: 5 Clodius hatte drei Schwestern, die alle den Namen Clodia hatten, die weibliche Form ihres nomen. Wie die meisten aristokratischen Frauen wurden sie entweder durch den Genitiv des Namens ihres Ehemanns unterschieden oder durch eine Ordnungszahl entsprechend der Reihenfolge der Geburt der weiblichen Kinder (Prima, Secunda, Tertia etc.). Demnach hießen die Drei Clodia Metelli (Clodia, die Frau des Metellus), Clodia Luculli (Clodia, die Frau des Lucullus) und Clodia Tertia, die als dritte Tochter geboren wurde, aber dennoch nicht die jüngste der überlebenden Töchter war (das war Clodia Luculli). Allgemein identifiziert man Lesbia als Clodia Metelli, und zwar auf der Grundlage ihrer verleumderischen Darstellung durch Cicero in dessen Rede pro Caelio. Aber sie ist nicht die einzig mögliche Kandidatin. Über Clodia Tertia weiß man wenig, aber Clodia Luculli war mindestens ebenso lebensfroh und leichtlebig wie Clodia Metelli. Alle drei Schwestern, vor allem aber Clodia Metelli und Clodia Luculli, führten Gerüchten zufolge eine inzestuöse Beziehung mit ihrem Bruder Clodius. Dieser Vorwurf spiegelt sich in Catulls Beschimpfungen eines „Lesbius pulcer“ in carmen 79 wider: Lesbius ist schön. Wie auch nicht? Den mag Lesbia lieber als dich und deine ganz Familie, Catull. (79.1–2) Mit den Details aus Hieronymus, Sueton und Apuleius können wir Stück für Stück die Umrisse eines Dichterlebens zusammensetzen. Catull wurde in den 80er Jahren v. Chr. geboren und starb etwa 30 Jahre später. Er stammte aus einer reichen und wichtigen Familie in der Provinz, einem Gebiet, das erst vor kurzem unter römische Herrschaft gekommen war. (Die Siedlungen in Norditalien zwischen Alpen und Po waren 89 v. Chr. designierte latinische Kolonien, und ihre Bewohner, die man Transpadani nannte, „Menschen auf der anderen Seite des Po“, erhielten erst im Jahr 49 das allgemeine römische Bürgerrecht.) Er lebte eine Zeitlang in Rom und schrieb Gedichte an eine patrizische Frau (Clodia), der er das Pseudonym Lesbia gab. Er starb in Rom. Ein paar weitere biographische Details kann man den Gedichten selbst entnehmen. Catull teilt uns mit, dass er in Bithynien diente, in der cohors, dem Gefolge, des Memmius (c. 10 und 28). Er sagt auch, dass es ihm dort nicht gefiel. Da wir wissen, dass Memmius 57–56 Statthalter von Bithynien war, vermittelt uns Catull einen sicher datierbaren Zeitpunkt in seiner Biographie und seiner Lyrik: carmen 10 und 28 und die anderen Gedichte, die sich auf Bithynien beziehen (31 und 46), wurden 57/56 v. Chr. oder später Der junge Dichter in Rom 13 niedergeschrieben. Dass er Teil von Memmius’ cohors war, untermauert, was wir durch Sueton über seinen sozialen Status wissen, denn eine solche Position war jungen Männern mit exzellenten Beziehungen und einer politischen Perspektive vorbehalten. Teil der cohors eines Statthalters zu sein, war in Catulls Kreisen ebenso wenig ungewöhnlich wie desillusioniert nach Hause zurückzukehren. Catulls Freunde Veranius und Fabullus dienten in Pisos cohors in Spanien (c. 12, 28, 47), und sie scheinen ihre Erfahrungen dort genauso wenig genossen zu haben wie Catull die seinen. Ihre Unzufriedenheit, wie Catulls, war unter anderem finanzieller Natur: Sie hatten erwartet, Geld aus der Provinz zu ziehen, und dies gelang ihnen nicht. In carmen 10 bekommen wir einen Einblick in die Erwartungen und Frustrationen dieser jungen Männer (Catull berichtet über ein Gespräch mit seinem Freund Varus und dessen Freundin): Als wir dort waren, kam die Unterhaltung auf verschiedene Themen, unter anderem, wie die Lage in Bithynien sei, wie es dort zugehe und wie viel Geld es mir eingetragen hätte. Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass weder die Leute dort noch die Prätoren oder die Soldaten etwas verdienen, vor allem, wenn Letztere einen solchen Mistkerl zum Prätor haben, der sich um seine Leute nicht kümmert und sie ins Verderben reitet. (10.5–13) Catull spricht außerdem von einem Bruder (der ansonsten unbekannt ist), dessen Tod in Troja er in carmen 65, 68 und 101 beklagt. In dichterischer Hinsicht ist der Bruder nützlich und wichtig, denn er bietet einen starken emotionalen Gegenpol zu Lesbia, und er verkörpert die Anziehungskraft Veronas und der Familienbande gegenüber der von Rom und dem Eros. Aber das einzige, was wir über ihn wissen, ist, dass er fern der Heimat starb, und das auch nur durch Catull. Ein weiteres Detail, das uns seine Dichtung verrät, ist auf ganz andere Weise mysteriös. Etwa ein Dutzend von Catulls 116 Gedichten können datiert werden, aber keines lässt sich außerhalb des kurzen Zeitraums von 57/56–54 v. Chr. verorten. 6 Diese Tatsache kann signifikant sein oder auch nicht – vielleicht schrieb er alle erhaltenen Gedichte innerhalb von drei oder vier Jahren, aber es ist genauso gut möglich, dass diese Bündelung datierbarer Gedichte reiner Zufall ist. 7 Ein letztes Puzzleteil der Biographie des Dichters ist so groß, dass man es fast übersehen könnte, auch wenn es alles andere überschattet: An einem gewissen Punkt ging Catull nach Rom. Wir wissen nicht, wann oder warum er dies tat, aber wahrscheinlich war es irgendwann in den späten 60er oder frühen 50er Jahren v. Chr., vielleicht mit der Absicht, eine politische Karrie-