Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann Band 52 Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus Wolfgang Bialas Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36963-0 ISBN 978-3-647-36963-1 (E-Book) Umschlagabbildung: Lagertor am Eingang der Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz 1 Quelle: picture alliance / Sueddeutsche Zeitung Photo © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus Inhalt I. Einleitung: Stand der Debatte II. Die nationalsozialistische Moral 1. Die weltanschaulich-moralische Krise der Weimarer Republik: Die Diagnose Der moralische Umbau der deutschen Gesellschaft: Die ethische Dimension der nationalsozialistischen Revolution Moral in Übereinstimmung mit den Lebens- und Naturgesetzen: Rasseninstinkt und moralische Urteilskraft Zwischen Pflicht und Neigung: Der kategorische Imperativ des Nationalsozialismus Das Ethos des Dienstes an der Gemeinschaft: Die Persönlichkeit als Verkörperung des Volksganzen 2. 3. 4. 5. 9 19 19 25 39 47 54 III. Rasse und Moral 63 1. 2. Nationalsozialistische Ideologie und Rassenmoral Nationalsozialistische Täter mit gutem Gewissen: Die moralische Konditionierung des nationalsozialistischen Rassenkriegers Die ideologische Konstruktion des typisierten Juden: Die moralische Bedeutung jüdischer Existenz Von deutscher Eigenart und Größe: Nordische Rasse und Moral 63 103 IV. Rasse, Religion und Bürgerlichkeit 111 1. 2. Rassenreligion und christliche Ethik Bürgerlicher Humanismus und nazistische Rassenethik: Die nationalsozialistische Kritik bürgerlicher Gesellschaft und Moral Weltbürgerlichkeit, Menschheit und Rasse: Von der universellen zur rassischen Werteordnung Kommunikation zwischen unterschiedlichen Rassen 111 3. 4. 3. 4. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 80 88 127 139 150 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus Inhalt 6 V. Rasse, Geschlecht und Sexualität 1. 3. 4. Der „neue Mensch“: „Kämpferische Männlichkeit“ und „neue Frau“ Sexualität im Nationalsozialismus: „Rassenbewusste Gattenwahl und „artgemäße Sexualität“ Die Ehe als Zuchtanstalt: Der Wille zum Kind Rassenschande: Mangelndes Verständnis für Rassenfragen 167 180 190 VI. Rasse und Biologie 199 1. Das diskursive Vorspiel: Die Debatte zur Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens Rassenethik und Biopolitik: Aufartung der Hochwertigen und Ausmerze der Minderwertigen Kein Mitleid mit den Schwachen und Minderwertigen: Für eine Moral der Stärke 220 VII. Der Krieg als „moralische Lehranstalt“ 233 1. 3. Der Krieg als moralische Bewährungsprobe: Todesbereitschaft, Todessehnsucht und Todesverachtung im Kampf der Ideen und Werte Durchhalten im Angesicht des absehbaren Endes: Die Vision der moralischen Wiedergeburt Das Ethos nazistischer Vernichtungspolitik VIII. Täter, Opfer, Widerstand 273 1. Führung und Gefolgschaft: Die nationalsozialistische Wertegemeinschaft in der moralischen Zerreißprobe Die SS als rassischer Neuadel und moralischer Orden Kampf gegen moralischen Verfall und Defätismus Moral trotz alledem: Die „Conditio humana“ in den Lagern 273 282 287 292 2. 2. 3. 2. 2. 3. 4. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 157 157 199 207 233 248 255 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus Inhalt 7 IX. Ausblick 303 1. 2. 3. Entnazifizierung und Kriegsverbrecherprozesse: Die moralische Zurechnungsfähigkeit nationalsozialistischer Täter Moral nach Auschwitz Zum moralischen Profil totalitärer Gesellschaften 303 311 319 X. Literaturverzeichnis 327 Zeitgenössische Literatur Artikel aus dem „Schwarzen Korps“ Sekundärliteratur 327 342 344 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus I. Einleitung : Stand der Debatte Der Nationalsozialismus wird als paradoxe Verknüpfung völlig heterogener Phänomene beschrieben, in denen „messianischer Fanatismus und bürokratische Strukturen, pathologische Handlungsantriebe und administrative Erlasse“ sowie „archaische Denkweisen in einer hochentwickelten Industriegesellschaft“1 eine eigentümliche Symbiose eingegangen seien. In einer effektiven Verbindung von politischem Voluntarismus und funktionaler Rationalität sei im Nationalsozialismus ein genozidales Potential moderner Gesellschaften aktiviert worden, das auch ohne die ideologische Indoktrinierung der Täter auskam.2 Die dazu konträre Position verweist auf das komplexe Gebilde nationalsozialistischer Ideologie, die zur weltanschaulichen Bildung und moralischen Konditionierung ideologischer Überzeugungstäter gedient habe. Es besteht eine Diskrepanz zwischen der sehr gut erschlossenen Geschichte von nazistischer Eugenik und Euthanasie3 und den bisher kaum ausgewerteten nationalsozialistischen Versuchen der Begründung und Durchsetzung einer eigenen moralischen Ordnung. Zugleich wird das Verstehen der Ideen, Werte, Überzeugungen, Haltungen und Emotionen, die den Massenmord an den Juden als moralisch gerechtfertigt haben, als ein Schlüssel zum Begreifen des Holocaust gesehen.4 Verwiesen wird auch auf die Schwierigkeit, sich der moralischen Dimension des Holocaust analytisch zu nähern. Vielleicht sei ja kontemplatives Schweigen die angemessene Haltung der moralischen Katastrophe des Holocaust gegenüber, angemessener jedenfalls, als ihn zu einem Gegenstand unter vielen im akademischen Betrieb der Sozial - und Geisteswissenschaften zu normalisieren.5 In Deutschland stehen Forschungen zur nationalsozialistischen Moral und Ethik noch am Anfang. Unter Stichworten wie „nationalsozialistische Täter mit gutem Gewissen“,6 der „Moral der Unmoral“, „nazistischer Transformationsmoral“,7 sogenannter nationalsozialistischer Moral oder einer „Moral in Anführungszeichen“8 hat die Diskussion hier gerade erst begonnen. Hartmut Kuhlmanns Diagnose von 1997, dass Auschwitz als „die Wirklichkeit des moralisch Unmöglichen, das sich widersinniger Weise in der Geschichte offenbarte [...] ein Desiderat geschichtsphilosophischer Forschung“9 darstellt, ist zumindest für die 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Heinsohn, Auschwitz, S. 48. Vgl. Aly, Hitlers Volksstaat, S. 19. Dazu grundlegend Proctor, Racial Hygiene. Vgl. Scarre, Understanding, S. 425. Vgl. Garrard / Scarre ( eds.), Moral Philosophy, S. IX f. – aus : dies., Introduction. Im Anschluss an Arendt, Eichmann. Das für die Bundesrepublik wohl einschlägige Buch zum Thema ist Zimmermann, Philosophie. Vgl. Konitzer, Moral. Kuhlmann, Auschwitz, S. 107. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus 10 Einleitung : Stand der Debatte deutsche Philosophie, trotz einzelner Arbeiten zum Gegenstand, noch immer zutreffend.10 Einige Autoren bezweifeln, dass der Nationalsozialismus überhaupt eine eigene moralische Ordnung entwickelt hat. „Der Erlösungsbegriff, der Züchtungsbegriff, das medizinische Paradigma ( Gesundheit, Parasiten, Volkskörper etc.)“11 als Konzepte der nationalsozialistischen Rassen - und Vernichtungsideologie hätten nichts mit der Moral gemein. Weder Nationalsozialismus noch Bolschewismus hätten „eine philosophischen Ansprüchen genügende Moral oder gar Ethik“12 entwickelt, sondern lediglich die notwendige Abweichung von Regeln einer universellen Moral ideologisch begründet.13 Versucht wird auch, die nationalsozialistische Weltanschauung und Rassenpolitik mit den traditionellen Kategorien westlicher Ethik zu erklären, deren normativen Rahmen sie nicht verlassen habe. Da zwischen der Faktizität der Ereignisse und der Geltung moralischer Normen kein direkter Ableitungszusammenhang bestehe, könnten die faktischen Verbrechen des Nationalsozialismus „apriorische Moralkonzeptionen gar nicht widerlegen oder auch nur fragwürdig werden lassen“.14 Sowohl Hitler als auch Himmler hätten „entweder die Geltung konventioneller Moral anerkannt“ oder danach gestrebt, „jede Moral hinter sich zu lassen“.15 Während etwa Himmler z. B. in seiner Posener Rede eine Art „verantwortungsethische Begründung des Judenmords“ gegeben habe, habe Hitler die Moral durch den Verweis auf „unabänderbare Naturgesetzlichkeiten“16 ersetzt. Weder also könne der Nationalsozialismus als eigenständige moralische Ordnung beschrieben werden noch habe er die Geltung des westlichen Wertesystems in Frage gestellt. „Der moralische Nazi ist ein Utilitarist. Er tötet, weil er glaubt, dies sei seine moralische Pflicht und nur so lasse sich ein großes Übel abwenden.“17 Konturen einer neuen moralischen Ordnung des Nationalsozialismus wurden sowohl in zeitgenössischen sozial - und geisteswissenschaftlichen, und hier insbesondere in philosophischen und medizinethischen Texten, als auch in ideologischen Texten entwickelt. Fragen nationalsozialistischer Ethik und Moral wurden in ideologischen Kampfschriften, essayistischer Publizistik, Prosa und Lyrik18 behandelt, deren Autoren mit moralischen Kategorien wie Anstand und Würde, Ehre und Pflicht operierten. Dabei zeigt sich ein variantenreiches Spektrum ihrer begrifflichen Bestimmung : 10 Zum Stand der Debatte vgl. Konitzer / Gross ( Hg.), Moralität; Gross, Anständig geblieben, S. 7–25. 11 Seel, Universalismus, S. 465. 12 Sukopp, Universalismus, S. 470. 13 Vgl. Hoerster, Universalismus, S. 442. 14 Brumlik, Begründung, S. 430. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 431. 17 Hauskeller, Moralentwürfe, S. 435. 18 Vgl. Baird, War Poets. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus Einleitung : Stand der Debatte 11 – Als „eugenische Ethik“19 sollte sie auf einem „Rassengewissen“20 gründen. – Als selektive Rassenethik gerichtet gegen eine widernatürliche Moral rassenindifferenter Mitmenschlichkeit war ihr Geltungsbereich auf Angehörige der deutschen Volksgemeinschaft beschränkt.21 – Als natürliche Lebensethik sollte sie die Steigerung des Lebens in Übereinstimmung mit Natur - und Lebensgesetzen bewirken.22 – Als soldatische Ethik stellte sie Kampf, Opferbereitschaft und Charakterstärke gegen „altbürgerliche“ Werte einer übersättigten Gesellschaft, die es verlernt habe, ihr Wertesystem an den Herausforderungen der Zeit zu bewähren und es gegen konkurrierende Wertesysteme durchzusetzen.23 – Als deutsche Ethik sollte sie weder eine Paragraphenethik noch eine Gesetzesethik sein, sondern Moral der Tat, eine Herren- , Volks - und Kampfmoral.24 – Als biologische Ethik zielte sie auf die Wiedergeburt des Instinkts, nachdem das Christentum den biologischen Instinkt für geistige Gesundheit und arteigene Moral durch die Ausbildung einer lebensfremden Feindesliebe zerstört habe.25 Die völkische Rassenethik war unvereinbar mit dem politischen Humanismus der Menschen - und Bürgerrechte und der christlichen Fürsorgeethik unbedingter Nächstenliebe. Rassenbewusstes Verhalten sollte durch die Ausbildung biologischer moralischer Haltungen und Intuitionen zur fraglos selbstverständlichen Routine werden : – Die Deutschen sollten dazu befähigt werden, aus einem Rasseninstinkt heraus moralisch im Sinne des Nationalsozialismus zu urteilen, zu handeln und biologische Verantwortung für die Volksgemeinschaft zu übernehmen. – Während für Angehörige der rassischen Volksgemeinschaft das Prinzip „Gemeinnutz auf Gegenseitigkeit“ als zeitgemäße Haltung ausgezeichnet wurde, sollte „Artfremden“ und Minderwertigen mit einem rassenbiologisch aufgeklärten Eigennutz begegnet werden. – Der „neue Mensch“ des Nationalsozialismus sollte als politischer Soldat und Rassenkrieger im weltanschaulichen Entscheidungskampf bedingungslos der „moralischen Urteilskraft des Blutes“26 vertrauen. Nationalsozialistische Moral hat sich an der Schnittstelle von nationalsozialistischer Ideologie und Herrschaftspraxis entwickelt. Ethik wurde auf Biologie, die Geltung moralischer Werte auf ihre Genese aus rassischer Zugehörigkeit 19 20 21 22 23 Schiller, Eugenik, S. 342. Vgl. Weidner, Denken. Vgl. Schulze, Sittengesetz, S. 27. Vgl. Krieck, Mythologie, S. 86. Vgl. Nationalsozialistisches Jahrbuch, S. 148–163, hier 152 f. – aus dem Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat (1.12.1933/3. 7.1934). 24 Vgl. Hennemann, Grundzüge. 25 Vgl. Pintschovius, Wiedergeburt. 26 Schultze - Naumburg, Bedeutung, S. 27. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus 12 Einleitung : Stand der Debatte zurückgeführt. Die nationalsozialistische Rassenpolitik zielte auf die Ersetzung des bürgerlich - christlichen Wertesystems, das zum historischen Anachronismus eines vorwissenschaftlichen, die biologischen Gesetze der Rasse ignorierenden Zeitalters erklärt wurde, durch eine selektive rassenbiologische Moral, deren Geltung ausdrücklich auf die Angehörigen der deutschen Volksgemeinschaft beschränkt war. Die Frage, weshalb gerade die Juden zum Objekt von Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung im Nationalsozialismus wurden, rekonstruiert jene historischen und naturgesetzlichen, rassischen und bevölkerungspolitischen, volkshygienischen und biologischen Argumente, mit denen ihre ideologische Stigmatisierung, nach der sie nicht mehr als moralische Subjekte galten, als ethisch richtig und notwendig begründet wurde. Nach dem Ausschluss der Juden aus dem Geltungsbereich moralischer Verpflichtungen konnten sie nicht mehr mit der Empathie und Unterstützung der deutschen Volksgemeinschaft rechnen, der sie nach den Rassengesetzen nicht mehr angehörten. Eine rassenindifferente universalistische Moral wurde als jüdisch apostrophiert, gleichzeitig wurden die Juden als unmoralisch diffamiert. Ihnen wurde vorgeworfen, durch Rassenmischung die moralische Substanz der nordischen Rasse zu schwächen.27 Die nazistische Kritik rassenindifferenter Menschenrechte, christlicher Nächstenliebe und Fürsorge für Bedürftige zielte auf die Vernichtung des bürgerlichen Wertesystems. Im Kampf ums Dasein sollte die nordische Rasse ihr natürliches Recht zur Herrschaft über die Schwachen und Minderwertigen durchsetzen, ohne sich durch moralische Erwägungen einschränken zu lassen. Das Naturgesetz der Durchsetzung gesunder und starker Lebensformen „auf Kosten der schwachen und minderwertigen“ dürfe nicht durch „humanitäre Begünstigung und Erhaltung Minderwertiger [...] gehemmt werden“:28 Wenn man es nicht durch religiöse und moralische Regeln einschränke, setzten sich im Lebenskampf immer diejenigen Arten mit dem stärkeren Lebenstrieb durch.29 Der von biologischen Schranken und moralischen Hemmschwellen befreite Mensch wurde zum Leitbild einer harmonischen und gesunden Sozialordnung. Gegen eine religiöse Moral des Mitleids mit den Schwachen und der Fürsorge Bedürftigen sollte die Geschichte wieder in Übereinstimmung mit den Natur - und Lebensgesetzen gebracht werden, die frei von moralischen Ressentiments waren. In der aggressiven Rhetorik nationalsozialistischer Ideologie wurde die natürliche Auslese des Sozialdarwinismus zur natürlichen Ausmerze radikalisiert : Die Übertreibung des karitativen Gedankens verhindere faktisch die „natürliche Ausmerze“30 aus eigenen Kräften lebensunfähiger Menschen. Die zeitgenössische Mentalität des korrigierenden Eingriffs in menschliche Kultur und Biologie wurde zu einer ideologischen Politik angewandter Biologie. Diese wies das 27 So z. B. Rosenberg, Unmoral im Talmud (1920). In : ders., Schriften, S. 323–394 und Fasolt, Grundlagen. 28 Fritz, Politik, S. 522. 29 Vgl. Franz, Vervollkommnung, S. 257. 30 Riedel, Vernunft, S. 384. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus Einleitung : Stand der Debatte 13 durch die bürgerlich - christliche Ethik begründete Recht der Schwachen und Bedürftigen auf Fürsorge und Schutz vor Übergriffen mit dem Argument zurück, dass es das natürliche Durchsetzungsrecht der rassisch Höherwertigen, Starken und Gesunden einschränke. Klassische moralische Denkfiguren wurden im Ergebnis des nationalsozialistischen Wertewandels ersetzt, aber auch übernommen. Zu denen, die übernommen und in die neue moralische Ordnung integriert wurden, gehörten das Gewissen als innere Instanz moralischer Selbstbefragung, die ethische Diskriminierung des Egoismus als unmoralisch, das Zulassen von Bedenken als Zeichen moralischer Ernsthaftigkeit und deren Überwindung als Beleg moralischer Stärke. Die Deutschen sollten der nationalsozialistischen Ideologie und ihren rassenethischen Urteilen mehr vertrauen, als ihren lebensweltlichen Erfahrungen und ihrer eigenen Urteilskraft. Bürgerliche Rassenindifferenz sollte durch einen artgerechten Humanismus abgelöst werden. Im Detail rekonstruiert werden die ideologischen Begründungen des von der nationalsozialistischen Rassenethik als moralisch geboten oder problematisch bestimmten Handelns. An exemplarischen Beispielen wird die nationalsozialistische Auseinandersetzung mit indifferenten, abweichenden oder offen kritischen Haltungen dargestellt, die unter der Losung „Kampf gegen moralischen Verfall und Defätismus“ geführt wurde. Zu den dabei kritisierten Phänomenen gehörten Korruption und die „Beamtenmentalität“ des Ausweichens vor der Übernahme von Verantwortung, die bürokratische Indifferenz gegenüber der weltanschaulichen Dimension der gestellten Aufgaben, Defätismus angesichts der sich abzeichnenden Kriegsniederlage sowie die Kinderverweigerung junger Frauen, die nicht zu Gebärmaschinen werden wollten mit der Aussicht, dass ihre Kinder als Kanonenfutter künftiger Kriege enden würden.31 In diesen Auseinandersetzungen wurde die moralische Ordnung des Nationalsozialismus als funktionierendes Wertesystem zur normativen Orientierung der Deutschen gegen Zweifel und defätistische Auflösungserscheinungen verteidigt. Gefragt wird danach, ob die nationalsozialistischen Täter mit gutem Gewissen32 an ihre eigenen ethischen Begründungen geglaubt haben und deshalb wirklich ihre Taten für moralisch unbedenklich und geboten hielten, oder ob sie lediglich die ihnen von der nationalsozialistischen Rassenideologie bereitgestellten Begründungen rassenbewussten Handelns übernahmen, von dem sie wussten, dass es unmoralisch und kriminell war. In den Kriegsverbrecherprozessen der Nachkriegszeit behaupteten sie, dass die rechtliche, politische und kulturelle Sanktionierung ihres Handelns es ihnen unmöglich gemacht habe, dessen moralische Verwerflichkeit zu erkennen. Mit der Reklamierung moralischer Unzurechnungsfähigkeit zur Zeit der von ihnen persönlich begangenen, angeordneten, stillschweigend geduldeten oder logistisch ermöglichten Verbrechen wiesen sie jede strafrechtlich relevante Schuld von sich. Unter Berufung 31 Zahlreiche dieser Debatten fanden sich im „Schwarzen Korps“. Zum Profil der Zeitschrift siehe Zeck, Korps. 32 Vgl. dazu Fritze, Täter. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus 14 Einleitung : Stand der Debatte auf das nationalsozialistische Rechts - und Wertesystem verwiesen sie auf die historischen Umstände, die ihnen eigene Entscheidungen, Motive und moralische Urteile abgenommen hätten. Ohne eigene Handlungsspielräume gehabt zu haben, wären sie unter von ihnen nicht selbst gewählten Bedingungen zu konformistischem Verhalten gezwungen worden. Sie behaupteten, manipuliert, getäuscht, verführt oder unter Druck gesetzt worden zu sein oder aber, überzeugt von der Stimmigkeit nationalsozialistischer Konzepte von Volksgesundheit und rassischer Höher - und Minderwertigkeit, ihr Handeln für moralisch unbedenklich oder sogar geboten gehalten zu haben. Ethische und moralische Aspekte nationalsozialistischer Ideologie und Herrschaftspraxis werden an ganz unterschiedlichen Problemen und Praxisfeldern aufgezeigt. Sie spielten nicht nur in der Begründung der moralischen Unbedenklichkeit der Verbrechen nationalsozialistischer Täter eine entscheidende Rolle, sondern auch im Alltag der Deutschen, in dem diese mit der Verfolgung, Stigmatisierung und Ausgrenzung der Juden konfrontiert waren und ihre privaten Beziehungen und ihre Sexualität am Maßstab rassenbiologischer und bevölkerungspolitischer Kriterien ausrichten sollten. Die Untersuchung des moralischen Mikroklimas im nationalsozialistischen Deutschland konzentriert sich auf die Umstellung des Alltagslebens der Deutschen von rassenindifferentem auf rassenbewusstes Verhalten. Dadurch entsteht ein differenziertes Bild der moralischen Haltungen und Motive der Deutschen, die sich in ihrem Alltag und später unter den Bedingungen des Krieges entscheiden mussten, entweder nach ideologischen Vorgaben zu urteilen und zu handeln oder aber an humanistischen Werten festzuhalten. Vorgeführt wird das variantenreiche Spektrum moralisch relevanter Situationen und Konflikte, in denen nationalsozialistische Positionen durchgesetzt werden sollten. Dabei wird aufgezeigt, wie dezidierte Thesen und Argumentationen zu zentralen Themen nationalsozialistischer Rassenethik häufig durch konträre Positionen in Frage gestellt und in ihrem Absolutheitsanspruch relativiert wurden. Das trifft zu für solche Themen wie Hass, Liebe und Sexualität; die Haltung zur Religion und zum Tod und auch die Versuche der Bestimmung einer nationalsozialistischen Moral im Spannungsfeld von Pflicht und Neigungen : Behauptet wurde, die Deutschen seien auf Grund ihrer ritterlichen Haltung habituell unfähig, ihre politischen und militärischen Gegner oder Angehörige anderer Rassen zu hassen, die sie in der dazu konträren Aufforderung unter Überwindung aller antiquierten religiösen und moralischen Vorbehalte bis zur Vernichtung hassen sollten. Sie sollten ihre Sexualität kontrollieren und in den Dienst der Fortpflanzung stellen. Durch rassenbewusste Partnerwahl und die Aufzucht zahlreicher gesunder Kinder sollten sie die bevölkerungspolitische Krise Deutschlands überwinden helfen. Das mache deutsche Frauen jedoch nicht zu Gebärmaschinen ebenso wenig wie deutsche Männer zu Zeugungshelfern degradiert würden. Die Ehe werde nicht zur Zuchtanstalt, sondern lasse Raum für Partnerschaft, Liebe und freie Sexualität. Die Deutschen sollten ihre Sexualität uneingeschränkt ausleben können. Von in traditionellen Moralvor- © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus Einleitung : Stand der Debatte 15 stellungen befangenen Frauen wurde erwartet, ihre Fixierung auf Ehe und Familie aufzugeben und die legitimen sexuellen Bedürfnisse deutscher Männer zu befriedigen. Die an den Fronten des Krieges kämpfenden deutschen Soldaten wurden aufgefordert, den Tod für Volk und Vaterland als Erfüllung ihres Lebens zu sehen, das sie zugleich nicht leichtsinnig oder todessehnsüchtig riskieren, sondern effektiv für den Nationalsozialismus einsetzen sollten. Die Deutschen sollten ihre eigennützigen Interessen dem Gemeinwohl unterordnen und ihr Leben als Pflichterfüllung im Dienst der Gemeinschaft sehen. Gleichzeitig wurde betont, dass es inhuman, unrealistisch und demnach aussichtslos sei, von Menschen zu erwarten, sich gegen ihre Neigungen zu verhalten und diese im Namen höherer Ideen und Werte zu unterdrücken. Diese Beispiele zeigen die Ernsthaftigkeit und Radikalität, mit der die moralische Umgestaltung der deutschen Gesellschaft verfolgt wurde. Durch die Ausbildung eines Rasseninstinkts und Rassengewissens sollte die Deutschen im Horizont einer eigenen moralischen Ordnung mit gutem Gewissen die nationalsozialistische Rassen - und Judenpolitik unterstützen. Eine rassenbiologische Ethik rechtfertigte den Ausschluss der Juden aus dem Geltungsbereich moralischer Verpflichtungen. Angesichts der Komplexität und Variationsbreite von Täterverhalten und motiven wurde darauf verzichtet, eine exemplarische Täterbiographie mit markanten Abweichungen von einer Normalbiographie herauszuarbeiten. Das hat methodisch den Blick für die Differenz und Vielfalt nationalsozialistischen Täterverhaltens und das ebenso differenzierte Spektrum moralischer Rechtfertigungen der Täter geschärft, deren zumeist unauffällige Persönlichkeitsstruktur in keinem Verhältnis zur Monstrosität der von ihnen begangenen, organisierten oder indifferent akzeptierten Verbrechen stand. Offensichtlich können monströse Taten auch von in ihrer Charakterstruktur und Biographie durchschnittlichen normalen Menschen begangen werden, die unter anderen Umständen weder die Gelegenheit gehabt hätten noch in Versuchung gekommen wären, sich an Verbrechen und Massenmord zu beteiligen. Gerechnet werden muss mit ideologischen Überzeugungstätern ebenso wie mit bürokratischen Schreibtischtätern, mit sadistischen und moralisch pervertierten Tätern ebenso wie mit gewöhnlichen Deutschen und Durchschnittsmenschen. Die Täter wurden in den Konzentrationslagern dazu konditioniert, ihnen als rassisch minderwertig bezeichnete Menschen oder politische Gegner des Nationalsozialismus zu demütigen, zu quälen und wenn nötig zu töten. Nur Angehörige der rassischen Volksgemeinschaft und Anhänger des Nationalsozialismus galten als moralische Subjekte, während Artfremde und Gemeinschaftsschädlinge moralisch gebrochen werden sollten. Die Verfolgung der Juden konnte mit kalter, leidenschaftsloser Rationalität und bürokratischer Perfektion betrieben werden, aber auch mit fanatischer Hysterie. Die Herausbildung einer Rassenmoral sollte aus opportunistischen Anhängern des Nationalsozialismus, die mit der Unterstützung seiner Politik ihren eigenen Vorteil verfolgten, überzeugte Aktivisten nationalsozialistischer Rassenpolitik machen, die deren Durchsetzung als persönliche Verpflichtung übernahmen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus 16 Einleitung : Stand der Debatte Der politische Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung verdankt sich nicht ausschließlich ihrer effektiven Verbindung von nationalistischer Demagogie und politischem Terror, der Uneinigkeit und wechselseitigen Schwächung ihrer Gegner oder der charismatischen Aura Hitlers. Hinzu kommt ihre plausible Anknüpfung an deutsche Traditionen und nationale Erwartungen in einer historisch einzigartigen Konstellation deutscher und europäischer Geschichte. Antisemitismus und nazistische Rassenpolitik wurden entweder von den meisten Deutschen ausdrücklich unterstützt oder durch ein politisch indifferentes Ethos verlässlicher Pflichterfüllung erst ermöglicht. Dass die nationalsozialistische Weltanschauung, die von einer Mehrheit der Deutschen geteilt oder als moralisch unbedenklich akzeptiert wurde, wahnhaft und pseudowissenschaftlich, abwegig und willkürlich, menschenfeindlich und menschenverachtend war, ist unbestritten, trägt jedoch wenig zum Verstehen ihres Erfolgs bei.33 Da Ideologie nicht einfach als falsches Bewusstsein oder strategische Täuschung zu widerlegen ist, sondern ihre Attraktionskraft gerade ihrer Fähigkeit zur stimmigen Inszenierung ihrer Konstruktionen und der Mobilisierung von Zustimmung und Aktion verdankt, führt der ideologiekritische Nachweis ihrer empirischen Fragwürdigkeit und methodischen Unhaltbarkeit nicht zwingend zu ihrer Diskreditierung bei ideologisch indoktrinierten Anhängern einer Weltanschauungsbewegung. Das Zusammenspiel von Rassenhass, moralischer Indifferenz und ideologischer Konformität in der deutschen Bevölkerung lässt sich nur verstehen, wenn sowohl die Monströsität der Taten wie die Gewöhnlichkeit der Täter, die Radikalität des Bösen ebenso wie seine missverständlich formulierte Banalität zur Sprache kommen. Propagiert wurde die Herausbildung eines neuen Menschen. Dieser sei kein gedankenloser Mitläufer, der blind Befehle ausführe, deren Sinn ihm verborgen bleibe, sondern als Rassenkrieger und politischer Soldat des Nationalsozialismus überzeugt von dessen Weltanschauung, deren Ziele er engagiert und eigenständig verfolge. Gegen Kadavergehorsam wurde Zivilcourage gesetzt, die mit der Beseitigung von Standes - und Klassenunterschieden allen Deutschen entsprechend ihrer verschieden ausgeprägten Fähigkeiten die Gelegenheit gebe, Verantwortung für Rasse, Volk und Vaterland zu übernehmen. Dabei werde keine ideale menschliche Natur angenommen, sondern vielmehr an den aufgeklärten Eigennutz der Deutschen als Angehörigen der nordischen Rasse appelliert, der es ihnen erlauben sollte, in Übereinstimmung mit ihren Neigungen die nationalsozialistische Rassenpolitik durchzusetzen. In geschlechtsspezifischer Bestimmung sollte der neue Mann als Kämpfer agieren, während die nordische Frau als Mutter zahlreicher Kinder ihre Erfüllung finden werde. Die nationalsozialistische Ideologie war kein monolithischer Block, der sich auf wenige, intellektuell anspruchslose Denkfiguren reduzieren ließ. Zwar argumentierte sie unter der Voraussetzung apodiktischer Werturteile wie der Hochwertigkeit der nordischen und der Minderwertigkeit der jüdischen Rasse. Solche 33 Vgl. Steiner, Persons, S. 77. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus Einleitung : Stand der Debatte 17 normativen Setzungen, die außer Frage standen, bildeten den Rahmen, innerhalb dessen nationalsozialistische Ideologen und Rassenwissenschaftler aufgefordert waren, sich etwas einfallen zu lassen. Der Rassenbegriff selbst war offen für Interpretationen, Begründungen und disziplinäre Anschlüsse. So spiegelte sich im Rassendenken auf paradoxe Weise das kreative Potential der sozial - und geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Die rassenideologische Brechung der disziplinären Methodologien kreierte ein eigenes Genre, das als „wissenschaftliche Weltanschauung“ oder Rassentheorie die Rassenideologie aufwertete. Die Begründung einer originären nationalsozialistischen Moral ordnet sich hier ein. Nachdem die Unwissenschaftlichkeit, Absurdität und Menschenfeindlichkeit des Nationalsozialismus hinreichend nachgewiesen wurde, liegt der Fokus dieses Buches auf der Ausbreitung der Vielfalt seiner ideologischer Diskurse und ihrer tatsächlichen oder konstruierten Probleme und Konflikte. Rekonstruiert wird das Spektrum der Positionen in kontroversen Fragen, das einen Eindruck von der Variationsbreite nationalsozialistischer Ideologie und Weltanschauung vermitteln soll. Rassenideologie und - ethik bildeten dabei den nicht zur Disposition stehenden Rahmen dieses Spektrums, das zugleich in den ideologischen und akademischen Debatten erst inhaltliche Konturen bekam, ohne abschließend auf verbindliche begriffliche Bestimmungen festgelegt zu werden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus II. Die nationalsozialistische Moral 1. Die weltanschaulich - moralische Krise der Weimarer Republik: Die Diagnose Einig waren sich geschichtsphilosophische Diagnosen der Zwischenkriegszeit weitgehend darin, dass spätestens seit dem Ersten Weltkrieg von einer Humanisierung der Menschheit nicht mehr ausgegangen werden konnte. An die Stelle eines Urvertrauens in die humanistischen Problemlösungskapazitäten der Moderne war die Ahnung ihrer Ambivalenz getreten. Auf der Suche nach „Schichten der Unmittelbarkeit“1 in unüberschaubar komplexen Verhältnissen gewannen Fragen nach der Natur des Menschen und anthropologischen Dimensionen des Politischen an Bedeutung. Nach der Erfahrung der Dehumanisierung im Ersten Weltkrieg wurde durch die anthropologisch - biologische Bestimmung des Menschen versucht, eine neue Perspektive der Humanisierung zu gewinnen, die durch geschichtliche Fehlentwicklungen noch nicht diskreditiert war. Für Carl Schmitt z. B. war der Mensch ein problematisches Wesen, fähig zu moralischem wie unmoralischem Handeln.2 Das Politische führte er auf ein „anthropologisches Glaubensbekenntnis“ und die ihm zugrunde liegenden Voraussetzungen zurück, die sich lediglich darin unterschieden, „ob sie, bewusst oder unbewusst, einen von Natur bösen oder einen von Natur guten Menschen voraussetzen“.3 Seine Existentialisierung des Politischen argumentierte unter der Voraussetzung einer ökonomisch funktionierenden, politisch liberalen Gesellschaft, die mangels identitätsstiftender Werte und Normen jedoch unfähig zur Gemeinschaftsbildung sei. In einer ökonomisch bestimmten Gesellschaft könne von keinem Menschen verlangt werden, im Interesse des ungestörten Funktionierens dieser Gesellschaft sein Leben zu opfern.4 Auch ein aus rein religiösen, moralischen, juristischen oder ökonomischen Motiven geführter Krieg sei sinnwidrig, müsse doch dieser weder religiös, noch moralisch oder rentabel sein.5 Karl Jaspers wiederum fragte, „ob in Menschen etwas liegt, was wie ein dunkler und blinder Wille zum Krieg ist : ein Drang zum Anderswerden, heraus aus dem Alltag, aus der Stabilität von Zuständen, etwas wie Wille zum Tod als Vernichtungswille und Selbstpreisgabe, ein unklarer Enthusiasmus zur Gestaltung einer neuen Welt, oder auch eine die Wirklichkeit nicht kennende ritterliche Kampflust; oder ein Wille zur Selbstbewährung, der sich beweisen will in dem, was er aushalten kann, und frei gewagten Tod dem am Ende eines nicht lohnen- 1 2 3 4 5 Plessner, Stufen, S. 29. Vgl. Schmitt, Begriff, S. 59. Ebd., S. 58 f. Vgl. ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 36. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus 20 Die nationalsozialistische Moral den Daseins passiv zu erleidenden Tod vorzieht“.6 Er sah im Krieg das quasireligiöse politische „Pathos : das Leben für seinen Glauben an den unbedingten Wert des eigenen Wesens einzusetzen; lieber tot als Sklave zu sein“,7 weshalb der Krieg zum „Aufschwung im Menschen“8 führen könne. Allerdings markiere der Erste Weltkrieg als „technischer Kampf der Maschinen gegeneinander und gegen die jeweils passiven Bevölkerungen“,9 dem dieses Pathos gerade gefehlt habe, eine Zäsur. An die Stelle unvereinbarer Glaubenssätze oder Werte konträrer Kampfgemeinschaften sei hier die durch das Ertragen des gemeinsamen Schicksals gestiftete Gemeinschaft der Frontsoldaten „in der anhaltenden Gefahr des unberechenbaren und unbekämpfbaren Zufalls“10 getreten. Dieses ideologische Gegensätze überbrückende Gemeinschaftsgefühl hinderte die Soldaten jedoch nicht daran, im nächsten Augenblick wieder aufeinander zu schießen oder einzustechen. In dieser „eigentümlichen Solidarität zwischen Soldaten“, die sich gleichzeitig „auf Leben und Tod bekämpften“,11 kündigte sich eine Zeit an, deren drohender „Abgrund eines kulturellen und sozialen Nichts“12 die totale Politisierung der absoluten Verbindlichkeit einer höheren Sinngebung als Lösung des Werteverfalls nahezulegen schien. Der nationalistischen Hysterie des Ersten Weltkrieges hatte Sigmund Freud 1915 in seinen „zeitgemäßen Betrachtungen über Krieg und Tod“ die Hoffnung auf eine internationale, mindestens aber europäische „Kulturgemeinschaft“13 entgegen gesetzt und dabei die Toleranz für die Verschiedenheit der Völker beschworen. Eine Alternative zum Krieg als der politisch sanktionierten Steigerung des menschlichen Aggressions - und Destruktionstriebes zur patriotischen Pflicht der Tötung des Gegners sah er in „einer Gemeinschaft von Menschen, die ihr Triebleben der Diktatur der Vernunft unterworfen“14 hatten. Gegen die Rhetorik von der organischen Minderwertigkeit des „Erbfeindes“ bei eigener national - kultureller Überlegenheit setzte er die Vision eines friedlichen Zusammenlebens aller „Kulturweltbürger“. Aus „allen Vorzügen und Reizen der Kulturländer“ werde sich „ein neues, größeres Vaterland zusammensetzen“,15 in dem Menschen ihre unterschiedliche Herkunft, Kultur, Sozialisation und Geschichte nicht mehr als Provokation und Anlass zu gegenseitiger Abgrenzung sehen würden, sondern als willkommene Gelegenheit, neue Perspektiven gemeinsamen Menschseins kennenzulernen. Die „großen Völker selbst, konnte man meinen, hätten so viel Verständnis für ihre Gemeinsamkeiten und so viel 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 Jaspers, Situation, S. 82. Ebd., S. 80. Ebd., S. 81. Ebd. Ebd. Ebd. Schmitt, Begriff, S. 92. Freud, Zeitgemäßes, S. 370. Freud, Krieg, S. 24. Freud, Zeitgemäßes, S. 369 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus Die weltanschaulich-moralische Krise der Weimarer Republik 21 Toleranz für ihre Verschiedenheit erworben, dass fremd und feindlich nicht mehr [...] für sie zu einem Begriffe verschmelzen durften“.16 In dieser Vision eines Paradieses auf Erden, eines friedlichen Gewimmels von Menschen, denen unterschiedliche Herkunft, Kultur, Sozialisation und Geschichte nicht mehr Provokation und Anlass zu gegenseitiger Abgrenzung war, sondern willkommene Gelegenheit zur Übernahme fremder Perspektiven, glich das neue Vaterland einem Museum, in dem verschiedene Typen von Vollkommenheit zu besichtigen waren : „Während er von einem Saale dieses Museums in einen anderen wanderte, konnte er in parteiloser Anerkennung feststellen, was für verschiedene Typen von Vollkommenheit Blutmischung, Geschichte und die Eigenart der Mutter Erde an seinen weiteren Kompatrioten ausgebildet hatten. Hier war die kühle unbeugsame Energie aufs höchste entwickelt, dort die graziöse Kunst, das Leben zu verschönern, anderswo der Sinn für Ordnung und Gesetz oder andere der Eigenschaften, die den Menschen zum Herrn der Erde gemacht haben.“17 In dieser weltgemeinschaftlichen Idylle war für Kriege einfach kein Platz mehr, es sei denn, als „ritterlicher Waffengang“,18 der der Erste Weltkrieg ersichtlich nicht war. Die Sublimierung der menschlichen Natur zur Kultur, so Freuds Überzeugung, war nur um den Preis ihrer Unterdrückung zu haben, weshalb die Menschen daran gehindert werden müssten, ihrer Natur zu folgen.19 Dabei war Natur für ihn Synonym der immer möglichen Regression des Menschen in einen gesellschaftlichen Urzustand, die durch kulturelle Sicherungen gegen uneingeschränkte und unkontrollierte Triebbefriedigung verhindert werden müsse. In den philosophischen Ideen von 1914 wurde der Erste Weltkrieg von deutscher Seite als Möglichkeit der Rückgewinnung existentieller Dimensionen menschlichen Lebens stilisiert, die durch die seelenlose Mechanik von Technik, Industrie und moderner Bürokratie zu ersticken drohten. Imaginiert wurde ein „Weltbürgerkrieg der Ideen“, in dem sich die Innerlichkeit deutscher Kultur gegen die Äußerlichkeit westlicher Zivilisation durchsetzen werde. In diesem Krieg würden die Deutschen Geist, Vernunft und Kultur gegen ihre Bedrohung durch westliche Zivilisation, Kapitalismus und individualistischen Materialismus verteidigen. Ernst Bloch gehörte zu den Wenigen, die der geistig - militanten Verbindung von Preußentum und Sozialismus die Idee eines geistigen Vaterlandes der Vernunft entgegensetzten. „Wenn anders man unter dem Vaterland keinen Stall versteht, in den man hineingeboren wurde, existiert es lediglich [...] als eine verpflichtende Tradition.“20 Ernst Jünger führte als Prototyp des neuen Zeitalters den soldatischen Arbeiter ein, der, geprägt durch das Kriegserlebnis und gewohnt an ein „Leben 16 17 18 19 20 Ebd. Ebd., S. 369. Ebd., S. 370. Vgl. ebd., S. 376. Bloch, Messungen, S. 32. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus 22 Die nationalsozialistische Moral in der Beschleunigung“21 im Ausnahmezustand totaler Mobilmachung durch eine habituelle Kombination von Präzision und Gefahr entstanden sei.22 Eben weil es unmöglich sei, „das Leben in den alten Formen fortzuführen“ und so zu tun, als habe es diese Erfahrung des auf seinen funktionalen Wert im Kampf reduzierten Lebens in den „Todeszonen der Vernichtung“ nicht gegeben, werde in „einer Kette von Kriegen und Bürgerkriegen“23 eine neue Weltordnung hergestellt. Eine solche Marginalisierung der Weltkriegserfahrung wurde der Weimarer Republik vorgeworfen, was zu einem allgemeinen Werteverfall und der charakterlichen Deformierung des deutschen Volkes geführt habe. „Seine soldatischen, kämpferischen Eigenschaften, sein angeborenes Herrentum, seine im Boden wurzelnde Führerschicht, sein idealistischer Schwung, seine grüblerische Verinnerlichung, sein Bauernstolz, seine herrische Querköpfigkeit, seine Gewissenhaftigkeit und seine Ehrbegriffe“ – all das sei durch die Republik in Frage gestellt worden, die „den heldischen und soldatischen Menschen“24 bekämpft habe. Der humanistischen Idee einer geistigen Weltgemeinschaft setzte die nationalsozialistische Ideologie die auf Leben und Tod verschworene völkische Schützengrabengemeinschaft der Deutschen entgegen. Im Ersten Weltkrieg formte sich „die Kriegerkaste Deutschlands : Soldaten aus Blut und Rasse heraus, geborene Kämpfer, denen nichts schwerer fiel, als zurückzugehen in einen bürgerlichen Beruf“.25 Der Bürger habe geglaubt, dass er die ihm unbegreifliche dämonische Urgewalt, die sich im Ersten Weltkrieg gezeigt habe, dadurch überwinden könne, dass er sie einfach ignoriere. Diese habe sich dennoch „als ungeistige, anarchische und zerstörerische Gewalt“ behauptet, während sich das Bürgertum in eine „Welt aus Schein und Form wie in eine Festung“26 zurückgezogen habe und zu einer vermeintlichen Normalität zurückgekehrt sei. „Der Krieg hatte die bürgerliche Existenz gefährdet, er hatte die unerhörte Bedrohung aufgezeigt, der alles Bisherige, Gewohnte und Überlieferte ausgesetzt war.“27 Die bürgerliche Festungsmentalität, Erschütterungen ihres Selbstbildes nicht an sich herankommen zu lassen, habe dazu geführt, dass das Bürgertum den Anschluss an die rasanten Veränderungen des Lebens verloren habe. Die Gründung der Republik auf kosmopolitischem Vaterlandsverrat und Pazifismus habe die Generation der Weltkriegskämpfer entwurzelt und ihren Kampf für Deutschland im Nachhinein entwertet. Der Nationalsozialismus sah sich als Erbe des Frontsozialismus und damit zugleich als Versprechen, dass die im Ersten Weltkrieg ausgeprägten Instinkte und moralischen Eigenschaften, die im bürgerlichen Alltag der Nachkriegszeit ihre Bedeutung verloren hatten, wieder die ihnen 21 22 23 24 25 26 27 Jünger, Arbeiter, S. 179. Vgl. ebd., S. 148. Ebd., S. 11 und 78 f. Was wir dazu tun können. In : Das Schwarze Korps vom 7.10.1940. Stellrecht, Wehrerziehung, S. 26. Sind wir Barbaren ? In : Das Schwarze Korps vom 14.12.1944. Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus Die weltanschaulich-moralische Krise der Weimarer Republik 23 angemessene Rolle spielen würden.28 Tugenden, die sich in den Kämpfen des Ersten Weltkriegs herausgebildet hatten, seien in der Nachkriegszeit der Weimarer Republik entwertet worden und mit ihnen das Leben derjenigen, die im Krieg zu neuen Menschen geworden waren. Diesen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs geformten Frontsoldaten, die in der bürgerlichen Ordnung der Weimarer Republik gar nicht angekommen waren, versprach die nationalsozialistische Bewegung eine ihrer im Krieg erbrachten Leistungen und Opfer angemessene Rolle in der neuen Gesellschaft. Im Kampf um seine Deutung gehe es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges darum, die „Niederlage dieses Krieges [...] in einen geistigen Sieg zu verwandeln“,29 hieß es bei Edgar Julius Jung. Nachdem der Ausgang des Krieges militärisch entschieden war, ging der Kampf an der symbolischen Front der Interpretationen und Erinnerungen weiter. Diesen Doppelsinn von Gewinn und Verlust hat Walter Benjamin in einer Rezension zu der von Ernst Jünger herausgegebenen Sammelschrift „Krieg und Krieger“ auf den Punkt gebracht : „Einen Krieg gewinnen oder verlieren, das greift, wenn wir der Sprache folgen, so tief in das Gefüge unseres Daseins ein, dass wir damit auf Lebenszeit an Malen, Bildern, Funden reicher oder ärmer geworden sind.“30 Den Unterlegenen drohe der Verlust historischer Erinnerung. Nur „der Sieger behält den Krieg, dem Geschlagenen kommt er abhanden“.31 Dieser Verlust müsse kompensiert werden durch seine Wendung zum inneren Sieg, die den Ausgang des Krieges durch seine symbolische Fortsetzung in der Nachkriegszeit offen halte. Die philosophischen Ideen von 1914 sah Benjamin als apokalyptische Verklammerung von Technik und deutschem Idealismus zum verspannten Heroismus der Materialschlachten. „Die Friedensgenien“, die die total mobil gemachte Landschaft „so sinnlich besiedeln, sind evakuiert worden und soweit man über den Grabenrand blicken konnte, war alles Umliegende zum Gelände des deutschen Idealismus selbst geworden, jeder Granattrichter ein Problem, jeder Drahtverhau eine Antinomie, jeder Stachel eine Definition, jede Explosion eine Setzung, und der Himmel darüber bei Tag die kosmische Innenseite des Stahlhelms, bei Nacht das sittliche Gesetz über dir. Mit Feuerbändern und Laufgräben hat die Technik die heroischen Züge im Antlitz des deutschen Idealismus nachziehen wollen.“32 Im Kampf um die historische Erinnerung des Ersten Weltkrieges werde dieser weder als ritualisierte historische Erinnerung der ewige bleiben, noch in pazifistischer Schwärmerei der letzte gewesen sein. Die Weimarer Republik habe all das, was den Deutschen heilig gewesen sei und wofür sie ohne Zögern ihr Leben eingesetzt hätten, in Frage gestellt und sie in einem ideologischen Bürgerkrieg als Nation zerrissen. Durch einen krankhaft übertriebenen Individualismus sei das deutsche Volk zu einer anarchischen 28 29 30 31 32 Vgl. Biez, Wehrprinzip, S. 124–127. Jung, Herrschaft, S. 82. Benjamin, Theorien, S. 242 f. Ebd., S. 242. Ebd., S. 247. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus 24 Die nationalsozialistische Moral Masse geworden. Deutschland sei in weltanschaulicher Auflösung, kultureller Zersetzung und moralischem Niedergang begriffen. Ohne verbindliche Maßstäbe für die Geltung von Werturteilen habe jede Gruppe eigene, mit denen anderer Gruppen unvereinbare oder ihnen gegenüber indifferente Wertmaßstäbe entwickelt. Die zu Ende gehende liberal - demokratische Epoche habe nur auswechselbare, relative und unverbindliche Meinungen zugelassen, „aber keine Weltanschauung hervorgebracht, die absolut gesetzt und glaubensmäßig vertreten“33 worden wäre. Durch diesen Relativismus sei der weltanschauliche Mittelpunkt aller Lebensordnungen verloren gegangen. Im weltanschaulichen Chaos der ausgehenden liberalen Epoche seien die Deutschen halt- und willenlos dem Abgrund entgegen getaumelt. Jede nur denkbare Meinung sei in dieser glaubens- und ziellos gewordenen Zeit vertreten worden, ohne dass eine von ihnen noch genügend Gewicht und Gestaltungskraft besessen habe, um sich gegen die anderen durchzusetzen. Ohne klare weltanschauliche Ausrichtung sei das deutsche Volk handlungsunfähig geworden. „Die Sinngebung des Daseins gelingt nicht mehr, die Frage nach Inhalt und Aufgabe des Lebens bleibt unbeantwortet. Verbindliche Wertmaßstäbe, gesetzgebende Mächte, zielweisende Menschen fehlen.“34 Menschen, die durch diesen Prozess des Werteverfalls gegangen seien, seien nicht mehr bereit, moralische Verpflichtungen einzugehen und Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Das Ausleben ihrer egozentrischen Neigungen und Triebe rechtfertigten sie mit der pseudomaterialistischen Behauptung, freie Entscheidungen seien ihnen durch äußere Umstände, Erziehung und Vererbung abgenommen worden. Es sei ihnen gar nichts anderes übrig geblieben, als auf den Druck der Verhältnisse mit der Ausbildung eines gemeinschaftsindifferenten Egoismus als innerer Haltung zu reagieren. Hitler sprach von der „politischen, sittlichen und moralischen Verseuchung des Volkes“ und der „gesundheitlichen Vergiftung des Volkskörpers“35, wodurch das öffentliche Leben der Weimarer Republik zu „einem Treibhaus sexueller Vorstellungen und Reize“36 geworden sei. In den Nachkriegsjahren sei das Erhabene ins Lächerliche, das Heilige ins Gemeine gezogen worden. Auf typisch jüdische Art sei die Moral objektivierend zerlegt und lächerlich gemacht worden. Ein „erotischer Kollektivismus“ habe den Einzelnen zum Glied einer entarteten Herde und Frauen zu „reinen Geschlechtstieren“37 reduziert. Marxismus und bürgerlicher Liberalismus, die prägenden Kräfte der Weimarer Republik, zielten auf die „Herstellung eines unpersönlichen, vom Volkstum losgelösten Einheitsmenschen“.38 Gegen Ehe und Familie, Volk und Rasse sowie Krieg und Heldentum hätten sie „hemmungslose Sinnlichkeit, [...] Rassenschändung durch artfremde Tänze und Niggererotik“ sowie „Abtreibung und natür33 34 35 36 37 38 Mehringer, Sieg, S. 2. Ebd. Hitler, Kampf, S. 269. Ebd., S. 278. Vgl. Hoffmann, Entartung, S. 59–74. Wieneke, Charaktererziehung, S. 22. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus Der moralische Umbau der deutschen Gesellschaft 25 liche Unzucht“39 gesetzt. Ganze Generationen seien in der Weimarer Republik nach antibiologischen, lebensfeindlichen Werten und Wertsetzungen erzogen worden, deren verfehlte Bevölkerungspolitik das Überleben des deutschen Volkes gefährdet habe.40 Während „die Verhinderung der Zeugungsfähigkeit bei Syphilitikern, Tuberkulosen, erblich Belasteten, Krüppeln und Kretins“ in ihr als Verbrechen gelte, so wiederum Hitler, unterbinde sie die „Zeugungsfähigkeit bei Millionen der Allerbesten“.41 Diese lebensgefährliche Erkrankung des deutschen Volkskörpers habe die nationalsozialistische Revolution dadurch beantwortet, dass sie die notwendige Veränderung der Haltung, des Charakters und der Lebensformen der Deutschen begonnen habe. 2. Der moralische Umbau der deutschen Gesellschaft : Die ethische Dimension der nationalsozialistischen Revolution Der Nationalsozialismus sah sich als eine politische Bewegung mit einer weltanschaulichen Sendung.42 Deshalb begnügte er sich nicht mit dem Sieg über seine Gegner und der Eroberung der politischen Macht, sondern zielte auf eine ganzheitliche Umwälzung und die Herausbildung eines neuen Menschen. „Alle revolutionären Umwälzungen haben zwei Wurzeln : Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und der daraus entspringende Wunsch nach Änderung der gegebenen staatlichen, wirtschaftlichen, geistigen und moralischen Verhältnisse einerseits und Glaube an die Wandlungsmöglichkeit und Besserungsfähigkeit der Menschen andererseits.“43 Mit der Formel vom „weltanschaulichen Entscheidungskampf“ und einer assoziationsreichen politischen Metaphorik mit bewusst unscharf gehaltenen Konturen sprach die nationalsozialistische Bewegung sehr unterschiedliche Schichten an. Dabei war es jeder von ihnen möglich, andere Bausteine der in sich widersprüchlichen und heterogenen Programmatik des Nationalsozialismus als die für sie entscheidenden herauszunehmen. „Was sich auf der Ebene der Ideologie nicht präzisierte, veranschaulichte und erfüllte sich in der Praxis der Bewegung, die Sinnerfüllung, Zielsicherheit, Geborgenheit und Raum zur Artikulation von Aggressivität bot. Das Endziel der Bewegung blieb vage und gerade deshalb unbezweifelbar.“44 Auf geistigen Ideen und Weltanschauungen gegründete Bewegungen ließen sich nicht durch Macht und Gewalt brechen, ohne dass diese selbst „Träger eines neuen zündenden Gedankens, einer Idee oder Weltanschauung“45 sei. Große Umwälzungen könnten nur durch „fanatische, ja hysterische Leidenschaften“, nicht jedoch durch 39 40 41 42 43 44 45 Ebd., S. 24. Vgl. Gross, Erziehung, S. 26. Hitler, Kampf, S. 445. Vgl. Wolfram, Treue ( II ), S. 227. Balling, Moral, S. 272. Peukert, Volksgenossen, S. 46. Hitler, Kampf, S. 187. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369630 — ISBN E-Book: 9783647369631