Wer sein Selbst verliert, wird es gewinnen

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Alber 48413 / p. 1
Chan Ho Park
„Wer sein Selbst verliert, wird es gewinnen“
VERLAG KARL ALBER
A
Alber 48413 / p. 2
SCI E N T IA
RE L IG IO
Band 9
Herausgegeben von
Markus Enders und Bernhard Uhde
Wissenschaftlicher Beirat
Peter Antes, Reinhold Bernhardt,
Hermann Deuser, Burkhard Gladigow, Klaus Otte,
Hubert Seiwert und Reiner Wimmer
Alber 48413 / p. 3
Chan Ho Park
„Wer sein Selbst
verliert, wird es
gewinnen“
Romano Guardinis Verständnis der
Person und seine Auseinandersetzung
mit dem Buddhismus
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Alber 48413 / p. 4
Diese Arbeit wurde unterstützt durch die Diözese Suwon sowie durch
einen Druckkostenzuschuss der Erzdiözese Freiburg.
D 25
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise Föhren
Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)
Printed on acid-free paper
Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48413-5
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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27
Der Anlass und das Thema der Untersuchung
(Allgemeine Einführung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
Vorwort des Reihenherausgebers
Einleitung
1.
2.
Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
3.
Der Aufbau und die Vorgehensweise
. . . . . . . . . . . .
35
. . . . . . .
39
Teil I: Der Mensch als Person bei Romano Guardini
1.
1.1.
1.2.
1.3.
1.4.
Die philosophische Grundposition Guardinis im Hinblick auf
die geschichtliche Entwicklung des Personbegriffs . . . . . .
Guardinis philosophischer Standpunkt . . . . . . . . . . .
Zum geschichtlichen Bedeutungswandel des Personbegriffs
von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. . . . . . . . . . .
Die wichtigsten Ansätze der Zeitgenossen Guardinis im
deutschsprachigen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.1. Max Scheler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.2. Helmut Plessner . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.3. Ferdinand Ebner . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.4. Martin Buber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.5. Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Welt und Person . . . . . . .
2.1. Welt als das Ganze des Daseins
2.1.1. Natur und Kultur . . .
2.1.2. Welt und Ganzheit . . .
„Wer sein Selbst verliert, wird es gewinnen“
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Inhaltsverzeichnis
2.1.3. Welt als Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.3.1. Biblisch-theologisches Weltbild . . . . . . . .
2.1.3.2. Das Paradies und dessen Zerstörung . . . . .
2.1.4. Die Welt aus der Begegnung von Ich und Nicht-Ich .
2.2. Person als Daseinsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1. Philosophische Analyse der Person . . . . . . . . .
2.2.1.1. Ontologische Dimension der Person . . . . .
2.2.1.1.1. Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1.1.2. Individualität . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1.1.3. Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1.2. Person als Selbstgehörigkeit und Selbstzweck .
2.2.1.3. Die dialogische Dimension der Person . . . .
2.2.1.3.1. (Un-)Bedingtheit der Person? . . . . . . . .
2.2.1.3.2. Aktuierung der Person durch Ich-DuBeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1.3.3. Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Exkurs: Die Worthaftigkeit der Dinge – Ein Übergang .
2.2.2. Theologische Analyse der Person . . . . . . . . . .
2.2.2.1. Eigentliche Ich-Du-Beziehung . . . . . . . . .
2.2.2.2. Anruf der Person . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.2.3. Person und die christliche Existenz . . . . . .
2.2.2.3.1. Das christliche Ich . . . . . . . . . . . . .
2.2.2.3.2. Grundvollzüge der christlichen Existenz . .
2.2.2.3.2.1. Freiheit in Christus . . . . . . . . . . . .
2.2.2.3.2.2. Die christliche Liebe . . . . . . . . . . .
2.2.3. Ethische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.3.1. Person und Wahrheit . . . . . . . . . . . . .
2.2.3.2. Person und das Gute – Das Gewissen . . . . .
2.2.3.3. Die Tugend der Selbstlosigkeit und die Annahme seiner selbst – Ein Widerspruch? . . .
2.2.3.3.1. Die Tugend der Selbstlosigkeit bzw. das
Gesetz der Liebe . . . . . . . . . . . . . .
2.2.3.3.2. Die Annahme seiner selbst . . . . . . . . .
2.2.3.4. Der Begriff „Askese“ . . . . . . . . . . . . .
2.3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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Zur Person Buddha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Die Lehre des Buddha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1. Die religiös-philosophische Vorgeschichte . . . . . . . . .
2.1.1. Die Weltanschauung der vedischen Religion und des
Brahmanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.2. Das philosophische Weltbild der Upanishaden . . . .
2.2. Die Weltanschauung des Buddha . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1. Die Lehre von den „Vier edlen Wahrheiten“ . . . .
2.2.1.1. Die Wahrheit vom Leiden . . . . . . . . . .
2.2.1.2. Die Wahrheit von der Entstehung des Leidens .
2.2.1.3. Die Wahrheit von der Aufhebung des Leidens –
das nirvāna . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1.4. Die Wahrheit vom Pfad, der zur Aufhebung des
Leidens führt . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.2. Die Lehre von der Wiedergeburt (Samsāra) und das
Kamma-Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.3. Der Lehrsatz vom abhängigen Entstehen –
paticcasamuppāda . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3. Der Mensch und die Erlösung . . . . . . . . . . . .
2.3.1. Die anthropologische Interpretation der
„Vier edlen Wahrheiten“ . . . . . . . . . . . . . .
2.3.2. Die Lehre vom Nicht-Selbst (anattā) . . . . . . . .
2.3.3. Der Weg zur Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3.3.1. Der mittlere Weg (majjhimā patipadā) . . .
2.3.3.2. Die Erkenntnis (prajñā) . . . . . . . . . . .
2.3.3.3. Sittliche Zucht (sı̄la) . . . . . . . . . . . . .
2.3.3.4. Meditation (samādhi) . . . . . . . . . . . .
2.3.4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil II: Daseinsverständnis im Buddhismus
1.
Teil III: Ergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.
1.1.
1.2.
1.3.
1.4.
Woher stammt das Interesse am Buddha? . . . .
Der Ausgangspunkt – Sorge um den Menschen
Die Gegensatzphilosophie – Der mittlere Weg .
Askese als Ganzheitsakt . . . . . . . . . . . .
Die paradoxe Logik des Selbst . . . . . . . . .
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2.
„Dennoch“: Unterscheidung des Christlichen . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.
Schriften Romano Guardinis . . . . . . . . . . . . . . . . .
341
2.
Literatur zum Werk Guardinis
. . . . . . . . . . . . . . .
344
3. Literatur zum Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . .
Übersetzungen des buddhistischen Pāli-Kanons . . . . . . . . .
Literatur zum Thema Buddha bzw. Buddhismus . . . . . . . .
346
346
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4.
Literatur zum Thema „Christentum und Buddhismus“ . . . . .
349
5.
Sonstige Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6.
Lexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort des Autors
Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2009 von der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i. Br. als
Dissertation angenommen. Dafür möchte ich mich bei der Fakultät bedanken. Mein besonderer Dank gilt vor allem meinem Doktorvater,
Herrn Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff, der mich mit wertvollen Anregungen und Ermunterungen begleitet hat. Ich danke auch Herrn
Prof. Dr. Dr. Markus Enders, der die vorliegende Dissertation in die
wissenschaftliche Reihe „Scientia & Religio“ aufgenommen hat und
mir bis zur Publikation hilfreich und freundlich zu Seite gestanden hat.
Auch denjenigen, die meine Arbeit korrigiert und mir mit Anregungen
und kritischen Fragen weitergeholfen haben, möchte ich danken. An
dieser Stelle möchte ich dem Korrektur-Service der Internationalen
Graduiertenakademie der Universität Freiburg, vor allem Hannah Belecki meinen Dank aussprechen. Die Franziskaner-Schwestern von Erlenbad haben sich während meines Studienaufhaltes um mein geistiges
und leibliches Wohl gesorgt und es mir ermöglicht, die Arbeit ohne
äußere Ablenkungen zu Papier zu bringen; dafür gilt ihnen mein herzlicher Dank.
Die Drucklegung wurde durch die Diözese Suwon, meine Heimatdiözese, meinen Heimatbischof Mathias Lee sowie die Erzdiözese Freiburg in großzügiger Weise unterstützt. Ganz herzlich danke ich dafür.
Natürlich denke ich nun an die Amtskollegen meiner Heimatdiözese,
mit denen ich während der Zeit der Promotion geistig verbunden blieb.
Schließlich danke ich meinen Eltern für alles, was sie für mich getan
und auch geopfert haben. Mit folgenden zwei knappen Sätzen, die mich
durch meinen Studienaufenthalt hindurch begleitet haben, möchte ich
meine Danksagungen schließen.
Jeder ist geführt. Nur muss man versuchen, sich zu halten an die geleitende Hand.
Romano Guardini
Freiburg i. Br., August 2009
„Wer sein Selbst verliert, wird es gewinnen“
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Vorwort des Reihenherausgebers
Die vorliegende Dissertation von Herrn Chan Ho Park setzt sich selbst
ausdrücklich zwei Ziele: Sie macht es sich erstens zur Aufgabe, „die
Besonderheit der philosophisch-theologischen Anthropologie Guardinis, in deren Mittelpunkt der Mensch als Person steht, nachzuzeichnen
und auf ethische Konsequenzen hin zu untersuchen.“ Zweitens versucht sie „zu klären, wie man das Interesse Guardinis am Buddhismus
und seine Hochschätzung der Person Buddhas richtig verstehen kann“.
Diese beiden Ausgangsfragen werden von dieser Arbeit in drei Teilen
entfaltet: Im ersten, umfangreichsten Teil rekonstruiert der Verfasser
die philosophisch-theologische Analyse des Personbegriffs bei Guardini und würdigt dessen Personkonzept in ethischer Hinsicht. Im zweiten
Teil stellt er die religiöse Gestalt Buddhas und dessen besondere Weltanschauung sowie die urbuddhistische Anthropologie und Soteriologie
aus den geschichtlichen Quellen bzw. Ursprungstexten des Buddhismus dar. Im dritten und letzten Teil sucht er den Grund für Guardinis
Interesse an der religiösen Gestalt des Buddha zu bestimmen und Guardinis Unterscheidung des genuin Christlichen von allem Nichtchristlichen, insbesondere vom Buddhistischen, sichtbar zu machen.
Der weite geistesgeschichtliche und systematische Horizont der
vorliegenden Interpretation des Person-Verständnisses Guardinis wird
vor allem an den folgenden drei Punkten deutlich: Erstens zeigt der
Verfasser vorgängig den systematischen Ort auf, den Guardinis Person-Begriff in dessen philosophischem Denken im Ganzen besitzt;
zweitens betrachtet er das Person-Verständnis Guardinis auf dem Hintergrund einer von ihm kenntnisreich skizzierten Begriffsgeschichte
des Person-Verständnisses im abendländischen Denken von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert; und drittens geht er auch auf die unmittelbaren geistesgeschichtlichen Quellen für wesentliche Elemente
des Person-Verständnisses Guardinis ein, das seine Eigenständigkeit
und seine besondere Gestalt diesen seinen Inspirationsquellen gegenüber gleichwohl wahrt.
In Bezug auf den ersten Punkt deutet der Verfasser die von Max
„Wer sein Selbst verliert, wird es gewinnen“
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Vorwort des Reihenherausgebers
Schelers phänomenologischem Denken (insbesondere religiöser Gehalte) sowie der Lebensphilosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar
inspirierte, von Guardini aber dennoch eigenständig entwickelte Methode einer Phänomenologie des Konkret-Lebendigen an, für welche
die unter dem mißverständlichen Etikett einer Gegensatzlehre firmierende Hervorhebung der polaren Grundstruktur alles Lebendigen von
maßgeblicher Bedeutung ist. Mittels dieser Denkform hat Guardini
sein Verständnis der menschlichen Person entwickelt. Es sind neben
Platons apriorischer Wesenserkenntnis in der Schau der Ideen als normativer (Wert-)Größen vor allem christliche Denker, die für Guardinis
eigenes, nicht zuletzt für sein anthropologisches Denken Vorbildcharakter gewannen: Dabei weist der Verfasser kenntnisreich auf jene methodischen und besonders inhaltlichen Vorgaben und Anregungen hin,
die Guardini Augustinus, Anselm, Bonaventura, Pascal und Kierkegaard als seinen großen christlichen Gewährsleuten verdankt.
Seine profunde Gelehrsamkeit dokumentiert der Verfasser zweitens auch in seinem Abriß einer Begriffsgeschichte des abendländischen Person-Begriffs, innerhalb dessen vor allem Kierkegaards Verständnis des Selbst als eines im Vollzug befindlichen und sich zugleich
als von Gott gesetzt wissenden, jeweiligen, d. h. je einzelnen, Selbstverhältnisses in seinen Bestimmungselementen der Existenzialität, der
Relationalität bzw. seines Selbst- und Fremdbezugs und der Inkommunikabilität für Guardinis Person-Begriff höchst bedeutsam geworden ist.
Sehr instruktiv ist auch die Darstellung der zeitgenössischen anthropologischen Quellen für Guardinis Verständnis der (insbesondere
menschlichen) Person: Denn Max Schelers Deutung des Menschen als
eines Vollziehers von Akten (der aber im Unterschied zu Guardinis Person-Verständnis kein identisches Aktzentrum in sich besitzen soll) und
als eines weltoffenen Wesens sowie Helmut Plessners anthropologisches Theorem einer exzentrischen Positionalität der menschlichen
Person, die eine geistige Innen-, eine raum-zeitliche Außen- und eine
soziale Mit-Welt besitzt, ferner Ferdinand Ebners dialogisches Verständnis der menschlichen Person als einer Existenz aus dem schaffenden Anruf des göttlichen Wortes und Martin Bubers dialogphilosophisches Theorem einer interpersonalen Existenz der menschlichen Person
im Begegnungsverhältnis von (menschlichem) Ich und (menschlichem)
Du aus einem ihm ermöglichend zugrundeliegenden ewigen bzw. göttlichen Du, welches Buber auch „das Zwischen“ nennt, und schließlich
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Vorwort des Reihenherausgebers
Martin Heideggers existenzanalytisch bzw. daseinshermeneutisch begründete Fundamentalstruktur des alltäglichen (menschlichen) Daseins als In-der-Welt-Sein – genau diese anthropologischen Positionen
sind zu zeitgenössischen Inspirationsquellen für Guardinis gleichwohl
eigenständiges Person-Verständnis geworden, wie der Verfasser deutlich herausstellt.
Im zweiten Kapitel des ersten Hauptteils seiner Untersuchung
entfaltet der Verfasser Guardinis Ausführungen in seinem anthropologischen Hauptwerk „Welt und Person“ zur Weltnatur der menschlichen Person als deren existenzieller Situiertheit. Zur Welt als dem
Daseinsraum des Menschen gehören nach Guardini sowohl die Natur
in der Zweideutigkeit dieses Ausdrucks (im Sinne sowohl des unkultivierten Bereichs der Gesamtwirklichkeit als auch einer für das menschliche Denken und Tun vorgegebenen, gültigen Norm) als auch die
(menschliche) Kultur, deren Selbstverständnis als Schöpfung, mithin
als Gotteswerk, mit der Durchsetzung des Autonomiegedankens seit
Beginn der Neuzeit eine von Guardini besonders eindringlich beschriebene substantielle Veränderung erfuhr: Durch die rigorose Verdinglichung und Unterwerfung alles Natürlichen unter die Kulturziele des
Menschen verlor und verliert die Natur für den Menschen zusehends
ihren unberührten, geheimnisvollen und normgebenden Anfangscharakter und wird nur noch zum Werkstoff und zur Materie für ihre
technische Kultivierung und inzwischen sogar künstliche Neuschaffung durch den Menschen. Das von Guardini angenommene polare,
lebendige Gegensatzverhältnis zwischen Natur und Kultur ist seit
Beginn der Neuzeit mit zunehmender Geschwindigkeit außer Balance
geraten und bedroht als Umweltzerstörung und neuerdings auch in
Gestalt des Klimawandels die natürlichen Existenzgrundlagen der
Menschheit.
Zum Ganzheitscharakter der Welt als einer fundamentalen Daseinsweise des Menschen gehören nach Guardini genau drei Erscheinungsformen: Die Welt an sich als die Gesamtordnung der vorhandenen Dinge, die unabhängig von dem Wissen und Tun des Einzelnen,
ihm vorgängig, bereits besteht; zweitens die sog. Erfahrungswelt, die
als erfahrene Welt aus der Begegnung des Menschen mit der Welt an
sich hervorgeht; drittens die Existenzwelt des Menschen, in deren Mittelpunkt der jeweilige Mensch als Person steht. Diese drei grundlegenden und von ihm philosophisch erhobenen Erscheinungsweisen von
Welt deutet Guardini in seiner Auslegung der biblischen Schöpfungs„Wer sein Selbst verliert, wird es gewinnen“
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geschichte zugleich theologisch: Die Welt als ganze ist Schöpfung, d. h.
Werk und Erzeugnis, des freien Schöpfergottes, der sie aus dem Nichts
ins Sein setzt. Zugleich betont Guardini den anthropomorphen Charakter der geschaffenen Welt, d. h. den Umstand, dass sie von Gott auf
die Entstehung und Entfaltung der menschlichen Person hin geschaffen worden ist. Diese hat Gott im Unterschied zu allen nichtpersonalen
Entitäten in ihr Dasein gerufen, d. h. als sein Abbild geschaffen, mit
dem er in einer persönlichen Beziehung stehen will und die sein Schöpfungswerk nicht nur bewahren, sondern auch vollenden soll. Doch
durch den Ungehorsam des Menschen gegenüber seinem Schöpfer verlor der Mensch das Paradies, d. h. die erfahrene Unmittelbarkeit zu
Gott und zu seinen Mitmenschen. Die existenziell einschneidendsten
Folgen des verlorenen Paradieses sind nach Guardini die Schwermut,
die Scham der Geschlechter voreinander und der Tod als Ausdruck der
widernatürlichen Unordnung und Verstörung der menschlichen Existenz. Aus dieser Unordnung resultiert wiederum eine geistige Blindheit des Menschen, die die Welt nicht mehr als Schöpfung Gottes, sondern nur noch als zu beherrschende Natur sehen kann. Schließlich
leitet Guardini aus der biblischen Paradiesesgeschichte auch das Fundament für die Konstituierung der Existenzwelt des Menschen ab, welches er in der Begegnung von Ich und Du sieht. Ein Wesensmoment
echter Begegnung aber ist die Freiheit, als deren materiale Seite Guardini die Möglichkeit zu universeller Beziehung, als deren formale Seite
er die Anfangskraft bzw. Fähigkeit zur Urheberschaft bestimmt. Der
Gravitationspunkt von Guardinis existenziellem Weltbegriff aber liegt
in der Begegnungswelt, welche die beiden polaren Seiten von Verwandtschaft und Fremdheit umfaßt und damit ein lebendiges Gegensatzverhältnis darstellt.
Im zweiten Abschnitt des ersten Haupteils der vorliegenden Untersuchung stellt der Verfasser die Grundzüge von Guardinis philosophischer Analyse der Person mit bemerkenswerter Klarheit dar. Dabei
zeigt er, dass Guardini ein Schichtenmodell der menschlichen Person
vertritt, welches von den drei Grundschichten der Gestalt, der Individualität und der Persönlichkeit ausgeht. Unter der konkreten, lebendigen Gestalt versteht er eine lebendige Einheit von Gegensätzen. Eine
solche ist der Mensch in zweifacher Hinsicht: Als Wesensgestalt, d. h.
als Bau- und Werdegestalt, die verschiedene körperliche, psychische
und geistige Phasen zielgerichtet durchläuft, und als Schicksalsgestalt.
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So ist der Mensch sowohl eine Gestalt des Seins als auch eine Figur des
Geschehens und damit eine lebendige Einheit von Gegensätzen.
Mit der „Individualität“ der menschlichen Person meint Guardini
nicht nur ihre Individuiertheit, sondern auch ihre Lebendigkeit, mit
der sie sich von der Gesamtwelt wie auch von der Gattung aktiv abgrenzt und selbst behauptet, sich eine eigene Umwelt schafft. Genauer
versteht Guardini diese Individualität als ein In-sich-Zentriert-Sein
bzw. als Innerlichkeit, die die menschliche Person als eine lebendige
Mitte auszeichnet. Diese allem Lebendigen eigene Innerlichkeit gewinnt allerdings bei der menschlichen Person durch deren Geistbesitz
eine ganz neue Qualität, welche Guardini die Persönlichkeit nennt.
Diese umfaßt die drei Grundvollzüge menschlichen Daseins: die Erkenntnis, den Willen und das Tun. Die Person ist daher nach Guardini
die lebendige, konkrete Ganzheit der drei ontologisch unterscheidbaren
Bereiche oder Schichten des Menschen, nämlich der Gestalt, der Individualität und der Persönlichkeit. Darüber hinaus ist nach Guardini die
Person durch die Eigenschaften des Selbststandes bzw. der Selbstzugehörigkeit und Selbstzwecklichkeit grundlegend und wesensmäßig bestimmt. Mit anderen Worten: Dem Wesen jeder Person kommt die Fähigkeit und damit zugleich das unbedingt schutzwürdige Grundrecht
der Selbstverfügung bzw. Autonomie zu: Sie darf auf Grund ihrer unverfügbaren und folglich unantastbaren Selbstzugehörigkeit nicht instrumentalisiert, d. h. als bloßes Mittel zu anderen Zwecken betrachtet
und behandelt werden.
Die luziden Ausführungen des Verfassers zu Guardinis philosophischer Ontologie der Person finden im Aufweis der dialogischen Dimension der Person ihren Abschluß: Die menschliche Person bedarf zu
ihrer Entfaltung und Aktuierung anderer menschlicher Personen, d. h.
der Ich-Du-Beziehung, sie bedarf der interpersonalen Begegnung, auch
wenn sie von dieser im Unterschied zu Bubers dialogphilosophischem
und Schelers akttheoretischem Konzept der menschlichen Person bei
Guardini nicht überhaupt erst hervorgebracht wird. Die dialogische Dimension der menschlichen Person manifestiert sich am deutlichsten in
der menschlichen Sprache, in der sich die Person selbst – und nicht nur
Informationsgehalte in funktionaler Hinsicht – mitteilt und darin anderen Personen begegnet. Doch nicht nur das gesprochene Wort bzw.
der mitgeteilte Satz, sondern auch das Schweigen als Ausdruck eines
tiefen, inneren Einverständnisses und einer wechselseitigen Zugehörigkeit konstituieren die Ganzheit der menschlichen Sprache. Deren
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Vorwort des Reihenherausgebers
wie überhaupt aller zwischenmenschlichen Ich-Du-Beziehung göttliches Urbild und Ermöglichungsgrund aber ist nach Guardini das
Selbstgespräch als der Wesensvollzug der göttlichen Trinität, aus dem
das göttliche Schöpfungssprechen und die Worthaftigkeit der von ihm
gesprochenen Kreaturen allererst hervorgehen.
Grundlegend für Guardinis theologische Analyse der menschlichen Person ist deren Annahme, dass die eigentliche und für die
menschliche Person ursprünglichste und höchste, sie fundamental bestimmende Ich-Du-Beziehung die zwischen ihr und dem göttlichen Du
ist. Denn die menschliche Person existiert von Gott her und auf ihn
hin. Dieses elementare Existenzial menschlichen Personseins bringt
Guardini mit der theo-anthropologischen Grundbestimmung des Anrufs zum Ausdruck: Weil menschliches Personsein von seinem Wesensursprung her Angerufensein von Gott bedeutet, weil also jede
menschliche Person wesensursprünglich aus dem Anruf ihres Namens,
d. h. aus dem bejahenden, liebenden Willen ihres göttlichen Schöpfers,
heraus existiert, ist ihre Sinnbestimmung die der existenziellen Antwort auf bzw. genauer die des hörenden Gehorsams gegenüber diesem
Anruf. Und weil die Inkarnation Gottes für Guardini die Qualität einer
Neuschöpfung des Menschen, einer gnadenhaften Verwandlung der
menschlichen Natur besitzt, liegt die von Guardini insbesondere an
der paulinischen Theologie erhobene Sinnbestimmung der christlichen
Existenz der menschlichen Person in der doppelten Inexistenz Christi
im gläubigen Menschen: Wie Christus in dem an ihn glaubenden Menschen durch die Einwohnung des Heiligen Geistes existiert, so existiert
dieser in der allumfassenden Sohnesbeziehung Christi zum göttlichen
Vater.
Diese doppelte Inexistenz als Grundverfassung christlichen personalen Menschseins schließt einige Grundvollzüge ein, die der Verfasser im Folgenden darstellt: Unter dem Stichwort der „Freiheit in
Christus“ entwickelt der Verfasser Guardinis inhaltlich qualifiziertes
Verständnis christlicher Freiheit, die im Unterschied zu dessen philosophisch-ontologischem Freiheitsbegriff als der Urheberschaft und Anfangskraft des Menschen unter „Freiheit“ die von Gott geschenkte Befreiung des Menschen von seiner Selbstversklavung durch die Sünde
sowie das neue, gnadenhaft gewirkte Leben in und durch Christus versteht. Der zentrale Grundzug christlicher Existenz aber ist die christliche Liebe, die nach der von Guardini auch hier aufgegriffenen paulinischen Lehre mit der Liebe des göttlichen Schöpfers zum einzelnen
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Menschen ihren sachlichen Anfang nimmt und in der Erlösung des
Menschen durch und in Jesus Christus ihre Vollendung findet. Aus
dieser Kraft der göttlichen Liebe, welche der Heilige Geist in Person ist,
und damit aus innerster Zugehörigkeit zu Christus lebt jede genuin
christliche Existenz.
Im nächsten Schritt zeigt der Verfasser die sich bei Guardini ergebenden ethischen Konsequenzen dieses Grundverständnisses christlicher Existenz auf: Die wesenhafte Bezogenheit der menschlichen Person auf die absoluten Werte muss in einer christlichen Existenz
aktualisiert, d. h. bejaht und realisiert werden. Dies gilt für die Wahrheit, deren praktische Aufgabe und Ablehnung zur Erkrankung der
menschlichen Person führt, nicht weniger als für die Gerechtigkeit
und das Gute, für dessen absolute Geltungsansprüche das menschliche
Gewissen empfänglich ist. Das zentrale Organ der menschlichen Liebe
zum Guten wie überhaupt allen menschlichen Wertfühlens und -antwortens aber ist in Guardinis Anthropologie im Anschluß an die
abendländische Tradition der philosophia und theologia cordis das
Herz.
Einen herausragenden Platz in Guardinis Ethik der christlichen
Existenz nimmt das dialektische Verhältnis zwischen der Annahme seiner selbst und der christlich geforderten Selbstlosigkeit ein. Zwischen
der Selbstannahme und der Selbstlosigkeit besteht nur scheinbar ein
Widerspruch: Denn während erstere als Selbstbejahung und Selbstliebe die ethische Grundlage der menschlichen Existenz überhaupt darstellt, führt die christlich verstandene Selbstlosigkeit, deren Vorbild in
der Menschwerdung Christi liegt, als Selbsthingabe an Christus zu
dessen Inexistenz im Menschen und damit zum Finden des eigenen
Selbst. Dies ist daher das paradoxe Gesetz der christlich geglaubten Liebe, dass, wer an seinem eigenen Selbst hängt, d. h. wer es für sich behalten will, dieses verlieren und wer es freiwillig an Christus hingibt,
es gewinnen wird. Am Ende seines dem Person-Verständnis Romano
Guardinis gewidmeten Teils zeigt der Verfasser schließlich, dass diese
beiden Grundtugenden der Annahme und der Hingabe seiner selbst
den Kern dessen ausmachen, was Guardini unter der christlichen Askese versteht.
Im zweiten Hauptteil seiner Untersuchung entwickelt der Verfasser, der als koreanischer Priester mit dem in seinem Heimatland
quantitativ gesehen überwiegenden Buddhismus bestens vertraut ist,
unter dem Titel „Daseinsverständnis im Buddhismus“ die Grundzüge
„Wer sein Selbst verliert, wird es gewinnen“
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buddhistischer Anthropologie. Seiner ausführlichen, aus den Quellen
geschöpften und unter ständigem Bezug auf Standardwerke der Sekundärliteratur entwickelten Rekonstruktion der Weltanschauung des geschichtlichen Buddha stellt er eine instruktive Darstellung der geschichtlichen Person Buddhas und seiner religiös-philosophischen
Vorgeschichte in der vedischen Religion sowie im Brahmanismus insbesondere der sog. Upanischaden voran. Ist für die vedische Religion
ein magisches Verständnis des Opferkultes sowie ein Polytheismus
kennzeichnend, so lehrt das philosophische Weltbild der Upanischaden
mit der Identität zwischen dem „Brahman“ genannten absoluten Einen
und dem „Atman“ genannten unsterblichen Selbst des Menschen einerseits einen Monismus, sucht aber andererseits zugleich auch mit der
Seelenwanderungs- bzw. Wiedergeburtslehre (Yājñavalkyas) das charakteristisch indische Gesellschaftssystem der Kastenordnung sowie
die objektive, universale Gültigkeit eines weltlichen Tun-Ergehen-Zusammenhangs und damit die Wirklichkeit der Freiheit und sittlichen
Verantwortlichkeit des Menschen zu begründen.
Als Kerninhalt der Weltanschauung des Buddha stellt der Verfasser zu Recht die Lehre von den sog. „vier edlen Wahrheiten“ vor:
Die erste Wahrheit vom Leiden geht von der Gleichsetzung zwischen Vergänglichkeit und Leidverfaßtheit aus. Weil das irdische Leben
mit all’ seinen, auch den schönen, Inhalten vergänglich ist, gilt alles in
diesem Leben als leidvoll. Dieses Theorem der universellen Übergänglichkeit und folglich Leidverfaßtheit alles Erscheinenden wendet der
Buddhismus konsequent auch auf den Menschen selbst an. Daher wird
dem Menschen nur ein empirisches Ich zugesprochen, das sich aus fünf
Gruppen von sog. Daseinsfaktoren (die körperliche Form, die Empfindung, die Wahrnehmung, die Gemütsregung und das Bewusstsein) zusammensetzt, welche die Kontaktnahme des Ich mit der Erscheinungswelt und dessen Bindung an diese erklären sollen. Die (zweite)
Wahrheit von der Entstehung des Leidens besteht in dem Lehrsatz des
abhängigen Entstehens bzw. genauer der Wechselwirkung zwischen
den zwölf Gliedern eines Konditionalgefüges, mit dem das Zustandekommen einer Wiedergeburt ohne eine wiedergeborene Seele – höchst
wahrscheinlich nicht vom geschichtlichen Buddha selbst, sondern von
einer späteren buddhistischen Begründung und Weiterführung seiner
Lehre – erklärt wird: Diese zwölfgliedrige Kette der Entstehung des
Leidens beginnt mit dem Nichtwissen seines hier gelehrten Entstehungsgrundes und umfaßt die sog. Gestaltungen, d. h. Willensstrebun18
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gen, die sich auf Sinnesobjekte bzw. äußere Erscheinungen richten; ferner das Bewusstsein oder Erkennen als den wandelbaren Träger der
empirischen Persönlichkeit, viertens Name und Form als den physischen und psychischen Organismus, der sich nach dem Eingehen des
Bewusstseins in einen neuen Mutterschoß bildet; daraus gehen als
fünftes Glied des konditionalen Entstehens die sechs Sinnesorgane hervor, welche die sechs Sinnesbereiche der Außenwelt erfassen; dieses
Erfassen aber geschieht sechstens durch Berührung, aus der als siebtes
Glied des Entstehungszusammenhangs in Abhängigkeit die Empfindung hervorgeht; die, sei es angenehme, sei es unangenehme, Empfindung aber gebiert achtens den Durst, d. h. das Streben nach Begierden,
nach dem Werden und dem Entwerden, welches für den geschichtlichen Buddha und damit vor der Entwicklung der Theorie von der
zwölfgliedrigen Kette des abhängigen Entstehens der unmittelbare
Entstehungsgrund allen Leidens war. Dem Durst aber folgt neuntens
das Ergreifen oder Anhaften, d. h. das Inbesitznehmen und Sichfestklammern an vergänglichen Dingen, das insofern unweigerlich zu
Leiderfahrungen führt, weil alles Vergängliche früher oder später
ohnehin losgelassen werden muss. Das Ergreifen aber führt zehntens
zur Ausbildung neuen Kammas als der Tatfolgen, d. h. zu einem Werden, und dieses elftens wiederum zu einer Geburt, die zwölftens Alter
und Tod, Schmerz, Kummer, mithin Leid bedingt. Denn nach buddhistischer Lehre sind alle Wesen an den Kreislauf der Wiedergeburt (Samsara) und das Kamma-Gesetz gebunden, nach dem gute Taten eine
Wiedergeburt in eine qualitativ bessere, schlechte Taten eine Wiedergeburt in eine qualitativ schlechtere Daseinsform zur Folge haben.
Die dritte edle Wahrheit aber ist die von der Aufhebung des Leidens und damit der unaufhörlichen Wiedergeburt, die für den mit der
ersten Lehrrede des Siddartha Gautama, d. h. des geschichtlichen
Buddha, beginnenden ursprünglichen Buddhismus das vollkommene
Verlöschen des Durstes, d. h. die gänzliche Aufhebung der Tätigkeit
des eigenen Willens, ist. Diesen Zustand vollkommener Willens- und
Wunschlosigkeit aber nennt der Buddhismus das „Nirvana“ (Sanskrit)
oder „Nibbana“ (Pāli), welches wörtlich nur „das Verlöschen“ (der positiven wie negativen Begierde) bedeutet, wobei noch zwischen dem
„Nirvana“ als einem irdisch erreichbaren Zustand und dem sog. „Parinirvana“ als dem vollkommenen Erlöschen allen Werdens unterschieden wird, das der Erlöste erst nach seinem Tod erfährt. Dieser Heilszustand des höchsten Glücks in vollkommener Ruhe und gänzlichem
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Frieden aber wird von einigen Textpassagen in der kanonischen
buddhistischen Literatur auch als „friedvolle Stätte“ und darüber hinaus sogar als das Ungewordene und Ungeborene, mithin als das Absolute, bezeichnet.
Die vierte und letzte, die existenziell wichtigste Wahrheit aber ist
die vom Weg, der zur Aufhebung des Leidens führt. Sie vermittelt mit
dem achtteiligen oder achtgliedrigen Pfad die ethisch-lebenspraktischen Anweisungen, die der Mensch befolgen muß, um zum Nirvana
zu gelangen. Deren einzelne Glieder werden üblicherweise in drei
Gruppen unterteilt: Es ist dies die rechte Erkenntnis, die die rechte Anschauung, d. h. das Wissen von den vier edlen Wahrheiten, und die
rechte Gesinnung als den Verzicht auf jegliches Übelwollen; ferner die
sittliche Zucht, welche das rechte Reden ohne Lüge und eitles Geschwätz, das rechte Handeln (nach den sittlichen Vorschriften der
Mönchsethik, d. h. kein Leben zu beschädigen, keusch zu leben und
auf Gewalt zu verzichten) und die rechte Lebensführung (mit dem
rechtmäßigen Erwerb des eigenen Unterhalts) umfaßt; und schließlich
die rechte Meditation, welche die rechte Anstrengung (um Vermeidung von Gier, Haß und Verblendung), das rechte Gedenken bzw. die
rechte Wachsamkeit, d. h. die sorgfältige Beobachtung von Körper, Gefühlen, Gedanken und Erscheinungen, und schließlich die rechte Konzentration einschließt. An diesem Weg zur Aufhebung des Leidens und
seinem Heilsziel des Nirvana macht der Verfasser überzeugend deutlich, dass es dem Buddhismus, um mit Guardini zu sprechen, nur um
die „Existenzwelt“ des Menschen geht, dass er als keine Metaphysik,
keine Wirklichkeitserklärung aus ersten Prinzipien, sondern ausschließlich eine Heilslehre sein will, deren einziges Ziel die Erlösung
des Menschen von dieser irdischen Welt unaufhörlichen Leidens ist.
Daher rückt der Verfasser völlig zu Recht das buddhistische Verständnis des erlösungsbedürftigen Menschen und der Wege zu seiner Erlösung in das Zentrum seiner kenntnisreichen Ausführungen zum
Buddhismus:
Nach gemeinbuddhistischer Lehre sind alle weltlichen Dinge,
Realitäten und Prozesse erstens vergänglich, zweitens leiderzeugend
und drittens selbstlos, gemeint ist: identitäts- und substanzlos. Die fünf
bereits erläuterten Daseinsfaktoren erklären das In-Beziehung-Treten
des Menschen mit der Erscheinungswelt. Der „Durst“ als der „Wille
zum Sein“ (O. Franke), den Arthur Schopenhauer als einen blinden,
irrationalen Drang des Willens zum Leben gedeutet und im Rahmen
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seiner Weltsicht hypostasiert und universalisiert hat, dieser Durst
treibt den unerlösten Menschen permanent zur Selbstrealisierung an
und führt daher zu einem Werden, zur erneuten Wiedergeburt. Wer
dieses Verlangen nach Sein aber aufgegeben hat und den Heilsweg zu
Ende gegangen ist, wird zu einem „Arhat“, d. h. zu einem, der seine
Erlösung durch das Befolgen der Lehren eines anderen erlangt hat –
im Unterschied zu einem „Buddha“, d. h. einem aus eigener Kraft Erwachten. Es ist daher einzig und alleine die Sorge um das Heil des
Menschen und das Mitleid mit ihm, welche den vier edlen Wahrheiten
als dem Kern der buddhistischen Lehre motivierend zugrunde liegt.
Einer eingehenden Deutung unterzieht der Verfasser auch die
charakteristisch buddhistische „An-atta-Lehre“, d. h. die Lehre vom
Nicht-Selbst. Gemeint ist damit die für den Buddhismus fundamentale
Annahme, dass alle Gegenstände und individuellen Entitäten ohne irgendeine unveränderliche, selbständige Grundlage existieren, dass sie
identitäts- und substanzlos sind. Während in den hinduistischen Upanischaden und in brahmanistischen Texten die Erkenntnis des Selbst
ein wichtiger Weg zur Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten
ist, ist für den Buddhismus aus rein heilspragmatischen Gründen eine
negative, ablehnende Einstellung zum Selbst charakteristisch. Denn
die Annahme eines solchen Identitätskerns im Menschen begünstigt
nach buddhistischer Überzeugung das willentliche Anhaften oder Sichfesthalten daran und damit die Fortsetzung des Rades der Wiedergeburt. Die buddhistische Wiedergeburtslehre ohne Seelenwanderung
verabschiedet daher radikal jegliches Denken in Substanz- und Identitätsverhältnissen und ersetzt es durch ein Denken in Funktionalitäten.
Dabei sieht der Verfasser in der buddhistischen „An-atta-Lehre“ völlig
zu Recht eine heilspädagogisch motivierte Antithese gegen die AtmanBrahman-Spekulation der Upanischaden, der die heilspragmatische
Haltung einer „Disidentifikation“ motivierend zugrunde liegt.
Im letzten Teil seiner Buddhismus-Darstellung läßt der Verfasser
die buddhistisch gedachten Heilswege noch einmal Revue passieren:
den sog. mittleren Weg zwischen den Gegensätzen eines durch sinnliche Lust geprägten und eines durch asketische Selbstpeinigung
bestimmten Lebens, dem das zwischen einer idealistischen und einer
materialistischen Weltsicht stehende theoretische Verständnis der
Wirklichkeit dieser Welt im Buddhismus entspricht. Der Heilsweg der
Erkenntnis umfaßt die Kenntnis der vier edlen Wahrheiten und die
rechte Gesinnung als Hasslosigkeit und Friedfertigkeit. Der Weg der
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sittlichen Zucht schließt neben den schon genannten Aspekten wesentlich auch das Schweigen ein, dem der geschichtliche Buddha eine
große Heilswirksamkeit beimaß, weshalb er das Schweigen auch vorbildlich übte und deshalb von seinen Anhängern aus als „Meister der
Stille“ bezeichnet wurde. Unbeschadet signifikanter Unterschiede zwischen buddhistischer Laien- und Mönchsethik – etwa hinsichtlich der
Keuschheit als exklusiv an Mönche und Nonnen gerichtetes Gebot
und der Freigebigkeit als eine hohe Tugend der Laien – ist das Gebot
des Nichtverletzens bzw. der Lebensschonung für alle Buddhisten in
grundlegender Weise verbindlich. Ein körperlich und geistig reiner
bzw. heiliger Lebenswandel aber ist für jeden Menschen – ob Mönch
oder Laie – eine notwendige Voraussetzung für seine Befreiung vom
Rad der Wiedergeburt.
Diese Befreiung erreicht der Mensch nach buddhistischer Überzeugung aber erst durch die Meditation, weshalb diese eine herausragende Rolle auf dem Heilsweg spielt. Fünf Hindernisse stehen schon
nach der Lehre des geschichtlichen Buddha dem Verweilen in der Meditation entgegen: Jede weltliche Begierde; der Wunsch, anderen zu
schaden; Trägheit und Verschlafenheit; Eitelkeit und Geringschätzung
anderer; schließlich auch der Zweifel über den richtigen Weg. Angeeignet werden soll durch die Meditation ein innerer Gleichmut, mehr
noch: eine vollkommene Gelassenheit und innere Abgeschiedenheit,
eine restlose Aufhebung jeder Tätigkeit und Wirksamkeit des eigenen
Willens.
Mit einem „Zwischenfazit“ beschließt der Verfasser diesen zweiten, der Daseinsform im Buddhismus gewidmeten Teil seiner Untersuchung. Darin wiederholt er, dass nach dem buddhistischen Heilsverständnis die Ichbezogenheit die Quelle aller Übel ist; und dass nur
derjenige die Erlösung finden könne, der selbstlos geworden sei.
Im dritten und letzten, mit „Ergebnis und Ausblick“ überschriebenen Teil der vorliegenden Arbeit untersucht der Verfasser die Gründe für Guardinis Interesse am Buddha und seinem Denken. Als dessen
Ausgangspunkt zeigt er die tiefe Sorge um das existenzielle Wohlergehen des Menschen angesichts seiner zunehmenden Entfremdung von
der Natur auf Grund seines maßlos gewordenen Autonomiestrebens
auf: Die Gefahr einer sich tendenziell absolut setzenden Freiheit aber
liegt in dem Abfall von den in ihrer Gültigkeit unverfügbar vorgegebenen absoluten Werten des Wahren, Gerechten und Guten, deren Ablehnung oder auch nur praktische Nichtbeachtung zu einer tiefgreifen22
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den Erkrankung der menschlichen Person führt. In dieser Sorge und
Für-Sorge um den Menschen sieht der Verfasser eine grundlegende
Gemeinsamkeit zwischen Guardini und Buddha, ebenso zwischen der
buddhistischen Überzeugung vom Leidcharakter alles Vergänglichen
und der Schwermut bei Guardini, die dieser als ein existenzielles Leiden an der Endlichkeit und Vergänglichkeit des je eigenen Daseins versteht. Eine weitere Analogie findet der Verfasser zwischen der philosophischen Denkform des Gegensatzes als der Spannungseinheit zweier
Pole (wie bei der menschlichen Person zwischen ihrem ontologisch-statischen und ihrem dialogisch-dynamischen Pol) bei Guardini und der
buddhistischen Weisheitslehre als eines mittleren Weges zwischen den
Extremen von Idealismus und Materialismus, von Determinismus und
Indeterminismus, für den das Halten des Maßes und der Mitte von entscheidender Bedeutung ist. Guardinis Sympathie für die Lehre des
Buddha gründet ferner auch in der gemeinsamen Befürwortung einer
ganzheitlichen Askese, die neben dem Verzicht und der Selbstzucht
auch der Wahrung innerer Freiheit durch das Halten der Distanz zu
den Dingen sowie der Ruhe und dem Schweigen den notwendigen Daseinsraum gewährt. Schließlich zeigt der Verfasser auch die zweifellos
bedeutsamste Gemeinsamkeit zwischen Guardini und dem genuin
buddhistischen Denken eindringlich auf: Die Überzeugung, dass der
Mensch nur durch Selbstlosigkeit seine vollkommene Existenzweise
finden könne. Diese Überzeugung aber bezeichnet der Verfasser unter
Bezug auf Henri de Lubac als „das paradoxe Prinzip der Person“ sowie
mit Guardini selbst als „die Logik des göttlichen Lebens“. Zugleich erkennt er, dass es sich dabei um das (Verstandes-) Paradox der Liebe
selbst handelt, wonach eine Person erst durch die Hingabe ihrer selbst
eine Verwandlung in eine vollkommenere Daseinsform – bei Guardini
die Inexistenz Christi im Menschen – erfährt. Im Verständnis der
Selbstlosigkeit bei Guardini und in der buddhistischen „An-atta-Lehre“ sieht der Verfasser daher dasselbe paradoxale Prinzip verwirklicht:
„Der Mensch wird umso freier und eigentlicher, je mehr er sich, sein
angebliches Selbst, aufgibt, d. h. je radikaler er von seiner Ichbezogenheit entbunden wird.“
Doch auch wenn diese Gemeinsamkeiten zwischen christlicher
Weltanschauung und buddhistischem Daseinsverständnis Romano
Guardinis substanzielles Interesse am Buddhismus erklären und verständlich machen können, so bleibt dennoch der fundamentale Unterschied zwischen beiden Daseinsverständnissen – dem christlichen und
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dem buddhistischen – bestehen und Guardini auch vollends bewußt:
Buddha ist für Guardini – wie auch für Henri de Lubac – zwar ein herausragender Vorläufer und Vorbereiter des Christusereignisses; aber
dennoch ist nach christlichem Verständnis die Fülle des göttlichen
Heils erst mit Christus in die Menschheitsgeschichte eingetreten, ist
Gott nur in Christus Mensch und darin zum universellen Vorbild und
Maßstab allen menschlichen Lebens geworden. Daher beruht die Unterscheidung des Christlichen letztlich auf der Menschwerdung Gottes
in Jesus Christus, ist der christlich geglaubte Sinn allen menschlichen
Daseins die Nachfolge Christi, das Ähnlichwerden mit ihm. Deshalb ist
Vorbild und Mittler des Heils für den Menschen im Christentum eine
Person, die des Gottmenschen, während im Buddhismus die Heilslehre
an Heilsrelevanz für den Menschen über der Person des geschichtlichen Buddha steht. Und deshalb lernt der Mensch nicht bereits im
Buddhismus, sondern erst im Christentum die Vollendung dessen,
was er wesensursprünglich immer schon ist: seiner Person.
Die vorliegende Dissertation füllt mit ihrer sachlich gründlichen,
im gedanklichen Aufbau klar strukturierten sowie argumentativ und
sprachlich überzeugend präsentierten Darstellung des Person-Verständnisses Romano Guardinis einschließlich seiner ethischen Konsequenzen sowie der Form und Motive seiner bemerkenswerten
Buddhismus-Rezeption zweifelsohne eine Lücke in der bisherigen Forschung zur Anthropologie und Ethik Guardinis. Sie verbindet eine sehr
gute Kenntnis des umfassenden und vielschichtigen Denkens Guardinis mit einer gründlichen Analyse seiner geistesgeschichtlichen Inspirationsquellen. Mit ihrer minutiösen Untersuchung von Form und
Motiven der Buddhismus-Rezeption Guardinis erschließt sie eine
neue, weitere, für viele Leser sicher überraschende Inspirationsquelle
von Guardinis monumentalem Werk. Darüber hinaus leistet sie insofern einen gelungenen Beitrag zum christlich-buddhistischen Dialog,
als sie sowohl das genuin christliche Person-Verständnis als auch die
daraus ableitbaren Grundzüge christlicher Ethik in ihrer repräsentativen Ausformung im Denken Guardinis mit den aus den religionsgeschichtlichen Quellen überzeugend erhobenen Grundzügen der buddhistischen Anthropologie und Ethik vergleicht und dabei bestehende
Analogien und bleibende Divergenzen sichtbar macht. Diese Dissertation ist nach meinem ganz eindeutigen Eindruck die qualitativ beste,
die ich von einem aus Ostasien stammenden Promovenden in katholischer Theologie bislang überhaupt gelesen habe. Mit ihr hat sich ihr
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Verfasser für eine akademische Lehrtätigkeit in seinem Heimatland in
vorbildlicher Weise qualifiziert. Sie in die Reihe „Scientia & Religio“
aufnehmen und dem an ihrer Thematik interessierten Leser wärmstens
empfehlen zu können, ist mir daher eine echte Freude.
Freiburg, den 3. August. 2009
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Einleitung
1.
Der Anlass und das Thema der Untersuchung
(Allgemeine Einführung)
„Mir hat immer sehr eingeleuchtet, was die alte chinesische Weisheit lehrt:
Das Hinderlichste im Geistigen seien Absichten; je reiner die Absichtslosigkeit, desto stärker die Wirkung. Ich war immer überzeugt, wesentlich sei nur,
die Sache so zu machen, wie sie selbst sein wolle.“ 1
Dieses Zitat stammt aus einer Ansprache Romano Guardinis, in der er
auf sein Leben und seine schriftstellerische Tätigkeit zurückblickt. Es
stellt nicht nur rhetorisch dar, welcher Grundgedanke ihn durch seine
ganze wissenschaftliche Arbeit begleitete, sondern deutet auch seine
Offenheit gegenüber anderen Kulturen an.
Romano Guardini gehört ohne Zweifel zu den großen Gestalten in
der Theologie-geschichte des 20. Jahrhunderts. Er wurde jedoch, wie
einige Autoren ihm attestieren, nach und nach zum „bekannten Unbekannten“ 2 . Seit 1985, dem 100. Geburtsjahr Guardinis, sind aber die
Schriften Guardinis wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht
Romano Guardini, Warum so viele Bücher?, in: Stationen und Rückblicke, Würzburg,
1965, 23–34, hier 33. (Kursiv von mir).
2 Gunda Brüske, Anruf der Freiheit, Paderborn, 1998, 11. Schon ein paar Jahre nach
dem Tod Guardinis merkte Fridolin Wechsler, dass die Wirkungskraft Guardinis verloren ging, und schrieb: „Seit Romano Guardini am 1. Oktober 196 gestorben ist, ist es
um ihn still geworden“ (Fridolin Wechsler, Romano Guardini als Kerygmatiker, Paderborn, 1973, 11). Eugen Biser wies auch darauf hin, dass Guardinis Werke nach seinem
Tod immer mehr an Popularität verloren, und dass man sich sogar weigerte, ihn zu den
„bahnbrechenden Theologen des 20. Jahrhunderts“ zu rechnen (Vgl. Eugen Biser, Interpretation und Veränderung. Werk und Wirkung Romano Guardinis, Paderborn, 1979,
15). Es ist also ein „merkwürdiges Phänomen“, dass Guardini und seine Werke zu seinen Lebzeiten viele Menschen faszinierten und großen Einfluss auf sie hatten, aber nach
seinem Tod nahezu in Vergessenheit gerieten (Vgl. Dorothee Fischer, Wort und Welt.
Die Pneuma-Theologie Romano Guardinis als Beitrag zur Glaubensentdeckung und
Glaubensbegleitung, Stuttgart-Berlin-Köln, 1993, 10).
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Einleitung
worden. Diese Aktion wurde von der Katholischen Akademie Bayern
initiiert, und zwar durch die Publikationsreihe „Romano Guardini
Werke“, die 43 Bände umfasst. Innerhalb der letzten zehn Jahre erschienen zahlreiche Aufsätze, die Guardinis Denken philosophisch,
theologisch und pädagogisch analysierten und interpretierten. Hinzu
kommen Monografien, die sein Leben und seine Werke unter den verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. 3 Die Werke Guardinis finden
also erneut in den Buchläden ihre Leser, und sein philosophisch-theologisches Denken wird in den wissenschaftlichen Fakultäten neu reflektiert. Auch in koreanischer Sprache ist bis heute eine Vielzahl seiner Schriften übersetzt und veröffentlicht worden. 4
Klaus Korfmacher, Romano Guardini – Ekklesiologische Aspekte eines zeugnisstarken
Priesters und theologischen Denkers im Hinblick auf das II. Vatikanische Konzil, Bochum, 1996; Kyung-Won Lee, Grundaspekte des Mensch-Seins bei Romano Guardini,
Regensburg, 1996; Gunda Brüske, Anruf der Freiheit, Paderborn, 1998; Maria Pelz,
Wege des Lebens, Frankfurt a. M., 1998; Berthold Gerner, Romano Guardini in München, München, 1998; Bruno Kurth, Das ethische Denken Romano Guardinis, Paderborn, 1998; Franz Heinrich, Romano Guardini – Leben, Persönlichkeit, Charisma und
Wirken, München, 1998; Andrzej Kobylinski, Modernità e postmodernità, Roma, 1998;
Joachim Reger, Die Phänomenologie als theologisches Prinzip, St. Ottilien, 1999; Enzo
Nardi, Cristianesimo ed esistenza – il messaggio spirituale di Romano Guardini, Padova,
1999; Joachim Reber, Die Welt des Christen, München, 1999; Franz Henrich (Hg.), Romano Guardini – Christliche Weltanschauung und menschliche Existenz, Regensburg,
1999; Stephan Pauly, Subjekt und Selbstwerdung, Stuttgart, 2000; Josef Kreiml, Die
Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, Regensburg, 2001; Joachim Reber, Romano
Guardini begegnen, Augsburg, 2001; Bernhard Hegge, Christliche Existenz bei Romano
Guardini, Würzburg, 2003; Marian Eleganti, „Man muss gut wollen, um wahr denken
zu können“ – Ein Beitrag zum Wahrheitsverständnis von Romano Guardini, Salzburger
Theologische Studien, Band 22, Innsbruck, 2003; Markus Zimmermann, Die Nachfolge
Jesu Christi, Paderborn, 2004; Giuseppe Ruta, Romano Guardini e l’essenza del Christianesimo, Messina, 2005; Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Romano Guardini, Mainz,
2005[Veränderte Neuausgabe]; Dies. (Hg.), »Ich fühle, daß Großes im Kommen ist« –
Romano Guardinis Briefe an Josef Weiger 1908–1962, Mainz, 2008; Dies. (Hg.), Gib
Raum den Dingen – Romano Guardini Lesebuch, Mainz, 2008.
4 Angefangen von »
(Von heiligen Zeichen)« (1976) sind bisher in Korea
zahlreiche Schriften von Romano Guardini publiziert worden. Diese sind z. B. »
(Der Herr)« (1995), »
(Die Technik und der Mensch)« (1998),
»
(Vom Leben des Glaubens)« (1998), »
(Der unvollständige Mensch und die Macht)« (1999), »
(Vom
Sinn der Schwermut)« (2002), »
(Vorschule des Betens)« (2002),
»
(Die Besinnung vor der Feier der Heiligen Messe)« (2003), »
(Grundlegung der Bildungslehre)« (2006) usw. Das Gesamtbild der Übersetzungen
spricht dafür, dass die Schriften Guardinis in Korea seit etwa 10 Jahren an Aktualität
3
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Der Anlass und das Thema der Untersuchung (Allgemeine Einführung)
Einer der Gründe für das steigende Interesse an Guardini ist meines Erachtens seine intensive Beschäftigung mit dem Selbstverständnis
des Menschen, dessen qualitative Andersheit gegenüber anderen Lebewesen angesichts der naturwissenschaftlichen Entdeckungen und Thesen immer mehr infrage gestellt wird. Der heutige Mensch fühlt sich
immer weniger als ein mit absoluter Würde ausgestattetes, einmaliges
Wesen, und immer mehr als ein Teil der Welt, das im Notfall durch ein
anderes ersetzt werden könnte. 5 Auch im Laufe der Industrialisierung
der modernen Gesellschaft, in der sich eine immer größer werdende
Anonymität ausbreitet, schob man die Fragen, was eigentlich der
Mensch ist und wie seine Einzigartigkeit und Würde sinnvoll begründet werden können, an den Rand. Aus der Geschichte hat man aber
gelernt, dass der technische Fortschritt und der dadurch errungene materielle Wohlstand nicht unbedingt dem Menschen selbst dienen. Die
negativen Auswirkungen der Modernisierung zeigen sich nicht nur im
innerlichen Leben des Menschen, sondern auch in äußeren Lebensbereichen: Der Mensch wird z. B. durch immer wenigere Bewegung
immer dicker und schwächer, die Erdatmosphäre wird durch Schadstoffausstoß immer schlechter und der damit verbundene Klimawandel
verursacht furchtbare Naturkatastrophen. 6 Seit Kurzem verbreitet sich
weltweit die Einsicht, dass die Erdkugel, der Lebensraum aller Lebewesen, wegen des maßlosen Fortschrittswillens des Menschen immer
gewinnen, und zugleich, dass Guardini nicht so sehr als Philosoph und Theologe wahrgenommen wird, sondern eher als christlicher Glaubenlehrer.
5 Hier denke ich einerseits an das moderne Wirtschaftssystem, in dem der Mensch nur
als ein Teil des großen Marktgefüges angesehen wird. Darin ist der Mensch entweder
Produzent oder Konsument, dessen Sinn verschwindet, sobald er versagt, seine Rolle zu
spielen. Andererseits denke ich an die aktuelle medizinische Stammzell- und Klonforschung, welche die herkömmliche Definition der Person und die Würde menschlichen
Daseins infrage stellen könnte. Es würde in der Zukunft nicht mehr nur in den KinoFilmen zu sehen sein, dass man den gleichen Menschen – zumindest als einen biologischen Organimus betrachtet – zwei oder dreimal produziert.
6 Als Reaktion auf diese negativen Folgen der Industrialisierung gewinnt der englische
Begriff „well-being“, der sich nicht nur auf körperliches Wohlbefinden, sondern auch
auf geistiges Glück bezieht, weltweit mehr und mehr an Popularität. So wird „wellbeing“ vor allem im Westen zum Lebensmotto vieler Menschen. Dieser Begriff wird aber
irrtümlicherweise häufig mit Begriffen wie „well-living“ oder „well-feeling“ verwechselt. Anders als diese ist „well-being“ kein utilitaristischer Begriff, der sich auf den Nutzen des Menschen bezieht, sondern vielmehr ein philosophisch-abstrakter Begriff, der
mit der uralten Frage nach der Natur der Gutheit verbunden ist. Vgl. Roger Crisp u. a.
(Hg.), Well-being and Morality – Essays in Honour of James Griffin, Oxford, 2000, 4.
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Einleitung
mehr an Gleichgewicht verliert, und somit das Leben selbst gefährdet
wird. So hat man begonnen, einerseits über die unvergleichliche Würde des Menschen nachzudenken, andererseits aber auch nach Möglichkeiten zur Wiederherstellung des Gleichgewichts zu forschen. In diesem gesellschaftlichen Kontext scheinen die Schriften Guardinis, der
sowohl mit seiner skeptischen Analyse der Neuzeit auf die Ursache
der Fehlentwicklung verwies, als auch die unbedingte Würde des Menschen als Person mit seinen philosophisch-theologischen Argumenten
in den Mittelpunkt stellte, zeitgemäß. 7 Es ist also die Anthropologie
Guardinis, die für den Menschen von heute von Interesse ist.
Was Guardini zu einem zeitübergreifenden Denker macht, ist seine großartige Denkleistung, die darin besteht, „einzelne Tendenzen
der Zeit ins Allgemeine weiterzudenken, zu ‚extrapolieren‘“ 8 . So
konnte er schon am Anfang des 20. Jahrhunderts die heutige Wirtschafts- und Umweltkrise voraussagen, die auf dem blinden Fortschrittsglauben beruhen. Diese prophetische Einsicht gewann Guardini
einerseits dadurch, dass er der traditionellen Philosophie und Theologie des Westens treu blieb und zugleich für das Gespräch mit modernen Wissenschaften bereit war. Andererseits war seine vorhersagende
Einsicht auch dadurch möglich, dass er anhand seiner Gegensatztheorie
ständig nach der Mitte zwischen den entgegengesetzten Theorien und
Positionen suchte und daraus ein allgemeingültiges Prinzip ableitete.
Diese seine Haltung brachte Arno Schilson, einer der profiliertesten
Guardini-Kenner, durch den Titel des von ihm herausgegebenen Buches gut zum Ausdruck: »Konservativ mit Blick nach vorn«. 9 Diese
Schon im Jahr 1949 stellte Guardini fest, dass das grundsätzliche Problem der modernen Gesellschaft darin liegt, den Menschen zu versachlichen, und schrieb: „Sobald man
anfängt, Nachteile als hinreichenden Grund für die Antastung des menschlichen Lebens
anzusehen, kann man in überzeugender Weise keine Grenze mehr festhalten. […] So ist
denn der Mensch nicht nur in den Dingen, sondern auch den anderen Menschen gegenüber sehr »sachlich« geworden, das heißt aber, geneigt, ihn als eine Sache zu behandeln,
die unter Gesichtspunkten der Nützlichkeit steht“ (Romano Guardini, Das Recht des
werdenden Menschenlebens, in: Ders., Sorge um den Menschen, Band 1, Würzburg,
2 1963, 162–185, hier 166). Auch in Bezug auf die heutige Debatte über viele bioethische
Fragen, z. B. die Frage nach dem Schwangerschaftsabbruch, der Embryoforschung und
der Euthanasie hat diese Einsicht Guardinis nicht an Aktualität verloren.
8 Walter Dirks, Nachwort, in: Romano Guardini, Die Technik und der Mensch, Mainz,
2 1990, 114.
9 Arno Schilson (Hg.), Konservativ mit Blick nach vorn – Versuche zu Romano Guardini, Würzburg, 1994.
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Der Anlass und das Thema der Untersuchung (Allgemeine Einführung)
denkerische Haltung ermöglichte es ihm, sich sowohl von der Tradition
als auch von aktuellen Entwicklungstendenzen zu distanzieren und dadurch beides im größeren Zusammenhang zu betrachten. Dies ist eben
das Grundprinzip der von ihm entworfenen „katholischen Weltanschauung“. Bei ihr geht es nicht in erster Linie darum, die Welt
vom katholischen Standpunkt her zu interpretieren, sondern darum,
sie als Ganzes zu fassen und darin einen universalen (katholischen)
Sinn zu finden. 10 Diese Sichtweise gewinnt nicht nur im Verhältnis
zwischen Welt und Kirche zunehmend an Bedeutung, sondern sie eröffnet heutigen Menschen auch einen weiteren Blick auf ihren ganzen
Daseinsraum.
Angesichts dieser ganzheitlichen und offenen Haltung Guardinis
fällt es uns nicht schwer zu denken, dass der Dialog mit den anderen
Religionen und philosophischen Positionen Guardini am Herzen lag.
Tatsächlich zeichnen ihn diese Dialogbereitschaft und Friedfertigkeit
aus. Der Dialog setzt aber einen gemeinsamen Ausgangspunkt aller
Gesprächsteilnehmer voraus, und dieser ist für Guardini „der gleiche
Wille zur Wahrheit“ 11 . Die Dinge haben ihre Wahrheit, und jeder verschafft sich verschiedene Zugänge zu dieser Wahrheit. In diesem Sinne
bedeutet das geistige Leben, „den Ruf dieser Wahrheit zu vernehmen,
in den Gehorsam gegen sie einzutreten und nach ihr zu suchen“12 . Der
echte Dialog besteht daher im lebendigen Gegeneinander von Ansichten und seelischen Haltungen, und „die Wahrheit des Gesprächs entspringt erst dem letzten Zusammenklang der Gegensätze“ 13 . Guardinis
Interesse am Buddha, dessen Lehre das religiös-geistige Leben vieler
Asiaten seit Jahrtausenden prägt, ist in diesem Kontext zu verstehen.
Guardini war wohl der erste Theologe, der den Wert dieser fernöstlichen religiösen Gestalt, des Buddha, erkannte und versuchte, zu
Katholische Haltung bedeutet für Guardini, „daß jeder auf das Ganze bezogen sei.
Nicht zu charakterloser Durchschnittlichkeit ausgeglichen, sondern organisch eingegliedert. Um die eigenen Grenzen wissend, und durch die anderen Typen in die volle
Wahrheit gestellt“. Romano Guardini, Vom Wesen katholischer Weltanschauung, Basel, 1953, 35.
11 Romano Guardini, Der Friede und der Dialog, in: Sorge um den Menschen, Band 2,
Würzburg, 1966, 33–45, hier 34.
12 Romano Guardini, Pluralität und Entscheidung, in: Ders., Sorge um den Menschen,
Band 1, 139–161, hier 160.
13 Romano Guardini, Ein Gespräch vom Reichtum Christi, in: Auf dem Wege, Mainz,
1923, 150–165, hier 150.
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Einleitung
zeigen, „was er christlich bedeutet“ 14 . Seine Beschäftigung mit dem
Buddha wurde aber bisher kaum in Betracht gezogen. Ein entscheidender Grund für dieses Defizit ist, dass Guardini keine eigenständige systematische Abhandlung über den Buddha hinterließ. Seine Äußerungen über den Buddha bzw. den Buddhismus kommen nur vereinzelt
und verstreut in seinen Schriften vor. Doch das Vorhaben Guardinis,
eine Art Trilogie von Jesus, Sokrates und Buddha zu schreiben, das leider nicht realisiert werden konnte, 15 deutet an, dass sein Interesse am
Buddha nicht gering zu schätzen ist. Er hielt auch zu seiner Berliner
Zeit eine Vorlesung mit dem Titel »Der Tod des Buddha. Die buddhistische Sinndeutung des Daseins und ihre Bedeutung für das Verständnis des Christentums«. 16 Sein Interesse, besser gesagt, seine Bewunderung gilt vor allem der außerordentlichen Fähigkeit des Buddha, das
Dasein als solches wahrzunehmen und es auf eigene Weise darzulegen.
Dieser religionsphilosophische Aspekt ist bisher übersehen worden,
und es gibt unter den zahlreichen Studien und Untersuchungen über
Guardini keine einzige, die diesen Aspekt ausdrücklich thematisiert.
Somit sind der Anlass und der Gegenstand meiner Untersuchung,
hoffe ich, mehr oder weniger klar geworden. Die vorliegende Untersuchung zielt zunächst darauf, die Besonderheit der philosophischtheologischen Anthropologie Guardinis, in deren Mittelpunkt der
Mensch als Person steht, nachzuzeichnen und auf ethische Konsequenzen hin zu untersuchen. Für mich persönlich, einen katholischen Theologiestudenten aus dem Fernen Osten, ist Guardini vor allem deswegen
Romano Guardini, Der Herr, Würzburg, 11 1959, 360. Guardini ist tatsächlich in Bezug auf das christliche Verständnis des Buddhismus pionierhaft und wichtig. Dies zeigt
sich auch darin, dass der namhafte französische Theologe Henri de Lubac, der sich mit
dem Buddhismus relativ ausführlich befasste und auseinandersetzte, sich in seinem
Buch »Aspects du Bouddhisme« ausdrücklich auf Guardinis Stellungnahme zum
Buddhismus bezog. Vgl. Henri de Lubac, Aspects du Bouddhisme, Paris, 1951, 8 f.
15 In einem Brief an Mary Luise de Marillac S. S. N. D. vom 3. 8. 1963 schreibt Guardini
nämlich: „Tatsächlich bin ich auf die gewisse Parallelität zwischen der Persönlichkeit
und der Lehre von Sokrates, und ebenso der von Buddha zur Person Christi durch einige
Lektüre der Quellen gekommen. So hatte ich die Absicht, eine Art ‚Trilogie‘ zu schreiben, in welcher der Tod Buddhas, der des Sokrates und der Tod Jesu Christi in ihren
Ähnlichkeiten, aber auch, und vor allem, in ihren Unterschieden analysiert werden sollte.“ Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Romano Guardini, 220.
16 Diese Vorlesung wurde von Guardini im Wintersemester 1937/38 an der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin gehalten. Das Manuskript der Vorlesung wurde leider
nicht überliefert.
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Fragestellungen
interessant und aufschlussreich, weil man bei ihm sowohl die lange
Tradition der abendländischen Theologie als auch die Neuorientierung
der Theologie des zwanzigsten Jahrhunderts sehr gut studieren kann.
Im Laufe der Untersuchung wird sich herausstellen, was seine Anthropologie zu einem zeitgemäßen ethischen Ansatz macht.
Der zweite Schwerpunkt meiner Untersuchung liegt darin, zu klären, wie man das Interesse Guardinis am Buddhismus und seine Hochschätzung der Person Buddha richtig verstehen kann. Dies ist für mich,
der in der buddhistischen Tradition aufwuchs und sich zum katholischen Glauben bekennt, ein ebenso interessanter und in gewisser
Hinsicht vielversprechender Punkt. Seit etwa hundert Jahren fasziniert
der Buddhismus immer mehr Europäer, und einige von ihnen versuchten, den christlichen Glauben und die buddhistischen Lehre zusammen
zu betrachten und beides näher zu bringen. Dies ist ein durchaus sinnvolles Unternehmen, doch besteht darin auch die große Gefahr des
Synkretismus. In Bezug auf dieses Phänomen könnte die vorliegende
Untersuchung einen kleinen Beitrag zur Orientierungshilfe leisten.
Denn am Ende wird sich zeigen, aus welchem Grund Guardini als entschiedener Christ und Theologe zum Buddhismus und zur Person
Buddha eine gewisse „Zuwendung“ 17 hatte, und zugleich wird sich herausstellen, wo Guardini den fundamentalen, unüberbrückbaren Unterschied zwischen dem Christentum und dem Buddhismus, genauer
gesagt, zwischen der Gestalt Christi und der des Buddha sieht.
2.
Fragestellungen
Die Fragestellungen, von denen ich ausgehen werde, lassen sich gemäß
der vorausgehenden Zielsetzung und der Gliederung der ganzen Untersuchung entsprechend folgendermaßen aufbauen:
1.
Was macht Romano Guardini zu einer der größten Gestalten der
Theologie-geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts?
– In welchem theologiegeschichtlichen Kontext steht Romano
Guardini?
Jacques Albert Cuttat, Buddhistische und christliche Innerlichkeit in Guardinis
Schau, in: Helmut Kuhn u. a. (Hg.), Interpretation der Welt – Festschrift für Romano
Guardini zum achtzigsten Geburtstag, Würzburg, 1965, 445–471, hier 447.
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Einleitung
– Was ist der rote Faden seiner Philosophie und Theologie, und
was versteht er unter „Person“?
– Welche ethische Relevanz hat seine philosophisch-theologische Anthropologie, und was ist das Besondere in seinem Personkonzept?
– Gibt es eine Möglichkeit, Guardinis philosophische Gedanken
anders zu interpretieren, vor allem in Bezug auf fundamentalethische Fragen, z. B. „Was heißt es, dass der Mensch Person
ist, und was bedeutet es für die Ethik?“, „Was kann die Theologie Guardinis dazu beitragen, eine zeitgemäße Ethik zu entwickeln, die sich die heutigen Menschen zum Maßstab ihres
Handelns nehmen können?“
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2.
Wer ist die Person Buddha, und worin besteht die Besonderheit
seiner Lehre?
– In welchem religionsgeschichtlichen Zusammenhang entstand
der Buddhismus, und welche Weltanschauung lässt sich, vor
allem in der ersten und wichtigsten Predigt des Buddha, bei
ihm erkennen?
– Was sagte der Buddha zum Dasein des Menschen, und wie ist
vor allem die sogenannte Nicht-Selbst(anattā)-Lehre anthropologisch zu verstehen?
– Welche ethischen Konsequenzen können aus der Lehre des
Buddha gezogen werden?
– Was macht den Buddhismus für westliche Menschen so faszinierend, dass nicht nur das wissenschaftliche Interesse an ihm,
sondern auch die breite Nachfrage nach buddhistischer Lektüre
ständig wächst?
3.
Was bedeutet die religiöse Gestalt Buddha für Romano Guardini
und wie lässt sich sein Interesse am Buddha verstehen?
– In welchem Zusammenhang erscheinen Guardinis Stellungnahmen zur Gestalt Buddha?
– Worin liegt der Anknüpfungspunkt zwischen dem Denken Guardinis und der Lehre des Buddha? Gibt es zwischen beiden
Ähnlichkeiten?
– Wie und in welchen Punkten distanziert sich Guardini als entschiedener katholischer Theologe vom Buddhismus?
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Der Aufbau und die Vorgehensweise
– Was kann das Ergebnis für die christliche Ethik bedeuten, und
was kann es zum interreligiösen Gespräch beitragen?
Diese sind Leitfragen, die mich durch die ganze Untersuchung hindurch begleiten werden. Im Hauptteil der Untersuchung werde ich die
einzelnen Fragen jedoch nicht noch einmal stellen, aber sie werden am
Ende explizit oder implizit beantwortet sein.
3.
Der Aufbau und die Vorgehensweise
Die Fragestellungen deuten bereits an, wie der Aufbau der folgenden
Untersuchung aussieht. Die ganze Untersuchung besteht, abgesehen
von der Einleitung, aus drei großen Teilen: „Der Mensch als Person
bei Romano Guardini“ (Teil I), „Daseinsverständnis im Buddhismus“
(Teil II) und „Ergebnis und Ausblick“ (Teil III). Den größten Umfang
besitzt jedoch der erste Teil, d. h. die philosophisch-theologische Analyse des Personbegriffs bei Romano Guardini und die ethische Würdigung seines Personkonzeptes.
Im ersten Teil versuche ich zunächst, Guardinis philosophische
und theologische Grundposition darzustellen, und zwar im Hinblick
auf den geschichtlichen Bedeutungswandel des Personbegriffs (Kapitel 1). Dann komme ich zum Hauptkapitel (Kapitel 2), welches wiederum aus zwei größeren Themenkomplexen besteht. Im ersten dieser
zwei Abschnitte befasse ich mich zunächst damit, was Guardini unter
dem Begriff „Welt“ versteht (Abschnitt 2.1). Dies ist ein notwendiger
Schritt, denn aufgrund der sprunghaften Entwicklungen der Naturwissenschaften und der modernen Psychologie kann die Anthropologie
nicht über die Frage nach der Situiertheit des Menschen und seinem
Verhältnis zur Umwelt hinweggehen. Dem Selbstverständnis des
menschlichen Daseins geht also das Verständnis der Welt voraus, in
der der Mensch als Person existiert. Dementsprechend ist auch das anthropologische Hauptwerk Guardinis »Welt und Person« gegliedert. 18
Das Werk »Welt und Person«, das erstmals im Jahr 1939 veröffentlicht wurde, besteht aus drei Kapiteln: Die Welt, die Person und die Vorsehung. Darin befasst sich
Guardini zunächst mit dem Begriff Welt, dann versucht er, anhand seines Weltverständnisses den Personbegriff philosophisch und theologisch darzulegen. Im dritten und letzten Kapitel über die Vorsehung versucht Guardini, zu zeigen, wie das christlich verstan-
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Einleitung
Nach der ausführlichen Darstellung des Weltverständnisses Guardinis versuche ich, sein philosophisch-theologisches Konzept des Personbegriffs im Hinblick auf dessen vielfältige Aspekte zu betrachten
und zu analysieren (Abschnitt 2.2). Zunächst setze ich mich mit Guardinis philosophischer Analyse auseinander, die zwei unterschiedliche
Dimensionen enthält: die ontologische und die dialogische (Abschnitt
2.2.1). Im Laufe dieses Kapitels wird erkennenbar werden, dass die Gegensatztheorie der ganzen Struktur seines philosophischen Denkens
zugrunde liegt. Gegen Ende dieses Kapitels wird sich auch zeigen, wie
Guardini lückenlos von seinem philosophischen Argument zum theologischen übergeht. Durch die anschließende theologische Analyse
(Abschnitt 2.2.2), die vom dialogischen Verhältnis zwischen Gott
und dem Menschen ausgeht und im Begriff „Inexistenz Christi“ ihren
Höhepunkt erreicht, werden dann die Fragen beantwortet, welche Rolle die Theologie in seinem Personkonzept spielt und worin der Schwerpunkt seines Personbegriffs liegt.
Das dritte Unterkapitel, in dem ich die ethischen Konsequenzen
der vorangehenden Analysen des guardinischen Personkonzepts darstelle (Abschnitt 2.2.3), versteht sich als das Zwischenergebnis des
ganzen ersten Teils. Darin wird auch der Versuch gemacht, das ethische
Denken Guardinis, das von einem substanziellen, existenziellen und in
gewisser Hinsicht mystischen Personkonzept ausgeht, anders als bisher
zu verstehen und zu interpretieren. Für diesen Versuch werden das gegensätzliche Verhältnis zwischen zwei Tugenden, der Selbstlosigkeit
und der Annahme seiner selbst, und der Begriff Askese ausschlaggebend sein.
Im ganzen zweiten Kapitel (2. Welt und Person) richte ich mich
nach der Gliederung dem Gedankengang des oben genannten Werkes
»Welt und Person«. Dabei versuche ich, seine Aussagen und Schlussfolgerungen, denen man in diesem Werk begegnet, unter Einbeziehung seiner Äußerungen in anderen seiner Schriften zu erörtern.
Der Forschungsgegenstand des zweiten Teils ist die religiöse Gestalt Buddha und seine Lehre über die Welt und den Menschen. Da das
Interesse Guardinis in erster Linie nicht dem Buddhismus als solchem
gilt, sondern der Person Buddha, versuche ich zunächst, anhand der
dene Dasein des Menschen in der Einheit von Welt und Person gedacht werden kann.
Vgl. Romano Guardini, Welt und Person, Mainz-Paderborn, 6 1988, 7 ff.
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Der Aufbau und die Vorgehensweise
historisch ableitbaren Daten und der legendarischen Erzählungen über
ihn das Leben des Buddha zu rekonstruieren (Kapitel 1). Somit soll
deutlich gemacht werden, wer die Person Buddha war und welchen Anlass seine ganze Lehrtätigkeit hatte. Nachdem dies geklärt ist, konzentriere ich mich auf die Lehre des Buddha, wie sie sich in seiner ersten
und wichtigsten Lehrverkündigung, der »Predigt von Benares«, erkennen lässt (Kapitel 2). Diese Predigt, in deren Mittelpunkt die „Lehre
von den vier edlen Wahrheiten“ steht, gilt nämlich als die ursprünglichste Lehre des Buddha, von der alle buddhistischen Verzweigungen
ausgehen. Da es sich beim Buddhismus aber nicht um eine völlig neue
Entdeckung des Buddha selbst handelt, sondern eher um die Übernahme und Erneuerung der bereits bestehenden Religion und der philosophischen Strömungen des alten Indiens, ist es unumgänglich, einen
Blick auf die religiöse und philosophische Vorgeschichte vor der Entstehung des Buddhismus zu werfen (Abschnitt 2.1). Danach werde ich
die buddhistische Weltanschauung, welche die Vorstellung der Wiedergeburt, die Lehre vom Kamma-Gesetz und den Lehrsatz vom abhängigen Entstehen umfasst, darlegen (Abschnitt 2.2). Im nachfolgenden
Abschnitt versuche ich dann, aus der Analyse der Weltauffassung des
Buddha heraus das buddhistische Verständnis des Menschseins und der
Erlösung aufzuzeigen und dieses ethisch zu interpretieren (Abschnitt
2.3). Im Mittelpunkt dieses anthropologisch-ethischen Abschnittes
steht die Lehre vom Nicht-Selbst, die für das Ergebnis der ganzen Untersuchung von großer Bedeutung ist. Dieser Abschnitt gliedert sich in
drei kleinere Unterabschnitte: „Die anthropologische Interpretation
der ‚Vier edlen Wahrheiten‘“ (Abschnitt 2.3.1), „Die Lehre vom
Nicht-Selbst“ (Abschnitt 2.3.2) und „Der Weg zur Erlösung“ (Abschnitt 2.3.3).
In Anbetracht dessen, dass es sehr viele angeblich auf den Buddha
selbst zurückgehende Lehrreden gibt, beschränkt sich diese Untersuchung auf die »Predigt von Benares«, die als die allererste Verkündigung seiner Lehrtätigkeit gilt und in der alle wesentlichen Elemente
seiner ganzen Lehre vorhanden sind. Die ursprünglichen Lehren des
Buddha wurden von seinen Anhängern verschiedentlich rezipiert, ausgelegt und weitergegeben, sodass es nun eine Unmenge von buddhistischen Texten gibt. Aus diesem Grund beziehe ich mich, was die Quellenanlage angeht, ausschließlich auf den „Pāli-Kanon“, in dem nach
allgemeiner Übereinstimmung die Texte überliefert sind, die den ori-
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ginalen Reden des Buddha am nächsten kommen und die deshalb für
meine Untersuchung am besten geeignet sind. 19
Um den Lesern zum leichteren Verständnis der Inhalte zu verhelfen, fasse ich am Ende eines Kapitels bzw. großen Abschnittes – sowohl
im ersten als auch im zweiten Teil – die Analysen und Argumente noch
einmal zusammen und ziehe ein Zwischenfazit. Dieses wird auch als
Brückenschlag von dem Vorhergehenden zu dem Nachfolgenden dienen.
Der dritte Teil, das Ergebnis der gesamten Untersuchung, versteht sich einerseits als eine schematische Darstellung des ganzen Gedankenganges Guardinis, andererseits als vergleichende Zusammenstellung aus dem anthropologischen Denken Guardinis und dem
Daseinsverständnis des Buddha. Auf diese Weise soll ein Gesamtbild
entstehen, das sowohl die ethische Relevanz der Anthropologie Guardinis zum Vorschein bringt, als auch das Interesse Guardinis am
Buddhismus aufklärt. Darin wird sich auch zeigen, wo die Grenzen
zwischen dem Christentum und dem Buddhismus gesetzt werden
(müssen). So kann die vorliegende Untersuchung dazu beitragen, einen
Standpunkt zu finden, von dem her die Einsicht in die gemeinsame
Basis, auf welcher das interreligiöse Gespräch gelingen kann, gewonnen wird.
Der Pāli-Kanon wurde in einem nordindischen Dialekt verfasst, den der Buddha
selbst gesprochen haben könnte. Die Schriften dieses Kanons sind uns durch Buddhisten
der Theravāda-Schule in Sri Lanka, Myanmar und Thailand mündlich überliefert und
wahrscheinlich nicht vor dem 1. Jh. v. Chr. niedergeschrieben worden. Der Pāli-Kanon
wird häufig mit dem Namen Tipitaka – drei Körbe – bezeichnet, weil man die Schriften
in drei getrennten Behältnissen aufbewahrte. Diese sind der Korb der Lehrreden (Suttapitaka – darunter Dı̄ghanikāya, Majjhimanikāya, Samyuttanikāya, Anguttaranikāya und Khuddakanikāya), der Korb der Ordensdisziplin (Vinayapitaka – darunter
Suttavibhanga, Khandakā und Parivāra) und eine Sammlung vermischter Lehrstücke.
Vgl. Karen Armstrong, Buddha, Berlin, 2004, 9 ff.
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