SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Alexander Puschkin und die Musik "Schalmeigetön füllt meinen stillen Raum ..." (3) Von Ulla Zierau Sendung: Redaktion: Mittwoch, 30. Dezember 2015 Ulla Zierau 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 SWR2 Musikstunde mit Ulla Zierau 30.12.2015 Alexander Puschkin und die Musik "Schalmeigetön füllt meinen stillen Raum ..." (3) Signet Russlands Nationaldichter Alexander Puschkin und die Musik, zur dritten und letzten Folge begrüßt Sie Ulla Zierau Titelmusik (0’10) „Ich habe, mich heute lange mit dem intelligentesten Menschen Russlands unterhalten“, sagt Zar Nikolaus I am 8. September 1826 und der intelligenteste Mensch Russlands ist in den Augen des Zaren: der Dichter Alexander Puschkin, er ist so intelligent, dass der Zar beschließt ihn unter seine persönlichen Fittiche zu nehmen. Was ist passiert? Im November 1825 ist völlig unerwartet nach kurzer schwerer Krankheit Zar Alexander I gestorben, jener Zar, der Puschkin wegen seiner politischen Epigramme auf Distanz gehalten und mehrmals in die Verbannung geschickt hatte. Nach seinem Tod schöpft Puschkin Hoffnung, endlich nach Petersburg und Moskau zurückkehren zu dürfen. Doch Petersburg ist in Aufruhr, die Dekabristen, junge Adlige, Offiziere der Armee verweigern den Eid, auf den neuen Zaren zu schwören. Sie protestieren gegen das autokratische Regime, das heißt gegen Leibeigenschaft, Amtswillkür und Zensur. Bei der Vernehmung der Dekabristen fällt immer wieder der Name Puschkin. Er steht zwar nicht in direktem Kontakt mit den Aufständischen, aber sein Gedankengut ist präsent. Der neu Zar muss handeln. Er lässt Puschkin nach Moskau bringen, dort findet zwischen den Beiden ein einstündiges Gespräch statt mit dem Ergebnis, dass die Verbannung aufgehoben wird. Puschkin darf sich wieder frei bewegen, wird von der allgemeinen Zensur befreit, muss aber alles, was er veröffentlichen möchte, dem Zar persönlich vorlegen. „Ich werde selbst dein Zensor sein“, sagt Nikolaus I. 3 „Die höchste Macht ist mein“, singt Boris Godunow in seinem Monolog, doch um ihn herum ist Finsternis, ein trostloses Dunkel, das Herz ist voller Trauer. „Es grämt und quält mich mein müder Geist“, so spricht der Herrscher in Puschkins Drama und in Mussorgsky Oper. Musik 1 Modest Mussorgsky: Boris Godunow, Die höchste Macht ist mein. Monolog des Boris (2. Akt) Iwan Petrow, Baß, Orchester des Bolschoj Theaters Moskau, Leitung: Alexander MelikPaschajew M0310605 030, Melodyia, 129349-2, 5‘14 Der große ergreifende Monolog des Boris aus dem 2. Akt der Oper Boris Godunow von Modest Mussorgsky mit Iwan Petrow und dem Orchester des Bolschoj Theaters Moskau unter der Leitung von Alexander Melik-Paschajew. Nachdem Zar Nikolaus die Verbannung aufgehoben hat, hofft Puschkin nun, seine Werke veröffentlichen zu können und vor allem sein Bühnenstück aufführen zu lassen. Boris Godunow, historische Figur um die Wende zum 17. Jahrhundert. Einst Schwiegersohn des Zaren, ergreift Godunow nach dem Tod Iwan des Schrecklichen unrechtmäßig die Macht und erobert durch mörderische Intrigen den Zarenthron. In einem wirtschaftlich zerrütteten Land kämpft er mit harten Bandagen für Russlands kulturelle und politische Unabhängigkeit, führt das Land aber in wirre Zeiten. Puschkin erkennt schnell die Parallelen zur Gegenwart, damit sticht er in ein Wespennest, denn an allen russischen Herrschern hängt Blutschuld. Die Machtergreifung Boris Godunows und die Jahre seiner furchterregenden Regentschaft bis zu seinem Tod macht Puschkin zum Thema seines Dramas, er schildert dabei weniger das Leben des Zaren, als vielmehr das Schicksal des russischen Volkes. In 23 Szenen entwirft Puschkin ein Bild von Russland und seiner Geschichte. In der Darstellung der einzelnen Charaktere ist ihm Shakespeare glühendes Vorbild. Boris Godunow wird von Gewissensbissen geplagt. Aus Angst vor jeglichen Adelsintrigen zieht er sich – ähnlich wie Macbeth – in eine Isolation zurück. Haupthandlungsträger der Tragödie ist jedoch nicht der Zar, sondern das hungernde Volk. So wird Puschkins Boris Godunow gerne als „russische Tragöde von historischem Anspruch und Shakespeare’scher Kraft“ beschrieben. 1831 darf Puschkin das Werk 4 veröffentlichen, aber eine Aufführung wird durch die Zensurbehörde verboten. Erst viele Jahre nach Puschkins Tod, 1866 geht Boris Godunow zum ersten Mal über die Bühne. Zwei Jahre später wählt Modest Mussorgsky das Drama als Stoff einer Oper. Doch das königliche Theater in Petersburg lehnt die Oper ab, zu viele Massenszenen und keine Frauenrolle. Mussorgsky fügt sich der Zensur, überarbeitet seinen Ur-Boris und bringt die neue Fassung 1874 zur Uraufführung. Mussorgsky schafft ein Musiktheater von großer Wirkungskraft, vor allem durch die vielen Chorszenen. Musik 2 Modest Mussorgsky: Boris Godunow, Chor der Bojaren (4. Akt) Chor der Wiener Staatsoper /Orchester der Wiener Volksoper Leitung: Franz Bauer-Theussl M0307718 010, Sonja 77239, 3’29 Chor der Bojaren aus dem 4. Akt des Boris Godunow von Modest Mussorgsky. Franz Bauer-Theussl leitete den Chor der Wiener Staatsoper und das Orchester der Wiener Volksoper. Mussorgsky ist bei der Uraufführung seines Boris Godunow im Marinskij Theater in Petersburg mit dabei, Puschkin erlebt die Uraufführung seiner Tragödie nicht mehr. Als sie erstmals gespielt wird, ist er schon fast 30 Jahre tot. Aber die Veröffentlichung des Dramas bekommt er mit und er hält im Hause von Freunden die erste öffentliche Lesung des Godunows, zu der alle wichtigen Persönlichkeiten des literarischen Moskau versammelt sind und ihm begeistert zujubeln. Endlich ist Puschkin wieder frei, darf innerhalb des Landes reisen; von Moskau nach Petersburg, – wenn auch mit Genehmigung des Zaren. Nach sieben Jahren Abstinenz kehrt er zum ersten Mal nach Petersburg zurück. Er verkehrt in den wichtigsten Clubs, besucht Theater und Soireen und schreibt in seiner „Reise von Moskau nach Petersburg“. „Das arrogante Petersburg lachte von ferne und mischte sich nicht in die Angelegenheiten des alten Moskau ein“. Petersburg war modern, dem Westen zugewandt, Moskau ein wenig antiquiert, russischer. 5 In Petersburg begegnet Puschkin alten Freunden, Anna Kern, für die er einst so schwärmte über sie erneuert er auch die Bekanntschaft mit Michail Glinka, den er sehr schätzt, wenngleich Glinkas große Puschkin-Vertonungen erst nach dem Tod des Dichters entstehen oder an die Öffentlichkeit gelangen, wie Ruslan und Ludmilla oder das Lied „Die Flamme des Verlangens“: Im meiner Brust brennt die Flamme des Verlangens, Du hat der Seele Tiefen mir verletzt. Drum küss mich, deine Küsse sind süßer als Myrrhe. Deine Küsse sind süßer als Wein.“ Musik 3 Michail Glinka: Die Flamme des Verlangens, Lied Nikita Storojev, Bass / I Musici de Montreal / Yuli Turovsky 3376371 022, Chandos 9149, 1‘20 „Die Flamme des Verlangens“; Lied von Michail Glinka auf ein Gedicht von Alexander Puschkin. Nikita Storojev wurde begleitet von I Musici de Montreal unter der Leitung von Yuli Turovsky. „Puschkin ist ein Mann von kleinem Wuchs, der auf den ersten Blick aus sich nichts Besonders darstellt. Wenn man sein Gesicht, mit dem Kinn beginnend, betrachtet, wird man darin, bis zu den Augen, vergebens den Ausdruck poetischer Begabung finden. Allein, die Augen ziehen einen unbedingt in Bann: In ihnen wird man die Strahlen jenen Feuers erblicken, das seine Verse erwärmt,“ so beschreibt ihn ein Literaturprofessor nach einer Begegnung bei Anna Kern. Auf einem Ball lernt Puschkin die um dreizehn Jahre jüngere Natalja Gontscharowa kennen. Puschkin verliebt sich leidenschaftlich, sie soll die Auserwählte sein. Lange und mühsam wirbt er bei der Familie um ihre Hand bis die Beiden endlich heiraten können. Zur Hochzeit bekommt Puschkin von seinen Eltern das Familiengut Boldino geschenkt, ein Dorf mit 200 Bauern, bei Nishnij Nowgorod, 400 km östlich von Moskau. Boldino wird bald Puschkins neuer Inspirationsquell, er flieht in die Einsamkeit des Landlebens: „Jetzt sind meine finsteren Gedanken verloren. (…) Steppe, nichts als Steppe, von Nachbarn nicht die Spur: Reite, soviel du willst, schreib zu Hause, soviel dir in den Sinn kommt, niemand stört dich“. 6 Und Puschkin schreibt in Boldino erste Prosawerke, die Erzählungen Belkins, die vier kleine Tragödien, die erstmals nicht gereimt sind. “Der geizige Ritter“, „Der steinerne Gast“, „Das Fest während der Pest“ und „Mozart und Salieri“. Was interessiert Puschkin an Mozart? Er kennt seine Opern, Don Giovanni, Figaro, seine Schwester spielt Mozarts Werke auf dem Klavier und er hat Mozarts Biographie gelesen mit dem damals weit verbreiteten Gerücht, Hofkapellmeister Salieri habe Mozart vergiftet. Diesen neiderfüllten Mord mit all seinen Gefühlsebenen verarbeitet Puschkin in seinem Kurzdrama „Mozart und Salieri“. Zwei unterschiedliche Künstlertypen und Kunstauffassungen treffen aufeinander. Das intuitive Genie Mozart als Vertreter der Romantik und der fleißige, regelkonforme Handwerker Salieri als Vertreter der Klassik. Salieri als ein Diener der Kunst, als Bewahrer einer Tradition, der das Komponieren als heiligen Schaffensakt begreift, Mozart hingegen als origineller, spontaner Schöpfer, der sich herablassend über Kunst äußert, der mühelos Neues kreiert, der sämtliche Regeln sprengt, der von Gott begnadet ist. Bei Puschkin ermordet Salieri Mozart nicht nur aus Neid, sondern auch aus Gerechtigkeit, um die Musik zu retten, denn nach Mozart kann es keine fortführende Kunst mehr geben. Nikolaj Rimskij-Korsakow vertont Puschkins Tragödie und bemerkt, er habe sich nahezu wörtlich an Puschkin gehalten. Er schreibt eine Opera dialogué mit melodischen Rezitativen, die rhythmisch dem Blankvers und dem Wort- und Satzbau Puschkins folgen. Vorbild ist Dargomyschkis Puschkin Oper „der steinerne Gast“, die Rimskij nach Dargomyschkis Tod vollendet hat. Mit unterschiedlichen Motiven und Instrumentalfarben arbeitet Rimskij die beiden Charaktere heraus. Salieri äußert sich über Gerechtigkeit und seinen Neid auf Mozart. „O Himmel – wo bleibt das Recht, wenn die erhabene Gabe, Unsterbliches Genie, nicht die Belohnung von heißer Liebe, Selbstaufopferung sind, gewährt für Arbeit, Sorgfalt und Gebete – Stattdessen einen wirren Kopf erleuchten, des faulen Müßiggängers….“ 7 Musik 4 Nikolaj Rimskij-Korsakow: Mozart und Salieri, Ausschnitt Nikita Storojew, Bass I Musici de Montreal / Yuli Turovsky 3376371 002, Chandos 9149, 3’24 mit Blende Da tritt er auf, heiter, unbeschwert Mozart in Rimskij-Korsakows Kurzoper Mozart und Salierei, zuvor Salieris Neidgeständnis gesungen von Nikita Storojew. In Puschkins Tragödie spielt Mozart Salieri sein neustes Werk vor, an dem er gerade arbeitet, das Requiem. Kurz zuvor hat Salieri Gift in Mozarts Glas geschüttet und als er die göttliche Musik hört, beginnt er zu weinen, woraufhin Mozart sagt: Empfänden alle doch so stark die Kraft / Der Harmonie! Doch nein: nicht weiter könnte / Die Welt hier existiern; kein Mensch mehr würde / Sich um die kleinen Alltagssorgen kümmern; / Und alles gäb sich freien Künsten hin. / Wir wenigen Erwählten, Glückes Kinder, / Die der verhassten Nützlichkeit entflohn, / Sind Priester einzigartiger Herrlichkeit. /Ist das nicht so? Doch fühl ich mich nicht gut, / Bin recht bedrückt; ich leg mich besser schlafen. /So leb denn wohl! Dieser Dialog zwischen Salieri und Mozart ist Höhepunkt des Stückes wie der Oper, wir hören uns die ganze Szene an, zunächst das Requiem und die Tränen Salieris. Musik 5 Nikolaj Rimskij-Korsakow: Mozart und Salieri, Requiem-Ausschnitt Vladimir Bogachov, Tenor / Nikita Storojew, Bass I Musici de Montreal / Yuli Turovsky 3376371 011, 012, 013 Chandos 9149, Take 11-13, 5‘00 Mozart spielt Salieri aus einem Requiem vor und dieser beginnt zu weinen in diesem Ausschnitt aus Nikolaj Rimskij-Korsakows „Mozart und Salieri“, gesungen von Vladimir Bogachov und Nikita Storojew. Yuli Turovsky leitete I Musici de Montreal. Rimskijs dramatische Szenen „Mozart und Salieri“, 1899 in Moskau uraufgeführt werden mit Fjodor Schaljapin als Salieri ein großer Erfolg, der über Jahrzehnte anhält, nicht nur 8 in Russland, sondern auch in Westeuropa. Durch Peter Shaffers Drama „Amadeus“, das Salieris Mord an Mozart später wirksam auf die Leinwand bannte, erlangte Rimskjis Oper in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder Popularität. Das spannende an Puschkins Tragödie ist nicht nur das Verhältnis Mozart-Salieri, sondern der Vergleich Mozart-Puschkin. Puschkin selbst sieht sich in Punkto Inspiration Mozart seelenverwandt, doch sicher verstand er auch das Handwerk im Salieri‘schen Sinne, das Kombinieren, das Probieren, das Arbeiten mit künstlerischem Material mit Sprache, Satzbau und Semantik. Dennoch kommt er Mozart näher. Nicht nur, dass beide Künstler in jungen Jahren gestorben sind, sondern auch in Verhaltensweisen. Mozart soll im Friseursalon und am Billiardtisch komponiert haben. Gleiches erzählt man von Puschkin, während eines Billiardspiels habe er Zettel mit Versen vollgeschrieben. Beide konnten aus dem Gedächtnis Werke rekonstruieren, als Puschkin in einer brisanten Lage politische Verse verbrennen musste, hat er sie kurz darauf wieder notiert. Alles nur Geschichten, aber wie sie sich ähneln. Beide, Mozart und Puschkin haben ohne Zweifel ein großartiges Oeuvre hinterlassen, haben mit Einfachheit und Reichtum Unvergleichliches geschaffen, beide gelten als genial, als Vollender ihrer Kunst. Eine Fortführung dieser Kunst wird es nicht geben, da hat Puschkin Salieri die richtigen Worte in den Mund gelegt: „Was nützt es, wenn ein Mozart leben bleibt / Und weiter neue Höhen sich erklimmt? Erhöht er denn die Kunst auf diese Weise? /Nein, sie verfällt erneut, ist er gegangen: Denn einen Erben wird er uns nicht schenken“ / Was nützt er uns? Er ist ein Cherubin, /Und brachte Lieder aus dem Paradies, / Die flügellose Wünsche in uns weckten / Ihm nach zu flattern, wir, die Staubgeburten! / So flieg davon! Je eher, desto besser.“ Musik 6 Nikolaj Rimskij-Korsakow: Mozart und Salieri, Ausschnitt Nikita Storojew, Bass I Musici de Montreal / Yuli Turovsky 3376371 007 (?), Chandos 9149, Take 7, 2’43 mit Blende 9 „Was nützt es, wenn ein Mozart leben bleibt? Fragt Salieri in diesem Ausschnitt aus Nikolaj Rimskij-Korsakows einaktiger Oper Mozart und Salieri. Das waren noch einmal Nikita Storojew als Salieri und I Musici de Montreal unter Yuli Turovsky. Rimskij-Korsakow, der in seinen Opern gerne literarisch anspruchsvolle Texte vertont hat, wählt noch zwei weitere Vorlagen von Puschkin: Das Märchen vom Zaren Saltan und das Märchen vom goldenen Hahn. Russische Sagen und Märchen lernt Puschkin vor allem durch sein Kindermädchen Arina Rodionowna kennen. Sie kann ganz wunderbar erzählen, kann jedoch weder schreiben noch lesen und spricht die einfache Sprache des russischen Volkes. Durch sie lernt Puschkin diese Sprache kennen und er macht sie sich durch die Brille des Dichters in kunstvoller Form zu Eigen. Zu Arina entwickelt Puschkin ein inniges Verhältnis, vor allem während seiner Verbannung in Michajlowskoje. Sie leistet ihm als einzige Gesellschaft, verbringt die Abende mit ihm. An seinen Bruder schreibt Puschkin: „Am Vormittag schreib ich Notizen, ich speise spät, nach dem Mittagessen reite ich aus, abends höre ich Märchen und gleiche damit die Mängel meiner verdammten Erziehung aus. Was für ein Zauber – diese Märchen. Jedes ein Poem. Puschkins Märchen vom Popen und seinem Knecht Balda handelt von einem Knecht der Arbeit sucht, von einem Popen, der nicht zahlen will und einer verliebten Tochter, ein humorvolles, politisches Märchen über Herrschaft und Knechtschaft, am Ende hat der Teufel die Hände im Spiel. Dmitrij Schostakowitsch hat zu einem Zeichentrickfilm über dieses Märchen Musik geschrieben. Musik 7 Dmitrij Schostakowitsch: Das Märchen vom Popen und seinem Knecht Balda, Musik aus dem Zeichentrickfilm, op. 36 das ehemalige Kammerensemble des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters der UdSSR, Leitung: Gennadij Roschdestwenskij M0014350 W00, Eurodisc, 201974, 4‘32 Das ehemalige Kammerensemble des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters der UdSSR spielte unter der Leitung von Gennadij Roschdestwenskij Musik von Dmitrij Schostakowitsch aus dem Zeichentrickfilm über Puschkins Märchen vom Popen und seinem Knecht Balda. 10 Die alte Amme, Arina Rodionowna sitzt am Abend bei Puschkin auf seinem Landgut, singt ihm Volkslieder vor, erzählt Märchen, Sagen und Legenden. Zum ersten Mal verspürt Puschkin eine russische Seele, einen russischen Geist, entdeckt die russische Volkstümlichkeit. Einiges notiert er in seinen Heften und verarbeitet es später in seinen Märchen. Manche Puschkinkenner behaupten, dass Arinas Einfluss auf Puschkins Sprache größer und bedeutender gewesen sei, als die der französischen Werke des 18. Jahrhunderts aus der Bibliothek des Vaters oder der Einfluß Byrons. Puschkin hat seine Amme geliebt, in Eugen Onegin hat er sie verewigt: „Ich freilich lese meine Reime, / So schön sie sind, nur einem Ohr, /Dem lieben Schutzgeist meiner Kinderträume, / Der lieben alten Amme vor.“, so schreibt er in Eugen Onegin und in dem Gedicht Winterabend heißt es in der zweiten und dritten Strophe: In dem Hüttchen, morsch sich neigend, / Dunkelheit und Trauer haust. / Alte, sag, warum du schweigend / aus dem niedern Fenster schaust? / Ließ dich Mütterchen verstummen / Das Geheule vor der Tür / Oder träumst du nur beim Summen / Deines alten Spinnrads hier? // Trinken wir! Noch ein paar Züge, / Freundin trüber Jugendzeit, / Fort die Trauer! Her die Krüge! / Bald schlägt unser Herz befreit. / Sing ein Lied mir, wie ein Vöglein / Still gelebt im fernen Land;/ Sing ein Lied mir, wie ein Mägdlein / morgens ging zum Brunnenrand“// Nikolaj Medtner hat Puschkins Winterabend vertont. Musik 8 Nikolaj Medtner: Winterabend. Melodie f-Moll, op. 13 Nr. 1 Vassily Savenko, Bass und Boris Berezovsky, M0122326 024, MIR 059, 3’22 Vassily Savenko und Boris Berezovsky mit dem Puschkin Gedicht „Winterabend“ von Nikolaj Medtner. Dass Puschkin seiner Zeit voraus war, bekräftigt Gogol, wenn er behauptet: „Puschkin ist der russische Mensch in seiner Entwicklung, wie er sich vielleicht in 200 Jahren darstellen wird“. Dostojewski nennt Puschkin „Prophezeiung und Verheißung“ und 11 anlässlich einer Puschkin-Feier hielt der russische Schriftsteller Dostojewski im Juni 1880 unter begeisterter Anteilnahme der Gäste eine glühende Rede auf sein Idol: „Ja, in Puschkins Erscheinen liegt für uns alle, uns Russen, etwas zweifellos Prophetisches. Puschkin kam uns in einer Zeit, als sich zum ersten Male so etwas wie Selbsterkenntnis in unserer Gesellschaft hervorzuwagen begann, ein ganzes Jahrhundert nach der Reform Peters, und sein Erscheinen wirkte wie eine Überleuchtung unseres dunklen Weges mit neuem und bahnweisendem Licht. In diesem Sinne ist Puschkin in der Tat eine Prophezeiung und ein Programm zugleich.“ Über Puschkins Tod haben wir in den vergangenen SWR2 Musikstunden schon gesprochen. In St. Petersburg kursieren Gerüchte und Schmähschriften, in denen Puschkin als gehörnter Ehemann verlacht wird. Angeblich soll seine Frau eine Affäre mit ihrem Schwager, dem gut aussehenden Franzosen Baron Georges d’Anthes haben. Das kann er nicht auf sich sitzen lassen. Er fordert den Baron zum Duell heraus, unter strengsten Bedingungen. Tödlicher Ausgang, der Abstand zwischen den Duellanten wird auf zehn Schritte festgesetzt. D'Anthès schießt als erster. Puschkin fällt und besteht darauf, liegend seinen Schuss abzugeben. Er verletzt d’Anthes lediglich an der Hand. Mythen über Mythen ranken sich um dieses Duell. Fest steht, dass d'Anthès' Kugel Puschkins Schenkelhals durchbohrt hat und in den Unterleib eingedrungen ist, damals eine unheilbare Verletzung. Zwei Tage später ist Puschkin an den Folgen des Duells, an einer akuten Bauchfellentzündung gestorben. Ein „Sonnenuntergang in der russischen Poesie“ sei sein Tod, so heißt es in einem Nachruf. Michail Lermontow schreibt nach Puschkins Tod ein Gedicht mit dem Titel Der Tod des Dichters, in dem er d’Anthès, ohne ihn namentlich zu nennen, scharf verurteilt. „… lächelnd verachtete er frech Sprache und Sitte des fremden Landes; konnte ihn, der unser Ruhm war, nicht verschonen …“[ Wie erinnert sich Lensky in den Momenten vor dem tödlichen Duell in Puschkins Roman Eugen Onegin: „Wohin bist du entschwunden / du meines Frühlings güldne Zeit / Was wird der neue Tag mir bringen / vergebens sucht mein Blick zu dringen / ins tiefe Dunkel, das ihn hüllt. Wozu mein Schicksal wird erfüllt. Musik 9 12 Peter Tschaikowsky: Eugen Onegin, Arie des Lenskij, Wohin seid ihr entschwunden (2.Akt) Misha Maisky, Orpheus Chamber Orchestra M0407099 010, Deutsche Grammophon, 457694-2, 3‘46 Misha Maisky und das Orpheus Chamber Orchestra mit der Arie des Lenskijs aus Peter Tschaikowskys Eugen Onegin in der Fassung für Cello und Orchester. Das war die dritte und letzte Folge Alexander Puschkin und die Musik. Doss wiedannja sagt Ulla Zierau.