Die römische Kunst

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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
1. Kapitel: Der lange Weg Roms
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
2. Kapitel: Zeugnisse der frühen römischen Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
3. Kapitel: Einflüsse und Stabilisierungsprozesse
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
4. Kapitel: Wendepunkte der römischen Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
134
5. Kapitel: Die Zeit der späten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
164
6. Kapitel: Augustus und sein Erbe
189
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Kapitel: Kunst des Imperiums – Kunst der Kaiser
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
8. Kapitel: Die erstarkte Weltmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
269
9. Kapitel: Zeit der Fülle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
290
10. Kapitel: Die Umformung der römischen Kunst
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
306
11. Kapitel: Auftakt zu einem neuen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
340
12. Kapitel: Späte Entfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
360
Roma Aeterna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
368
ANHANG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
370
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
372
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
386
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
389
Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
400
Glossar
tantae molis erat Romanam condere gentem
Solcher Mühen bedurfte die Gründung des römischen Volkes.
(Vergil, Aeneis 1,33)
1. Kapitel Der lange Weg Roms
In diesem ersten Kapitel soll es um die Anfänge Roms sowie um jene Einflüsse gehen, denen Rom in
seiner Frühzeit ausgesetzt war und aus denen heraus es sich entwickelt hat. Für die ersten Jahrhunderte bleiben die Hintergründe der Kunstentwicklung rätselhaft, selbst wenn die Archäologie der
letzten Jahrzehnte erstaunlich reichhaltige Fundkomplexe freilegen und dokumentieren konnte. Ein
kontinuierliches Bild bietet hingegen die Stadt- und Siedlungsgeschichte Roms: Die nachweisbaren
Bauten der Frühzeit sollten sich als Maßnahmen für die Zukunft der Stadt erweisen. Diesen frühen
Abschnitten soll unser besonderes Augenmerk gelten, weil spätere Entwicklungen der Kunst nur aus
der besonderen Disposition der Stadt heraus verständlich werden.
Historischer Hintergrund
Die Anfänge: Die historische Überlieferungslage zu Rom und Etrurien bleibt bis zum 5. Jh.
v. Chr. äußerst unsicher. 1 Unsere Vorstellung
von der frühen kulturellen Entwicklung in
Mittelitalien orientiert sich daher im Wesentlichen an archäologischen Periodisierungen. Die
einzelnen Abschnitte Roms zu Beginn des
1. Jahrtausends v. Chr. gliedern sich allgemein
nach den Phasen der eisenzeitlichen Kulturen
Italiens. Für das späte 7. und das 6. Jh. v. Chr.
gibt es erste historisch nachvollziehbare Überlieferungen zur sogenannten Königszeit Roms.
Der erste Abschnitt der römischen Republik,
das 5. Jh. v. Chr., kann noch der ersten Entwicklungsperiode der Stadt zugerechnet werden.
Früheisenzeit (ca. 1050–620 v. Chr.): Rom ist
Teil einer eisenzeitlichen Kultur in Latium parallel zur „Villanovakultur“ in Oberitalien (sog.
Latialstufen). 2 Der Siedlungsraum der Stadt
bildet noch keinen urbanen Mittelpunkt. Eine
kontinuierliche Besiedlung auf einzelnen
Stadthügeln wird jedoch fassbar. Jeder der sieben Hügel spielt eine weitere große Rolle innerhalb der Baugeschichte des antiken Rom:
Palatin, Kapitol, Quirinal, Aventin, Coelius, Esquilin, Viminal. Das überlieferte Gründungs-
datum, 753 v. Chr., erweist sich als fiktive Berechnung der späteren Zeit. Entscheidend für
die Herausbildung der Stadt wird ein Zusammenschluss der Hügelsiedlungen um ein gemeinsames Zentrum im Bereich des Forum
Romanum. Ein solcher Zusammenschluss dörflicher Siedlungen wird in der griechischen
Wortbildung als „Synoikismos“ bezeichnet.
Der Überlieferung nach regieren in Rom nach
dem mythischen Gründungsvater Romulus bis
zum Ende des 6. Jhs. v. Chr. mehrere Könige
(sieben Könige Roms einschließlich Romulus).
Zeit der etruskischen Könige (ca. 620–509
v. Chr.): Die letzten drei der Könige Roms sind
gemäß der historischen Überlieferung Etrusker: Lucius Tarquinius Priscus (616–578 v. Chr.),
Servius Tullius (578–534 v. Chr.), Lucius Tarquinius Superbus, d. h. der „Hochmütige“ (534–
509 v. Chr.). In diesen Zeitraum fallen bedeutende städtebauliche Maßnahmen. Rom bildet
ab dem 6. Jh. v. Chr. bereits den Mittelpunkt
einer „latinisch-etruskisch-griechischen Kulturkoine“ (Gemeinschaft).
Frühe Republik (509–367 v. Chr.): Eine eigenständige politische Entwicklung in Rom und
Latium wird in Stufen nachvollziehbar. Die
Vorgänge können auch als Prozess der „Staatsbildung“ verstanden werden. Fassbar wird
Der lange Weg Roms
gleichfalls ein allmählicher Rückgang der Einflussnahme auf Rom von außen. Eine teilweise
Isolierung des Stadtstaates sowie deutliche Gefahrenmomente von außen kennzeichnen jedoch abschnittsweise die Lage. Die Adelsherrschaft, verteilt auf wenige führende Familien
(d. h. Oligarchie; patres als Oberhäupter/Patrizier), erfährt mit dem Übergang von der Monarchie zur Republik eine Umformung. Das in
Schritten eingeführte „republikanische System“ zeichnet sich durch klare Ämterbefugnisse sowie eine Weitergabe der Ämter aus. Für
die Zukunft Roms entscheidend werden sollte
schließlich die Herausformung selbständiger
wie auch sozial abgestufter politischer und
rechtlicher Strukturen. Es ging in dieser Frühphase um eine Teilhabe an der Macht auch für
die einfacheren Bevölkerungsschichten (res publica = Sache des Volkes). Der im 5. und 4. Jh.
v. Chr. um Grundrechte geführte Ständekampf
endet mit dem Ergebnis tragfähiger politischer
Grundkonstellationen und verfassungsmäßiger
Strukturen. In Folge dieser Umbildung der
Machtverhältnisse entsteht ein staatliches
Selbst- und Sendungsbewusstsein Roms: Angestrebt wird die Vorherrschaft in Latium sowie
die Einnahme benachbarter Etruskerstädte.
Durch die Eroberung Vejis im Jahre 396 v. Chr.
vergrößert das frühe Rom sein Territorium um
mehr als die Hälfte. Bis zum Jahr des Galliersturms (387 v. Chr.) bleibt Rom jedoch äußeren
Gefahren und Kriegseinflüssen ausgesetzt. Der
erste Abschnitt der römischen Republik findet
mit dem Ständeausgleich 367 v. Chr. seinen Abschluss.
Ausgangslage der Kunst
Die frühen Anfänge der Stadt und ihrer Bevölkerungseinheiten werden einerseits durch eine
Gemeinsamkeit der Sprache, der religiösen
Einrichtungen und des politischen Eigenweges
gekennzeichnet. 3 Andererseits zeigt sich ein
disparater Charakter der Kunstdenkmäler aus
Rom und Latium: So werden etwa Vorprägun-
21
gen benachbarter Kulturen je nach Bedarf eingesetzt. Während der späten Königszeit wird
diese kulturelle Überlagerung durch Einflüsse
aus Etrurien sichtbar. Kontinuitäten und Diskontinuitäten sind damit für die spätere Entwicklung angelegt.
In Rom selbst entstehen ab dem 6. Jh.
v. Chr. Befestigungsanlagen 4 sowie wichtige öffentliche Zonen und Bauwerke. Bemerkenswert
darunter sind frühe Tempelanlagen, welche offenkundig von der königlichen Gewalt gefördert werden 5 (Abb. 1541 1743). Parallel zu diesen
Baumaßnahmen gibt es archäologische Hinweise auf planmäßig angelegte Wohnviertel
mit großzügigen Hofhäusern etwa im Bereich
des Palatin. Von den einfacheren Wohnvierteln der Stadt in ihrer Frühphase wissen wir
hingegen praktisch nichts. Nach dem Wechsel
der politischen Führung in Rom setzt auch die
junge Republik ein Bauprogramm fort, das
hautpsächlich in Form überlieferter Gründungsdaten zu Tempeln sichtbar wird. Archäologische Untersuchungen an einzelnen dieser
Tempel (z. B. Saturn-Tempel, Castor-Tempel)
bestätigen das hohe Alter dieser Sakralbauten
(Abb. 730 1236 1339).
Auch die frühe Republik nimmt auf dem
Gebiet der Künste unterschiedliche Einflüsse
von außen auf, jetzt aber vor allem aus Unteritalien. Die Stadt- und Koloniegründungen in
Latium und im Zuge dessen die Errichtung
von Befestigungsanlagen sowie von Tempeln
und öffentlichen Bauten führen zur Festigung
des römischen Eigenweges auf dem Gebiet der
Baukunst und der Urbanistik (Abb. 2668 2769
3885). Eigenständige Formbildungen auf dem
Gebiet der Kunst in Rom geben sich jedoch
noch kaum zu erkennen. Das hat vielleicht seinen Grund darin, dass sich erste öffentliche Ehrenstatuen sowie Gemälde und Reliefgattungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen –
nicht erhalten haben. Den späteren literarischen Zeugnissen zufolge liegen jedoch die Anfänge dieser Kunstgattungen, die deutlicher
erst in der Zeit der mittleren und späten Republik hervortreten, allesamt in der Frühzeit
22
1. Kapitel
Roms. Die Kunstformen im frühen Rom standen, auch nach der späteren Beurteilung römischer Kunstschriftsteller, im Dienste des Staatswesens.
Die Stadtgründung –
Legende und Wirklichkeit
Nach römischer Zählung feiern wir im Jahr 2011
den 2764. Geburtstag der Stadt Rom. Nähern
wir uns versuchsweise einmal dieser unglaublichen Jahreszahl und der damit verbundenen
Überlieferung. Wir erfahren in diesem Zusammenhang von Gründungslegenden und verfolgen parallel dazu archäologische Zeugnisse, die
uns die Vorgänge interpretieren helfen.
Von dem mit prachtvollen Reliefs geschmückten Opferaltar des Gottes Mars aus Ostia (Abb. 3) kennen wir das Datum seiner Neueinweihung: Es handelt sich um das Jahr 124
n. Chr. 6 Geschildert wird auf der Rückseite dieses Altars die in der mittleren Kaiserzeit beliebte Darstellung der Gründungssage Roms mit
dem Zwillingspaar Romulus und Remus.
Die Söhne des Gottes Mars und der Königstochter Rhea Silvia wurden der Sage nach von
ihrem Großonkel ausgesetzt und konnten, von
der Wölfin (lupa Romana) gesäugt, nur so
überleben (Abb. 4). Nach dem Glauben der Römer wurden Romulus und sein Zwillingsbruder, als sie zu Männern gereift waren, die
Gründer der Stadt. Die Sage nimmt auch Bezug
auf Alba Longa, jene Siedlung, die einst Iulus,
der Sohn des Äneas, gegründet hatte. Numitor,
der Vater der Rhea Silvia, herrschte dort als
König, ehe ihn sein Verwandter Amulius entthronte. Dieser wollte nun Rhea Silvia dazu
zwingen, eine jungfräuliche Vestalin zu werden. Mars jedoch schwängerte die Königstochter, und sie gebar die Zwillinge Romulus und
Remus. 7
Von diesen legendären Vorgängen lesen wir
bei Titus Livius (59 v. Chr.–17 n. Chr.), jenem
großen Historiker aus Padua, der selbst von
Kaiser Augustus geschätzt wurde. Von der
Gründung der Stadt an, Ab urbe condita libri,
so lautet der Titel dieses Geschichtswerkes. Ab
urbe condita (seit Gründung der Stadt) bezeichnete für jeden Römer aber auch den Beginn der
eigenen Geschichte und damit jenen der römischen Jahreszählung ab dem Jahr 753 v. Chr.
So gibt auch die Reliefszene des Altars quasi die Geburtsstunde Roms im Gefolge der Rettung der Zwillinge wieder. Links oben wird die
Gestalt des Palatin sichtbar, also des Gründungshügels der Stadt, rechts unten ist es die
Personifikation des Flusses Tiber. Hirten treten
auf und sind vom wundersamen Geschehen ergriffen. Auch ein Adler, Symbol des Gottes Jupiter, des Beschützers der Zwillinge, breitet seine Schwingen aus. Der Altar selbst ist reich
ornamentiert und an seinen Ecken mit Fruchtgirlanden und Widderköpfen geschmückt. Als
der Opferaltar am Ende des 19. Jahrhunderts
im Theaterbezirk von Ostia gefunden wurde,
konnte seiner Inschrift – es handelt sich um
einen Ratsbeschluss des städtischen Senates –
die Jahreszahl 124 n. Chr. entnommen werden.
Dem üppigen Ausführungsstil der Ornamente,
aber auch der stark räumlich bestimmten Komposition der Reliefs nach, dürfte der Altar aber
bereits eine Generation zuvor, also am Ende des
1. Jhs. n. Chr. für ein städtisches Kollegium geschaffen worden sein.
Die Romulus-Remus-Sage und auch ihr bekannt tragischer Ausgang, der im Brudermord
endet, bildet ein Synonym für die römische Geschichte insgesamt. 8 Im Ringen um die legitime Zuteilung der Macht wird, so wird man es
ausdrücken müssen, brutale Härte selbst den
Nächsten gegenüber zum Ausdruck gebracht.
Auch bei diesem mythischen Geschehen handelt es sich um eine offenkundig erst spät herausgebildete Sage, die auf die legendären Anfänge der Stadt Rom rückprojiziert wurde. 9
Der Palatin bildet in der Sage den eigentlichen
Gründungshügel der Stadt. Von hier aus soll
Romulus die Umrisse der Stadt festgelegt haben. Einen festen Bestandteil der Kulte am Palatin spielen die ‚Lupercalia‘, die auf die legendäre Höhle der Wölfin (Lupercal) verweisen.
Der lange Weg Roms
Archaisch anmutende, in Ziegenfelle gehüllte
und mit Wolfskappen vermummte Priester zogen bei diesem Fest – selbst noch in der römischen Kaiserzeit – von der „Geburtsgrotte“ unterhalb des Palatin zum Tiber und um den
Hügel. Außerordentlich bemerkenswert ist,
dass – dem Anschein nach – diese Grotte vor
kurzem von Archäologen wiederentdeckt wurde.
Erstaunlich aus heutiger Sicht bleibt aber
vor allem die Festlegung des Gründungsjahres
der Stadt auf das Jahr 753 v. Chr. M. Terentius
Varro (116–27 v. Chr.) war einer der Antiquare
der späteren Zeit, die in ihren Schriften über
solche Traditionen, aber auch über frühe Bräuche und Sitten der Römer berichteten: Der
Überlieferung nach wurde die Stadt Rom in
diesem Jahr von den Brüdern Romulus und
Remus gegründet. Der Brudermord des Romulus an Remus aus Eifersucht beendet dieses gemeinsame Unternehmen und macht Romulus
zum ersten König Roms. Da die beiden Stadtgründer aus Alba Longa gestammt haben sollen, führten die Adeligen (patricii) Roms ihre
Herkunft zugleich auf die Nachkommenschaft
des trojanischen Helden Äneas zurück. Wie
wir gesehen haben, handelt es sich bei der Erzählung um den Versuch, die römische Geschichte an die griechische Überlieferung anzubinden. Die Erzählungen um Äneas führen
sogar zum Trojanischen Krieg zurück, welcher
– der Überlieferung nach – 1180 v. Chr. stattgefunden haben soll. Wahrer Kern dieser
Überlieferung könnte sein, dass bereits am Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. Handelskontakte
zwischen der östlichen Mittelmeerwelt und
den Siedlungen in Latium bestanden haben. 10
Doch von diesen späteren historischen Konstruktionen weiß die römische Überlieferung
natürlich noch nichts.
Ebenfalls bereits früh hat sich der 21. April
als das angebliche Datum der Stadtgründung
durchgesetzt. Die Gründungsvorgänge der
Stadt spielen auf dem palatinischen Hügel, wo
auch eine Göttin namens Palas verehrt wurde.
Dieselbe Wortwurzel zeigt auch das Fest der
23
Abb. 3: Altarrelief mit Darstellung der Gründungslegende Roms: Die Zwillinge Romulus und Remus
werden von der Wölfin gesäugt.
Göttin, die „Parilia“ oder „Palilia“, die als Gründungsfest der Stadt gelten. 11
Es ist auffällig, dass selbst kritische Historiker späterer Perioden diesen mythischen Gründungsakt gelten ließen und ihn an den Beginn
der römischen Geschichte stellten: Titus Livius
(59 v. Chr.–17 n. Chr.), der schon genannte Geschichtsschreiber aus Oberitalien, schreibt im
Vorwort seines Werkes Ab urbe condita: „Man
sieht es der alten Zeit nach, dass sie den Anbeginn der Städte verklärt, indem sie das Menschliche mit dem Göttlichen vermischt“ (praefatio 6). Solche Annalen (Jahrbücher) hielten
sich an früheste priesterliche Aufzeichnungen,
die sich in Rom erhalten hatten. Spätere Jahresangaben gliedern sich nach den Amtszeiten
der Konsuln. Die frühesten Annalen enthielten
jedoch selbst für die Historiker der frühen Kaiserzeit nur dürftige Mitteilungen beziehungsweise schwer entschlüsselbare Angaben, so
etwa zu Deutungen aus der Vogelschau (Auspizien) oder Berichten über Sonnen- oder
Mondfinsternisse. Daraus lässt sich ersehen,
24
1. Kapitel
Abb. 4: Die sogenannte Kapitolinische Wölfin. Die lebensgroße Bronzefigur galt bisher als etruskisch (6. Jh. v. Chr.).
In jüngster Zeit sind jedoch Zweifel an dieser Datierung geäußert worden. Ob sie möglicherweise erst im Mittelalter (9.–13. Jh.) gefertigt wurde, ist nicht abschließend geklärt.
dass der Einfluss der etruskischen Religion,
nämlich den göttlichen Willen aus Vorzeichen
zu erkennen, in der frühen Zeit Roms vorherrschend war. Von M. Tullius Cicero (106–43
v. Chr.), dem streitbaren Politiker und Redner
der späten Republik, erfahren wir, dass sich solche frühesten Aufzeichnungen über Rom bis in
seine Zeit im Hause des Pontifex Maximus 12
am Forum Romanum erhalten hatten: „Um
die Erinnerung an die öffentlichen Geschehnisse festzuhalten, legte der Pontifex Maximus
vom Anfang der römischen Geschichte an bis
auf die Zeit des Pontifex Maximus P. Mucius
Scaevola (133 v. Chr.) alles, was in den einzelnen
Jahren geschehen war, schriftlich nieder und
trug es auf einer weißen Tafel ein, die er in seinem Hause aufstellte, um dem Volk die Mög-
lichkeit zu geben, sie einzusehen.“ (De oratore
2, 52)
Für die Frühzeit Roms gilt es daher umso
mehr, Bezüge zwischen der mythenhaften,
nachträglich jedoch geradezu faktengleich ausgebildeten Anfangsgeschichte der Stadt und
der tatsächlichen archäologischen Evidenz herzustellen. Unbestritten dürften zumindest
mehrere Phasen eines solchen „Gründungsaktes“ sein. Darunter kann man sich den allmählich erfolgten Zusammenschluss jener
dörflichen Siedlungen vorstellen, die auf dem
Palatin – seit der frühen Eisenzeit – und etwas
später auch auf dem Esquilin und Quirinal bestanden hatten. Diese dörflichen Siedlungen
wurden ursprünglich von verschiedenen Völkerschaften bewohnt. Eine mögliche Spiege-
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