Pädiatrix Heft 3 / 2007 Enkopresis Quelle: Theresa Patzschke/bmp von Regina Naumann Die Frage nach Komorbiditäten ist entscheidend für die Therapie. Eine ausführliche körperliche Untersuchung mit Sonografie gibt diagnostische Sicherheit. Scham, Hänseleien, Schimpfen – der Alltag von Kindern, die ihre Stuhlausscheidung nicht kontrollieren können, ist Dauerstress für alle Beteiligten. Und das sind gar nicht so wenige. Jedes vierte Kind, das dem Gastroenterologen vorgestellt wird, leidet an Enkopresis und man schätzt, dass 1,5 bis zwei Prozent aller Schulkinder von dieser Symptomatik betroffen sind, Jungen etwa drei- bis viermal so häufig wie Mädchen. Manche haben die Sphinkterkontrolle nie richtig erlernt, andere waren bereits „sauber“, haben dann aber aus unterschiedlichen Gründen diese Kompetenz wieder verloren. Enkopresis ist ein komplexes Geschehen, das einer ausführlichen und einfühlsamen Anamnese bedarf – und eines langen Atems bei der Therapie. Enkopresis: Das ist meistens tagsüber stattfindendes, unwillkürliches – selten willkürliches – Absetzen der Fäzes an dafür nicht vorgesehenen Stellen von Kindern oder Jugendlichen ab einem Alter von mindestens vier Jahren. Die Symptomatik muss mindestens einmal pro Monat über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten auftreten. Es kann sich um eine anormale Verlängerung der infantilen Inkontinenz handeln (primäre Enkopresis), aber auch um einen Kontinenzverlust, nachdem die Darmkontrolle bereits stabil ent- wickelt war (sekundäre Enkopresis). Manchmal verschmieren die Kinder den Kot über den Körper oder die Umgebung, seltener können auch anale Manipulationen oder Masturbation dabei auftreten. Wichtiger als die Differenzierung in primäre und sekundäre Enkopresis, die sich in der Behandlung nicht unterscheiden, sind in der Praxis die Fragen, ob das Kind zusätzlich eine Obstipation hat, ob es psychisch erkrankt oder verhaltensauffällig ist und ob Entwicklungsstörungen oder sonstige Komorbiditäten diagnostiziert werden können. Diese Unterscheidung ist deshalb von praktischer Relevanz, weil neben der Behandlung der Enkopresissymptome die Behandlung von Obstipation und möglichen psychischen Störungen hohe Priorität hat. Ein multifaktorielles Geschehen Von „Enkopresis-Familien“ zu sprechen, ist sicherlich übertrieben, aber eine genetische Disposition ist denkbar: In empirischen Familienstudien zeigt sich, dass häufig auch Verwandte von enkopretischen Kindern an dieser Störung leiden oder litten (Übersicht über entsprechende Studien bei [1]). Metabolische und endokrinologische Untersuchungen zeigen, dass Kinder mit Enkopresis oft eine verzögerte MaPädiatrix 3/2007 17 deshalb zu vermeiden versucht. So haben über 80 Prozent der kleinen und die Hälfte der größeren Kinder mit Problemen bei der Defäkation schmerzhaften Stuhlgang [5], häufig verursacht durch Analfissuren. Das Kind spannt die Beckenbodenmuskeln an und verursacht dadurch eine paradoxe Kontraktion des externen Sphincter ani, ein Zustand, der sich irgendwann verselbstständigt und beibehalten wird. Es entwickeln sich harte, große Kotballen zunächst im Rektum, das sich immer mehr dehnt und schließlich auch im Kolon, das zum Megakolon ausgeweitet wird (vgl. Abbildung 1). Das Rektum reagiert immer unempfindlicher auf Druck und es entsteht eine sensitive Wahrnehmungsstörung: Das Kind merkt viel zu spät, dass es eigentlich zur Toilette müsste. Eltern können die Not ihres Kindes oft deutlich sehen: Es versucht krampfhaft, den Kot zurückzuhalten, ist blass, unruhig, verkrampft die Beine, wippt hoch und runter und kauert sich in eine Ecke. Und dann entlädt sich der Überdruck. Erste Therapieziele bei Enkopresis mit Verstopfung Der Teufelskreis aus Stuhlverhalt, Obstipation und Enkopresis muss durchbrochen werden. Der „Teufelskreis“ der Enkopresis Verstopfung zu haben ist nichts Ungewöhnliches im Kleinkindalter. Schon eine Kostumstellung kann zu hartem Stuhlgang führen – mit Obstsäften, Ballaststoffen und viel Flüssigkeit lässt sich das meist schnell wieder regulieren. Problematisch wird es, wenn aus einer akuten eine chronische Obstipation wird. Auslöser bei kleinen Kindern können eine genetisch begründete Veranlagung zu geringer Darmbewegung sein, aber auch andere Risikofaktoren, wie zum Beispiel ein Frühgeborenenstatus. Auch zunächst banal klingende äußere Gründe können Auslöser für eine chronische Obstipation sein. So fürchten sich manche Kinder vor Ungeheuern in der Toilette, vor Spinnen oder vor einem kalten oder dunklen Toilettenraum oder vor dem Geräusch der Spülung. Im Schulalter sind es oft verschmutzte Toiletten, die das Kind zum Stuhlverhalt zwingen (Toilettenphobie). Verhärtung des Stuhls führt dazu, dass das Kind Schmerzen beim Stuhlgang hat und ihn Pädiatrix 3/2007 Abbildung 1: Teufelskreis bei der Enkopresis mit Obstipation nach Levine (1991) 1. Normales Kolon: mäßig gefüllt, normale Peristaltik und Sensibilität 2. Beginnende Ansammlung von härterem Stuhl 3. Megakolon, maximal gedehnt, verminderte Peristaltik und Sensibilität. Im Lumen finden sich harte, „alte“ Kotballen. Zwischen den Lücken tritt „frischer“, dünnerer Stuhl aus („Zwischenlaufenkopresis“) 4. Therapie: Nach initialem Abführen und Erhaltungstherapie – Abnahme des Lumens, Zunahme der Peristaltik und Sensibilität 5. Erfolgreiche Therapie – zurück zum Normalzustand. Quelle: Alexander von Gontard: Enkopresis. S. 74, Abb. 3. W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart 2004 Enkopresis genentleerung und eine verminderte Motilität des Dünndarms aufweisen, was zu einem trägeren Kolon führen kann [1, 2]. Allerdings: Ein so komplexes Geschehen wie die Enkopresis lässt sich nicht auf lediglich eine Ursache zurückführen. Psychische Faktoren und Umwelteinflüsse spielen ebenfalls wichtige Rollen. Das kann eine zu strenge oder zu nachlässige Sauberkeitserziehung sein, das können psychisch belastende Ereignisse wie Geburt eines Geschwisters oder Streit der Eltern sein, aber auch Analfissuren, die beim Stuhlgang schmerzen, Stress und Hektik und eine als unbequem empfundene Toilette. Wenn das Kind seinen Stuhl zurückhält, kann sich eine chronische Obstipation mit der Folge einer „Überlauf-Enkopresis“ entwickeln: Weichere Stuhlmassen quetschen sich durch die harten Kotballen hindurch und werden unwillkürlich ausgeschieden. Für die Therapie ist es daher sehr wichtig zu wissen, ob das Kind obstipiert ist oder nicht, denn oft ist die Enkopresis Teil eines sich selbst verstärkenden Zyklus aus Stuhlretention, Obstipation und unwillkürlichem Kotverlust. Allerdings ist das nicht immer leicht herauszufinden, denn auch die Eltern merken nicht immer, wenn ihr Kind Verstopfung hat, da trotz Stuhlretention ein regelmäßiger Stuhlgang stattfinden kann (okkulte Obstipation). Eine ausführliche körperliche Untersuchung mit Sonografie gibt diagnostische Sicherheit. Enkopresis 18 An erster Stelle steht ein einfühlsames Anamnesegespräch, um Eltern und Kind von Schuldgefühlen zu entlasten. Es gilt, Stress, Vorwürfe, Scham und Unwissen abzubauen. Die Eltern müssen wissen, dass ihr Kind „das“ nicht absichtlich macht, welche Ursachen das Einkoten haben kann und wie der Therapieplan aussehen könnte. Wenn Verstopfung die Ursache für Enkopresis ist, muss zunächst der Darm mit Klistieren geleert werden, erst täglich, dann einmal pro Woche während einer Erhaltungstherapie von mindestens sechs Monaten. Diese Prozedur muss dem Kind altersgemäß erklärt werden. Toilettentraining: Hocheffektiv und sofort einsetzbar • Dreimal am Tag nach den Mahlzeiten sollte das Kind für fünf bis zehn Minuten entspannt auf der Toilette sitzen, auch wenn es nicht zum Stuhlgang kommt. • Fußkontakt zum Boden (kleiner Schemel!) erlaubt entspanntes Sitzen. Viele verschiedene psychische Störungen können die Enkopresis begleiten. • Alles ist erlaubt, was den Toilettengang angenehm für das Kind macht: Musik hören, Comics lesen, singen, Gameboy spielen etc. • Jeder Toilettengang wird auf einem Plan vermerkt; Tadel, Kritik und Strafe sind streng verboten, Lob und Zuwendung dagegen wichtige Verstärker. • Die Stuhlregulation erfolgt durch ausreichende Trinkmenge und Ballaststoffe. Bei Obstipation gibt man zusätzlich osmotische Laxantien. Sehr wichtig: Der Gang zur Toilette muss für das Kind ein positives Ereignis werden, weil es merkt, dass es sich danach besser fühlt. Bei isolierter Enkopresis können Laxantien die Symptomatik sogar verstärken. Mit anschließender regelmäßiger Laxantiengabe (im Allgemeinen osmotische Laxantien wie Lactulose) wird verhindert, dass sich wieder Kot im Darm ansammelt, sodass der Darm langsam wieder zu seiner normalen Größe zurückfindet. Wichtig ist ein „Toilettentagebuch“, in dem alle Toilettengänge genau dokumentiert werden. Als Basistherapie wird ein Toilettentraining durchgeführt. Enkopresis ohne Obstipation: Ursache ungeklärt Enkopresis ohne Verstopfung (isolierte Enkopresis) unterscheidet sich in mehreren Faktoren deutlich von der Form mit Obstipation. So haben Kinder mit isolierter Enkopresis in der Regel normal geformten Stuhl, koten seltener ein als Kinder mit Verstopfung, haben seltener Schmerzen beim Stuhlgang und können rektale Reize gut wahrnehmen, d. h., ihre Wahrnehmungsschwelle ist normal hoch. Schwierig gestaltet sich die Suche nach den Ursachen. Viele Autoren legen eine psychogene Ätiologie nahe und sprechen von „oppositionellem Verhalten“ oder „unbewusstem Ärger“. Nach Professor Alexander von Gontard, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik des Saarlandes, sind die psychischen Störungen, die begleitend zur Enkopresis auftreten können, sehr heterogen. „Es gibt nicht die Störung, die typisch ist für Enkopresis. Man muss bei jedem Kind genau hinschauen.“ Bei einigen Kindern ist das Einkoten Teil einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten, bei anderen werden internalisierende „neurotische“ Konflikte eine Rolle spielen, während es sich bei einer großen Gruppe vermutlich um ein erlerntes Verhalten handelt, das möglicherweise durch Umweltreaktionen verstärkt wird. Fast die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit Enkopresis ohne Obstipation ist psychisch auffällig: Von unkontrolliert aggressivem Verhalten über depressive Symptomatik bis zu vermehrter Angstbereitschaft reicht das – durchaus nicht nur für Enkopresis typische – Spektrum [1]. Dazu gehören auch Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS), bei denen möglicherweise ein Wahrnehmungsdefizit vorliegt, was den Stuhldrang angeht. Zweigleisig: Basistherapie und Zusatzbehandlung Die Therapie muss zweigleisig angelegt sein: Zum einen wird der regelmäßige Toilettengang eingeübt, zum anderen die zugrunde liegende mögliche Verhaltensstörung behandelt. Bei der isolierten Enkopresis ist es besonders wichtig, eine angespannte Eltern-Kind-Kommunikation zu beruhigen, Schuldgefühle zu bearbeiten und eine allgemeine Entlastung zu erreichen. Den Eltern, die das Einkoten oft als einen abstoßenden Akt ansehen, muss erklärt werden, Pädiatrix 3/2007 19 Literatur Abbildung 2: Verlauf der stationären Enkopresisbehandlung bei komorbider Anpassungsstörung; signifikant günstiger Verlauf der Enkopresis Quelle: Z. Kinder-Jugendpsychiatr. 33(4), 2005, Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern 1. von Gontard A: Enkopresis. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2004 2. Swanwick T: Encopresis in children: a cyclical model of constipation and faecal retention, British Journal of General Practice. 1991; 41: 514-516 3. Brazzelli M, Griffiths P: Behavioural and cognitive interventions with or without other treatments fort he management of faecal incontinence in children. In: Cochrane Database Syst Rev. 2006 Apr; 19(2): CD002240 Behandlungserfolge bei Enkopresis 4. Mehler-Wex C et. al: Enkopresis – Prognosefaktoren Das A und O einer Enkopresistherapie sind das Toilettentraining und die langfristige Behandlung einer Obstipation. Doch mit oder ohne Obstipation: Für den Langzeiterfolg einer Enkopresistherapie ist es entscheidend, ob eine psychische Komorbidität oder Verhaltensauffälligkeit besteht oder nicht – und wie erfolgreich diese behandelt werden kann. So konnte Dr. Claudia MehlerWex an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugend- chiatr. 2005; 33(4): 285-293 Pädiatrix 3/2007 Enkopresis dass ihr Kind aus einem emotionalen Konflikt heraus handelt. Die Kinder sollen angehalten werden, ihre verschmutzte Unterwäsche selbst zu versorgen. Wie bei der Enkopresis mit Verstopfung wird auch bei isolierter Enkopresis eine Basistherapie durchgeführt: regelmäßiger Toilettengang mit positivem Verstärkerplan. Allerdings ist keine Darmentleerung nötig und Laxantien sind kontraindiziert, weil sie die Symptomatik verstärken können. Die Zusatzbehandlung richtet sich nach dem zugrunde liegenden Konflikt bzw. der Verhaltensstörung. Es kommen verhaltenstherapeutisch-kognitive sowie tiefenpsychologisch fundierte Maßnahmen mit oder ohne Psychopharmaka zum Einsatz. Auch Biofeedback nach manometrischer Untersuchung ist – obwohl in Einzelfällen erfolgreich – für die Mehrzahl der betroffenen Kinder nicht empfehlenswert [1, 3]. psychiatrie und Psychotherapie der Universität Würzburg zeigen, dass fünf von sechs Enkopresispatienten mit ADHS unter Stimulantientherapie sehr gute Heilungserfolge hatten (symptomfrei bzw. gebessert). Die erfolgreiche Therapie von Anpassungsstörungen führte zu einer signifikant besseren Prognose [4]. Außerdem hatten Kinder, die stationär behandelt und erst bei Symptomfreiheit entlassen wurden, eine deutlich bessere Langzeitprognose als Kinder, die zum Entlassungszeitpunkt noch nicht sauber waren. „Wichtig ist, dass die Eltern das Kind beim Kinderarzt vorstellen, es unterstützen und auf keinen Fall strafen. Man kann den Kindern helfen – und dann geht es allen besser!“, so Prof. von Gontard. und Langzeitverlauf, Zeitschrift für Kinder-Jugendpsy5. Partin JC et al: Painful defecation and fecal soiling in children. Pediatrics. 1992 Jun; 89(6 Pt 1): 1007-1009 Abbildung 3: Signifikant günstigerer Langzeitverlauf der Enkopresis bei Obstipationsfreiheit; Katamneseuntersuchung nach 5,5 (+/- 1,8) Jahren Quelle: Z. Kinder-Jugendpsychiatr. 33(4), 2005, Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern